10.10.2023 Aufrufe

Hildegard Reisig, Die Rolle der Bildung für die Befreiung des Proletariats, Dissertation 1933

Das Rigorosum zu Hilde Reisigs Dissertation fand am Freitag, dem 27. Januar 1933 statt. Dieses war der letzte Arbeitstag vor der Nationalsozialistischen "Machtergreifung". Die erhoffte Perspektive einer schulischen oder gar wissenschaftlichen Tätigkeit hatte sich damit erledigt. Eine Tätigkeit als Lehrerin in ihrer Heimatstadt Leipzig nach dem Krieg endete 1946 abrupt infolge der Querelen bei der Zwangsvereinigung von SPD und KPD. Hilde Reisig wurde am 15. Januar 1908 geboren, wuchs in Leipzig auf und starb am Himmelfahrtstag, dem 25.05.1995 in Oldenburg. Sie heiratete 1936 den Leipziger Stadtbibliothekar Wolfgang G. Fischer, später Direktor der Landesbibliothek in Oldenburg. Das Paar hatte 4 Söhne.

Das Rigorosum zu Hilde Reisigs Dissertation fand am Freitag, dem 27. Januar 1933 statt. Dieses war der letzte Arbeitstag vor der Nationalsozialistischen "Machtergreifung".
Die erhoffte Perspektive einer schulischen oder gar wissenschaftlichen Tätigkeit hatte sich damit erledigt.
Eine Tätigkeit als Lehrerin in ihrer Heimatstadt Leipzig nach dem Krieg endete 1946 abrupt infolge der Querelen bei der Zwangsvereinigung von SPD und KPD.

Hilde Reisig wurde am 15. Januar 1908 geboren, wuchs in Leipzig auf und starb am Himmelfahrtstag, dem 25.05.1995 in Oldenburg.
Sie heiratete 1936 den Leipziger Stadtbibliothekar Wolfgang G. Fischer, später Direktor der Landesbibliothek in Oldenburg. Das Paar hatte 4 Söhne.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

total freien Menschheit. Der Sinn <strong>des</strong> Staates liegt<br />

also auf einer den Staat transzen<strong>die</strong>renden<br />

Ebene.<br />

In <strong>der</strong> damals aktuellen Möglichkeit einer politischen Revolution<br />

glaubt <strong>die</strong>ser Liberalismus sich unmittelbar vor dem Eintritt<br />

in <strong>die</strong> Verwirklichung <strong>der</strong> Freiheit <strong>des</strong> Menschen schlechthin<br />

zu sehen. Wenn <strong>die</strong> Reste historisch überholter Staats- und Gesellschaftsinstitutionen<br />

erst beseitigt sind, scheint <strong>die</strong> Geschichte<br />

Raum zu geben <strong>für</strong> eine völlige Neuordnung <strong>der</strong> Welt. Nicht <strong>der</strong><br />

Staat allein, nicht nur <strong>die</strong> Gesellschaft o<strong>der</strong> eine beson<strong>der</strong>e<br />

Schicht for<strong>der</strong>t damals <strong>der</strong> Geschichte einen Schritt vorwärts ab,<br />

son<strong>der</strong>n jede konkrete Einzelproblematik historischer Gebilde<br />

mündet in <strong>die</strong> totale Wendung <strong>der</strong> Geschichte zu ihrem idealen<br />

Ziel: <strong>der</strong> Freiheit, <strong>die</strong> jetzt zum ersten Male <strong>die</strong> konkrete Möglichkeit<br />

hat, wirklich zu werden. — Mehr als <strong>die</strong> bürgerlichen<br />

Enthusiasten bremsen <strong>die</strong> Arbeiter <strong>die</strong>sen Optimismus ab mit <strong>der</strong><br />

Einsicht, daß mit <strong>der</strong> politischen Freiheit erst <strong>die</strong> Hälfte gewonnen<br />

sei, und daß, so gewiß im freien Volksstaat <strong>die</strong> freie<br />

Gesellschaft sich entfalten müsse, sie doch erst später und in<br />

ebenso schwierigen Kämpfen zu erringen sei.<br />

Stärkste Prägung erhält das politische Ethos jenes Liberalismus<br />

— wo<strong>für</strong> seine große <strong>Bildung</strong>sgläubigkeit Zeichen ist —■<br />

durch den Glauben, daß jetzt - <strong>die</strong> Zeit gekommen sei, da <strong>der</strong><br />

Mensch als freies Vernunftwesen Mittelpunkt und primum movens<br />

<strong>des</strong> historischen Geschehens wird. Ist erst <strong>der</strong> letzte Kampf, <strong>der</strong><br />

jetzt beginnt, gewonnen, dann werden <strong>die</strong> Kräfte <strong>des</strong> Verstan<strong>des</strong><br />

und <strong>der</strong> Sittlichkeit; <strong>der</strong> Menschen <strong>die</strong> gestaltenden Kräfte <strong>des</strong><br />

historischen Geschehens sein. Darum muß man den Menschen<br />

zum wahren Menschen bilden, wenn man den wahre/i<br />

Staat und <strong>die</strong> wahre Gesellschaft will.e) Als Vorgriff,<br />

ehe <strong>die</strong> Institution <strong>des</strong> freien Volksstaates wirklich geworden ist,<br />

sucht man bereits den freien, den wahren Menschen zu bilden.<br />

Darüber hinaus soll <strong>der</strong> Mensch als höchster Zweck<br />

s'ejher selbst zur größten Entfaltung und Vollkommenheit<br />

gebracht werden. Auch dafüF ist <strong>Bildung</strong> <strong>des</strong> Individuums Weg<br />

