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Das Stadtgespräch Ausgabe November 2023 auf MeinRHWD

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Buchtis<br />

Annette Mingels<br />

»Der letzte Liebende«<br />

In meiner Kritik zu »Dieses<br />

entsetzliche Glück« habe ich<br />

geschrieben, dass Annette Mingels<br />

einen angemessen melancholischen<br />

Ton anschlägt, ohne<br />

je düster zu sein. <strong>Das</strong> gelingt ihr<br />

auch in ihrem aktuellen Roman<br />

»Der letzte Liebende«, was an<br />

sich schon bemerkenswert ist.<br />

Denn vom Inhalt her könnte das<br />

Buch durchaus schwer verdaulich<br />

sein.<br />

Es geht um Carl Kruger, einen<br />

seit langem emeritierten Chemieprofessor,<br />

der in einem<br />

kleinen Ort in New Jersey an<br />

der Ostküste der USA lebt. Eigentlich<br />

heißt er Krüger, aber<br />

seit er vor dem Mauerbau von<br />

Berlin aus in die USA übergesiedelt<br />

ist, hat er nicht nur seinen<br />

Namen amerikanisiert. Carl hat<br />

das Gefühl, dass das Alter ihn<br />

unsichtbar gemacht hat und in<br />

eine Einsamkeit gestoßen hat,<br />

die sich im ihn ausbreitet »wie<br />

ein nächtlicher See schwarz und<br />

tief«. Fast sechzig Jahre war er<br />

mit Helen verheiratet. Obwohl<br />

die Ehe schon lange so zerrüttet<br />

war, dass die beiden nicht<br />

einmal <strong>auf</strong> derselben Etage des<br />

Hauses lebten, trifft Helens Tod<br />

ihn bis ins Mark. Und auch das<br />

Verhältnis zu seiner Tochter Lisa<br />

ist schwer belastet. Nur zu seinem<br />

Enkel Collin hat er einen<br />

guten Draht, selbst in der Zeit,<br />

als dieser »Pubertät hatte«. Darum<br />

willigt Carl ein, als Lisa ihn<br />

zu einer Reise in die alte Heimat<br />

überredet. Doch der Besuch in<br />

Ostdeutschland und Polen verläuft<br />

anders, als der Wahlamerikaner<br />

erwartet. Zum einen liegt<br />

das an der Welt, die so offenbar<br />

im Umbruch ist. Ist er als alter<br />

weißer Mann überhaupt im 21.<br />

Jahrhundert angekommen? Zum<br />

anderen ist Carl durch sein Alter<br />

dahin gelangt, dass er sich<br />

selbst nicht mehr trauen kann,<br />

dass er zur »Schwachstelle jeder<br />

Unternehmung« geworden ist.<br />

Aus dem Roman spricht viel<br />

Erfahrung, ja er ist stellenweise<br />

regelrecht weise. Annette Mingels<br />

hat Jahre in der Schweiz,<br />

wie ihr Anti-Held Carl in New<br />

Jersey, Hamburg und San Francisco<br />

gelebt. Doch vielfältige<br />

Erfahrungen haben recht viele<br />

Schriftsteller. Ein Kennzeichen<br />

großer Autoren ist für mich,<br />

dass es ihnen gelingt, sowohl<br />

die Männer- als auch die Frauenperspektive<br />

überzeugend<br />

wieder zu geben. <strong>Das</strong> spricht<br />

von scharfer Beobachtungsgabe.<br />

Ein weiteres Kennzeichen<br />

ist natürlich die Sprache. Mit<br />

der brilliert Annette Mingels. So<br />

heißt es beispielsweise, als Carl<br />

zufällig in einem Antiquariat<br />

einer jungen Verkäuferin begegnet:<br />

»Sie war <strong>auf</strong> so entschiedene<br />

Weise schön, dass es sich wie<br />

ein Angriff anfühlte, <strong>auf</strong> den er<br />

in keiner Weise vorbereitet war«.<br />

Doch nicht nur sprachlich kann<br />

der Roman überzeugen, bietet er<br />

doch trotz der traurigen Gestalt<br />

der Hauptfigur überraschender<br />

Weise gegen Ende auch Tröstliches.<br />

Erschienen als Hardcover<br />

bei Penguin, 300 Seiten, 24 Euro.<br />

Noah Martin »Florentia<br />

im Glanz der Medici«<br />

Eines sei gleich vorweggesagt:<br />

Man sollte die Figuren dieses<br />

Romans nicht googlen, denn<br />

dann weiß man sofort, wie<br />

deren Schicksal verläuft. Um<br />

es neudeutsch zu sagen: Spoiler-Alarm!<br />

