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SMZ Liebenau Info 01_2019

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PRAXIS UND BERATUNG<br />

MEDIKAMENTENABHÄNGIGKEIT IM ALTER<br />

ÜBERMEDIKATION BEI ÄLTEREN MENSCHEN<br />

VON MARTINA FREI<br />

Die elektronische Gesundheitsakte (ELGA) mit der elektronischen<br />

Liste der verschriebenen Medikamente soll in Zukunft<br />

helfen, einen Überblick zu erhalten und besser zu erkennen,<br />

ob Medikamente zusammenpassen.<br />

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<strong>SMZ</strong> INFO Frühjahr 2<strong>01</strong>9<br />

„Eine Pille für den Blutdruck, eine fürs Herz, eine für<br />

den Zucker und eine, damit man die anderen besser<br />

verträgt.“ Besonders (ältere) Menschen, die an<br />

mehreren Krankheiten leiden oder chronisch krank<br />

sind, kennen diese tägliche Situation an der Medikamentenschachtel.<br />

Werden fünf oder mehr Arzneimittel<br />

gleichzeitig eingenommen, bezeichnet man<br />

das als „Polypharmazie“.<br />

Die Einnahme mehrerer Medikamente zur selben<br />

Zeit ist nicht immer unproblematisch, da es zu<br />

Wechselwirkungen kommen kann. Denn Polypharmazie<br />

und Übermedikation stehen in Verbindung<br />

mit schwerwiegenden Gesundheitsrisiken. Erkennt<br />

der/die behandelnde Arzt/Ärztin Wechselwirkungen<br />

nicht als solche, besteht die Gefahr, dass zur Behandlung<br />

der Nebenwirkungen noch mehr Medikamente<br />

verschrieben werden. Sind Medikamente<br />

nicht (mehr) notwendig und/oder sind diese nicht<br />

angemessen aufeinander abgestimmt und Neben-/<br />

Wechselwirkungen treten ein, spricht man von<br />

„Übermedikation“.<br />

Ältere Menschen besonders betroffen<br />

Ungefähr eine halbe Million Menschen in Österreich<br />

über 60 Jahre erhalten mehr als fünf Medikamente<br />

gleichzeitig. 1 Von Übermedikation sind demnach<br />

über 65-Jährige und chronisch kranke Menschen<br />

besonders häufig betroffen, da das Risiko für Multimorbidität,<br />

also das Bestehen mehrerer Krankheiten,<br />

mit zunehmendem Alter steigt und die verschiedenen<br />

Krankheiten auch behandelt werden sollten.<br />

Je mehr Krankheiten, umso mehr Tabletten, umso<br />

höher das Risiko von unerwünschten Wirkungen.<br />

Das Risiko von Wechselwirkungen steigt mit jeder<br />

Tablette exponentiell an. Außerdem steigt die Gefahr<br />

unerwünschter Wechsel- und somit Nebenwirkungen<br />

im höheren Lebensalter mitunter deshalb<br />

an, weil die Leistung und der Wasseranteil des<br />

Körpers verändert sind. Das beeinflusst die Wirkung<br />

von Medikamenten. 2 Wirkstoffe werden aufgrund<br />

verlangsamter Magen-, Darm- und Herzarbeit langsamer<br />

aufgenommen beziehungsweise wegen eingeschränkter<br />

Leber- und Nierenfunktion langsamer<br />

ausgeschieden.<br />

Das hat zur Folge, dass Medikamente verzögert<br />

oder verstärkt wirken. Viele Medikamente sollten<br />