^ bester und letzter Gestaltung. <strong>Die</strong>ser Gipfelstellun'g <strong>der</strong> <strong>Bildung</strong><br />

sind aber aus den konkreten Notwendigkeiten <strong>der</strong> Schaffung <strong>des</strong><br />

freien Staates und <strong>der</strong> freien Gesellschaft heraus zwei a n -<br />

6) „<strong>Die</strong> Verbrü<strong>der</strong>ung“, Jahrg. 1, S. 427: „<strong>Bildung</strong>, eine alle<br />

Volksklassen durchgreifende <strong>Bildung</strong> ist ein Hauptbedingnis zum<br />

dauernden Frieden und Glück <strong>der</strong> Völker. — Freiheit, Gleichheit,<br />

Brü<strong>der</strong>lichkeit__ sind bis jetzt immer noch Ideale <strong>für</strong> uns.“<br />

71<br />

■i. ro Funktionen <strong>der</strong> <strong>Bildung</strong> vorgelagert, <strong>die</strong> vor<br />

(»nur darzustellen sind. ><br />

Der revolutionäre Wille in <strong>der</strong> Arbeiterbewegung Stefan<br />

Hnrns ist insofern idealistisch, als <strong>die</strong> Umgestaltung von<br />

.i.i:tb und Gesellschaft von dem Prinzip <strong>der</strong> Freiheit, das mit<br />

Notwendigkeit zu seiner Verwirklichung drängt, ausgehend ge-<br />

'lacht wird, nicht von einem dialektischen Zwang, <strong>der</strong> immanent<br />

ui <strong>der</strong> konkreten Gestalt von Staat und Gesellschaft läge. <strong>Die</strong><br />

Freiheit aber ist nicht — hegelisch — überhistorisch und außermcnschlich<br />

selbst sich verwirklichende Idee, <strong>der</strong> menschliches<br />

Wollen, historische Entwicklung, gesellschaftliche Vorgänge nur<br />

vermittelt <strong>die</strong>nen könnten, son<strong>der</strong>n sie ist zu ihrer Verwirklichung<br />

ausschließlich auf Wissen und Wollen <strong>der</strong> Menschen<br />

angewiesen, und zwar ohne daß sie zu einer bestimmten Gruppe<br />

von Menschen eine beson<strong>der</strong>e Affinität aufwiese. Damit fällt <strong>der</strong><br />

<strong>Bildung</strong> <strong>des</strong> gesamten Volkes <strong>der</strong> entscheidende<br />

Teil <strong>der</strong> Verantwortung zu <strong>für</strong> <strong>die</strong> Möglichkeit, <strong>die</strong> Freiheit zu<br />

verwirklichen. Ihre Aufgabe ist nicht damit erfüllt, daß sie<br />

das Prinzip <strong>der</strong> Freiheit im individuellen Bewußtsein lebendig<br />

macht, son<strong>der</strong>n sie muß <strong>die</strong> Menschen zu einem konkreten politischen<br />

Handeln <strong>für</strong> <strong>die</strong> Schaffung <strong>der</strong> einzig möglichen realen<br />

Gestalt <strong>der</strong> Freiheit, <strong>des</strong> freien Volksstaates, bilden. Das Ziel<br />

<strong>die</strong>ser <strong>Bildung</strong> ist somit <strong>für</strong> alle Glie<strong>der</strong> <strong>des</strong> Volkes gleich; verschieden<br />

aber ist Mittel und Weg, aus den in <strong>der</strong> bisherigen<br />

Staats- und Gesellschaftsform auseinan<strong>der</strong>gerissenen Teilen <strong>des</strong><br />

Volkes erst ein einheitliches Volk erwachsen zu lassen. Man geht<br />

unverzüglich daran, in ganz bewußten Formen <strong>der</strong> Erwachsenenbildung<br />

<strong>die</strong> erste Generation <strong>des</strong> freien Staatsvolkes zu schaffen,<br />

und gleichzeitig,sucht man <strong>für</strong> <strong>die</strong> kommenden Generationen eine<br />

Volkserziehung — also eine Erziehung zum Volk — zu<br />

organisieren und sicherzustellen. *) — Das damalige Bürgertum -<br />

*) Das Volk soll <strong>der</strong> Intention nach alle Klassen <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

umfassen, <strong>der</strong>en Interessengegensätzlichkeit ja, insofern <strong>die</strong><br />

Gesellschaftsmitglie<strong>der</strong> Staatsbürger, in ihrer Gesamtheit also Volk<br />

sind, <strong>für</strong> das Staatsvolk nicht existiert. Unmittelbar bevor aber<br />

<strong>die</strong>ses einheitliche Staatsvolk Wirklichkeit wird, ruht das Interesse<br />

am Werden <strong>des</strong> Volkes bei denjenigen Schichten <strong>der</strong> Gesellschaft, <strong>die</strong><br />

darin ihre gesellschaftliche <strong>Befreiung</strong> zu finden hoffen. <strong>Die</strong> Idee <strong>des</strong><br />

Volkes ist dqrt aufbewahrt und ihre Verwirklichung "wird dort ersehnt,<br />

wo nicht allein von staatspolitischen Gegnern, wie Adel, Absolutismus,<br />

son<strong>der</strong>n auch innerhalb <strong>des</strong> tiers 6tat von Besitzenden<br />

gegen Nichtbesitzenfie durch Druck Gegendruck erzeugt wird.67)<br />

Ideengeschichtlich ist übrigens interessant, wie hier innerhalb <strong>der</strong><br />

rein idealistischen Gesamtkonzeption <strong>der</strong> ganz realistische Begriff <strong>des</strong><br />

konkreten Interesses bestimmter konkreter Schichten eingebaut ist.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!