Und nachzuschauen<br />

gäbe es einiges im neuen Roman<br />

von Noah Martin. Auch übrigens<br />

den Namen Noah Martin, hinter<br />

dem sich die im Sauerland<br />

geborene Natalja Schmidt verbirgt.<br />

Die Verlagslektorin lebt<br />

und arbeitet in München und<br />

hat 2020 den wundervollen Roman<br />

»Raffael – <strong>Das</strong> Lächeln der<br />

Madonna« veröffentlicht. Unschwer<br />

zu erraten ist dagegen,<br />

dass die studierte Kunsthistorikerin<br />

wirklich Ahnung von ihrer<br />

Lieblingsepoche hat, der italienischen<br />

Renaissance.<br />

Im Florenz des Jahres 1469<br />

gibt die märchenhaft reiche<br />

Bankiersfamilie der Medici den<br />

Ton an. Viele profitieren von den<br />

Medici, nicht nur die Künstler<br />

des Stadtstaats, sondern auch<br />

Fürsten bis hin zum Papst.<br />

Schließlich finanzieren die Medici<br />

Feldzüge und auch <strong>auf</strong>wändige<br />

Lebensstile. Und natürlich<br />

gibt es auch Neider in Florenz.<br />

Dennoch ist natürlich die Hochzeit<br />

von Lorenzo de‘ Medici, dem<br />

ältesten Sohn und künftigen<br />

Herrscher, eine Feier der ganzen<br />

Stadt, ein Pflichttermin im<br />

gesellschaftlichen Leben. Wie<br />

in den Adelskreisen auch, hat<br />

dieser Ehebund recht wenig mit<br />

Liebe zu tun, verbindet er doch<br />

vor allem eine mächtige römische<br />

Familie mit Florenz.<br />

Doch nicht allein Lorenzos<br />

Schicksal ist eng mit dem der<br />

Stadt verwoben. Sein jüngerer<br />

Bruder Giuliano hat als Zweitgeborener<br />

zunächst nicht viel<br />

zu sagen, was ihm ein großes<br />

Maß an Freiheit beschert. Als<br />

Tochter des Hausarztes lebt Fioretta<br />

Gorini im Haushalt der<br />

Medici. Doch ihre Passion ist das<br />

Malen und durch die Protektion<br />

der reichen Banker bekommt sie<br />

sogar als Frau eine Lehrstelle bei<br />

einem florentiner Meister. Dort<br />

trifft sie <strong>auf</strong> den jungen, noch<br />

unbekannte Leonardo da Vinci<br />

und den etwas älteren, aber<br />

ebenso unbekannten Sandro<br />

Botticelli. Die drei Freunden<br />

sich an.<br />

Über Affären regt sich im<br />

Florenz der Renaissance niemand<br />

<strong>auf</strong>. Kompliziert wird es<br />

allerdings, als sich sowohl Fioretta<br />

als auch Leonardo sich<br />

ernsthaft in einen der Medici<br />

verlieben. Die Medici sind nun<br />

mal keine reinen Privatpersonen,<br />

sondern sind eng in einem<br />

gefährlichen Spiel aus Politik,<br />

Intrigen, Gewalt und Verrat verstrickt.<br />

Denn Gefahr droht nicht<br />

nur von anderen Stadtstaaten,<br />

die alle durch wechselnde Loyalitäten<br />

ihre eigene Position<br />

stärken wollen, sondern auch<br />

von den Feinden innerhalb von<br />

Florenz. Denen ist jedes Mittel<br />

recht, um die Medici zu entmachten<br />

und selbst die Regierung<br />

zu übernehmen.<br />

Der wunderbar frische<br />

Roman von Noah Martin beleuchtet<br />

facettenreich eine der<br />

interessantesten Perioden der<br />

Geschichte. Erschienen als Taschenbuch<br />

bei Droemer, 536<br />

Seiten, 18 Euro.<br />

Val McDermid »1989 –<br />

Wahrheit oder Tod«<br />

Die Lektüre des neuesten Krimis<br />

der schottischen Erfolgsautorin,<br />

deren Bücher in 40 Sprachen<br />

übersetzt wurden, lohnt <strong>auf</strong> alle<br />

Fälle. Und das sowohl für Menschen,<br />

die das Jahr 1989 selbst<br />

bewusst erlebt haben, und solche,<br />

die dafür noch zu jung oder<br />

noch gar nicht geboren waren.<br />

Denn 1989 ist in mehrfacher<br />

Hinsicht ein Schicksalsjahr für<br />

Europa: Eine unheimliche neue<br />

44 <strong>Das</strong> <strong>Stadtgespräch</strong>

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