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86 <strong>ST</strong>/A/R<br />
Buch XI - Literatur<br />
Nr. <strong>13</strong>/2007<br />
Pariser Passagen<br />
(Chroniken, Teil 2: 2006)<br />
Bettina Galvagni<br />
Der Gott der Tiere<br />
Es war früher Nachmittag, als ich beschloß, zu meinem<br />
Schneider zu gehen. Ich zog grüne Schuhe an, auf die<br />
ein gelbes Reh aufgeklebt war, und wickelte die Haare<br />
schützend um mein Gesicht. Der Schneider nähte an<br />
meiner Jacke, als die Stimme einer Frau näherkam. Die<br />
sanfte Stimme einer Verrückten, dachte ich, und gleichzeitig<br />
die Stimme einer Katze, die von einem Vogel gebannt ist.<br />
Sie sprach von Blumen... „Haben Sie nicht gesehen, wieviele<br />
Blumen ich auf meinen Balkon gestellt habe, für Sie (sie<br />
meint den Schneider), wenn Sie in den Himmel sehen.“<br />
In diesem Moment erschien die Frau des Schneiders...<br />
Die Stimme sagte zu der Frau des Schneiders: „Oh, Sie<br />
sind sehr hübsch heute. Bestimmt kommen Sie gerade<br />
von Ihrem Liebhaber.“ Alle lachten, ich fing auch an zu<br />
lachen... Mitten in dem Lachen kommt sie<br />
näher und fragt<br />
den Schneider, ob die Länge ihrer Hosen passe. Er sagt<br />
nein. Nun sieht sie mich an, das heißt, nein, sie sieht die<br />
Schuhe-mit-dem-gelben-Plastikreh an. Ich sitze auf dem<br />
Tisch, auf dem die Nähmaschine steht. Ich sitze immer da,<br />
ohne mich je zu fragen, ob es unanständig sei, da zu sitzen,<br />
und trinke Wasser. Ich bitte den Schneider jedesmal um<br />
Wasser, denn ich komme immer mit letzten Kräften zu<br />
ihm. Plötzlich sage ich: „Na ja, die Länge ist an der Grenze.“<br />
Ich versuche es zu erklären... Die neueste Mode, die jungen<br />
Mädchen undsoweiter. Ich sehe sie an. Sie ist nicht mehr<br />
jung, aber sie ist faszinierender als ein großartiges Buch und<br />
faszinierender als Scarlett-Johansson-im-Kino-anzusehen.<br />
Nun steht sie vor mir, mit ihrem Haar-das-grau-ist-wiegrauer-Schnee<br />
- und meint: „Sie gleichen einem Engel. Und<br />
wahrscheinlich sind Sie auch ein wenig pervers.“ Sie ist die<br />
Frau eines berühmten, verschlossenen Drehbuchautors<br />
und hatte selbst eine kleine Rolle in „Der Ball der Vampire“<br />
gespielt: eine alte Verrückte... „Wenn Sie nicht diese Schuhe<br />
getragen hätten“, gesteht sie mir später, „hätte ich niemals<br />
angefangen, mit Ihnen zu sprechen.“ Nun aber lädt sie<br />
mich zu einer Tasse Tee ein, bei sich und ihrem Mann,<br />
dem berühmten, todkranken Drehbuchautor. Ich bleibe bis<br />
Mitternacht bei ihnen – aber ich wünschte, ich könnte für<br />
immer dort bleiben.<br />
Alila<br />
Amos Gitais Film „Alila“ führt nicht von einem Raum in<br />
einen anderen, weiter hinten gelegenen, sondern zeigt<br />
alle Räume zugleich und nacheinander (die Räume der<br />
nicht-ganz-dichten Leute, die in jenem Haus zwischen Tel<br />
Aviv und Jaffa wohnen), und Ronit Elkabetz als Verrückte<br />
ist herrlich, ihre quietschende Stimme, ihre endlosen<br />
schwarzen Haare – ja, ihre bizarre Schönheit! Natürlich<br />
verstehe ich, wie ich glaube, den Unterschied zwischen<br />
polanskischem Onirismus und Gitais hastiger Sublimierung<br />
der Realität – ein Film von Polanski ist wie ein Schloß,<br />
man geht von Zimmer zu Zimmer, ständig öffnet sich eine<br />
weitere Tür, solange, bis man sich vermeintlich in eine der<br />
Personen verwandelt, die durch alle diese Türen durchgeht.<br />
