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Nejla Kaba- Retzlaff leitet das Türk Huzur Evi 12 medAmbiente 1 · 2008 Gesundheitsökonomie und Management Tee und Tawla In Deutschland leben 1,764 Millionen Türken, davon haben bereits 95.000 das Rentenalter erreicht. Die Zahl der deutschen Staatsbürger türkischer Abstammung liegt bei 840.000. Insgesamt leben in der Bundesrepublik derzeit etwa 2,6 Millionen Menschen türkischer Abstammung. Der Bedarf an Pflegeeinrichtungen für türkische Senioren wird stark wachsen. Die Marseille- Kliniken betreiben seit 2006 in Kooperation mit der Türkischen Gemeinde Berlin deutschlandweit die erste türkische Pflegeeinrichtung in Berlin-Kreuzberg. Im „Türk Huzur Evi“ unterscheidet sich von anderen Einrichtungen nicht nur gestalterisch und dadurch, dass man Tawla (Backgammon) spielt, sondern auch durch einen erhöhten Pflegebedarf seiner Bewohner. Das türkische Seniorenheim in Berlin-Kreuzberg Zwischen Kreuzbergstraße und Mehringdamm – mitten in Berlin-Kreuzberg also – steht ein moderner, weiß getünchter fünfstöckiger Neubau in Y-förmigem Grundriss. Man sieht dem Gebäude nicht an, dass es sich um ein Novum in der deutschen Pflegelandschaft handelt: Es ist nämlich die erste Pflegeeinrichtung in Deutschland, die explizit für türkische Senioren gedacht ist. Die Einrichtung „Türk Huzur Evi“ bietet mit seinen 155 Betten ein vollstationäres Pflegekonzept. Die Idee zu dem Projekt kam den Marseille- Kliniken durch eine kräftig wachsende Nachfrage nach stationärer Pflege von türkischen Migranten. Weiteres Argument war für den Klinikbetreiber die sozioökonomische Lage der Türken in Deutschland, die eine bezahlbare Pflegeeinrichtung erfordert. Denn speziell diese Zielgruppe verfügt, so die Statistik, über ein deutlich geringeres Einkommen als Deutsche im vergleichbaren Alter. Im Vergleich mit dem deutschen Netto-Durchschnittseinkommen pro Person (2.045 �) beträgt das türkische Netto-Einkommen im Schnitt nur 1.036 �. Die Bedürfnisse dieser Gruppe können bislang in Deutschland noch nicht angemessen befriedigt werden, so die Erkenntnis der Marseille-Kliniken. Nicht selten haben Türken mehr als 40 Jahre, ihr gesamtes Arbeitsleben, in Deutschland verbracht und für die Sozialsysteme ihre Beiträge bezahlt. Die am Markt befindlichen Altenpflegeheime, in denen türkische Mitbürger nicht unter ihren Landsleuten leben können, berücksichtigen die Persönlichkeit dieser Menschen nicht, so die Betreiber.
Kulturell geprägte Gewohnheiten Die Herausforderung an das Pflegekonzept bestand in der Hauptsache darin, die kulturspezifischen Gewohnheiten der türkischen Bewohner angemessen zu berücksichtigen. Das betrifft vor allem die Religionsausübung, Ess- und Trinkgewohnheiten und besondere Eigenheiten bei der Körperpflege. Dazu kommt ein für die Türkei typischer hoher Respekt vor der Würde des Alters. Aus diesen Aspekten ergaben sich eine ganze Reihe von Anforderungen. Zunächst einmal sind Sprachschwierigkeiten sehr verbreitet. Vielfach bestehen im Deutschen große Verständnisprobleme, so dass türkisch sprechende Pflegerinnen und Pfleger unbedingt erforderlich sind. Das ist für die Einrichtungsleiterin Nejla Kaba-Retzlaff, die selbst im Alter von zehn Jahren nach Deutschland kam, sehr wichtig: „Besonders die Menschen der ersten Einwanderergeneration haben oft Sprachprobleme und können ihre Bedürfnisse und Probleme im Krankheitsfall auf Deutsch kaum verständlich machen. Sie sind sozusagen ‚sprachlos‘“. Auch Fragen des Geschlechts haben eine noch stärkere Bedeutung als in einem deutschen Pflegeheim: So müssen Frauen- und Männerpflege strikt voneinander getrennt sein: Das Schamgefühl unterscheidet sich großenteils noch von dem der Deutschen: Türkische Männer lassen sich nicht von Frauen pflegen und türkische Frauen nicht von männlichen Pflegern. Küche und Religion Die Küche wird von einem türkischen Koch geleitet, denn die Ernährungsgewohnheiten sowie die religiösen Vorgaben bezüglich ihrer Zubereitung („Helal“) sind vielen besonders wichtig. Beliefert wird die Küche von türkischen Lebensmittelläden – und das Fleisch stammt von Tieren, die nach religiösen Vorgaben geschlachtet worden sind. Besonderheiten wie die Fastenzeit, der Ramadan