10.10.2023 Aufrufe

Hildegard Reisig, Die Rolle der Bildung für die Befreiung des Proletariats, Dissertation 1933

Das Rigorosum zu Hilde Reisigs Dissertation fand am Freitag, dem 27. Januar 1933 statt. Dieses war der letzte Arbeitstag vor der Nationalsozialistischen "Machtergreifung". Die erhoffte Perspektive einer schulischen oder gar wissenschaftlichen Tätigkeit hatte sich damit erledigt. Eine Tätigkeit als Lehrerin in ihrer Heimatstadt Leipzig nach dem Krieg endete 1946 abrupt infolge der Querelen bei der Zwangsvereinigung von SPD und KPD. Hilde Reisig wurde am 15. Januar 1908 geboren, wuchs in Leipzig auf und starb am Himmelfahrtstag, dem 25.05.1995 in Oldenburg. Sie heiratete 1936 den Leipziger Stadtbibliothekar Wolfgang G. Fischer, später Direktor der Landesbibliothek in Oldenburg. Das Paar hatte 4 Söhne.

Das Rigorosum zu Hilde Reisigs Dissertation fand am Freitag, dem 27. Januar 1933 statt. Dieses war der letzte Arbeitstag vor der Nationalsozialistischen "Machtergreifung".
Die erhoffte Perspektive einer schulischen oder gar wissenschaftlichen Tätigkeit hatte sich damit erledigt.
Eine Tätigkeit als Lehrerin in ihrer Heimatstadt Leipzig nach dem Krieg endete 1946 abrupt infolge der Querelen bei der Zwangsvereinigung von SPD und KPD.

Hilde Reisig wurde am 15. Januar 1908 geboren, wuchs in Leipzig auf und starb am Himmelfahrtstag, dem 25.05.1995 in Oldenburg.
Sie heiratete 1936 den Leipziger Stadtbibliothekar Wolfgang G. Fischer, später Direktor der Landesbibliothek in Oldenburg. Das Paar hatte 4 Söhne.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

.11<br />

hier handelt, gilt ja gesellschaftlichen Bewegungen,<br />

gesellschaftlichen Realitäten. Der durch sein gesellschaftliches<br />

Dasein bestimmte, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Gesellschaft aktive, <strong>der</strong> <strong>für</strong> eine<br />

ideale Gesellschaft als Norm gesetzte Mensch ist es, mit dem es<br />

hier <strong>die</strong> <strong>Bildung</strong> zu tun hat. <strong>Die</strong> Analyse <strong>des</strong> <strong>Bildung</strong>sbegriffes<br />

hat Aufschluß zu geben über das — wenn man so will — p o ­<br />

litische Bild <strong>des</strong> Menschen, über den Menschen als wesentlichen<br />

Gegenstand <strong>des</strong> gesellschaftsgerichteten Willens. Es ist<br />

natürlich nicht getan mit dem Aufdecken sozialer Untergründe<br />

einer <strong>Bildung</strong>sform, sei es im Denken, sei es in <strong>der</strong> Realität. Mit<br />

einer genetischen Ableitung einer <strong>Bildung</strong> aus ihrer sozialen<br />

Wirklichkeit ist das Bild <strong>des</strong> Menschen, das ein politischer Wille<br />

aufstellt, noch nicht erklärt. <strong>Bildung</strong> soll hier nicht als ein aus<br />

bestimmtem Gesellschaftszustand entsprungener, verselbständigter<br />

geistiger Zusammenhang betrachtet werden. Es wäre<br />

durchaus möglich, das zu tun, denn auch das proletarische<br />

Denken hat sich in alle Sphären <strong>der</strong> geistigen Welt ausgefächert,<br />

und <strong>die</strong>. beson<strong>der</strong>e Art gesellschaftlicher Organisation, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

proletarischen Parteien darstellen, indem sie nahezu alle Daseinsgebiete<br />

<strong>des</strong> Proletariers umfassen, ließe wohl einen eigenen, gesellschaftlich<br />

deutlich abgrenzbaren <strong>Bildung</strong>stypus herausBtellen.<br />

Hier ist jedoch <strong>die</strong> Frage nach <strong>der</strong> gesellschaftlichpolitischen<br />

Relevanz <strong>der</strong> <strong>Bildung</strong> gestellt. <strong>Bildung</strong><br />

soll als Teil eines politischen Willens, eines gesellschaftsgestaltenden<br />

Ethos betrachtet werden. Es soll geklärt werden,<br />

wie <strong>die</strong> <strong>Bildung</strong> <strong>für</strong> <strong>die</strong> Verwirklichung eines totalen, auf <strong>die</strong><br />

ganze Gesellschaft gerichteten Willens mobilisiert wird. Daß <strong>die</strong><br />

<strong>Bildung</strong> einen <strong>Die</strong>nst an <strong>der</strong> Gesellschaft zu leisten habe, ist<br />

längst These <strong>der</strong> Pädagogen. *) <strong>Die</strong> Fortführung <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

in <strong>der</strong> <strong>Bildung</strong> <strong>des</strong> Nachwuchses erblicken, heißt <strong>die</strong> Gesellschaft<br />

als Zuständlichkeit, als ruhende Struktur auffassen, sei<br />

es als ausbalancierte Ständegesellschaft, sei es als bürgerliche<br />

Gesellschaft im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t, <strong>die</strong> sich ungeachtet aller realen<br />

Spannungen absolut setzt. Immer ist in solchen Fällen <strong>die</strong> Fortführung<br />

durch <strong>Bildung</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft immanent. I<strong>Die</strong><br />

