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Berliner Zeitung 16.09.2019

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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 215 · M ontag, 16. September 2019 – S eite 21<br />

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Feuilleton<br />

Zum 100. Geburtstag<br />

des <strong>Berliner</strong> Schriftstellers<br />

Horst Krüger<br />

Seite 22<br />

„Man weiß ja viel zu wenig über die Schmerzen von Akrobaten.“<br />

Birgit Walter über die neue Show des <strong>Berliner</strong> Chamäleon-Theaters Seite 23<br />

Weltspiegel<br />

Nach der<br />

Lindenstraße<br />

Harry Nutt<br />

liebt am Fernsehen die Wiederkehr<br />

des Gleichen.<br />

Gewohnheiten sind der Feind des<br />

Neuen, das gilt ganz besonders<br />

in der Welt, in der Nachrichten aufbereitet<br />

und versendet werden. Man<br />

nennt es Medien. Die hereinbrechende<br />

Nachricht soll alles verdrängen.<br />

Wenn etwas passiert ist, darf es<br />

keine Erzählroutinen und erst recht<br />

kein störendes Programmschema<br />

geben.<br />

Andererseits gibt es nur wenig,<br />

was versessener auf Ordnung und<br />

Struktur aus ist, als die Sendeanstalten<br />

des öffentlich-rechtlichen Rundfunks,<br />

von denen der eingehende<br />

Nachrichtenfluss verteilt wird. Weil<br />

diesen das Behördenimage so hartnäckig<br />

im Nacken sitzt, jagt dorteine<br />

Programmreform die nächste. Nur<br />

wer sich ständig reformiert, entgeht<br />

dem Verdacht, in Gewohnheit und<br />

Langeweile zu verharren. In der Welt<br />

saturierter Entscheider ist Innovation<br />

eine Heilsversprechen, das die<br />

Salbung mit ewiger Modernität verheißt.<br />

Die Präferenz für Angebote<br />

kluger Unterhaltung und kontextualisierter<br />

Information indes gilt als Indiz<br />

schlimmer Rückständigkeit.<br />

Eine weitere Reform plant nun<br />

die ARD für die Zeit nach der „Lindenstraße“,<br />

deren Aussterben als<br />

TV-Dinosaurier beschlossen ist. Am<br />

29. März 2020 soll die Serie, die seit<br />

1985 ununterbrochen sonntags im<br />

Ersten zu sehen war, das letzte Mal<br />

ausgestrahlt werden. Ein schlimmer<br />

Kulturbruch, dem nun ein zweiter<br />

folgen soll. Das Magazin „Weltspiegel“,<br />

das sich in der ARD unmittelbar<br />

an die „Lindenstraße“ anschloss,soll<br />

ebenfalls vonseinem angestammten<br />

Sendeplatz kurz vor der Tagesschau<br />

und dem „Tatort“ verschwinden –<br />

zugunsten der „Sportschau“. Die<br />

Auslandskorrespondenten, die den<br />

„Weltspiegel“ mit ihren oft hinreißenden<br />

Reportagen und Analysen<br />

bestücken, sind empört, weil sie um<br />

die Wahrnehmung der Relevanz ihrerArbeit<br />

fürchten. DieVorverlegung<br />

auf 18.30 Uhr misst weniger als eine<br />

Stunde, aber sie bedeutet das Verständnis<br />

von der einen und ganzen<br />

Welt.<br />

Im Alter von elf Jahren, hat György<br />

Konrád einmal gesagt, sei<br />

er erwachsen geworden. Das<br />

war im Mai 1944, als seine Elternvon<br />

den Nationalsozialisten deportiertwurden.<br />

Während die Eltern<br />

die Zwangsarbeitslager überlebten,<br />

verlor Konrád in dieser Zeit einen<br />

Großteil seiner jüdischen Familie.<br />

Die Erlebnisse dieser Konfrontation<br />

mit der Politik der Vernichtung schilderte<br />

György Konrád später in seinen<br />

Romanen „Heimkehr“ und<br />

„Glück“.<br />

Sein literarisches Debüt aber gab<br />

Konrád, der zunächst Soziologie studiert<br />

und in der Jugendfürsorge in<br />

Budapest gearbeitet hatte, 1969 mit<br />

dem Roman „Der Besucher“. Darin<br />

leuchtet er mit kühl-distanzierter<br />