Hier bleibt man draußen, man schaut von außen in das<br />
Haus, das natürlich auch kein Schloß ist und wo sich<br />
nirgends eine romanhafte Handlung abspielt. Wer mehr<br />
über die Mysterien von sich öffnenden Türen wissen will,<br />
sollte unbedingt Joseph Brodskijs „Ufer der Verlorenen“<br />
lesen.<br />
„Ich werde mein unlebbares Leben leben“<br />
Der Artikel, der an der Vitrine des Kinos „Arlequin“<br />
angebracht war, pries Lajos Koltais Film „Être sans destin“<br />
als den einzigen narrativen Film, der mit Claude Lanzmanns<br />
Dokumentation „Shoah“ vergleichbar sei (aber Zeitungen<br />
schreiben immer solche Dinge). Niemals, denke ich, als ich<br />
den Film sehe. Nur Imre Kertesz’ Sprache... Seine luziden<br />
Sätze fallen wie Sterne mitten in den Horror. Vor allem der<br />
Satz am Schluß des Films: „Ich werde mein unlebbares<br />
Leben leben.“ Dieser Satz durchstieß mein Herz wie ein<br />
Schwert. Ich weinte, weinte, weinte, vor Schmerz und vor<br />
Glück.<br />
Nach dem Film, in der eigenartigen Toilette dieses Kinos,<br />
hörte ich eine Frau am Handy sprechen, sie sagte: „Guten<br />
Tag, Madame... Ich glaube, sie waren in demselben Konvoi<br />
wie ich... sie waren in Rheims verhaftet worden... ich habe<br />
sie wiedergefunden!“ Aber die Frau, die dann erschien, als<br />
ich mit meinen eingetrockneten Tränen am Waschbecken<br />
stand, war nicht sehr alt – zu jung für das, wovon sie<br />
erzählte. Da sah ich eine andere Frau, eine alte Frau...<br />
Sie schien es zu wissen. . Sie trug die klassischen Kleider-<br />
einer-älteren-Dame, nicht ausgeprochen elegant – einen<br />
kurzen Mantel in Tannennadelfarbe -, aber sie trug sie<br />
mit Würde – und ich schaute sie an und fühlte, daß sie<br />
„unzerbrechbar“ war und auch ...sanft. Ich wusch mir die<br />
Hände und das Gesicht mit kaltem Wasser und verließ<br />
die Toilette. Draußen, ein wenig später, vor der Fondation<br />
Cartier, zerpickte ein Rabe die Gedärme einer toten Taube;<br />
ein Teil der Gedärme war auf dem Gehsteig verstreut und<br />
bewegte sich wie Würmer. Als ich näherkam, zog der Rabe<br />
sich diskret zurück.<br />
Die Party der Tiere<br />
Harold Brodkey hatte einmal die Absicht gehabt, einen<br />
Roman mit dem Titel „The Party of Animals“ zu schreiben.<br />
Diesen Titel liebe ich so, als ob es sich hierbei um den<br />
absoluten Archetyp der Poesie handelte. Party: Spaß, Gefahr,<br />
Risiko, Passion – und Tiere: die königlichsten Wesen der<br />
Erde – jede Dichtung sollte nur ihnen gewidmet sein. Denn<br />
sie schaffen es, Schmerz zu ertragen, ohne verrückt zu<br />
werden.<br />
Christiane Cohendy als Hélène Althusser<br />
In dem Stück „Le Caïman“ des jungen Autors Antoine Rault<br />
wird in minutiösem Stundentakt die Nacht protokolliert, in<br />
der der Philosoph und École-Normale-Supérieure-Professor<br />
Louis Althusser in seinem Apartment in der rue d’Ulm<br />
seine Frau umbrachte. Der Professor verliert auf sublime<br />
Weise den Verstand, während seine Frau, brillant gespielt<br />
von der aparten Christiane Cohendy, auf sublime Weise<br />
zunehmend an weiblicher Autonomie und Souveränität<br />
gewinnt – wenngleich sie vor Verzweiflung eigentlich schon<br />
vor der Tötung getötet wurde... Ich bin keine Feministin!<br />
„Ein Journalist fragte mich: Warum<br />
schreiben Sie? Ich fragte ihn:<br />
Warum trinken Sie Wasser?“<br />
Aber ich muß Ihnen sagen: ich habe noch nie ein Stück<br />