bei älteren Menschen daher nur in geringerer Dosierung,<br />

über einen kurzen Zeitraum oder nur in<br />

Ausnahmefällen verschrieben werden. Dazu zählen<br />

insbesondere Psychopharmaka wie Neuroleptika<br />

und Benzodiazepine. Diese Medikamente können<br />

zu Verwirrtheit, Stürzen und kognitiver Beeinträchtigung<br />

führen und abhängig machen. 3<br />

Übermedikation kann verhindert werden<br />

Der erste Schritt zur Vermeidung einer Übermedikation<br />

ist sicher, stets jede Notwendigkeit einer (weiteren)<br />

Medikamentenverschreibung zu hinterfragen.<br />

Alle Vor- und Nachteile einer Einnahme sollten gut<br />

besprochen und die Entscheidung über die Verschreibung<br />

nach einer angemessenen Aufklärung<br />

getroffen werden. Dafür ist es wichtig, alle Medikamente<br />

und rezeptfreien Mittel, die eingenommen<br />

werden, bekannt zu geben, um ihre Verträglichkeit<br />

mit dem neuen Medikament zu prüfen. Werden<br />

(mehrere) Medikamente verschrieben, müssen<br />

diese regelmäßig mit hoher Sorgfalt von den behandelnden<br />

Ärzt*innen überprüft und angepasst<br />

werden. Dabei ist zu überprüfen, warum ein Medikament<br />

überhaupt verschrieben wurde und ob es<br />

nach wie vor sinnvoll ist. Manche Arzneimittel können<br />

dann durch ein verträglicheres Produkt ersetzt<br />

oder ganz abgesetzt werden. Die Überprüfung der<br />

persönlichen Medikamentenliste eines Menschen<br />

ist komplex und benötigt viel Zeit – die im ärztlichen<br />

Alltag oder auch im Heim fehlt. Polypharmaziepatient*innen<br />

müssen unbedingt ausreichend Zeit erhalten,<br />

um Medikamente auf das notwendige Maß<br />

zu reduzieren und so auch Wechselwirkungen zu<br />

verhindern. Apotheker*innen spielen bei der Überprüfung<br />

von Medikamenten eine wichtige Rolle und<br />

müssen miteinbezogen werden.<br />

In der Schweiz findet das im ambulanten Sektor bereits<br />

Anwendung. Dort können sich Patient*innen,<br />

die mindestens vier Medikamente über drei Monate<br />

einnehmen, in ihrer Apotheke bezüglich der Dosierung<br />

oder unerwünschter Nebenwirkungen beraten<br />

lassen. Auch Pflegefachkräfte spielen bei der Verhinderung<br />

von Übermedikation eine wichtige Rolle,<br />

da sie bei der täglichen Medikamentenabgabe den<br />

Gesundheitszustand des/der Patient*in beobachten<br />

und gegebenenfalls Verschlechterungen oder<br />

Nebenwirkungen an den/die behandelnde/n Arzt/<br />

Ärztin rückmelden können. Auch Patient*innen sollten<br />

die Richtigkeit ihrer Medikamenteneinnahme<br />

überprüfen, z. B. mithilfe eines Medikationsplans. 3<br />

In Österreich gibt es unterschiedliche Maßnahmen<br />

zur Verbesserung der Medikamentensicherheit 3 :<br />

Die Plattform Patientensicherheit setzt sich für die<br />

Sicherheit von Patient*innen ein. Die österreichische<br />

Sozialversicherung hat in Zusammenarbeit mit<br />

medizinischen Fachgesellschaften 2<strong>01</strong>4 die <strong>Info</strong>rmationskampagne<br />

