GAB Juni 2020
gab – seit 1996 das queere Magazin für Hessen und Baden-Württemberg.
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MUSIK<br />
NACHGEFRAGT<br />
Austra: „Der ewige Kreis“<br />
Als wir das letzte Mal mit<br />
Austra sprachen, stellte sie<br />
sich mit ihrem Album „Future<br />
Politics“ als Visionärin heraus,<br />
die die Entwicklungen und Wahlen von<br />
2016 vorhergespürt und in Musik gepackt<br />
hat. Man darf sich also nicht wundern,<br />
dass sie danach von solchen Themen die<br />
Nase voll hatte, doch auf „HiRUDiN“ wirft<br />
sie nicht nur deswegen einen tiefen Blick<br />
ins Innere, in ihr Selbst – sie hatte keine<br />
andere Wahl.<br />
Denn in den letzten Jahren lernte sie, wie<br />
wichtig es ist, sich genau um dieses Selbst<br />
zu kümmern, es zu heilen, wenn es leidet,<br />
toxische Beziehungen zu beenden und<br />
die Kraft zum Neuanfang zu finden. „Es<br />
war nichts, was ich mir ausgesucht habe,<br />
die Songs sind so aus mir gekommen“,<br />
beschreibt sie diese Zeit dann auch. „Bei<br />
,All I Wanted‘ habe ich am Piano gejammt,<br />
wie so oft, und die Worte kamen einfach<br />
… und erst, als ich die Aufnahme anhörte,<br />
merkte ich, wie intensiv das Lied geworden<br />
ist. Das kam direkt aus dem Unterbewussten,<br />
und ich war mir auch lange nicht<br />
sicher, ob ich es veröffentlichen kann.“<br />
Doch dann spielte sie es ihren Freunden<br />
vor und die überzeugten sie schnell, dass<br />
genau solche Stücke auf das Album<br />
müssen.<br />
Als sich abzeichnete, dass sich diese<br />
Intensität durch alle Lieder ziehen würde,<br />
begann sie, diese auch als Konzept zu<br />
umarmen. „Menschen hören aus so<br />
vielen Gründen Musik: Sie hören, um zu<br />
entspannen oder um zu flüchten oder um<br />
sich mit anderen Menschen zu verbinden.<br />
Indem ich etwas sehr Verwundbares<br />
gemacht habe, wollte ich mit anderen eine<br />
emotionale Verbindung herstellen, um sie<br />
an ihre eigene Menschlichkeit zu erinnern.<br />
Damit wir Kontakte herstellen, die nicht<br />
auf dem Internet basieren.“<br />
Erst mithilfe dieser Kontakte kann man<br />
sich so verwundbar zeigen wie Astra. So<br />
spricht sie zum Beispiel auch über etwas,<br />
das sie noch immer nicht loslässt und<br />
das sie mit „Queer Shame“ umschreibt.<br />
„Ich glaube, viele queere Menschen<br />
haben dieses tief verwurzelte Gefühl, das<br />
sie nie verlässt. Ich bin zum Beispiel im<br />
liberalsten Haus aufgewachsen, das man<br />
sich vorstellen kann, in einer sehr offenen<br />
Stadt und Community, aber trotzdem<br />
sind so viele Dinge für mich beängstigend,<br />
vor allem im alltäglichen Leben. Letztlich<br />
hat man ständig neue Coming-outs vor<br />
neuen Menschen, immer und immer<br />
wieder. ,Hast du einen Freund?‘ – ,Nein,<br />
ich bin lesbisch!‘ Und diese tiefen Gefühle<br />
spielen auch in unsere Beziehungen hinein<br />
und verursachen Probleme, wenn man all<br />
diese kleinen wiederkehrenden Momente<br />
erlebt, sie mit nach Hause nimmt und es<br />
vielleicht nicht einmal merkt, dass sich<br />
da etwas anstaut. Das bleibt schwierig,<br />
immer.“<br />
Ihre Heilung findet Austra dabei nicht<br />
einmal zwangsläufig beim Schreiben von<br />
Songs, es geht vielmehr um den schon<br />
angesprochenen Kontakt mit anderen<br />
Menschen – man muss sich mit Leuten<br />
umgeben, die einen unterstützen wollen<br />
und können. „Und um das zu erreichen,<br />
habe ich jetzt viele Veränderungen<br />
umgesetzt. Ich habe mich von meinen<br />
alten Kollaborateuren getrennt, meiner<br />
damaligen Partnerin, meinem Management.<br />
Mein Leben war auf einmal wie eine<br />
leere Leinwand, was sehr beängstigend<br />
war. Aber ich beschloss, diese Leere jetzt<br />
mit Menschen zu füllen, mit denen mein<br />
Verhältnis viel ausgeglichener ist.“ Künstler<br />
hin oder her, am Ende sind wir alle nur<br />
Menschen, die diesen Zusammenhalt<br />
brauchen, erklärt sie. „Dann kannst du<br />
auch die Kunst machen, die du machen<br />
möchtest.“ Aber sie weiß, dass auch mit<br />
den neuen Beziehungen kein Endpunkt<br />
erreicht ist. „Es wird immer wieder enden<br />
und neu anfangen. Es ist ein Kreis und es<br />
wird immer einer sein.“ *fis<br />
FOTO: VIRGINIE-KHATEEB