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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 262 · M ontag, 11. November 2019 – S eite 21<br />
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Feuilleton<br />
Das No-Limits-Festival<br />
behinderter Performer<br />
verändertden Blick.<br />
Seite 23<br />
„Unvorstellbar,dass er sein Leben auf einem Stuhl verbracht hat.“<br />
Arno Widmann in einem Dramolett zu Hans Magnus Enzensbergers Neunzigstem Seite 22<br />
Plagiat<br />
Unter<br />
Verdacht<br />
Harry Nutt über einen Fall<br />
unlauteren wissenschaftlichen<br />
Zitierens.<br />
Die Liste ähnlich lautender, aber<br />
nicht oder unzureichend<br />
kenntlich gemachter Zitate wird immer<br />
länger. Das Buch „Die Gesellschaft<br />
des Zorns“ (Transcript Verlag)<br />
vonder Darmstädter Soziologin Cornelia<br />
Koppetsch steht im Verdacht,<br />
sich an zahlreichen Stellen der Gedanken<br />
und Formulierungen anderer<br />
Autoren bedient zu haben. Entsprechende<br />
Verweise sucht man in<br />
den nun öffentlich gemachten Passagen<br />
des Buches vergeblich.<br />
Die Jury des Bayerischen Buchpreises<br />
nahm die Nominierung von<br />
Koppetschs Text nun zurück. Voneiner<br />
Liste für einen Sachbuchpreis<br />
des NDR hat der Transcript Verlag<br />
das Buch inzwischen selbst zurückgezogen.<br />
Verlag und Autorin haben<br />
gegenüber dem NDR eingeräumt,<br />
dass es Textübernahmen enthalte,<br />
die als Zitat hätten gekennzeichnet<br />
werden müssen.<br />
Cornelia Koppetsch hat in ihrer<br />
vonden Kritikernweithin gefeierten<br />
Arbeit den Rechtspopulismus im<br />
globalen Zeitalter untersucht. Es sei<br />
ein großer Wurf, schrieb etwa die<br />
FAZ, „und zwar<br />
deshalb,weil das<br />
Buch, anders als<br />
die meisten anderen<br />
der mittlerweile<br />
schwer<br />
zu überblickenden<br />
Beiträge<br />
zum Thema, der<br />
Die Autorin Dimension der<br />
Cornelia Koppetsch populistischen<br />
Provokation gerecht<br />
wird.“ Koppetsch verstehe den<br />
Aufstieg des Populismus nicht nur<br />
als Schluckauf des Systems,sondern<br />
als Zeichen eines „aktuellen epochalen<br />
Umbruchs“. DieOriginalität dieser<br />
Überlegungen wird nun aber<br />
stark angezweifelt. Abgeschrieben<br />
habe Koppetsch laut einer FAZ-Recherche<br />
etwa bei ihrem Kollegen<br />
Andreas Reckwitz aus dessen Buch<br />
„Die Gesellschaft der Singularitäten“<br />
(Suhrkamp Verlag). Betroffen seien<br />
außerdem Autoren wie Slavoj Zižek,<br />
Wendy Brown oder der Soziologe<br />
Sighard Neckel von der Universität<br />
Hamburg.<br />
Knut Cordsen, Mitglied der Jury<br />
des Bayerischen Buchpreises,hat auf<br />
der Homepage des Bayerischen<br />
Rundfunks plagiatsverdächtige Beispiele<br />
aus „Die Gesellschaft des<br />
Zorns“ zusammengestellt. Er weist<br />
dort nach, dass etliche Passagen des<br />
Buches Ähnlichkeiten mit den Texten<br />
anderer Autoren haben und teilweise<br />
nur leicht abgewandelt wurden.<br />
Zwar ist Cornelia Koppetschs<br />
zum Bestseller avanciertes Buch<br />
streng genommen keine akademische<br />
Arbeit. Das unterscheidet die<br />
AffäreKoppetsch denn auch vonFällen,<br />
in denen Politikern die Doktorwürde<br />
streitig gemacht wurde. Die<br />
Darmstädter Professorin wird sich<br />
aber die Frage gefallen lassen müssen,<br />
in welchem Verhältnis ihr populär<br />
gewordener Titel zu ihrer wissenschaftlichen<br />
Reputation steht.<br />
In Soziologenkreisen wird Koppetschs<br />
wissenschaftliche Integrität<br />
schon seit einiger Zeit mit Skepsis<br />
betrachtet. Vonmöglichen Plagiaten<br />
betroffene Autoren wollten sich gegenüber<br />
