Christkatholisch_2024-2
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Hintergrund<br />
Krise: Gefahr<br />
und Chance<br />
Über das verborgene Potential von Umbrüchen<br />
Das Wort Krise erlebt eine Hochkonjunktur. Überall, wo uns der<br />
Schuh drückt, wir unsicher sind oder sich etwas Bedrohliches<br />
anbahnt, sagen wir «Krise» und es sind meist mehrere davon.<br />
Wir fragen den Krisenfachmann, ob es um die Welt wirklich bald<br />
«Matthäi am letzten» steht.<br />
Von Niklas Raggenbass<br />
In der Seelsorge erfahren wir, wie aus Krisensituationen<br />
Neues entstehen kann, denn man kann merken,<br />
dass sich etwas verändern lässt – und wenn es nur<br />
die Blickrichtung ist. Dies wird nach und nach auch<br />
in anderen Branchen, wie etwa in der Welt der Medizin,<br />
der Politik und der Wirtschaft erkannt: In Zeiten<br />
von Krisen und Umbrüchen kann sich Neues am<br />
ehesten durchsetzen.<br />
Zukunft entsteht aus Krisen<br />
Die amerikanische Zukunftsforscherin Hazel Henderson<br />
(1933–2022) sagte, es sei «a crime to waste a<br />
crisis» – ein Verbrechen, eine Krise ungenutzt vorbei<br />
gehen zu lassen. Wir werden von mehreren Krisen<br />
gleichzeitig betroffen und wir können von «Polykrise»<br />
sprechen: Krise der Finanzmärkte, Ernährungskrise,<br />
Krise der Kirchen, Klimakrise, Orientierungskrise<br />
und noch viele Krisen mehr. Anstatt jede dieser<br />
Situationen durch die Bewahrung des Bestehenden<br />
zu verstärken, geht es darum, Chaos und Krise als<br />
grosse Chancen radikaler Veränderungen zu nutzen.<br />
So kann aus einem Kollaps der Weltwirtschaft eine<br />
andere Zukunft, eine neue Ökonomie, ein kultureller<br />
Wandel und ein neues Zusammenwirken der Kirchen<br />
entstehen. Eine Krise ist daher keine Katastrophe,<br />
sondern etwas Produktives, wie es Max Frisch (1911–<br />
1991) in seinem Leben erfahren hat. Folgt man dieser<br />
Sichtweise, befinden wir uns nicht am krisenhaften<br />
«Ende der Zeiten», sondern inmitten eines herausfordernden<br />
Wandlungsprozesses, der sich kreativ<br />
gestalten lässt und der Krisenbefund heisst: Die Welt<br />
taumelt nicht in den Abgrund. Wir wollen den Krisenfachmann<br />
Franz Roselieb zu Wort kommen lassen.<br />
Amir Ali vom Schweizer Radio (SRF) befragt ihn zum<br />
Thema «Krise».<br />
Frank Roselieb ist geschäftsführender<br />
Direktor und Sprecher<br />
des Krisennavigator – Institut für<br />
Krisenforschung, ein Spin-Off<br />
der Universität Kiel.<br />
Foto: Krisennavigator,<br />
Kiel / Hamburg.<br />
Amir Ali: Ist es tatsächlich so, dass wir heute mehr<br />
Krisen haben als früher?<br />
Frank Roselieb: Die Zahl der Krisenfälle in den<br />
deutschsprachigen Ländern ist in den vergangenen<br />
40 Jahren ziemlich konstant geblieben. Früher hatten<br />
wir allerdings mehr operative Krisen – Flugzeugabstürze<br />
oder Hotelbrände –, heute stellen wir mehr<br />
kommunikative Krisen wie etwa Shitstorms (Sturm<br />
der Entrüstung in sozialen Medien) fest. Heute ist die<br />
Wahrnehmung von Krisen viel stärker als noch vor<br />
einigen Jahrzehnten.<br />
Wird heute der Begriff Krise also quasi inflationär<br />
benutzt?<br />
Früher galt ein Ereignis erst als Krise, wenn viele<br />
Menschen getötet und verletzt wurden. Heute hat<br />
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<strong>Christkatholisch</strong> Nr. 2, <strong>2024</strong>