– ein kulturelles Produkt – gesehen, das die moderne<br />
Aufopferung der intellektuellen Frau gegenüber dem<br />
intellektuellen Mann auf eine so sublime Weise gezeigt<br />
hätte. Das reicht von: ganze Werke abtippen, umschreiben,<br />
Korrespondenz führen, dem Meister Arbeitslisten erstellen,<br />
ihn ermutigen, wenn er verzweifelt, ihn zwingen zu arbeiten,<br />
wenn er nie-mehr-arbeiten-will, aushalten, daß er eine<br />
Geliebte hat, daß er möglicherweise zwei Geliebte hat, Trost<br />
spenden, wenn er mit einer Geliebten Probleme hat, sexuell<br />
bereitstehen, für die Wohnung, das Geld, den äußeren<br />
Schein aufkommen, immer präsentabel sein, unmögliche<br />
Gäste empfangen, Legionen von schlaflosen Nächten auf<br />
sich nehmen, die eigene Depression niederkämpfen, um<br />
seiner<br />
mehr Platz zu lassen... Hat ein intellektueller Mann<br />
(mit Ausnahme von Leonard Woolf) jemals so etwas für eine<br />
intellektuelle Frau getan?<br />
Alles an diesem Stück war jedenfalls sublim-sublim-sublim!<br />
Dazu paßte die Bühne voller weißer Bücher und weißer<br />
Blätter und voller espace wie in neorealistischen Balletten.<br />
Claude Rich ist stark, aber Christiane Cohendy! Sie ist<br />
intelligent, auf temperamentvolle und subtile Weise erotisch<br />
anziehend - also sensuelle -, rothaarig, hellgeschminkt, digne<br />
dans sa douleur<br />
und menschlich.<br />
Clarice Lispector:<br />
„Warum trinken Sie Wasser?“ *<br />
„Mir scheint, wenn man sich selbst so viel Schmerz zufügt,<br />
um ein Kunstwerk zu schaffen, dann ist es nur, um zu<br />
überleben. Warum würde man sich so viel Schmerz<br />
zufügen, um ein Kunstwerk zu schaffen?<br />
Ich glaube, es ist, um zu überleben.“<br />
„Ich schreibe einfach. So, wie man lebt. Deshalb habe ich<br />
es, wann immer ich in Versuchung geriet, aufzuhören zu<br />
schreiben, nie geschafft. Ich habe nicht die Berufung eines<br />
Selbstmörders.<br />
Ein Journalist fragte mich: Warum schreiben Sie? Ich fragte<br />
ihn: Warum trinken Sie Wasser?“<br />
Olga Borelli: „Wenn sie ausging, kam sie erschöpft zurück:<br />
sie setzte sich hin, zündete sich eine Zigarette an und<br />
schaute noch einmal alles durch, was sie getan hatte, sie<br />
machte ihre Buchhaltung, notierte in ihrer Agenda die<br />
nächsten Dinge, die zu erledigen waren. Es gibt allerdings<br />
eine Sache, die sie niemals notiert hatte: schreiben.“<br />
Fleur Jaeggy und die Schwäne<br />
Fleur Jaeggy liebt vor allem Katzen. Aber für „Proleterka“<br />
hatte sie sich in den Norden zurückgezogen, um mit einem<br />
Schwan Freundschaft zu schließen, ihn jeden Tag zu<br />
besuchen und mit ihm zu sprechen. Dabei entstand, wie<br />
gesagt, das eisklare Buch „Proleterka“, das natürlich eine<br />
andere Geschichte als die der Freundschaft mit dem Schwan<br />
erzählt. Ich hatte Fleur Jaeggy in Wien kennengelernt,<br />
und wir sprachen manchmal am Telephon miteinander.<br />
Als sie aber in Mantua aus „Proleterka“ las und auf ihre<br />
tröpfchenzählerhaft-enigmatische Weise den Fragen nach<br />
„autobiographischen Hintergründen“ auswich, die der<br />
Moderator ihr stellte, wagte ich es nach der Lesung nicht, zu<br />
ihr zu gehen. Stattdessen kaufte ich mir in der Stadt ein paar<br />
Minuten vor Ladenschluß eine Kette aus durchsichtigem<br />
Bergkristall, die mich an Fleur-die-Schwäne-und-das-<br />
Schreiben erinnern sollte. Einige Jahre später unternahm ein<br />
