Nr.65 - Winter 2017 / 18

ON LIT
Roman
Eine verstörende Frau
Lola ist eine verwirrende Pariserin. Eine Frau, die einen Mann nach dem anderen
verschlingt und dabei fast keine Grenzen kennt. Sobald sie mit einem Mann Sex
hatte – und das hat sie oft – schneidet sie ihm einen Nagel ab und fügt diesen ihrer
Sammlung, die sie in einem Glasbehälter aufbewahrt, hinzu. Das sagt viel darüber aus,
wie wenig sie von Männern hält. Sie mag sie nicht, um genau zu sein, mag sie sich selbst
auch nicht besonders … Also « konsumiert » sie Männer, so wie diese manchmal Frauen
« konsumieren ». Bis zu dem Tag, an dem Lola sich in ihren Nachbarn verliebt. Dieser
Debütroman hat 2016 bei Erscheinen in Frankreich viel von sich reden gemacht. Beim
Lesen ist man verunsichert, erschüttert, bei manchen rohen Szenen, die schon fast an
Pornografie grenzen, sogar schockiert. Und doch kann man sich der Handlung nicht entziehen,
ist oft sogar berührt. Mit ihrem extrem präzisen Stil gelingt es Julie Estève mit
Bravour, dieser Frau, die man zunächst ablehnt, zutiefst menschliche Züge zu verleihen.
Nach Art von Michel Houellebecq spricht sie ohne Scham über Gefühle und Sexualleben,
bringt sie uns ihre Heldin näher, sodass wir versuchen sie zu verstehen und neugierig werden. Ist nicht gerade
das die Stärke von echter Literatur?
Julie Estève: Lola (Originaltitel: Moro-sphinx) • Rowohlt Verlag, 192 Seiten • ISBN: 978-3498090944
Romanbiografie
Der Visionär
des Welthandels
In diesem 2012 in Frankreich
erschienenen Roman lädt uns
einer der größten zeitgenössischen
französischen Schriftsteller, Jean-
Christophe Rufin, auf eine Reise
in die Vergangenheit ein: in eine
Zeit, in der das Mittelalter von der
Renaissance abgelöst wird. Dabei
entdeckt man das unglaubliche
Schicksal von Jacques Cœur (vermutlich 1395-1456), einem
Händler, Bankier und Reeder, der nicht nur einer der reichsten
Männer des Landes war, sondern gleichzeitig Finanzminister
unter König Karl VII., ein Freund des Papstes, vor allem aber
auch einer der ersten Franzosen, der mit dem Orient Handel
betrieb. Der wie sein Held aus Bourges (Centre-Val de Loire)
stammende Autor haucht dieser Persönlichkeit – die von
der französischen Geschichte vergessen wurde, obwohl
sie entscheidend zum Ende des Hundertjährigen Krieges
beigetragen hatte – ein Leben voller Leidenschaft und Genuss
ein. Ein Buch, das man nahezu wie einen Krimi verschlingt und
das sowohl Freunde der Literatur als auch Geschichtsfans
erfreuen wird.
Jean-Christophe Rufin: Der Schatzmeister des Königs
(Originaltitel: Le grand Cœur) • C.Bertelsmann,
482 Seiten • ISBN: 978-3570103159
Erfahrungsbericht
Ein zärtlicher und liebevoller Blick
auf Frankreich
Murielle Rousseau, Jahrgang 1966, lebt in Freiburg, kennt
Frankreich aber sehr gut, da sie in Paris aufgewachsen ist.
Beim Lesen dieses kleinen Werkes voller Humor und Poesie
sagt man sich, dass das Herz der Autorin immer noch
teilweise im Hexagon schlagen muss. Sensibel und treffend,
wie man es nur selten findet, beschreibt sie « unbedeutende
Dinge », die aber dennoch so typisch für Frankreich sind. Die
Art, wie sie – ganz im Stil eines « Kulturschocks », wie ihn die
Leser von Frankreich erleben gut kennen – die französische
Lebensart unter die Lupe nimmt, sei es Apéro, Fait maison,
der Ausdruck Ne vous inquiétez
pas oder die Théorie à la
française, lässt oft schmunzeln.
Und man sagt sich, dass sie
Frankreich schon unglaublich
gut verstehen und lieben muss,
um es uns so nahebringen
zu können. Bravo Madame
Rousseau!
Murielle Rousseau, Illustrationen
von Isabel Pin: Savoir-vivre
– Leben wie eine Französin
• Insel Verlag, 224 Seiten
• ISBN: 978-3458362982
14 · Frankreich erleben · Winter 2017/18