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Diakonie im Blick - Sommer 2023

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DIALOG<br />

DIALOG<br />

OSTERN – ODER WIE KIRCHE<br />

UND DIAKONIE NEUE RELEVANZ<br />

GEWINNEN KÖNNEN<br />

Liebe Leserinnen und Leser,<br />

die evangelische Kirche leidet aktuell unter massivem<br />

Mitgliederschwund. Die meisten, die massenhaft aus<br />

der Kirche austreten, sind nicht mal mehr enttäuscht,<br />

sondern haben den Bezug zur Kirche längst verloren.<br />

Sie ist für viele schlicht und einfach nicht mehr relevant.<br />

Kirche erleidet eine Krise auch in ihren Kreisen:<br />

Nach Ende der Coronazeit bleiben viele weg, die sich<br />

früher noch engagierten. Gottesdienste und Gruppen<br />

werden deutlich weniger besucht als noch vor drei<br />

Jahren. Viele wissen nicht mehr, warum es für sie gut<br />

ist, in der Kirche zu sein. Sie verliert auch an Bedeutung,<br />

weil sie nicht zeigt, wofür sie steht, außer „für<br />

alle da zu sein“. Auch ihr diakonisches Profil überlässt<br />

Kirche oft der verfassten <strong>Diakonie</strong>. Die wiederum ist<br />

auch betroffen vom Relevanzverlust der Kirche. Denn<br />

<strong>Diakonie</strong> unterscheidet sich ja von anderen Trägern<br />

der Wohlfahrtspflege durch ihre kirchliche Prägung.<br />

Somit sollten Kirche und <strong>Diakonie</strong> zusammen daran<br />

arbeiten, gemeinsam neue Relevanz in unserer Zeit<br />

zu gewinnen. Worauf sollten sie sich dazu besinnen?<br />

Kirche und <strong>Diakonie</strong> gründen in der Überzeugung,<br />

dass Leiden und Hoffnung, Tod und Auferstehung<br />

eng zusammengehören. Passion und Ostern sind<br />

der Anfang von Kirche und <strong>Diakonie</strong> gewesen. In Leidenszeiten<br />