der <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> allerdings<br />
nicht öffentlich äußern.<br />
MICHAEL DEBETS/IMAGO IMAGES<br />
Zappeln bis zur Erschöpfung<br />
Die britische Performerin Charli XCX trieb ihr Publikum mit tänzerischer Unermüdlichkeit durch die Nacht<br />
VonMarkus Schneider<br />
Das Live-Konzert ist eine<br />
relative Kategorie im aktuellen<br />
Pop. Zwar bringen<br />
mittlerweile selbst<br />
studiotechnisch höchstgestylte Acts<br />
wenigstens eine Art Alibiband mit.<br />
Aber für die Musik braucht es sie<br />
meist nicht. Im digital gedopten Pop<br />
von Künstlerinnen wie Charli XCX,<br />
die am Sonnabend im Friedrichshainer<br />
Astra auftrat, erinnert praktisch<br />
nichts an analoge Sounds –weshalb<br />
der Konzertablauf wesentlich vorproduziert<br />
ist. Wo mittlerweile auch<br />
die Stimmen durch technologische<br />
Effekte optimiert und verfremdet<br />
werden, steht also die Performance,<br />
meist verstärkt durch Tänzer und<br />
austatterische Akzente,imZentrum.<br />
Als erste Überraschung des Konzerts<br />
könnte man daher Charlotte<br />
Aitchisons, so XCXens Klarname,<br />
Konsequenz (oder Mut) bewundern,<br />
knapp anderthalb Stunden allein auf<br />
der Bühne zu stehen. Statt Videoscreens<br />
oder Blendbauten gab es nur<br />
einen transparenten, effektvoll ins<br />
Lichtgeballer einbezogenen Würfel<br />
in der Bühnenmitte, hinter dem die<br />
DJ-Pulte sich verbargen.<br />
Gelockt von enthusiastischen<br />
„Charli“-Rufen und heftigen Nebeln<br />
springt Aitchinson elastisch und offenbar<br />
gut aufgewärmt auf die<br />
Bühne: Sie wird dort unablässig traben,<br />
federn, rennen und bouncen,<br />
und sie setzt noch nicht mal Garderobeneffekte:<br />
Zu Beginn trägt sie zum<br />
wippenden Pferdeschwanz ein<br />
bauchfreies Sprinterinnen-Outfit mit<br />
einem blauem Schleier um die Schultern<br />
und an den Beinen Cowboychaps.Letzterezieht<br />
sie später aus.<br />
Die Musik kommt allein aus dem<br />
Computer,als schrieben wir –soder<br />
letzte, hochinfektiöse und mit entsprechenden<br />
Zeitmotiven spielende<br />
Titel –„1999“, als die vorläufige Herrschaft<br />
des Laptop-Performers gerade<br />
in die entscheidende Phase<br />
ging. Bemerkenswert ist dieser<br />
Hauch Old School auch, weil es sich<br />
bei XCXens Musik um die vermutlich<br />
modernistischste Popmusik des<br />
Overgrounds handelt. Bei ihr treffen<br />
sich gradlinigster Popappeal aus<br />
zuckrigen Melodiehooks mit abstrakten<br />
Geräuschen und Beats aus<br />
den Katakomben der Clubs.Sie sei ja<br />
irgendwie Pop, dann aber doch irgendwie<br />
nicht, dann vielleicht doch,<br />
erklärtdie 27-Jährige zwischendurch<br />
Charlotte Aitchison alias Charli XCX im Friedrichshainer Astra<br />
selbst das Rätsel, warum sie seit einigen<br />
halben Hits in den letzten Jahren<br />
und nunmehr drei Alben noch nicht<br />
ganz oben angekommen ist.<br />
DieUnschärfe liegt indes auch an<br />
einigen –livenicht repräsentierten –<br />
Häutungen, die sie von einem vage<br />
experimentellen Synthiesound über<br />
ROLAND OWSNITZKI<br />
Rockeinflüsse zum aktuellen Avantpop<br />
führten. Zu diesem kam es offenbar<br />
vorallem durch die Produktionsunterstützung<br />
von A.G. Cook,<br />
dem Chef des PC Music Labels, dessen<br />
Produkte sich, grob gesagt, die<br />
schroffsten Clubsounds als Bubblegum-Pop<br />
vorstellen.<br />
Ikarus mit Schatten<br />
Die Entscheidung, ihr Ding alleine<br />
durchzuziehen, bekommt aber<br />
auch deswegen einen speziellen<br />
Nachdruck, weil sie ihr aktuelles Album<br />