Beobachtungsgabe die vernachlässigtenViertel<br />

der Stadt aus,die er von<br />

unten kennengelernt hatte und die<br />

es nach offizieller LesartimRealsozialismus<br />

gar nicht geben durfte.<br />

Emigriertins Leseland<br />

Seine nicht korrumpierbare politischeWachheit<br />

war zweifellos dasVermächtnis<br />

eines jungen Menschen,<br />

der früh erfahren musste, was es<br />

heißt, ein Überlebender zu sein. György<br />

Konrád ist einer der großen Autoren<br />

der europäischen Erinnerungsliteratur,<br />

der sich bald jedoch an den<br />

neuen Verhältnissen rieb. 1956 hatte<br />

er am Ungarnaufstand teilgenommen,<br />

und spätestens mit seinen ersten<br />

literarischen Veröffentlichungen<br />

galt er als Kritiker des ungarischen<br />

Sozialismus, der bald als Gulasch-<br />

Kommunismus bezeichnet wurde,<br />

weil er in etwas sanfterer Form den<br />

Alltag prägte als in den übrigen Staaten<br />

des Warschauer Paktes.Dennoch<br />

konnten viele vonKonráds Texten lediglich<br />

unter der Hand in der sogenannten<br />

Samisdat-Literatur erscheinen.<br />

„In jener Zeit, in den Jahren der<br />

Diktatur“, schrieb Konrád, „sind wir<br />

Abend für Abend emigriert, indem<br />

wir lasen“. Das Zitat verrät einiges<br />

über den hohen Anpassungsdruck,<br />

dem er als gesellschaftlicher Außenseiter<br />

ausgesetzt war,und man unterschlägt<br />

bei der Rückschau auf seine<br />

intellektuelle Biografie allzu leichtfertig,<br />

dass György Konrád bereits 56<br />

Jahrealt war,als die osteuropäischen<br />

Diktaturen implodierten.<br />

Als Intellektueller und Essayist war<br />

Konrád einer der ersten und einflussreichsten<br />

Denker,die in der Idee eines<br />

neuen Mitteleuropas die Konfrontation<br />

vonOst undWest zu überwinden<br />

versuchten. Neben Václav Havel,<br />

Adam Michnik, Milan Kundera und<br />

PavelKohout gehörte er zu den wichtigsten<br />

Stimmen, die den Eisernen<br />

Ein<br />

zuversichtlicher<br />

Europäer<br />

Zum Toddes Schriftstellers und<br />

Intellektuellen György Konrád<br />

GyörgyKonrád (1933–2019 )<br />

VonHarry Nutt<br />

IMAGO IMAGES<br />

Vorhang gedanklich aufgeweicht und<br />

den Fall der Mauer vorbereitet hatten.<br />

György Konrád verfolgte dabei ein<br />

Konzept der Anti-Politik, die die realpolitischen<br />

Bemühungen mit Skepsis<br />

begleitete und auf eine geistige Unabhängigkeit<br />

setzte,die er auch für seine<br />

künstlerische Existenz beanspruchte.<br />

Es ist eine Mischung aus Scharfsinn,<br />

Melancholie und Eigensinn, die fast<br />

alle seine Arbeiten prägen. Für György<br />

Konrád stellte der Begriff Mitteleuropa<br />

nicht nur den Versuch dar,<br />

eine geopolitische Idee wiederzubeleben.<br />

Er attestierte dem Mitteleuropäer<br />

auch einen Sozialcharakter, der<br />

sich gerade dadurch, dass er oft durch<br />

die Geschichte geschubst worden<br />

war, eine eigene Weltsicht bewahrt<br />

hat.<br />

Auf exemplarische Weise übte<br />

Konrád diese Rolle von1997 bis 2003<br />

in Berlin als Präsident der wiedervereinigten<br />

Akademie der Künste aus.Es<br />

war ein wichtiges Signal der deutschen<br />

Künstler, ihn als Ungarn in<br />

diese Position berufen zu haben, und<br />

Konrad verkörperte dabei nicht zuletzt<br />

den Anspruch, Berlin zu einem<br />

Brückenkopf zwischen Ost und West<br />

zu machen in der Hoffnung, dass gerade<br />

kulturelle Beziehungen und<br />

künstlerische Einbildungskraft der<br />

Politik den Wegweisen können. Eine<br />

Hoffnung, die sich nicht erfüllte,<br />

denn der ungarische Kosmopolit, der<br />

er war, musste bald einsehen, dass<br />

