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VSAO JOURNAL Nr. 4 - August 2020

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Fokus<br />

Recht durch<br />

Selbstjustiz?<br />

Vom Vorteil eines fairen Prozessierens und wie Gericht und<br />

Parteien die Rechtsprechung mitformen können.<br />

Marcel Senn 1<br />

Wer sein vermeintliches<br />

Recht selber durchsetzen<br />

will, ist ein Egoist. Denn<br />

Recht ist meistens nicht<br />

das, was der Ansicht nur einer einzelnen<br />

Person entspricht. Schnell würde das<br />

Recht eines anderen dadurch verletzt.<br />

Recht ist vielmehr das, was die staatliche<br />

Gemeinschaft und deren gewählte Vertreter<br />

als Recht nach allgemeinen Regeln anerkennen<br />

müssen. Beteiligte jedoch – sei<br />

es eine Privatperson oder selbst der Staat<br />

– können in einem Prozess das Recht gemäss<br />

den geltenden Gesetzen gemeinsam<br />

gestalten. Dabei hilft der Richter, die<br />

Richterin. Ein altes Sprichwort sagt dazu:<br />

audiatur et altera pars. Der Volksmund<br />

übersetzt dies so: Ein Richter muss zwei<br />

gleiche Ohren haben, er soll also immer<br />

beide Teile (Parteien) anhören, bevor er<br />

urteilt. 2<br />

Heute sprechen wir vom Grundsatz<br />

des rechtlichen Gehörs in öffentlichen und<br />

in privaten Streitigkeiten. Das Wort Prozess<br />

kommt vom lat. procedere und meint:<br />

vorangehen, im weiteren Sinn verwandeln,<br />

das heisst, es werden gegensätzliche Äusserungen<br />

der Beteiligten zum selben Gegenstand<br />

durch eine richterliche Synthese<br />

einen Schritt weitergebracht und dadurch<br />

das Rechte wieder eingerichtet. Das Urteil<br />

soll demnach eine nach den Gesetzen bestehende<br />

Ordnung wiederherstellen. Dieses<br />

Prozedere ist juristisch entscheidend:<br />

Denn ohne Prozess, in dem alle Beteiligten<br />

sich äussern können, kann kein gültiges<br />

Urteil zustande kommen, selbst wenn das<br />

Urteil materiell (inhaltlich) gerecht erscheint;<br />

es kann nur Geltung beanspruchen,<br />

wenn es gleichzeitig auch formell<br />

korrekt zustande gekommen ist.<br />

Der Grund hierfür ist ebenso einfach wie<br />

einleuchtend: Die Sache, um die es in der<br />

Wirklichkeit geht und die dem Richterentscheid<br />

zugrunde gelegt wird, ist meist<br />

komplexer, als sie aufgrund nur einer Darstellung<br />

erscheinen kann. Juristische Prozesse<br />

sind daher Verfahren, die einen fairen<br />

Ausgleich zwischen den Parteien, die<br />

miteinander im Streit liegen, herstellen<br />

sollen. Die Hauptaufgabe der richterlichen<br />

Verfahrensleitung ist es, einen fairen<br />

Prozess zu gewährleisten, und erst gestützt<br />

darauf Recht zu sprechen. Daher<br />

müssen die Parteien im Prozess als gleich<br />

Starke um ihr Recht kämpfen können, sei<br />

es im privaten Verfahren als Kontrahenten<br />

auf gleicher Ebene oder im Verfahren gegen<br />

den Vertretern des Staates. Es darf keine<br />

Prädominanz der einen gegenüber der<br />

anderen Partei, insbesondere von ausserhalb<br />

des Prozesses, geben, damit weder<br />

Willkür, der soziale Status einer Partei<br />

noch eine sachfremde Zielvorgabe das<br />

Verfahren beeinflusst. Dadurch wird es<br />

auch den Parteien in einem objektivierten<br />

Sinne möglich, das richterlich gesprochene<br />

Recht unabhängig von ihren subjektiven<br />

Vorstellungen als rational und legitim<br />

anzuerkennen. Nur so kann das Gerichtsverfahren<br />

die materielle Rechtsordnung<br />

gemäss Gesetz und damit auch den Frieden<br />

in einem Konflikt wiederherstellen, so<br />

dass individuelle Rache und Selbstjustiz<br />

unterbunden bleiben. Und daher muss der<br />

Staat der alleinige Vertreter des Gewaltmonopols<br />

und der Rechtsprechung sein<br />

und bleiben.<br />

Gewaltenteilung als Voraussetzung<br />

Seit dem 19. Jahrhundert werden die staatlichen<br />

Gewalten daher in Legislative, Exe­<br />

kutive und Justiz strikt geteilt: Erlass, Ausführung<br />

und Überprüfung der Anwendung<br />

der Gesetze im Einzelfall sollen stets<br />

drei voneinander unabhängige Instanzen<br />

vornehmen, deren Autonomie auf ihrer je<br />

eigenen Kompetenz beruht. Ebenso müssen<br />

im Gerichtsprozess die verschiedenen<br />

Rollen funktional klar voneinander getrennt<br />

sein: Es gibt Richter, Kläger oder<br />

Ankläger, Beklagte oder Beschuldigte. Zusammen<br />

mit der Gewaltenteilung gewährleistet<br />

die Unabhängigkeit der Beteiligten<br />

in einem Verfahren, dass prozessuale<br />

Funktionen nicht vermengt werden, sondern<br />

vielmehr, dass die gegenseitige Kontrolle<br />

möglich bleibt.<br />

Diese liberalen staatspolitischen<br />

Grundsätze kamen nach den Erfahrungen<br />

mit dem Absolutismus des 17. und 18. Jahrhunderts<br />

im 19. Jahrhundert auf, nachdem<br />

die Konzentration von Macht und<br />

Gewalt in den Händen eines Herrschers<br />

öfters Unrecht erzeugte. Ein berühmtes<br />

Beispiel hierfür waren die Missstände im<br />

Staat Württemberg, welche Friedrich<br />

Schiller bzw. Christian Friedrich Daniel<br />

Schubart im Sinn der Aufklärung gegenüber<br />

Herzog Carl Eugen von Württemberg<br />

in «Kabale und Liebe» (1784) bzw. in den<br />

Berichten der «Teutschen Chronik» (1774–<br />

1778) anprangerten. Schubart wurde dafür<br />

ohne Urteil für zehn Jahre durch den Herzog<br />

persönlich eingekerkert. Sowohl dieses<br />

Beispiel wie aktuell etwa die Aufklärung<br />

des Mordes an Daphne Caruana Galizia,<br />

wohinein höchste Staatsfunktionäre<br />

und Wirtschaftsmächtige von Malta verwickelt<br />

sein sollen, macht deutlich, wie<br />

wichtig die Sicherheit der Meinungsäusserungsfreiheit<br />

der Einzelnen gestern wie<br />

heute sowie der institutionell freien Me­<br />

Bild: Adobe<br />

24<br />

4/20 <strong>VSAO</strong> /ASMAC Journal

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