Frage nach <strong>der</strong> <strong>Rolle</strong> <strong>der</strong> <strong>Bildung</strong> im gesellschaftlich-politischen<br />

Willen <strong>des</strong> <strong>Proletariats</strong> stellen, bedeutet aber, sie dort aufsuchen,<br />

wo Gesellschaft nicht Zustand, son<strong>der</strong>n sich selbst transzen<strong>die</strong>rende<br />

Bewegung ist, und das nicht nur in <strong>der</strong><br />

Auffassung einer antibürgerlichen Ideologie, son<strong>der</strong>n in einem<br />

*) Paul Barth, Geschichte <strong>der</strong> Erziehung in soziologischer<br />

und geistesgeschichtlicher Beleuchtung. 5. und 6. Aufl. Leipzig 1923.<br />

grundsätzlich durchaus gemäßen Begreifen <strong>der</strong> realen Situation.<br />

Was <strong>die</strong> <strong>Bildung</strong> in einer unabweisbar realen gesellschaftlichen<br />

Situation: <strong>der</strong> Situation <strong>des</strong> <strong>Proletariats</strong>, wie immer es sich<br />

theoretisch begreife, zu leisten hat, und wie sie <strong>für</strong> ihre Aufgabe<br />

beschaffen sein muß: das ist <strong>die</strong> Kernfrage <strong>der</strong> vorliegenden<br />

Untersuchung./<br />

Wenn <strong>die</strong>se proletarische Gesellschaftssituation, <strong>der</strong>en<br />

integrieren<strong>des</strong> Merkmal <strong>der</strong> Wille zu ihrer Überwindung ist,<br />

jeweils dort aufgesucht werden muß, wo sie sich zu einer geschlossenen<br />

geistigen Haltung (auch ohne eine Theorie ihres<br />

Willens explicite zu haben) verdichtet, so ist es klar, daß das<br />

Wesentliche nicht mit <strong>der</strong> theoretischen Meinung über <strong>die</strong> Fragen<br />

<strong>der</strong> <strong>Bildung</strong> gesagt ist, son<strong>der</strong>n daß an <strong>der</strong> praktischen Handhabung<br />

<strong>der</strong> <strong>Bildung</strong> <strong>der</strong> Geist <strong>der</strong> Bewegung zu stu<strong>die</strong>ren ist.<br />

Wie<strong>der</strong>um soll auch nicht <strong>die</strong> nachträglich vom Historiker festzustellende<br />

tatsächliche etwa bildende Wirkung, son<strong>der</strong>n nur <strong>die</strong><br />

im Rahmen <strong>des</strong> politischen Willens gewollte Gegenstand <strong>der</strong><br />

Untersuchung sein. Zwischen den Zeilen bloßer Tatsachenberichte<br />

zu lesen, ist darum ebenso wichtig, wie programmatische<br />

Thesen zu beachten.<br />

Es mag in den folgenden Ausführungen scheinen, als werde<br />

<strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> <strong>Bildung</strong> unkritisch auf alles angewandt, womit<br />

jemals <strong>die</strong> Arbeiter auf ihr Bewußtsein eingewirkt haben. Es<br />

schien jedoch nicht angebracht, <strong>für</strong> jede beson<strong>der</strong>e Form <strong>der</strong><br />

<strong>Bildung</strong> eine eigene begriffliche Bezeichnung zu suchen. <strong>Die</strong><br />

Unterschiede in Verwendung und Inhalt <strong>des</strong> Begriffs <strong>Bildung</strong><br />

müssen ja erst aus dem Verlauf <strong>der</strong> Untersuchungen hervorgehen.<br />

<strong>Die</strong> Arbeiterbewegungen je<strong>der</strong> Form aber nennen ihre Bemühungen<br />

um <strong>die</strong> geistige Gestaltung <strong>des</strong> Proletariers unterschiedslos<br />

„<strong>Bildung</strong>“. „Erziehung“ meint nur <strong>die</strong> Aufzucht <strong>der</strong><br />

Kin<strong>der</strong>, <strong>die</strong> praktisch nicht Angelegenheit <strong>der</strong> Arbeiterbewegungen<br />

ist, aber natürlich im Rahmen <strong>der</strong> <strong>Bildung</strong>sprogramme<br />

mit betrachtet werden muß, denn sie muß ja zu den Zielen <strong>der</strong><br />

<strong>Bildung</strong> in irgendeinem Verhältnis stehen. <strong>Die</strong> Bezeichnungen<br />

„Schulung“, „Belehrung“, „Unterricht“ fallen mit unter den Begriff<br />

„<strong>Bildung</strong>“. — Das ganze 19. Jahrhun<strong>der</strong>t gebraucht den vom<br />

Neuhumanismus geprägten <strong>Bildung</strong>sbegriff, <strong>der</strong> seines metaphysischen<br />

Sinnes entleert, doch nie ganz seines idealen Schimmers<br />

entkleidet wird, <strong>für</strong> Formen, <strong>die</strong> einer ganz an<strong>der</strong>en geistigen<br />

Situation entwachsen, einer ganz an<strong>der</strong>en Realität zugeordnet<br />

sind. Den Arbeiterbewegungen kann das Recht auf<br />

ebensolche Verwendung <strong>die</strong>ses Begriffs nicht abgestritten werden;<br />

stellen sie doch, philosophisch ausgeformt o<strong>der</strong> nicht, eine voll-

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!