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Bis vorigen Sonntag hielt ich mich ja für<br />

stockunmusikalisch.<br />

Die Wojewodska hat mir Freitag nach<br />

dem Training eine Konzertkarte geschenkt,<br />

weil sie am Sonntag nicht konnte.<br />

Widerspruch ist nicht bei der Wojewodska,<br />

sie trainiert die Damenmannschaft,<br />

stabile Mutter, die Frau, unbedingt.<br />

Das Musikstück hieß auch so ähnlich,<br />

nur auf Latein: Stabat Mater.<br />

Ich also hin. Das Stadion gerammelt<br />

voll, hinten, vorne, oben lauter Fans, aber<br />

hochdiszipliniert, das muss man schon<br />

sagen.<br />

Der Platz neben mir ist noch frei, erst in<br />

der neunzigsten Minute kommt noch einer.<br />

Der zieht Block und Bleistift raus und<br />

will was schreiben, aber da ist schon<br />

Spielende, das Volk jubelt, die Blumenmädchen<br />

kommen, und der Typ neben<br />

mir macht ein betretenes Gesicht.<br />

»Du sitzt auf meiner Mütze, Sportsfreund!«<br />

sage ich. Das ist ihm peinlich.<br />

»Darf ich Sie zu einem Bier einladen?«<br />

»Immer!«<br />

Wir also ab in die Kneipe. Dort erzählt<br />

er, er ist Kritiker und schreibt über das<br />

Konzert.<br />

»Wie machste denn das«, frage ich.<br />

»Wo du doch erst nach der zweiten Halbzeit<br />

gekommen bist?«<br />

Er spendiert mir noch ein Bier und<br />

meint: »Alles Routine! Und überhaupt:<br />

Provinz!«<br />

158<br />

Dann legt er Ios, nimmt Block und Bleistift<br />

wieder raus und will wissen, wie es<br />

war.<br />

»Na ja«, sage ich. »Laut war's. Manchmal<br />

auch nicht.«<br />

»Differenzierter musikalischer Gesamtklang«,<br />

schreibt er, und dann will er noch<br />

mehr wissen.<br />

Aber dazu muss er mir erst mal das<br />

Spiel erklären, weil ich ja mehr Sportler<br />

als Musikkenner bin. Also noch zwei Bier,<br />

und dann geht's Ios.<br />

Im Prinzip gibt es zwei Mannschaften:<br />

hinten mit den weißen Trikots, das ist der<br />

Chor, vorn in Schwarz das Orchester. Ziel<br />

des Spiels ist, sich durchzusetzen. Wer<br />

den anderen übertönen kann, hat gewonnen.<br />

Von der Zahl her sind die Weißen<br />

überlegen, dafür haben die Schwarzen<br />

I nstrumente, die zum Teil mächtig durchfetzen.<br />

Vorn steht der Schiedsrichter und<br />

passt auf, dass alles nach den Regeln abläuft,<br />

die stehen in dem großen Buch, das<br />

vor ihm auf einem Pult liegt. Er hat einen<br />

Stock in der Hand und zeigt an, wenn einer<br />

ein Foul begeht.<br />

»Ist dir am Chor etwas aufgefallen?«<br />

fragt er. »Zum Beispiel der Alt?«<br />

»Alt?«<br />

»Rechter Stürmerflügel der Weißen.«<br />

»Ach so! Waren gar nicht so alt. Eine<br />

davon war ziemlich gut gebaut, wenn du<br />

weißt, was ich meine.«<br />

Er schreibt: »Wohlabgerundeter Klangkörper.«<br />

»Fabelhaft, wie du das so ausdrückst!«<br />

sage ich. Er grinst und bestellt noch zwei<br />

Bier. Jetzt kommen wir so richtig in Fahrt.<br />

»Linker Stürmerflügel?«<br />

»Eine hatte Probleme beim Einlaufen,<br />

stolperte über einen Kasten von einer<br />

Geige. Der siebte von rechts.«<br />

»Sopran strauchelte bei Nummer sieben.<br />

Mittelfeld?«<br />

»Nun ja: laut. Oder auch nicht. Ein paar<br />

Dicke waren dabei.«<br />

»Voluminöse Männerstimmen. Sonst<br />

noch was Auffälliges?«<br />

»Nichts.«<br />

»Einheitlicher Chorklang. Und das Orchester,<br />

wie war das?«<br />

PFÄLZER SANGER 5/<strong>2000</strong><br />

»Orchester?«<br />

»Die Schwarzen!«<br />

»Ach richtig. Nun ja, laut. Oder auch<br />

nicht.«<br />

»Sensible Orchestereinstudierung. Und<br />

die Solisten?«<br />

»Nun ja, laut. Verstanden hat man kein<br />

Wort, war ja alles Latein.«<br />

»Vokalisten auf präzise Aussprache<br />

achten! Das war's schon. Herr Ober, noch<br />

zwei Bier!«<br />

»Und das schreibste jetzt alles in deiner<br />

Zeitung? Alles, was ich dir so erzählt<br />

habe?« will ich wissen.<br />

»So ungefähr«, grinst er und kippt eine<br />

Halbe.<br />

Ein netter Typ! Wir trinken noch vier bis<br />

fünf Halbe, dann geht er, weil er den Artikel<br />

noch in die Redaktion bringen muss.<br />

Wirklich, bisher habe ich gedacht, ich<br />

sei stockunmusikalisch. Da muss erst so<br />

einer kommen und mir klarmachen, dass<br />

ich musikalisch unheimlich was auf dem<br />

Kasten habe!<br />

Fürs nächste Konzert kriege ich von<br />

ihm eine Karte, und wir treffen uns hinterher<br />

in Wiesbaden, damit er nicht extra<br />

herfahren muss. Da ist 'ne nette Kneipe,<br />

die er mir zeigen will ...<br />

(aus -Hilke Sellnick: Skurrile Töne - Schräge Geschichten aus<br />

dem Leben mit Musik« - Dr. Gisela Lermann Verlag Mainz, Paperback<br />

102 Seiten, 19,80 DM, ISBN 3-927223-17-4 Abdruck<br />

mit freundlicher Genehmigung des Dr Gisela Lermann Verlags<br />

Mainz)

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