und das Opferfest werden besonders beachtet, so Nejla Kaba-Retzlaff. Die Aufenthalts- und Besuchsräume müssen besonders gestaltet sein – vor allem aber musste ein eigener Gebetsraum installiert werden. „Besonders für ältere Türken ist die Religionsausübung ein Grundbedürfnis und gehört fest zu ihrem Tagesablauf. Ein Imam kommt regelmäßig in unser Haus und betet mit den Bewohnern“, berichtet die Einrichtungsleiterin. Die Einrichtung mit Teppichen und türkischen Wandmalereien sollen das Heimweh der Bewohner mildern. Davon abgesehen, sind allerdings die Wünsche der Bewohner ähnlich wie die in jeder anderen Pflegeeinrichtung. Dementsprechend sind die Einzel- und Doppelzimmer hell und freundlich, außerdem behindertenfreundlich und komfortabel ausgestattet. Mit eigenen Möbeln können die Bewohner die Zimmer nach ihrem individuellen Geschmack gestalten. Um die Bedürfnisse der Zielgruppe und die Belegung optimal abzusichern, arbeitet der Betreiber zudem eng mit der Türkischen Gemeinde Berlin zusammen. Über einen paritätisch besetzten Beirat wird das Einrichtungs-, Versorgungs- und Personalaufteilungskonzept gemeinsam festgelegt. Erhöhter Pflegebedarf Die Marseille-Kliniken haben eine Vielzahl von Besonderheiten für türkische Pflegeheimbewohner ausgemacht. So sei der Gesundheitszustand türkischer Senioren oftmals schlechter als im Durchschnitt, weil sie häufig durch schwere körperliche Arbeit und einen entsprechend höheren Verschleiß geprägt seien. Auch die Quote ärztlicher Fehldiagnosen, zustande gekommen durch Sprachschwierigkeiten, sei bei Türken höher, ebenso die Zugangsprobleme bei der Inanspruchnahme sozialer und gesundheitlicher Dienste. Gesundheitsökonomie und Management Ein hoher Prozentsatz von ihnen lebt unter schlechten Wohnumfeldbedingungen und leidet auch unter sich auflösenden Familienstrukturen und zunehmend unter fehlender familiärer Unterstützung. All dies bringt psychische und soziale Probleme mit sich, mit denen auch das Pflegepersonal umgehen muss – chronische Erkrankungen und Multimorbidität sind hier besonders ausgeprägt und fordern einen besonderen Pflegebedarf. Dass das türkische Pflegeheim in Berlin das erste seiner Art in Deutschland ist, kann vor diesem Hintergrund nur erstaunen. Es liegen auch kaum Zahlen darüber vor, wie viele Türken hierzulande in Pflegeeinrichtungen leben. In den 270 Berliner Pflegeeinrichtungen wurden z. B. im Jahr 2003 nicht mehr als 40 Türken betreut, so eine Erhebung der Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales. Das Projekt ist sicherlich zukunftsweisend, so die Einschätzung der Leitung der Marseille- Kliniken: Denn die traditionelle familiäre Versorgung im Alter nimmt auch bei türkischen Großfamilien langsam ab. Die jüngere Generation der Türken ist durch Berufstätigkeit dazu auch oftmals nicht mehr in der Lage – und auch die ältere Generation will den Angehörigen nicht zur Last fallen. Und eine Rückkehr in die alte Heimat kommt für ältere Türken oft nicht mehr in Frage, auch wenn sie selbst das ursprünglich einmal vorgesehen hatten: Die familiären Bindungen in Deutschland sind zu stark – und ein Pendeln zwischen Deutschland und der Türkei wäre keine Lösung. Alt werden in Deutschland wird also für viele türkische Senioren die Zukunft sein. Kontakt: Marseille-Kliniken AG, Hamburg info@marseille-kliniken.com www.marseille-kliniken.com Fotos: Marseille-Kliniken AG Ältere Türken in Deutschland: Ein wachsender Bedarf � 1961 lebten rund 6.800 Türken in der Bundesrepublik. Bis zum Jahr 2004 ist die Zahl auf 1.764.318 gestiegen � Nach Bundesländern aufgeteilt, hat Nordrhein-Westfalen mit 33,9% die höchste Quote, danach folgen Baden-Württemberg mit 17,1%, Bayern mit 13%, Hessen mit 10,8% und Berlin mit 6,5%. � Derzeit sind 10,2% der in Deutschland lebenden Türkinnen und Türken über 60 Jahre alt. � Nach einer für Berlin aufgestellten Prognose des Berliner Senators für Stadtentwicklung wird bis 2020 die Zahl der Türken zwischen 65 und 75 Jahre um ca. 100% steigen, die der über 75-jährigen Türken um 300 bis 400%. Dabei rechnet man z.B. unter den 65-Jährigen mit einem Anteil von Pflegefällen in Höhe von 5%. medAmbiente 1 · 2008 13
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