Berliner Zeitung 14.01.2020
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20 * <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 11 · D ienstag, 14. Januar 2020<br />
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Feuilleton<br />
Jeder Schritt ist eine Wunde<br />
Es gibt nicht nur Elena Ferrante: In ihren Erzählungen und Reportagen setzte Anna Maria Ortese dem einfachen Neapel ein Denkmal<br />
VonJörg Aufenanger<br />
Jeder,der die Stadt mal besucht<br />
hat, weiß, dass das nicht<br />
stimmt: „Neapel liegt nicht am<br />
Meer“ behauptete Anna Maria<br />
Ortese mit ihrem 1953 erstmals erschienenen<br />
Buch mit Erzählungen<br />
und Reportagen. Eine Provokation<br />
war dieser Titel, für die sie hat büßen<br />
müssen. Andererseits gibt es durchaus<br />
Viertel Neapels, die nicht am<br />
Meer liegen. Schon mit der ersten<br />
Geschichte des Buchs „Die Brille“<br />
führt uns die Autorin in die dunklen<br />
Niederungen der Stadt.<br />
Die kleine, fast blinde Eugenia<br />
bewohnt mit ihrer Familie ein<br />
Basso. So werden die Wohnungen<br />
genannt, die im Parterremit stufenlosem<br />
Zugang zur Straße oder zum<br />
Innenhof liegen. Vondort aus sieht<br />
man die Sonne nicht, geschweige<br />
denn das Meer. Tante Nunziata will<br />
ihrer Nichte eine Brille kaufen, damit<br />
sie doch etwas sehen kann. Und<br />
so geht sie mit ihr zu einem Optiker,<br />
bestellt eine Brille. 8000 Lire für<br />
zwei Gläser, was für ein Vermögen<br />
seufzt sie, meint zu Eugenia: „Es ist<br />
besser, man sieht die Welt nicht, als<br />
dass man sie sieht“.<br />
Doch als das Mädchen beim Optiker<br />
eine Brille zur Probe aufsetzt und<br />
auf die Straße schaut, geschieht das<br />
Wunder.Plötzlich erblickt sie,was sie<br />
bisher nur erahnen konnte: Menschen,<br />
die in dem schicken Geschäftsviertel<br />
flanieren. Zugleich<br />
schaut sie in eine ihr unbekannte<br />
Welt, die so verschieden ist vonder,in<br />
der sie wohnt. In acht Tagen wird sie<br />
die Brille abholen können. Derweil<br />
lebt sie in einer Verzückung, genährt<br />
durch die Erwartung. Doch als sie die<br />
Brille schließlich zu Hause aufsetzt,<br />
kommt der Schrecken: Sie sieht alles<br />
Blick in die Altstadt von Neapel<br />
verkleinert, und die Häuser um sie<br />
herum stürzen auf sie ein. Ist eseine<br />
falsche Brille oder wollen ihre Augen<br />
nicht sehen, was sie sieht? Sie bricht<br />
zusammen, erbricht sich. Das Basso<br />
erscheint noch dunkler als je zuvor<br />
und Tante Nunziata jammert: „Achttausend<br />
Lirebares Geld.“<br />
Als „Neapel liegt nicht am Meer“<br />
erscheint, es sind die Fünfzigerjahre,<br />
wirdAnna MariaOrtese angefeindet<br />
und verleumdet, so dass sie aus Neapel<br />
flieht und durch Italien vagabundiert.<br />
Ihr bleibt eine unstillbare<br />
Sehnsucht nach ihrer Heimatstadt.<br />
„Jeder Schritt ist eine Wunde“, notiertsie.<br />
Sie lässt sich in Rapallo nieder,<br />
schreibt weiter, sie kann nichts anders,<br />
Erzählungen, Romane, Reportagen,<br />
die kaum wahrgenommen<br />
werden. Obwohl sie 1967 den Premio<br />
Strega erhält, den wichtigsten italienischen<br />
