Ausgabe 11/2023
Das Magazin für Herisau und Umgebung. Erscheinungsdatum: 1. November 2023
Das Magazin für Herisau und Umgebung. Erscheinungsdatum: 1. November 2023
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16 · Thema des Monats <strong>11</strong>/<strong>2023</strong><br />
GEDENKFEIER FÜR STERNENKINDER:<br />
EIN RAUM FÜR TRAUER<br />
Sternenkinder machen Mütter und Väter für die Gesellschaft zu unsichtbaren Eltern. Ein Gedenktag<br />
in Herisau möchte Betroffenen Raum zum Trauern, aber auch zum Austausch bieten.<br />
Eine betroffene Familie sowie die Hebammenleiterin des Spitals Herisau über ihre Erfahrung.<br />
Jährlich findet auf dem Friedhof Herisau eine<br />
Gedenkfeier für Sternenkinder und ihre Angehörigen<br />
statt. Organisiert wird diese von Anna<br />
Katharina Breuer, evangelisch-reformierte<br />
Pfarrerin, und Iris Schmid Hochreutener, Seelsorgerin<br />
der katholischen Pfarrei Herisau,<br />
Waldstatt, Schwellbrunn. Seit 2016 hat die<br />
Gemeinde Herisau zudem auf Initiative des<br />
Arbeitskreises Christlicher Kirchen Herisau<br />
einen Gedenkort für Sternenkinder auf dem<br />
örtlichen Friedhof errichtet. Mit dem Begriff<br />
«Sternenkind» wurden ursprünglich Kinder<br />
bezeichnet, welche vor der 24. Schwangerschaftswoche<br />
starben. Heute umfasst der Begriff<br />
auch Kinder, welche vor, während oder<br />
kurz nach der Geburt sterben.<br />
Ziel der Gedenkfeier sei Betroffenen, die<br />
um ein Sternenkind trauern, Raum zu bieten<br />
und die verstorbenen Kinder zu würdigen.<br />
«Bisher hatten sie wenig Möglichkeiten, ihre<br />
Trauer an einem öffentlichen Ort zum Ausdruck<br />
zu bringen. Dem möchten wir entgegenwirken»,<br />
sagt Schmid Hochreutener. Sie<br />
arbeitet für die katholische Pfarrei als Spitalseelsorgerin<br />
im Spital Herisau und hat unter<br />
anderem auch Familien begleitet, welche ein<br />
Sternenkind betrauern.<br />
Frage nach dem Warum bleibt meist offen<br />
Im Spital Herisau kommen jährlich um die<br />
700 Kinder zur Welt. Laut Regula Rutz, Stationsleiterin<br />
Hebammen des Spitalverbunds<br />
Herisau, sind rund zwei davon Totgeburten.<br />
Diese Zahl sei immer etwa gleich. Zum Verständnis:<br />
Endet eine Schwangerschaft bevor<br />
das Kind lebensfähig ist, spricht man von<br />
einer Fehlgeburt. Fehlgeburten kommen<br />
wesentlich häufiger vor als Totgeburten. Bei<br />
einer Totgeburt wiegt das Kind mindestens<br />
500 Gramm und ist vor oder während der<br />
Geburt verstorben. Stirbt das Kind nach der<br />
16. Schwangerschaftswoche im Mutterleib,<br />
wird es in der Regel vaginal geboren. Ungefähr<br />
ab diesem Zeitpunkt übernehmen die<br />
Hebammen die Geburtsbetreuung. Bemerkbar<br />
könne sich eine Fehl- oder Totgeburt<br />
auf verschiedene Arten machen. «Manche<br />
Schwangere spüren ein ungutes Gefühl oder<br />
die Bewegungen des Kindes bleiben aus. In<br />
dem Fall ist es wichtig, dass sich die Schwangere<br />
rasch und jederzeit für eine Kontrolle<br />
melden darf», sagt Rutz. Stirbt ein Kind in<br />
der Schwangerschaft, während oder kurz<br />
nach der Geburt, sei dies immer ein sehr einschneidendes<br />
Ereignis. Die Frage nach dem<br />
«Warum» lasse sich nur selten beantworten.<br />
«In den allermeisten Fällen wird keine Todesursache<br />
gefunden», sagt sie.<br />
Auch bei Sabina Aggeler setzten während<br />
ihrer ersten Schwangerschaft 2004<br />
überraschend die Wehen ein. «Ich war in der<br />
23. Schwangerschaftswoche und merkte sofort,<br />
dass etwas nicht stimmte. Wir fuhren so<br />
schnell es ging ins Spital.» Dort wurden sie<br />
und die Vitalwerte des Kindes untersucht. Da<br />
diese unauffällig waren, wurde sie – verordnet<br />
mit strenger Bettruhe – wieder nach Hause<br />
entlassen. Als sich die Wehen in den kommenden<br />
Tagen verstärkten, folgte ein stationärer<br />
Spitalaufenthalt. «Im Spital Herisau teilte man<br />
uns nach einem Tag Beobachtung mit, dass<br />
sie die in Herisau dazumal zur Verfügung stehenden<br />
Möglichkeiten ausgeschöpft hätten.<br />
So empfahlen sie eine Überweisung ins Kantonsspital<br />
