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Roșia Montană - Stadtgespräche Rostock

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Das ist lange her. Auch die Arabellion und „Britannia rules the<br />

districts“ sind nicht mehr ganz jung. Was alle diese Ereignisse<br />

verbindet, ist eine grassierende gesellschaftliche Schwerhörigkeit<br />

pandemischen Charakters, wie dieser sich im globalen<br />

Zeitalter ziemlich rasch ausbreitet. Ein funktionierendes gesellschaftliches<br />

System zeichnet sich dadurch aus, dass es als Supersystem<br />

seine Ideen in die einzelnen Subsysteme und Subsubsysteme<br />

einspeist, diese also erreicht und bereichert. Umgekehrt<br />

funktioniert es genauso, aber bunter und z.T. natürlich ebenso<br />

gruppenspezifisch wie individualistisch, also auch divergent.<br />

Durch diesen Austausch können sich blühende Landschaften,<br />

renaturierte soziale Biotope oder regelmäßig gemähte Wiesen<br />

herausbilden. So habe ich mir die Zeiten zum Ende der achtziger<br />

Jahre mit Hilfe von Niklas Luhmanns Systemtheorie zu erklären<br />

gesucht, einem digitalisierten Marxismus ohne Marx.<br />

Ein Teil der Regierten kann z.B. feststellen, dass er vom Staat<br />

vernachlässigt wird. Das Supersystem speist in diese gesellschaftlichen<br />

Regionen weder Geist noch Materie ein. Die Leute<br />

werden nicht angehört. Eines unerwarteten Tages schreien<br />

und schlagen sie. So werden sie akustisch und visuell wahrgenommen.<br />

Ihr Grundanliegen wird weiter überhört, weil sie zu<br />

laut und brutal sind, um authentisch wahrgenommen werden<br />

zu können. Nehmen wir England, wo es auf den ersten Blick<br />

und auch nach weiterem Augenschein so zugeht. Die Agenten<br />

des Supersystems und seiner Unterabteilungen reagieren nicht<br />

anders. Für sie liegen die Ursachen des Konflikts allein im Prekariat,<br />

seiner Faulheit, seiner Raffgier, Hemmungslosigkeit und<br />

Unmoral. Schichtenspezifische Wurzeln der Gewalt also bei<br />

den underdogs.<br />

Diesem Urteil geht eine lange kulturgeschichtliche Aversion<br />

voraus. In „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ (1856) hat Gottfried<br />

Keller das wohlsortierte Bürgertum nach dem Freitod des<br />

Liebespaares die „Entsittlichung und Verwilderung der Leidenschaften“<br />

beklagen lassen. Otto F. Walter, wieder ein<br />

Schweizer, hat beschrieben, wie das im 20.Jahrhundert weiter<br />

gegangen ist: In seinem Roman „Die Verwilderung“ (1977)<br />

zeigt er, wie ordentliche Bürger eine alternative Kommune lynchen.<br />

So politisch und europäisch lässt sich Literatur lesen, und<br />

es war nicht in England, sondern in einer - oberflächlich gesehen<br />

- ruhigen Eidgenossenschaft von fast lauter soliden Leuten.<br />

Was ich hier zu beschreiben versuchte, sind keine Analysen,<br />

sondern Einseitigkeiten. Sie sind auf beiden Seiten dumm, aber<br />

geradezu katastrophal für beide Seiten durch diejenigen, die<br />

über das Knowhow und die Logistik, die Organisationsstrukturen<br />

und hinreichend Macht für die Analyse verfügen. Wer<br />

von Kind auf teure Privatschulen und später Universitäten<br />

ganz oben im Ranking besucht, um sodann beruflich in die<br />

Fußstapfen der Vorväter zu treten, der gehört noch lange nicht<br />

zu einer realen Elite, aber auf jeden Fall zur hochdotierten Prominenz<br />

des Landes und lebt in einem noblen Getto ohne Fühler<br />

in die fatalen Gettos.<br />

So wachsen Unkenntnis, Entfremdung, Snobismus und Missachtung,<br />

was zur Dämonisierung und Kriminalisierung der an-<br />

deren führt. Diese agieren auch nicht als Unschuldslämmer<br />

und reagieren eines Tages nicht mehr wie Kinder von Traurigkeit.<br />

Das etwa könnte der Lauf der Dinge sein, wenn Luhmann<br />

total Recht hätte und die Abschottung der sozialen Provinzen<br />

absolut wäre. Die Tendenz dazu entwickelt sich allerdings massiv.<br />

Seit Jahrzehnten erlebe ich, wie Menschen dämonisiert und<br />

kriminalisiert werden, die sich in öffentlichen Räumen für<br />

Menschenrechte und Menschenwürde einsetzen, gegen die<br />

Verblendung der Gesellschaft durch Rassismus und Fremdenverachtung<br />

(siehe Dresden, Jena Greifswald, <strong>Rostock</strong>). Anstatt<br />

diese zumeist jungen Menschen als Hoffnung lebende und stiftende<br />

Alternative zu feiern, sollen sie ins politische und gesellschaftliche<br />

Abseits gedrängt werden, damit sie verstummen.<br />

In einer Zeit der Ungleichheit brauchen wir Respekt voreinander.<br />

Von jemandem, der kostspielige Psychoseminare erfolgreich<br />

absolviert hat, um sich respektvoll in sich und andere einfühlen<br />

zu können, sollte diese Kompetenz auch sozial einsetzen.<br />

Es tun auch andere. In Birmingham stoppte Tarik Jahan,<br />

Einwanderer aus Südasien, nach der Ermordung seines Sohnes<br />

durch Plünderer den Beginn eines Rachefeldzuges mit dem lauten<br />

Satz: „Wer auch einen Sohn verlieren will, soll jetzt vortreten.“<br />

Was für eine antike Wucht, was für eine akute Kompetenz!<br />

Hier geht`s lang.<br />

Nun bedeutet riot laut Wörterbuch umgangssprachlich auch<br />

‚Bombenerfolg‘. Den erstreben jenseits des Slangs buchstäblich<br />

ganze Staaten. Krawalle, Unruhen, Gewaltausbrüche und Kriege<br />

spiegeln sich ineinander. Da verschwindet er, der Respekt,<br />

den wir Verschiedenen voreinander brauchen. Was sollen denn<br />

schöne Fassaden, wenn das Land Kriege führt? Das Schlimme<br />

ist: Alles hängt zusammen und wirkt aufeinander - Innen und<br />

Außen, nah und fern, Eigenes und Fremdes. Ein Land, das<br />

Krieg führt, sei er militärisch oder sozial, muss mit Unruhen<br />

im Innern rechnen. Es dauert, zieht sich hin und ist unerwartet<br />

überraschend da. Daraufhin erschallen Zeter und Mordio als<br />

Resultat einer grassierenden gesellschaftlichen Schwerhörigkeit<br />

pandemischen Charakters. Aber das hatten wir ja schon.<br />

¬<br />

--<br />

Mehr:<br />

Richard Sennett, Respekt im Zeitalter der Ungleichheit, Berlin<br />

2004<br />

Eddi Hartmann, Strategien des Gegenhandelns - Zur Sozialdynamik<br />

symbolischer Kämpfe um Zugehörigkeit, Konstanz 2010

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