„Charli“, das sie komplett abspielen<br />
läßt, mit einer 13-köpfigen<br />
Gästeliste besetzt hat. Diese wiederum<br />
liest sich wie ein Who’s Who<br />
der musikalischen LBGTQ-Mittelschicht,<br />
vonder Indiepopperin Chris<br />
(tine and the Queens) über den<br />
EDM-Popper Troye Sivan und die<br />
körperfrohe R&B-Queen Lizzo zur,<br />
sagen wir sexpositiven Rapperin<br />
Cupkakke und der schwulen Crossdresserin<br />
Big Freedia. Deren „Shake<br />
It“ diente in Berlin als Shout Out an<br />
die lokale queere Community, die<br />
sich mit flamboyanten, genderoffenen<br />
Tanzenden darstellen darf.<br />
Am Erstaunlichsten war jedoch,<br />
dass man während der ganzen Performance<br />
gar nicht auf die Idee kam,<br />
etwas zu vermissen –außer vielleicht<br />
angenehmeres Wetter, das es dem<br />
kreischend partyfrohen Publikum<br />
ermöglicht hätte, etwas mehr als<br />
nackte Schultern und interessante<br />
Frisuren zu zeigen.<br />
Aitchinson trieb uns mit einer furiosen<br />
tänzerischen Unermüdlichkeit<br />
durch die Tracks, mimte, übernahm<br />
oder überspielte die abwesenden<br />
Vokalgäste und zappelte bis zur<br />
schnaufenden Erschöpfung mit der<br />
beneidenswerten Ausdauer einer<br />
Athletin. Die Musik schien gegenüber<br />
dem Album druckvoll aufgepumpt<br />
und hergerichtet, wobei die<br />
Songs neben kinnstarkem, hedonistischem<br />
Selbstbewusstsein durchaus<br />
und oft im gleichen Atemzug<br />
auch balladische Zerbechlichkeit<br />
und Unsicherheit vermitteln.<br />
Neben den jüngeren Singles,<br />
voran die eigentlich sicheren, deutlich<br />
auf Konsens gebügelten Hits wie<br />
„White Mercedes“, gab es mit dem<br />
dröhnenden Hartgummiknüppel<br />
„Vroom Vroom“,dem europoppigen<br />
„I Love It“ und dem bezaubernd<br />
bliependen und blubbernden„Boys“<br />
auch drei etwas ältereTracks.<br />
Ob es sich um ein gutes Konzert<br />
gehandelt hat, mag ich allerdings gar<br />
nicht entscheiden. Nur: Besser lässt<br />
sich diese gleichermaßen leutselige<br />
wie radikal zerschossene Tanzmusik<br />
wohl nicht auf die Bühne bringen.<br />
Markus Schneider<br />
ließ sich vonCarli XCX ganz<br />
gerneinEkstase bringen.<br />
Der Kinder-und Jugendtheaterpreis für das Grips und eine Ko-Produktion des Theaters an der Parkaue mit TurboPascal<br />
VonCornelia Geißler<br />
Die Ikarus-Preisverleihung ist immer<br />
ein fröhliches Fest, weil jedes<br />
vorausgewählte Stück kurz präsentiert<br />
wird. Acht besondere Inszenierungen<br />
für noch nicht erwachsene<br />
Menschen kamen am<br />
Freitagabend in Häppchen auf die<br />
Bühne des Theaters an der Parkaue.<br />
Diesmal hing allerdings zeitweilig<br />
ein Schatten über der Veranstaltung.<br />
Denn eigentlich waren ja neun Inszenierungen<br />
für den <strong>Berliner</strong> Kinder-<br />
und Jugendtheaterpreis nominiert.<br />
Der kommissarische Intendant<br />
des Theaters an der Parkaue<br />
Florian Stiehler begrüßte die Gäste<br />
in seinem Haus und erklärte kurz,<br />
was das Theater auch auf einem Zettel<br />
für die Programmhefte gedruckt<br />
hatte: Die Parkaue wollte die Nominierung<br />
ihres Stücks „Rohe Herzen“<br />
nicht mehr annehmen. Es wurde<br />
vonVolker Metzler inszeniert, jenem<br />
Regisseur, dessen Vertrag als Schauspieldirektor<br />
mit dem Theater im<br />
Sommer aufgelöst worden war (siehe<br />
<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> vom 1.11.).Vorausgegangen<br />
war eine Auseinandersetzung<br />
um rassistische Beleidigungen<br />
und um den Führungsstil am Haus.<br />
Die Gespräche seien noch nicht abgeschlossen,<br />
sagte Stiehler.<br />