– auch in der gegenwärtigen Relevanzkrise<br />

– gibt es die Hoffnung auf Auferstehung zu neuem<br />

Leben. Darum lohnt es sich, eine Ostergeschichte näher<br />

zu betrachten. Das Lukasevangelium (24, 13-35)<br />

berichtet von zwei Freunden Jesu, die aus der Kirche<br />

austreten, noch bevor diese richtig gegründet worden<br />

ist. Enttäuscht verlassen sie die Stadt und kehren<br />

in ihr Dorf Emmaus zurück. Drei Tage zuvor wurde<br />

Jesus in Jerusalem gekreuzigt. Nun war er tot – welchen<br />

Sinn sollte die Gemeinschaft mit den anderen<br />

jetzt noch machen? Ja, Kirche macht ohne Jesus Christus<br />

in ihrer Mitte keinen Sinn! Aus seiner lebendigen<br />

Gemeinschaft lebt Kirche. Ohne ihn ist alles, was Kirche<br />

mit großem Aufwand so treibt, egal. Das können<br />

auch andere Vereine, Selbsthilfegruppen oder Organisationen<br />

leisten, oft sogar besser. Dafür braucht es<br />

keine Kirche. Deshalb ist es sachgemäß, dass die beiden<br />

Freunde die Gemeinschaft verlassen und in ihr altes<br />

Leben nach Emmaus zurückkehren. Sie treten aus<br />

der Kirche aus, weil sie Jesus dort nicht mehr erleben.<br />

Am Anfang der Kirche steht also eine Austrittsgeschichte.<br />

Austritte gefährden die Kirche <strong>im</strong> Kern,<br />

wenn diese selbst den lebendigen Gott in ihrer Mitte<br />

nicht mehr erwartet. Gott ist tot für viele – und die<br />

Kirche scheint ihre Überzeugungskraft für den lebendigen<br />

Gott bei vielen eingebüßt zu haben. Wie aber<br />

wird nun die Austritts- zur Gründungsgeschichte der<br />

Kirche? Die beiden sind auf dem Weg und begegnen<br />

einem Fremden – es ist der auferstandene Jesus Christus,<br />

den sie aber (noch) nicht erkennen. Dennoch<br />

nehmen sie ihn in ihre Mitte und teilen mit ihm ihr<br />

Leid. Sie zeigen, was relevante Kirche und <strong>Diakonie</strong><br />

ausmacht: Offenheit für Fremde, Weggemeinschaft,<br />

Mitteilung auch der eigenen Zweifel und Fragen. Und<br />

der Auferstandene wiederum zeigt, worauf es in relevanter<br />

Kirche und <strong>Diakonie</strong> ankommt: Er n<strong>im</strong>mt die<br />

beiden wahr, begleitet sie auf ihrem Weg der Abkehr<br />

und Enttäuschung; er lässt sie nicht einfach gehen,<br />

sondern geht mit ihnen.<br />

Er macht vor, was relevante Seelsorge auszeichnet:<br />

Mitgehen, empathisches Zuhören bei Geschichten<br />

von Trauer und Enttäuschung, Teilnahme am Leid<br />

anderer – dann aber auch Trost und Hoffnung vermitteln,<br />

die in der Auslegung der Bibel gefunden<br />

werden. Solche Seelsorgepraxis macht Kirche und<br />

<strong>Diakonie</strong> relevant, weil sie die Nähe des Auferstandenen<br />

spüren lässt. Dennoch gibt er sich in der Geschichte<br />

hier noch nicht zu erkennen. Es fehlt noch<br />

ein wesentliches Relevanzmerkmal: die diakonische<br />

Grundhaltung der Nächstenliebe, die sich in der<br />

Gastfreundschaft dem Fremden gegenüber erweist.<br />

Der Auferstandene gibt den beiden die Gelegenheit,<br />

ihn einzuladen. Hätten sie den Fremden weiterziehen<br />

lassen, hätten sie ihm nicht Tischgemeinschaft und<br />

Unterkunft angeboten – sie hätten den Auferstandenen<br />

in ihrer Mitte verpasst, trotz des guten Gesprächs<br />

auf dem Weg zuvor. In der gastfreundlichen Tischgemeinschaft<br />

gibt er sich zu erkennen. Im griechischen<br />

Urtext des Neuen Testamentes leitet sich das Wort<br />

für „<strong>Diakonie</strong>“ von „Tischdienst“ ab. Ohne <strong>Diakonie</strong><br />

wäre aus der Austrittsgeschichte nie eine Gründungsgeschichte<br />

der Kirche geworden.<br />

<strong>Diakonie</strong> kann also nie ausgelagert werden in die sogenannte<br />