Buchpreis. Erst vier Jahre<br />
vorihrem Toderscheint im Jahr 1994<br />
„Neapel liegt nicht am Meer“ erneut.<br />
Auch dann wird sie von den großen<br />
<strong>Zeitung</strong>en Italiens heftig attackiert,<br />
LITTLECLIE<br />
man wirft ihr immer noch vor, sie<br />
habe die Stadt beschmutzt, wobei sie<br />
doch nur den Schmutz der Armenviertel<br />
beschrieben hat –und das in<br />
brillanten Erzählungen, die große Literatur<br />
sind.<br />
Nicht nur in „Die Brille“ zeigt sich<br />
ihreKunst, sondernauch in „Gold in<br />
Forcella“. In diesem Quartier Neapels<br />
inmitten der quirligen Stadt haben<br />
die Rufe der Menschen den„Ton<br />
einer Klage“. Forcella ist die Absteige<br />
zur Armut. „Dieses Neapel lag nicht<br />
am Meer. Ich war sicher, dass niemand<br />
es gesehen hatte oder sich<br />
dran erinnerte.“ Goldgeschäfte reihen<br />
sich aneinander, indenen die<br />
Armen ihr restliches Gold verkaufen,<br />
zu betrügerischen Preisen. Doch<br />
Zentrum des Quartiers ist das Leihhaus,<br />
in denen vor allem Frauen<br />
Schlange stehen, um ihre Habe zu<br />
verpfänden und den abschätzigen<br />
Blick des Angestellten ertragen müssen,<br />
der erbarmungslos das Urteil<br />
wie ein Fallbeil spricht: den Preis.<br />
Diese Szenen beschreibt Ortese<br />
in ihrer reportageartigen kunstvollen<br />
Prosa so anschaulich, als wäre<br />
nicht nur sie mitten im Geschehen,<br />
sondern die Leserin, der Leser mit<br />
ihr. In„Familie“ lernt man eine unverheiratete<br />
Frau um die vierzig kennen,<br />
die ihreGroßfamilie ernährtmit<br />
dem kleinen Wollgeschäft, das sie<br />
führt. Anastasia hat, „ohne es zu<br />
merken, jede Hoffnung auf ein persönliches<br />
Glück verloren.“ Doch am<br />
Morgen des Weihnachtstags erzählt<br />
ihr Bruder, erhabe Antonio getroffen,<br />
der sie aufsuchen wolle.Der war<br />
ihre unerwiderte Jugendliebe und<br />
nun ist sie wie elektrisiert, macht<br />
sich Hoffnung auf ein anderes, ein<br />
richtiges Frauenleben mit ihm, wartet.<br />
Jedesmal wenn es nun an der Tür<br />
klingelt, kann es doch nur er sein,<br />
doch er ist es nicht, während im<br />
Haus der Schlager „Alles ist vorüber“<br />
aus allen Radios plärrt. Wiedie Autorinesvermag,<br />
die Existenz dieser für<br />
sich verlorenen Frau einfühlend in<br />
alle Nuancen ihrer empfindsamen<br />
Seele zu erzählen, ist faszinierend.<br />
In der Reportage „Die Stadt wider<br />
Willen“ führtuns die Autorin in<br />
ein Armenasyl, in dem Menschen<br />
dahinvegetieren ohne jegliche<br />
Hoffnung auf einen neuen Tag.<br />
Neapel am Abgrund zur Vorhölle.<br />
Erschütternd.<br />
Es gibt nicht nur Elena Ferrante,<br />
die in ihren Romanen von dieser<br />
Stadt am Meer erzählt. Für sie als viel<br />
jüngere war Anna Maria Ortese eine<br />
Vorläuferin und auch ein Vorbild.<br />
Doch die hat die versteckte Realität<br />
Neapels schonungsloser geschildert,<br />
die sie die „perverse Wirklichkeit der<br />
Stadt“ nannte.<br />
Anna MariaOrtese:Neapel liegt nichtam<br />
Meer. Erzählungen. Ausdem Italienischen von<br />
Marianne Schneider.Friedenauer Presse, Berlin<br />
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