Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
FILM<br />
INTERVIEW<br />
EMANUELE CRIALESE –<br />
L’IMMENSITÀ<br />
Schon lange gehört Emanuele<br />
Crialese, geboren 1965 in<br />
Rom und Absolvent der renommierten<br />
Tish School of Arts in New York,<br />
zu den international meistbeachteten<br />
Regisseuren Italiens. 1997 kam<br />
sein erster Spielfilm „Once We Were<br />
Strangers“ in die Kinos, anschließend<br />
wurden Werke wie „Lampedusa“,<br />
„Golden Door“ oder „Terraferma“ bei<br />
den Festivals in Cannes und Venedig<br />
mit Preisen bedacht. Doch noch<br />
nie wurde einem seiner Filme so<br />
viel Aufmerksamkeit entgegengebracht<br />
wie nun „L’immensità – Meine<br />
fantastische Mutter“. Was einerseits<br />
an Oscar-Gewinnerin Penélope Cruz<br />
in der (erwachsenen) Hauptrolle<br />
liebt. Aber andererseits auch daran,<br />
dass Crialese mit dieser autobiografischen<br />
Geschichte über ein Kind<br />
im Italien der 1970er Jahre, das mit<br />
seiner Genderidentität ringt, auch<br />
sein öffentliches Coming-out als<br />
trans Mann hatte. Wir trafen ihn in<br />
Venedig zum Interview.<br />
Herr Crialese, Sie drehen seit<br />
über 25 Jahren Filme. Warum<br />
erzählen Sie erst jetzt diese sehr<br />
persönliche Geschichte, um die es in<br />
„L’immensità“ geht?<br />
Tja, mit der Zeit ist das so eine Sache, man<br />
weiß nie, wann sie reif ist. Natürlich hatte ich<br />
über die Jahre immer wieder den Gedanken,<br />
Teile meiner eigenen Jugend in einen Film zu<br />
verwandeln. Und ich habe nie daran gezweifelt,<br />
dass es eines Tages so weit sein würde.<br />
Aber ich wusste auch immer, dass ich für<br />
diesen Film der bestmögliche Regisseur<br />
sein musste. Ich wollte so viel Erfahrung<br />
wie möglich haben, um die Geschichte<br />
möglichst überzeugend erzählen zu können.<br />
Mit 30 Jahren hätte ich mir diese wirklich<br />
delikate, zarte Thematik einfach noch nicht<br />
zugetraut.<br />
Interessanterweise setzen Sie, was<br />
Bilder und Atmosphäre angeht,<br />
nicht nur auf Wahrhaftigkeit und<br />
Realismus, sondern kombinieren das<br />
mit einer bewussten Künstlichkeit.<br />
Warum?<br />
Dafür <strong>gab</strong> es verschiedene Gründe, angefangen<br />
damit, dass ich mittels der Songs<br />
und Fernsehshows, die mich als Kind massiv<br />
geprägt haben, auch das Innenleben unserer<br />
jungen Protagonistin Adri erzählen wollte.<br />
Außerdem ging es mir dieses Mal darum,<br />
ein Gefühl von Klaustrophobie einzufangen,<br />
weswegen ich nicht wie sonst überwiegend<br />
draußen und mit natürlichem Licht, sondern<br />
im Studio und mit Scheinwerfern gedreht<br />
habe. Und letztlich ist ja auch die Besetzung<br />
schon ein Aufeinanderprallen von Realität<br />
und Fiktion, schließlich habe ich auf der<br />
einen Seite junge Laiendarsteller*innen, die<br />
noch nie vor einer Kamera und nicht einmal<br />
auf einer Schultheater-Bühne standen, und<br />
auf der anderen jemanden wie Penélope<br />
Cruz, die ein echter Superstar ist und<br />
natürlich alles spielen kann.<br />
Wo Sie gerade Kinder erwähnen: wie<br />
fanden Sie die ideale Besetzung für<br />
Adri, immerhin ja so etwas wie Ihr<br />
Alter Ego?<br />
Im Casting haben wir sicherlich 3.000 junge<br />
Mädchen gesehen. Anfangs suchten wir erst<br />
einmal in Rom, wo wir ja auch drehten. Aber<br />
ich merkte bald, dass heutige Großstadtkinder<br />
ganz anders ticken als wir damals<br />
in den 70er-Jahren. Deren Horizont hat<br />
sich wahnsinnig verengt, in jeder Hinsicht,<br />
sowohl weil sich das Stadtbild verändert hat<br />
als auch weil alle viel zu viel auf ihre Telefone<br />
und andere Bildschirme gucken. Ich hatte<br />
nicht den Eindruck, dass ich da jemanden<br />
finden würde, der die nötige Konzentration<br />
mitbringt. Oder das Gefühl von Freiheit<br />
kennt, mit dem ich aufgewachsen bin,<br />
diesem neugierig-explorierenden Bewegen<br />
durch die Natur. Also verlagerten wir die<br />
Suche mehr in ländliche Regionen und nicht<br />
zuletzt an Orten und in Milieus, die nicht so<br />
eindeutig von einer Geschlechterbinarität<br />
geprägt waren. In einem Dorf südlich von<br />
Rom stießen wir dann auf Luana Giuliani, die<br />
neben der Schule Motocross-Rennen fährt<br />
und dabei gegen Jungs antritt. Ein echter<br />
Tomboy, was für diese Rolle natürlich ideal<br />
war. Ich musste das Drehbuch für sie ein<br />
wenig anpassen, weil sie ein kleiner wenig<br />
älter und schon weiterentwickelt war als ich<br />
Adri ursprünglich angelegt hatte. Aber das<br />
war es wert, denn ansonsten brachte sie<br />
alles mit, wonach ich suchte.<br />
Und wie kreierten Sie zwischen<br />
Luana und Penélope Cruz die richtige<br />
Mutter-Kind-Beziehung?<br />
Penélope war sehr großzügig mit ihrer Zeit,<br />
was für mich wirklich wichtig war. Meine<br />
Art der Arbeit mit Schauspieler*innen,<br />
gerade wenn sie Laien sind, erfordert viele<br />
Proben. Wir reisten also alle nach Madrid<br />
und verbrachten etliche Tage bei Penélope<br />
und ihrer Familie. Wir probten, arbeiteten an