VSAO JOURNAL Nr. 4 - August 2020
Prozess - Justiz, Religion, Evolution Gastroenterologie - Das Chamäleon Zöliakie Infektiologie - Urogynäkologische Infektionen Politik - Zurück in die Zukunft (?)
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Fokus<br />
Wenn der<br />
Hamster nicht<br />
aufersteht<br />
Wie entwickeln sich Vorstellungen von Sterben und Tod bei Kindern?<br />
Altersabhängig, geprägt von kulturellem Umfeld und<br />
persönlichen Erfahrungen, aber nicht in einem linearen Prozess.<br />
Alain Di Gallo, Chefarzt Klinik für Kinder und Jugendliche der<br />
Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel (UPKKJ)<br />
Der Übergang vom Leben in<br />
den Tod steht jeder und jedem<br />
bevor, und wir gehen alle<br />
auf unsere ganz persönliche<br />
Art mit diesem Schicksal um. Unser<br />
Verhältnis zum Sterben hängt mit vielen<br />
Faktoren zusammen. Zwei wichtige sind<br />
der emotionale und der kognitive Entwicklungsstand.<br />
Wenn wir erfahren wollen, was Kinder<br />
über den Tod wissen, ist es am einfachsten,<br />
sie direkt zu fragen: «Glaubst du, dass<br />
du einmal sterben wirst?» Etwa die Hälfte<br />
der 5-Jährigen und schon drei Viertel der<br />
6-Jährigen beantworten diese Frage mit<br />
Ja. Im Alter zwischen 8 und 10 Jahren wird<br />
der Tod von fast allen Kindern als fester<br />
Bestandteil der eigenen Existenz erkannt.<br />
Es ist eine einfache Frage mit einer einfachen<br />
Antwort – und trotzdem lohnt es<br />
sich, neugierig zu bleiben, ob man auf diese<br />
Weise wirklich Bedeutsames erfährt. Die<br />
blosse Anzahl der Ja-Antworten pro Altersstufe<br />
berücksichtigt nämlich nicht, dass jedem<br />
Todeskonzept auch die persönliche<br />
Lebenssituation des Kindes, seine Erziehung<br />
und sein soziales Umfeld zugrunde<br />
liegen. Traditionen und Kulturen haben einen<br />
bedeutenden Einfluss darauf, wie wir –<br />
als Kinder oder Erwachsene – mit der Spannung<br />
zwischen Leben und Tod umgehen.<br />
Der anonyme, abstrakte Tod<br />
In unserer Gesellschaft war diese Beziehung<br />
in den vergangenen Generationen<br />
starken Veränderungen unterworfen. Die<br />
Gründe dafür liegen besonders in den<br />
Fortschritten der Medizin und der weltumspannenden<br />
Kommunikation. Wir werden<br />
von den Medien laufend mit Nachrichten<br />
über Kriege, Unglücksfälle und Katastrophen<br />
überschüttet. Der Tod begleitet uns<br />
täglich, aber meist in sicherer Distanz und<br />
anonymer Form. Nahes Sterben betrifft<br />
meist Menschen im hohen Alter und findet<br />
im Spital oder in Hospizen statt. Früher<br />
traf der Tod viel häufiger junge Menschen,<br />
mitten im Erwerbsalter oder in ihrer<br />
elterlichen Verantwortung für kleine<br />
Kinder. Die Erschütterung für die Zurückbleibenden<br />
war dadurch grösser. Die uns<br />
von früheren Generationen und aus anderen<br />
Kulturen überlieferten Bewältigungsbemühungen<br />
mit manchmal wochenlangen<br />
Todesriten kennen wir kaum noch.<br />
Die Trauer ist in unserer Gesellschaft weitgehend<br />
privatisiert. Das entspricht unserem<br />
Wunsch nach Individualität und<br />
Selbstbestimmung, bringt aber – als Kehrseite<br />
– die Gefahr von Orientierungslosigkeit<br />
und Identitätskrisen mit sich. In manchen<br />
Kulturen durchlaufen Kinder und<br />
Jugendliche bis heute zahlreiche Rituale,<br />
die sich über Jahre erstrecken können und<br />
die ihnen im Lauf ihres Lebens und oft<br />
auch im Austausch mit den Ahnen einen<br />
sicheren Halt bieten.<br />
Der individuell bedeutsame Tod<br />
Wie entwickelt sich nun aber das Verständnis<br />
für den Tod von der frühesten<br />
Kindheit bis ins Erwachsenenalter? Bereits<br />
Säuglinge lernen, dass keine gute Erfahrung<br />
ewig dauern kann. In ihrer vollkommenen<br />
Abhängigkeit von der Umwelt<br />
schreien sie, wenn sie frieren oder Hunger<br />
haben. Vielleicht lösen diese Erlebnisse<br />
bei den Kleinsten bereits Empfindungen<br />
von Vernichtung aus oder einfach, dass sie<br />
sich nicht sicher fühlen. Letztlich ist es eine<br />
philosophische Frage, ob wir diese Gefühle<br />
bereits als Konzepte des Nichtseins<br />
oder Todes bezeichnen. Im Alter von etwa<br />
drei Jahren entsteht ein Bewusstsein, dass<br />
es den Tod gibt. Die Kinder verstehen ihn<br />
aber lediglich als Beschreibung im Hier<br />
und Jetzt. Die Realität des Todes ist an<br />
konkrete Gegebenheiten gebunden, zum<br />
Beispiel an die Tatsache, dass die Toten<br />
sich nicht mehr bewegen und nicht mehr<br />
mit uns sprechen können. In ihrer Allmachtsphantasie<br />
vermögen die Kinder in<br />
diesem Alter den Tod durchaus noch rückgängig<br />
zu machen. Einmal sagte ein 4-jähriges<br />
Mädchen zu mir: «Mein Hamster ist<br />
gestern gestorben. Aber morgen kommt er<br />
vielleicht zurück.»<br />
Etwa ab sechs Jahren wird das Denken<br />
flexibler. Ursachen und Wirkungen<br />
wecken das Interesse der Kinder. Sie lernen,<br />
die Unwiderruflichkeit (Tote kommen<br />
nicht zurück) und die Universalität<br />
(alle müssen einmal sterben, auch ich) zu<br />
erkennen. Vergangenheit, Zukunft und<br />
ursächliche Zusammenhänge – zunächst<br />
meistens äussere, wie Unfälle, später auch<br />
innere und schwieriger zu verstehende,<br />
wie Krankheiten – werden ins Todeskon<br />
Bilder: zvg<br />
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4/20 <strong>VSAO</strong> /ASMAC Journal