St. Gallen», sagt Sabina Aggeler. Mit<br />
der Ambulanz wurde das Paar nach St. Gallen<br />
gebracht – ein Moment der Unsicherheit und<br />
Angst. «Einerseits bangten wir um unser Kind,<br />
andererseit war für uns klar, dass wir wohl in<br />
St. Gallen mehr Möglichkeiten haben würden.<br />
Wir hatten jedoch Respekt davor, dass im Zentrumsspital<br />
mit der ganzen modernen Medizin<br />
über unsere Köpfe hinweg entschieden würde»,<br />
sagt Glen Aggeler. Diese Angst entpuppte<br />
sich als unbegründet. Im Spital angekommen,<br />
herrschte eine familiäre Stimmung, das Paar<br />
wurde angehört, seine Bedürfnisse abgeklärt<br />
und jeder Vorgehensschritt erläutert und offen<br />
kommuniziert.<br />
«Weinen war<br />
für uns<br />
sehr heilend.»<br />
Sabina Aggeler erhielt einen Wehenhemmer,<br />
dennoch sahen sich die Hebammen und Ärzte<br />
in ihren weiteren Möglichkeiten begrenzt. «Ein<br />
Neonatologe – ein Kinderarzt, der auf Neugeborene<br />
spezialisiert ist – besprach mit uns das<br />
weitere Vorgehen und welche Möglichkeiten<br />
wir zu welchem Preis für das Überleben unseres<br />
Kindes hatten. Bei einer Weiterbehandlung<br />
hätte man uns das Kind direkt nach der Geburt<br />
weggenommen und per Helikopter nach<br />
Zürich transferiert», sagt Glen Aggeler. Weiter<br />
machte der Neonatologe den Eltern bewusst,<br />
dass die Überlebenschance selbst dann gering<br />
sei. Und sogar wenn es überleben würde,<br />
dann möglicherweise nur mit schweren<br />
Beeinträchtigungen. Das Paar entschied sich,<br />
den weiteren Verlauf so zu nehmen, wie es die<br />
Natur bestimmte. «Wir entschieden uns, es<br />
anzunehmen, wie es kommt. Und wir waren<br />
sehr dankbar, wurde diese Entscheidung vom<br />
Spitalpersonal und unserem familären Umfeld<br />
akzeptiert und wir dementsprechend unterstützt.»<br />
Gut eine Woche nach den ersten Wehen<br />
ging die Geburt unaufhaltsam vorwärts,<br />
ihr Sohn Noah kam zur Welt. «Auch wenn es<br />
speziell klingen mag, für uns war es ein sehr<br />
schönes Erlebnis, seine Geburt erleben und<br />
ihn danach in unseren Armen halten zu dürfen»,<br />
sagt Glen Aggeler. Eine halbe Stunde<br />
später verstarb Noah.<br />
Natürliche Geburt wird bevorzugt<br />
Verstirbt das Kind im Mutterleib, wird wenn<br />
möglich von einem Kaiserschnitt abgesehen<br />
und auf eine natürliche Geburt gesetzt. Laut<br />
Rutz seien die Gründe unter anderem mögliche<br />
Folgen der Operation. «Eine Operation ist<br />
immer mit Risiken verbunden. Diesen möchten<br />
wir die Mutter nicht zusätzlich aussetzen.<br />
Zudem kann bei einem Kaiserschnitt schnell<br />
das Gefühl von Kontrollverlust auftauchen.<br />
Daher ist es für die Frau aus psychologischer<br />
Sicht gesünder, wenn sie natürlich gebären<br />
kann.» So könnten Frauen den Verlust ihres<br />
Kindes langfristig emotional besser verarbeiten.<br />
«Es ist wichtig, dass die Eltern direkt nach<br />
der Geburt die Möglichkeit haben, ihr Kind zu<br />
sich zu nehmen und es anzuschauen. Auch<br />
um die Schönheit ihres Kindes zu sehen.» Die<br />
genauen Bedürfnisse des Paares würden aber<br />
vor und während der Geburt bestmöglich abgeklärt.<br />
«Wir besprechen mit dem Paar, ob wir<br />
das Kind zuerst anschauen und es dann den Eltern<br />
beschreiben sollen – oder ob sie das Kind<br />
vielleicht sofort zu sich nehmen wollen, ob wir<br />
es danach bekleiden sollen und ob eine mögliche<br />
Todesursache untersucht werden soll.»<br />
Genug Zeit und ein würdevoller Umgang<br />
mit dem Kind seien wichtig. «Im Spital Herisau<br />
haben wir in jeder Grösse Körbchen mit von<br />
Hand gefertigten Deckchen und Kleidchen,<br />
sowie Erinnerungsstücken für die Eltern, wie<br />
beispielsweise gehäckelte Schmetterlinge für<br />
Eltern und Kind.» Das Kind könne während des<br />
Spitalaufenthalts im Zimmer der Mutter bleiben,<br />
was mehrheitlich gewünscht werde. «Die<br />
Eltern wollen Abschied nehmen, das Kind anschauen<br />
können und Erinnerungen schaffen.»<br />
In dieser Zeit komme Iris Schmid Hochreute-