„Vorsicht Wechselwirkung!“ für<br />

Ärzt*innen und Patient*innen ins Leben gerufen.<br />

Die elektronische Gesundheitsakte (ELGA) mit der<br />

elektronischen Liste der verschriebenen Medikamente<br />

soll in Zukunft helfen, einen Überblick zu erhalten<br />

und besser zu erkennen, ob Medikamente<br />

zusammenpassen. ELGA beinhaltet alle Medikamente,<br />

die innerhalb eines Jahres verschrieben werden<br />

und ist für behandelnde Ärzt*innen und Apotheker*innen<br />

(nach Stecken der e-card) sowie zukünftig<br />

auch für die Patient*innen einsehbar. Der e-Medikationsplan<br />

wird schrittweise in Österreich eingeführt.<br />

Neuer Sicherheits-Check gegen Wechselwirkungen<br />

in Apotheken<br />

Im Frühjahr startet ein Pilotprojekt in zehn österreichischen<br />

Apotheken, die einen neuen Sicherheitscheck<br />

durchführen. Von Ärzt*innen verordnete<br />

Medikamente und jene, die in Apotheken abgegeben<br />

werden, werden ein Jahr lang gespeichert. Im<br />

Gegensatz zur e-Medikation, soll das neue Service<br />

aber ohne e-card funktionieren und so weniger aufwendig<br />

sein. Der Sicherheitscheck weist darauf hin,<br />

wenn der/die Kund*in mehrere Medikamente einnimmt<br />

und auch, wenn es zu einer Wechselwirkung<br />

mit einem anderen Arzneimittel kommen könnte.<br />

Gleichzeitig sollen Beratungsgespräche zur Medikamenteneinnahme<br />

angeboten werden – diese sind<br />

in der Pilotphase aber kostenpflichtig. Bis Herbst<br />

2<strong>01</strong>9 soll das Projekt auf 100 Apotheken ausgeweitet<br />

werden. 4<br />

Zusammenarbeit ist gefragt<br />

In einer aktuellen systematischen Übersichtsarbeit<br />

mehrerer Studien aus 12 Ländern wurde das Thema<br />

Übermedikation untersucht. Die eingeschlossenen<br />

Studien verglichen die Wirksamkeit von Maßnahmen<br />

zum verbesserten Medikamenteneinsatz<br />

mit dem sonst üblichen Einsatz. Zu diesen Maßnahmen<br />

zählten zum Beispiel computergestützte Entscheidungshilfen<br />

oder Schulungen für Haus- und<br />

Heimärzt*innen, Apotheker*innen oder Pflegefach-<br />

kräfte, mit deren Hilfe Medikamentenlisten regelmäßig<br />

überprüft und die Therapie überwacht wurden.<br />

Die Übersichtsarbeit zeigte, dass diese Maßnahmen<br />

nicht eindeutig zu einer klinisch signifikanten Verbesserung<br />

der Teilnehmenden beitrugen. Auch Krankenhausaufenthalte<br />

konnten durch die Überprüfung<br />

der Medikamente nicht oder nur kaum reduziert<br />

werden. Und auch die Lebensqualität verbesserte<br />

sich kaum oder gar nicht. Eine vorsichtige Interpretation<br />

der Ergebnisse zeigte jedoch, dass potenziell<br />

weniger Medikamente verschrieben wurden. 3<br />

Der Weg zu wirklich<br />

wirksamen Maßnahmen<br />

zur Vermeidung von<br />

Übermedikation ist noch weit.<br />

Dabei braucht es vor allem<br />

die Zusammenarbeit aller<br />

Beteiligten: Haus- und<br />

Heimärzt*innen,<br />

Apotheker*innen,<br />

Patient*innen und<br />

Angehörige.<br />

Quellen:<br />

1 Hauptverband der österreichischen Sozialversicherung: Vorsicht Wechselwirkung;<br />

verfügbar unter http://www.hauptverband.at/cdscontent/?contentid=10007.764248<br />

(24.1.2<strong>01</strong>9)<br />

2 Patientensicherheit Schweiz: Sichere Medikation in Pflegeheimen; verfügbar unter<br />

https://www.patientensicherheit.ch/pilotprogramme-progress/sichere-medikation-in-pflegeheimen/<br />

(24.1.2<strong>01</strong>9)<br />

3 A. Borchard: Übermedikation bei älteren Menschen; verfügbar unter https://www.<br />

wissenwaswirkt.org/uebermedikation-bei-aelteren-menschen (24.1.2<strong>01</strong>9)<br />

4 E. Gerstendorfer: Neuer Medikamenten-Check gegen Wechselwirkungen in Apotheken;<br />

verfügbar unter https://kurier.at/gesund/neuer-medikamenten-check-gegen-wechselwirkungen-in-apotheken/400370279<br />

(24.1.2<strong>01</strong>9)<br />

<strong>SMZ</strong> INFO Frühjahr 2<strong>01</strong>9<br />

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