gerade die postkommunistische Politik<br />

seines Heimatlandes von turbulenten<br />

Richtungsschwankungen<br />

durchgeschüttelt wurde. Während<br />

beinahe jede neue Regierung gnadenlos<br />

abgewählt wurde, wurde eine<br />

gesellschaftliche Radikalisierung offenbar,die<br />

bis dahin eher im Verborgenen<br />

rumorte.<br />

EinKritiker Orbans<br />

Als sich rechte und antisemitische<br />

Strömungen schließlich ganz offen in<br />

Ungarn artikulierten, verlor Konrad<br />

dennoch nicht seine Zuversicht. Es<br />

nutzeimmer,sagte er in einem Interview<br />

von2006, wenn dieWahrheit auf<br />

den Tisch kommt. Es sei gut, dass die<br />

extreme Rechte zeige,wer sie wirklich<br />

ist.<br />

György Konrád blieb auch später<br />

ein scharfer Kritiker des rechtspopulistischen<br />

Kurses von Ministerpräsident<br />

Victor Orban, war aber dennoch<br />

optimistisch, dass Ungarn ein<br />

Rechtsstaat bleiben werde, weil letztlich<br />

die Anziehungskraft, die von Europa<br />

ausgehe, größer sei als die sich<br />

überall ausbreitenden nationalistischen<br />

Verengungen. Am Freitag ist<br />

György Konrád im Alter von86Jahren<br />

in Budapest gestorben.<br />

NACHRICHTEN<br />

Jüdisches Museum: Grütters<br />

gegen Vertretung Israels<br />

Kulturstaatsministerin Monika Grütters<br />

(CDU) lehntVertreter des israelischen<br />

Staates im Beirat des Jüdischen<br />

Museums Berlin ab.Das Museum<br />

solle dabei helfen, die jahrhundertealte<br />

deutsch-jüdische<br />

Geschichte zu erzählen. „Das ist<br />

seine Zweckbestimmung. Dazu<br />

brauchen wir keinen offiziellen Vertreter<br />

des Staates Israel im Beirat –<br />

bei allem Respekt vorvielen wechselseitigen<br />

Bezügen heutzutage.“<br />

DasMuseum war voreinigen Monaten<br />

in Turbulenzen geraten, nachdem<br />

Israels Regierung gefordert<br />

hatte,eine Sonderausstellung zu Jerusalem<br />

zu schließen. Museumschef<br />

Peter Schäfer war im Juni zurückgetreten.<br />

Nunwirdeine neue Museumsleitung<br />

gesucht. (dpa)<br />

Kurt-Tucholsky-Preis für<br />

Margarete Stokowski<br />

DieJournalistin Margarete Stokowski<br />

bekommt den mit 5000 Euro dotierten<br />

Kurt-Tucholsky-Preis für literarische<br />

Publizistik. Ihre Kolumnen<br />

auf dem Portal Spiegel online zeichneten<br />

sich aus durch eine kompromisslose<br />

Entlarvung gesellschaftlicher<br />

Missstände,präzise Sprache<br />

und gekonnte Ironie,begründete die<br />

Jury ihreamSamstag bekanntgegebene<br />

Entscheidung. DerPreis wird<br />

seit 1995 alle zwei Jahrevergeben,<br />

unter den bisherigen Preisträgern<br />

sind der Journalist Deniz Yücel<br />

(2011) und der Liedermacher Konstantin<br />

Wecker (1995). (dpa)<br />

Ai Weiwei musste Haus der<br />

Kunst verlassen<br />

Miteiner Solidaritätsaktion hat sich<br />

der chinesische Künstler Ai Weiwei<br />

für die vonEntlassungen bedrohten<br />

Mitarbeiter des Münchner Hauses<br />

der Kunst eingesetzt. DieMuseumsleitung<br />

kritisierte die umstrittene<br />

und unangemeldete Aktion und bat<br />

Ai, die Ausstellungsräume zu verlassen.<br />

Ai Weiwei dementierteinen<br />

Rauswurfjedoch. Der62-Jährige war<br />

am Freitag ohne Wissen der Museumsleitung<br />

im Haus der Kunst aufgetaucht<br />

und hatte unter anderem<br />

die Eintrittskarten der Besucher abgerissen.<br />

(dpa)<br />

UNTERM<br />

Strich<br />

Rom &Peter<br />

Ob<br />

oder ob?<br />

VonPeter Wawerzinek<br />

Der Mond steht über der asphaltierten<br />

Straße, die bautechnisch eher ein befahrbares<br />

Dach ist. Zwanzig Meter würde man<br />

