ST:A:R_13
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Städteplanung / Architektur / Religion<br />
Buch XI - Literatur <strong>ST</strong>/A/R 81<br />
Eine Kinokarte von Lucas Cejpek, ein Gedächtnis-<br />
LITERATUR<br />
Tractat von Wolfgang Sysak, Populäre Panoramen<br />
von Brigitta Falkner, zwei Manifeste von Michaela<br />
Falkner, Gedanken zu Träumen von Bettina Klix,<br />
weitere Pariser Passagen von Bettina Galvagni,<br />
Kaffeehausbegegnungen von Hanno Millesi,<br />
ein Textgeplänkel von Sophie Reyer und<br />
ein Screenshot von Petra Coronato.<br />
UNTERIRDISCHE FANGARME<br />
Dieter Sperl<br />
In einer merkwürdigen, möglicherweise<br />
hinter meinem Rücken entstandenen<br />
Redeweise beschleicht mich das bestimmte<br />
Gefühl, ich, der ich noch gar nicht vollständig<br />
zugenäht worden bin mit den Stricken des<br />
Lebens, obwohl längst über vierzig, könnte<br />
vielleicht zum Wunder Mensch, dieser<br />
ununterbrochen nach Verhaltensoptimierungen<br />
heischenden Überlebensmaschine, gar nichts<br />
Entscheidendes hinzufügen. Dieser Gedanke,<br />
sofern er manchmal in mein Bewusstsein<br />
tritt, stimmt mich dann fast immer eine Zeit<br />
lang ziemlich traurig, und ich ziehe mich als<br />
Folge davon in meine auswendig gelernten<br />
und jederzeit abrufbaren Handlungen zurück<br />
oder falle in mein überirdisches, an der<br />
Kippe zu seinem individuellen Verschwinden<br />
befindliches Lächeln. Dass man an einem<br />
scheinbar x-beliebigen Punkt an einem scheinbar<br />
x-beliebigen Ort in den so genannten eigenen<br />
Schädel hinein geboren wird, in welchem<br />
bloß wenige Jahre nach der erfolgreichen<br />
persönlichen Geburt schon die ersten echten<br />
Blumen zu riechen beginnen, habe ich in meinen<br />
besten Momenten tatsächlich hinnehmen und<br />
verstehen können, aber bestimmt auch gleich<br />
viele Male nicht, wie ich hier, der Wahrheit<br />
gemäß, hinzufügen möchte. Vergissmeinnicht,<br />
Nelken und Buschwindröschen waren, soweit<br />
ich mich erinnern kann, der Reihe nach<br />
aufgetreten, zu denen ein individueller Zugang<br />
aufgebaut werden musste. Farben streckten ihre<br />
Hände nach mir aus und Düfte verzauberten<br />
meine Nasenschleimhäute. Der im Freien<br />
oft dazugehörige Wind versetzte mich häufig<br />
in eine von mir zumeist als unauffallend<br />
wahrgenommene Wirklichkeit. Und so stehen wir<br />
in unseren Wirklichkeitsbehauptungen stets auch<br />
auf der besonderen Seite des Lebens, winken<br />
manchmal beiläufig den vorbei fliegenden<br />
Passagierflugzeugen zu und machen uns so<br />
unsere Gedanken. Welche Lebensversicherung<br />
haben wir eigentlich abgeschlossen? Und wann<br />
war das? Wie viele Jahre können noch mit uns<br />
als Beitragszahler rechnen? Wann wird das letzte<br />
Bedeutungsraumschiff in unserem Gehirn seine<br />
Zelte abgebrochen haben? Was bedeutet dieser<br />
Augenblick dann überhaupt?<br />
Wenn man sich nun tatsächlich bemüht, diese<br />
Fragen so klar wie möglich zu sehen, wird man<br />
bemerken, dass es knapp vor dem Entstehen oder<br />
dem Begreifen und gleichzeitigem Durchsetzen<br />
möglicher Erkenntnisse immer einen Moment<br />
gibt, in welchem diese wie Seifenblasen<br />
zerplatzen (als habe es sie nie gegeben) und<br />
menschenleere Bewegungen sichtbar werden,<br />
bis man überwachsen ist, bemoost, mit Vögeln<br />
auf den Schultern, frei von Erschöpfung oder<br />
Aufregung, mit unterirdischen Fangarmen, die<br />
keine bestimmte Form mehr haben, sich, wenn<br />
es notwendig ist, verlängern oder verbreitern,<br />
und sich wie ein Blutstrom bewegen, und man<br />
ist dieser Strom und ist gleichzeitig man selbst:<br />
Momente höchster Güte.<br />
>> sperl@star-wien.at<br />
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