2000-5
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Bis vorigen Sonntag hielt ich mich ja für<br />
stockunmusikalisch.<br />
Die Wojewodska hat mir Freitag nach<br />
dem Training eine Konzertkarte geschenkt,<br />
weil sie am Sonntag nicht konnte.<br />
Widerspruch ist nicht bei der Wojewodska,<br />
sie trainiert die Damenmannschaft,<br />
stabile Mutter, die Frau, unbedingt.<br />
Das Musikstück hieß auch so ähnlich,<br />
nur auf Latein: Stabat Mater.<br />
Ich also hin. Das Stadion gerammelt<br />
voll, hinten, vorne, oben lauter Fans, aber<br />
hochdiszipliniert, das muss man schon<br />
sagen.<br />
Der Platz neben mir ist noch frei, erst in<br />
der neunzigsten Minute kommt noch einer.<br />
Der zieht Block und Bleistift raus und<br />
will was schreiben, aber da ist schon<br />
Spielende, das Volk jubelt, die Blumenmädchen<br />
kommen, und der Typ neben<br />
mir macht ein betretenes Gesicht.<br />
»Du sitzt auf meiner Mütze, Sportsfreund!«<br />
sage ich. Das ist ihm peinlich.<br />
»Darf ich Sie zu einem Bier einladen?«<br />
»Immer!«<br />
Wir also ab in die Kneipe. Dort erzählt<br />
er, er ist Kritiker und schreibt über das<br />
Konzert.<br />
»Wie machste denn das«, frage ich.<br />
»Wo du doch erst nach der zweiten Halbzeit<br />
gekommen bist?«<br />
Er spendiert mir noch ein Bier und<br />
meint: »Alles Routine! Und überhaupt:<br />
Provinz!«<br />
158<br />
Dann legt er Ios, nimmt Block und Bleistift<br />
wieder raus und will wissen, wie es<br />
war.<br />
»Na ja«, sage ich. »Laut war's. Manchmal<br />
auch nicht.«<br />
»Differenzierter musikalischer Gesamtklang«,<br />
schreibt er, und dann will er noch<br />
mehr wissen.<br />
Aber dazu muss er mir erst mal das<br />
Spiel erklären, weil ich ja mehr Sportler<br />
als Musikkenner bin. Also noch zwei Bier,<br />
und dann geht's Ios.<br />
Im Prinzip gibt es zwei Mannschaften:<br />
hinten mit den weißen Trikots, das ist der<br />
Chor, vorn in Schwarz das Orchester. Ziel<br />
des Spiels ist, sich durchzusetzen. Wer<br />
den anderen übertönen kann, hat gewonnen.<br />
Von der Zahl her sind die Weißen<br />
überlegen, dafür haben die Schwarzen<br />
I nstrumente, die zum Teil mächtig durchfetzen.<br />
Vorn steht der Schiedsrichter und<br />
passt auf, dass alles nach den Regeln abläuft,<br />
die stehen in dem großen Buch, das<br />
vor ihm auf einem Pult liegt. Er hat einen<br />
Stock in der Hand und zeigt an, wenn einer<br />
ein Foul begeht.<br />
»Ist dir am Chor etwas aufgefallen?«<br />
fragt er. »Zum Beispiel der Alt?«<br />
»Alt?«<br />
»Rechter Stürmerflügel der Weißen.«<br />
»Ach so! Waren gar nicht so alt. Eine<br />
davon war ziemlich gut gebaut, wenn du<br />
weißt, was ich meine.«<br />
Er schreibt: »Wohlabgerundeter Klangkörper.«<br />
»Fabelhaft, wie du das so ausdrückst!«<br />
sage ich. Er grinst und bestellt noch zwei<br />
Bier. Jetzt kommen wir so richtig in Fahrt.<br />
»Linker Stürmerflügel?«<br />
»Eine hatte Probleme beim Einlaufen,<br />
stolperte über einen Kasten von einer<br />
Geige. Der siebte von rechts.«<br />
»Sopran strauchelte bei Nummer sieben.<br />
Mittelfeld?«<br />
»Nun ja: laut. Oder auch nicht. Ein paar<br />
Dicke waren dabei.«<br />
»Voluminöse Männerstimmen. Sonst<br />
noch was Auffälliges?«<br />
»Nichts.«<br />
»Einheitlicher Chorklang. Und das Orchester,<br />
wie war das?«<br />
PFÄLZER SANGER 5/<strong>2000</strong><br />
»Orchester?«<br />
»Die Schwarzen!«<br />
»Ach richtig. Nun ja, laut. Oder auch<br />
nicht.«<br />
»Sensible Orchestereinstudierung. Und<br />
die Solisten?«<br />
»Nun ja, laut. Verstanden hat man kein<br />
Wort, war ja alles Latein.«<br />
»Vokalisten auf präzise Aussprache<br />
achten! Das war's schon. Herr Ober, noch<br />
zwei Bier!«<br />
»Und das schreibste jetzt alles in deiner<br />
Zeitung? Alles, was ich dir so erzählt<br />
habe?« will ich wissen.<br />
»So ungefähr«, grinst er und kippt eine<br />
Halbe.<br />
Ein netter Typ! Wir trinken noch vier bis<br />
fünf Halbe, dann geht er, weil er den Artikel<br />
noch in die Redaktion bringen muss.<br />
Wirklich, bisher habe ich gedacht, ich<br />
sei stockunmusikalisch. Da muss erst so<br />
einer kommen und mir klarmachen, dass<br />
ich musikalisch unheimlich was auf dem<br />
Kasten habe!<br />
Fürs nächste Konzert kriege ich von<br />
ihm eine Karte, und wir treffen uns hinterher<br />
in Wiesbaden, damit er nicht extra<br />
herfahren muss. Da ist 'ne nette Kneipe,<br />
die er mir zeigen will ...<br />
(aus -Hilke Sellnick: Skurrile Töne - Schräge Geschichten aus<br />
dem Leben mit Musik« - Dr. Gisela Lermann Verlag Mainz, Paperback<br />
102 Seiten, 19,80 DM, ISBN 3-927223-17-4 Abdruck<br />
mit freundlicher Genehmigung des Dr Gisela Lermann Verlags<br />
Mainz)