verfasste, professionelle <strong>Diakonie</strong>, die sich<br />

dann stellvertretend für Kirche um die Armen und Bedürftigen<br />

kümmert. Das darf Kirche nie outsourcen.<br />

Sie würde den Auferstandenen aus ihrer Mitte verlieren,<br />

wenn sie sich selbst nicht diakonisch verstünde.<br />

Kirche wäre zurecht irrelevant in unserer Zeit.<br />

Die beiden Jünger aber machen vor, wie diakonisches<br />

Handeln geht: Sie laden den Fremden zu sich ein; sie<br />

teilen ihr Haus mit ihm und machen es für ihn zur<br />

Herberge auf Zeit. Dabei helfen sie dem fremden und<br />

obdachlosen Wegbegleiter nicht von oben herab<br />

als die Starken, die es sich leisten können, auch mal<br />

mildtätig zu spenden. Vielmehr machen sie den Gast<br />

zum Bruder auf Augenhöhe: Indem sie ihn den Segen<br />

sprechen und das Brot teilen lassen, lädt er sie an den<br />

Tisch ein. Deshalb erkennen sie <strong>im</strong> Bedürftigen den<br />

auferstandenen Christus und lebendigen Herrn seiner<br />

Kirche, die nun gegründet ist. In diesem Moment<br />

verschwindet er vor ihren Augen, um anzuzeigen:<br />

Kirche und <strong>Diakonie</strong> haben ihn nicht schon, weil es<br />

sie als Institutionen gibt. Er stellt sich in ihrer Mitte<br />

ein, wenn sie das Mahl in seinem Namen feiern, wenn<br />

sie gastfreundlich bleiben für Fremde und deren Weg<br />

durch die Zeit teilen. Er stellt sich in ihrer Mitte ein,<br />

wenn sie diakonisch handeln und dabei die Gemeinschaft<br />

der Geschwister leben.<br />

Kirche gewinnt Relevanz, wenn sie diakonisch handelt,<br />

indem sie sich als Herberge für die anderen versteht.<br />

Und <strong>Diakonie</strong> gewinnt christliches Profil, wenn sie bei<br />

ihrer diakonischen Arbeit mit der Nähe des Auferstandenen<br />

rechnet. Aber die Ostergeschichte zeigt noch<br />

einen Relevanzaspekt auf: Nachdem die beiden den<br />

lebendigen Christus erkannt haben, bleiben sie nicht<br />

zu Hause und erklären ihr Haus zur neuen „Kirche von<br />

Emmaus“. Vielmehr stehen sie sofort auf und laufen<br />

zurück nach Jerusalem – zurück zu den anderen Jüngerinnen<br />

und Jüngern. Ihnen müssen sie unbedingt<br />

mitteilen, dass Jesus lebt. Sie sind nicht nur in Sorge<br />

um ihr eigenes Wohlergehen. Kirche ist nicht nur relevant,<br />

wenn sie individuelle Seelenhygiene oder diakonische<br />

Dienste leistet. Vielmehr sorgen sich die beiden<br />

um die anderen, die noch ohne Hoffnung sind. So zeigen<br />

sie: Kirche und <strong>Diakonie</strong> werden relevant, wenn<br />

sie mit Tisch und Herberge auch ihre Hoffnung teilen.<br />

Moderne Kirche und <strong>Diakonie</strong> sind beides gemeinsam:<br />

Dienst- und Zeugnisgemeinschaft für andere,<br />

denen sie nicht nur mit Nächstenliebe, sondern auch<br />

mit Hoffnung dienen. Das ist es, was die Menschen<br />

heute so dringend brauchen: gelebte Nächstenliebe<br />

und geteilte Hoffnung. So wie in der Ostergeschichte:<br />

Als die beiden endlich bei den anderen eintreffen,<br />

um ihnen zu erzählen, dass sie den Auferstandenen in<br />

ihrer diakonischen Dienstgemeinschaft erlebt haben<br />

– da schallt ihnen schon das Zeugnis der anderen entgegen:<br />

„Der Herr ist auferstanden!“ Danach erst kommen<br />

sie dazu, ihre Glaubenserfahrung mitzuteilen.<br />

Und wieder ein Perspektivwechsel: So wie in Emmaus,<br />

als der Gast zum Gastgeber wurde, so wird hier die<br />

Gemeinde, die eigentlich zuhören sollte, selbst zur<br />

Verkündigerin. So entsteht Kirche, Kirche ohne Herrschaft<br />

der einen über andere, Kirche als Zeugnis- und<br />

Dienstgemeinschaft. So wird diese Ostergeschichte<br />

zum Modell für relevante Kirche und <strong>Diakonie</strong> unserer<br />

Zeit: Aus Enttäuschung wächst neue Hoffnung,<br />

aus Abkehr wird Umkehr zu neuer Gemeinschaft.<br />

Zur Kirche gehört schon <strong>im</strong>mer auch ihre Geschichte<br />

von Leid und Enttäuschung. Aber Kirche gewinnt<br />

neue Relevanz, indem sie mit der <strong>Diakonie</strong> handelt<br />

als Dienstgemeinschaft für andere. Und <strong>Diakonie</strong><br />

gewinnt neue Relevanz, indem sie mit der Kirche als<br />

Zeugnisgemeinschaft ihre Hoffnung auf neues Leben<br />

vermittelt. Superintendent Michael Mertins<br />

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