VSAO JOURNAL Nr. 4 - August 2020
Prozess - Justiz, Religion, Evolution Gastroenterologie - Das Chamäleon Zöliakie Infektiologie - Urogynäkologische Infektionen Politik - Zurück in die Zukunft (?)
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Infektiologie - Urogynäkologische Infektionen
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Perspektiven<br />
Aktuelles aus der Gastroenterologie: Zöliakie<br />
Das Chamäleon<br />
erkennen<br />
Zöliakie ist bezüglich Symptomen und Schwere der Erkrankung<br />
höchst unterschiedlich. Umso wichtiger ist eine frühzeitige Abklärung.<br />
Eine glutenfreie Diät ist bislang die einzige Therapie;<br />
Studien für andere Ansätze befinden sich in Phase II oder III.<br />
Prof. Dr. med. Stephan Vavricka 1,3<br />
PD Dr. med. Jonas Zeitz 2,3<br />
Die Zöliakie ist eine chronische,<br />
entzündliche Erkrankung<br />
des Dünndarms, welche<br />
immunologisch vermittelt ist<br />
und genetisch prädisponierte Individuen<br />
betrifft [1]. Durch die Aufnahme von Gluten<br />
kommt es zu einer Schädigung des<br />
Dünndarms, die durch Schleimhautentzündung,<br />
Kryptenhyperplasie und Zotten<br />
atrophie gekennzeichnet ist und im<br />
Verlauf zu einer Malabsorption von Nährstoffen<br />
und damit verbundenen Komplikationen<br />
führen kann [2]. Gluten ist eine<br />
Proteinkomponente von verschiedenen<br />
Getreidesorten wie beispielsweise Weizen,<br />
Hafer, Roggen und Gerste. Die erste,<br />
neuere Beschreibung der Zöliakie erfolgte<br />
schon im Jahr 1888 durch den englischen<br />
Arzt Samuel Gee. Erste Einblicke in die<br />
Pathogene der Zöliakie gab es bereits<br />
während des Zweiten Weltkrieges: Der<br />
Arzt Willem Karel Dicke beobachtete,<br />
dass sich Patienten mit rezidivierender<br />
Diar rhö besserten, wenn in Zeiten der<br />
Nahrungsmittelknappheit hauptsächlich<br />
nicht weizenhaltige Lebensmittel verzehrt<br />
wurden [3].<br />
Die ersten Beschreibungen der durch<br />
Gluten im Dünndarm verursachten Schäden<br />
mit duodenaler Schleimhautentzündung,<br />
Kryptenhyperplasie und villöser<br />
Atrophie wurden 1954 veröffentlicht<br />
[4].<br />
Früher wurde die Zöliakie als eine seltene<br />
Kindererkrankung angesehen. Durch eine<br />
verbesserte Diagnostik, insbesondere<br />
durch die Nachweis von Endomysiumund<br />
Transglutaminase-Antikörpern, kam<br />
es zu einer signifikanten Zunahme der Diagnose<br />
der Erkrankung allgemein, mit einer<br />
ebenfalls deutlichen Zunahme der Diagnose<br />
der Erkrankung im Erwachsenenalter<br />
[5].<br />
Epidemiologie<br />
In der Vergangenheit lag eine Unterdiagnose<br />
der Zöliakie vor; aufgrund der Entwicklung<br />
serologischer Tests konnte die<br />
Einschätzung der Inzidenz und Prävalenz<br />
der Zöliakie in den letzten Jahren jedoch<br />
stark verbessert werden [6, 7]. In einer finnischen<br />
Studie konnte eine Prävalenz von<br />
einem Prozent bei Kindern nachgewiesen<br />
werden [8]. Bei Erwachsenen wurden sowohl<br />
in den USA als auch in europäischen<br />
Ländern ähnliche Prävalenzen festgestellt<br />
[9–13]. Insgesamt ist ein Anstieg der Zöliakieprävalenz<br />
zu verzeichnen, eine finnische<br />
Studie zeigte über ungefähr 20 Jahre<br />
eine Verdopplung der Prävalenz und Studien<br />
aus den Vereinigten Staaten belegen<br />
eine 4- bis 4,5-fache Zunahme der Prävalenz<br />
über die letzten 50 Jahre [14, 15]. Gewisse<br />
Risikopopulationen wie Verwandte<br />
ersten und zweiten Grades mit Zöliakie<br />
zeigen eine höhere Prävalenz [16]. In Be<br />
zug auf das Geschlecht gibt es eine weibliche<br />
Dominanz mit einem Verhältnis von<br />
Frauen zu Männern von 3 zu 2 [17].<br />
Pathogenese<br />
Neben der Exposition gegenüber Gluten<br />
werden verschiedene andere umweltbedingte<br />
und genetische Faktoren als die<br />
Hauptfaktoren in der Pathogenese der<br />
Zöliakie angesehen.<br />
Es wird angenommen, dass fast 100<br />
Prozent aller Patienten mit Zöliakie Varian<br />
ten der HLA-Klasse-II-Gene HLA-<br />
DQA1 und HLA-DQB1 tragen [18]. Da jedoch<br />
30 bis 40 Prozent der Allgemeinbevölkerung<br />
Träger von DQ2 und/oder DQ8<br />
sind, reicht der HLA-Test allein nicht für<br />
die Diagnose von Zöliakie aus. Er kann<br />
aber aufgrund seines sehr hohen negativen<br />
Vorhersagewerts von fast 100 Prozent<br />
zum Ausschluss von Zöliakie verwendet<br />
werden.<br />
Gluten ist der Hauptumweltfaktor bei<br />
der Pathogenese der Zöliakie, es ist ein<br />
Speicherprotein, das in Getreiden wie<br />
Weizen, Gerste und Roggen enthalten ist.<br />
Die Aufnahme von Gluten führt zu einer<br />
adaptiven Immunantwort und auch zu einer<br />
Immunreaktion, ausgelöst durch die<br />
angeborene Immunantwort, welche den<br />
Dünndarmschaden bei der Zöliakie auslöst<br />
[19–23]. Verschiedene Umweltfaktoren<br />
wie das Stillen, Veränderungen der<br />
42<br />
4/20 <strong>VSAO</strong> /ASMAC Journal