Freund von mir einen kleinen Ausflug mit Fleur Jaeggy. Als<br />
ich davon erfuhr, rief ich ihn an und fragte wie eine Spionin:<br />
„Und, und, wie war sie?“ Der Freund antwortete, leise<br />
lächelnd: „Weißt du, sie erinnerte mich an dich – an dichwie-du-sein-wirst-wenn-du-älter-bist...<br />
Sie ist so zerbrechlich<br />
wie du!“ Ich hatte immer gedacht, ich sei nicht wie Fleur, ich<br />
sei wie Françoise aus „Die seligen Jahre der Züchtigung“,<br />
das heißt, ich würde enden<br />
wie Françoise – denn natürlich<br />
bin ich nicht-wie-Françoise.<br />
„Magische Verwandlung“:<br />
Anatoli Vassilievs „Voyage d’Onéguine“<br />
in den Ateliers Berthier<br />
Hans-Georg Gadamer hatte einmal behauptet, daß sich<br />
im Theater eine „magische Verwandlung“ vollziehe. Diese<br />
schien Anatoli Vassilievs „Voyage d’Onéguine“ von Anfang<br />
an verfehlt zu haben...<br />
Eigentlich wollte ich mich gar nicht auf das Zuschauergerüst<br />
setzen, denn bereits vor der Aufführung befand sich das<br />
ganze Theater in einer künstlichen Partystimmung... Und<br />
während des ganzen ersten Teils habe ich das Stück und<br />
die Schauspieler und den Regisseur aus tiefstem Herzen<br />
gehaßt! Ich fragte mich die ganze Zeit, was Gérard Haddad,<br />
einer der bekanntesten Pariser Psychoanalytiker, der unter<br />
den Zuschauern saß, psychoanalytisch darüber dachte!<br />
Ich haßte, wie gesagt, alles: Rußland, die Poeten, den<br />
Alkohol, den statuenhaften Körper der nackten Frau, die<br />
Phantasmen, die Tiere, die Maiblumen, den Wind! Es war<br />
heiß... All dies gipfelte in der Vision des weißen Klaviers!<br />
Mein Gott, dachte ich, nicht einmal Chagall hätte sich ein<br />
weißes Klavier erlauben können! Es war heiß, und ich wollte<br />
von nichts etwas wissen... Die Schauspielerinnen dumme<br />
Ballerinen! Eine erbärmliche Ausstattung, russischer<br />
Kitsch! Stupide Symbole! Nichts berührt, und es gibt kein<br />
Forschreiten der Handlung, keine Entwicklung. Und dann,<br />
plötzlich, evozierte alles, obwohl es immer noch auf die<br />
selbe Weise existierte, genau das das Gegenteil dessen, was<br />
es zu sein schien! Von einem Moment auf den anderen<br />
sah man unerhörte, delierierte, schockierende Details,<br />
Leiden-im-Wunder und Wunder-im-Leiden, Schauspieler,<br />
die sich in Tiere verwandelten! Als ob plötzlich, bei einem<br />
Abendessen, eine Torte explodierte, und man weiß nicht, ob<br />
der Schaum, der austritt, lustig oder lebensgefährlich oder<br />
möglicherweise beides ist. Ball der Tiere! Apotheose wie in<br />
„Der Zauberberg“!<br />
Später las ich ein Interview mit einer jungen Schauspielerin,<br />
die Heiner Müllers „Medea“ unter Vassiliev gespielt hatte<br />
– sie sagte, es gebe drei Arten schauspielerischer Intonation:<br />
die „exklamative“, die „narrative“ und die „affirmative“ – und<br />
natürlich habe Vassiliev für „Medea“ die affirmative gewählt<br />
(für „Onéguine“ aber wohl doch die exklamative)...<br />
*Übersetzung: B.G.<br />
BETTINA GALVAGNI, geboren 1976 in Bozen. Derzeitiger Wohnort:<br />
Paris. Veröffentlichungen: Melancholia, Residenz Verlag, Salzburg, Wien<br />
1997 (Roman); Persona, Luchterhand Literaturverlag, München 2002<br />
(Roman). Beiträge in Anthologien, Zeitschriften und Zeitungen (Italien,<br />
Österreich, Deutschland, Schweiz, Kroatien, Polen, USA).<br />
Österreichisches Staatsstipendium für Literatur 1987/88,<br />
Ernst-Willner-Preis 1997, Rauriser Literaturpreis 1998.