Torsten Wöhlert, Staatssekretär in<br />
der Senatsverwaltung für Kultur und<br />
Europa, empfahl eingangs das Kinder-<br />
und Jugendtheater als Ort, um<br />
auch Respekt im Umgang miteinander<br />
zu lernen. Er begrüßte, dass sich<br />
das Theater an der Parkaue nun dem<br />
Problem stelle.<br />
Florian Stiehler hatte noch ein<br />
zweites Mal die Gelegenheit, ans Mikrofon<br />
zu treten. Denn die professionelle<br />
Jury erkannte seinem Theater<br />
den Ikarus für „Unterscheidet Euch!“<br />
zu, das in Koproduktion mit Turbo<br />
Pascal entstanden ist. Ein „Gesellschaftsspiel“<br />
heißt die Inszenierung<br />
im Untertitel: Sie bezieht das Publikum<br />
ein, kann jedes Mal anders<br />
sein. Mit dem Preis sind 5000<br />
Euro verbunden. Genauso viel<br />
erhielt das Grips-Theater für<br />
seine Inszenierung„Dschabber“.<br />
Diesen Ikarus vergab<br />
das eigentliche Zielpublikum,<br />
nämlich die<br />
Jugendjury. Wie<br />
schön, dass ihr<br />
Preis<br />
gleich hoch<br />
dotiert<br />
ist.<br />
nun<br />
NACHRICHTEN<br />
„Systemsprenger“ nominiert<br />
für Europäischen Filmpreis<br />
Dasdeutsche Drama „Systemsprenger“<br />
ist für den Europäischen Filmpreis<br />
nominiert. DasSpielfilmdebüt<br />
vonNoraFingscheidt um ein extrem<br />
schwieriges Kind tritt gegen die Konkurrenzbeiträge<br />
„J’accuse“, „Les<br />
Misérables“, „The Favourite“, „The<br />
Traitor“ und „Leid und Herrlichkeit“<br />
an. Dieelfjährige Hauptdarstellerin<br />
von„Systemsprenger“, Helena Zengel,<br />
ist darüber hinaus als beste europäische<br />
Schauspielerin nominiert.<br />
Als bester europäischer Schauspieler<br />
hat unter anderen Alexander Scheer<br />
(„Gundermann“) eine Nominierung<br />
erhalten. Für die beste Regie nominiertsind<br />
PedroAlmodóvar,Marco<br />
Bellocchio,Yorgos Lanthimos,Roman<br />
Polanski sowie Céline Sciamma.<br />
DieGala findet am 7. Dezember<br />
in Berlin statt. (dpa)<br />
Schweizer Buchpreis für<br />
Roman von Sibylle Berg<br />
Für ihren düsteren Zukunftsroman<br />
„GRM. Brainfuck“ ist Sibylle Berg mit<br />
dem diesjährigen Schweizer Buchpreis<br />
ausgezeichnet worden. Das<br />
Werk sei eine „eispickelharte Gesellschaftskritik“,<br />
sagte Jury-Mitglied<br />
Christine RichardamSonntag in ihrerLaudatio<br />
in Basel. DieinWeimar<br />
geborene und in der Schweiz lebende<br />
Autorin begleitet in ihrem<br />
Buch vier Jugendliche durch ein gesellschaftlich<br />
gespaltenes Großbritannien,<br />
in dem künstliche Intelligenz<br />
die Kontrolle übernommen<br />
hat. DerPreis gilt als die wichtigste<br />
Auszeichnung für deutschsprachige<br />
Literatur aus der Schweiz. (dpa)<br />
Neue Missbrauchsvorwürfe<br />
gegen Roman Polanski<br />
Kurz vorder Premiereseines Films<br />
„J’accuse“ (Nominiertfür den Europäischen<br />
Filmpreis) sind gegen Roman<br />
Polanski (86) neue Vergewaltigungsvorwürfe<br />
öffentlich geworden.<br />
Diefranzösische Schauspielerinund<br />
Fotografin Valentine<br />
Monnier beschuldigt den polnischfranzösischen<br />
Regisseur,sie 1975<br />
als 18-Jährige in der Schweiz vergewaltigt<br />
zu haben. Polanski<br />
weist die Anschuldigungen<br />
zurück. Wiedie Nachrichtenagentur<br />
AFP berichtete,erwägt<br />
der Regisseur<br />
juristische<br />
Schritte gegen<br />
die Veröffentlichung<br />
dieser<br />
Aussagen.<br />
(dpa)<br />
DEATH<br />
IN VENICE<br />
22., 27. November;<br />
5. Dezember 2019<br />
Benjamin Britten<br />
Markus Stenz Musikalische Leitung<br />
Graham Vick Inszenierung<br />
Mit Ian Bostridge, Seth Carico, Tai Oney, Rauand Taleb u.a.<br />
Karten und Infos: deutscheoperberlin.de, +4930343 84-343