in die Tiefe stürzen, bräche die Oberfläche<br />

auf, sagt Tatjana Doll, die uns per Mail hierher<br />

eingeladen hat: Heute Abend ist eine Straßenzeichnung<br />

vonStefania Galegati aus Palermo<br />

zu sehen in der Via del Mandrione (Nächste<br />

U-Bahn Station: Arco di Travertino).<br />

Wir sind befreundet und kennen uns seit<br />

2003/04. Die Eröffnung ist 18 Uhr, gegen<br />

20 Uhr gibt es ein Aperitif im Studio von Alfredo<br />

Pirriumdie Ecke.Wer Lust hat, kommt<br />

doch gernmit dahin!<br />

Vierzehn Personen sind wir zum Taxistand<br />

unterwegs. Dreimal vier von ihnen<br />

fahren sofort ab. Taxi vier, für mich und<br />

meine Freundin gedacht, stellt sich seltsam<br />

an. Manweiß nicht, will er oder ist es ihm ein<br />

Graus? Nach langem Hinund Herlässt er uns<br />

doch einsteigen. Wohin? Wir sagen die<br />

Straße.Numero?Wissen wir nicht. DieStraße<br />

ist lang, fährt eruns an. Wir beginnen nach<br />

Pirris Studio zu fahnden, finden es im Internet,<br />

geben dessen Adresse an. Als Alternative.<br />

Und suchen weiter. Werden fündig.<br />

Schreiben stolz die Zahl Hundertneunzig auf<br />

einem Zettel, geben ihn dem Fahrer. Wie<br />

denn was nun, also jetzt wieder Mandrione!<br />

Er regt sich auf, brabbelt und schimpft über<br />

uns, den Verkehr, und stößt bis ans Ziel alle<br />

möglichen italienischen Flüche aus.<br />

Stefania hat mit weißer Farbe ein langes<br />

Schriftband auf den Asphalt geschrieben. Es<br />

geht um das Wort cadere, zudeutsch so viel<br />

wie fallen, hinfallen, gefallen, stürzen, einstürzen,<br />

hineintappen, stolpern, ausrutschen,<br />

hinschlagen und sündigen.<br />

KLAUS ZYLLA<br />

Einige hundertMeter kann man sich ihre<br />

Varianten durchlesen und schreitet nebenbei<br />

noch andereKunstwerke ab.Nicht sofort<br />

auch als solche zu entdecken, wenn zum Beispiel<br />

zwei junge Mütter unter einer Zeltplane<br />

im Schneidersitz zeitgleich Babys stillen. Da<br />

weiß man nicht, ob oder ob? Calma, Calma<br />

krächzt eine ältereFrauenstimme aus einem<br />

kleinen runden Radio. Calma steht dreimal<br />

auf dem weißen Tuch geschrieben, dessen<br />

eine Ecke das Tongerät beschwert. Calma<br />

tragen drei Männer auf ihren Rücken gedruckt,<br />

die vordem Transparent niederknien<br />

wie einst Willi Brandt. Die Hände hinter ihren<br />

Köpfen verschränkt für zwei Minuten.<br />

Dann erheben sie sich, werden beglückwünscht,<br />

umarmt und stellen sich vor die<br />

Leute hin, die sich Stühle mitgebracht und<br />

auf diesen Moment gewartet haben.<br />

Es wird eine Rede gehalten. Worum es<br />

geht? Ich könnte es erfragen, unterlasse es<br />

tunlich. Dreimal wird in die Hände geklatscht,<br />

und dann ist es damit auch gut. Die<br />

Leute unterhalten sich durcheinander miteinander,<br />

packen allmählich ihre Sitzgelegenheiten,<br />

rücken ab.Wir laufen ihnen zum<br />

Studio hinterdrein, gelangen treppab auf<br />

den Sammelplatz.<br />

Wasfür ein Garten! Welch eine Idylle unter<br />

der Lichtgirlande! Auf einer großen Tafel<br />

werden breite Brotfladen auseinandergeschnitten<br />

mit Mortadella, Pasten,Schweinebraten<br />

belegt, zugeklappt und in Streifenstücke<br />

geschnitten gereicht. Eingeladen dazu<br />

haben die Leute mit den Stühlen, die Anwohner.<br />

Eswird fröhlich gegessen, lebhaft<br />

geredet, der erfolgreiche Kunsttag gefeiert,<br />

das Leben genossen. Dazu gibt es Wein aus<br />

Flaschen mit Bügelverschluss.Und bevor ich<br />

jetzt richtig zuschwelgen beginne, beruhige<br />

ich mich mit einem dreifachen: Calma,<br />

Calma, Calma.

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