Neue Szene Epaper 2024-03
DAS Stadtmagazin von Augsburgern für Augsburger und die bayrisch-schwäbische Region. Über interessante Menschen aus Politik, Sport, Kultur, Theater u.v.a.m.
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ZOOM<br />
31<br />
Hohe Mietpreise, Energiekrise, Inflation …<br />
vielen Augsburger:innen geht der Anstieg der<br />
Lebenshaltungskosten in letzter Zeit spürbar ans<br />
Portemonnaie. Damit setzt sich ein besorgniserregender<br />
Trend fort. Bereits seit vielen Jahren<br />
gilt Augsburg als ärmste Stadt Bayerns. Laut<br />
einer Erhebung des Landesamts für Statistik aus<br />
dem Jahr 2020 liegt das monatliche verfügbare<br />
Einkommen hier im Durchschnitt bei 1.764<br />
Euro – in keiner anderen Kommune im Freistaat<br />
müssen die Menschen mit weniger Geld auskommen.<br />
Wie die Ergebnisse des Paritätischen<br />
Armutsberichts 2022 zeigen, leben in der Region<br />
Augsburg ganze 15,7 Prozent der Bürger:innen<br />
unterhalb der Armutsgrenze. Dazu werden<br />
all jene Menschen gezählt, deren gesamtes<br />
Nettoeinkommen weniger als 60 Prozent des<br />
mittleren Haushaltseinkommens in ihrer Region<br />
beträgt. Personen, die wohnungslos sind, in<br />
Gemeinschaftsunterkünften oder Pflegeeinrichtungen<br />
leben, werden in diese Berechnung nicht<br />
einbezogen. Die Dunkelziffer der von Armut<br />
betroffenen Menschen dürfte also noch höher<br />
ausfallen. Sicher ist allerdings: Seit 2018 steigt<br />
die Armutsquote im Raum Augsburg immer<br />
weiter an. Das bedeutet, dass sich eine wachsende<br />
Anzahl von Augsburger:innen selbst lebensnotwendige<br />
Ausgaben – wie Wohnkosten, Kleidung<br />
oder Essen – kaum noch leisten kann.<br />
Dieses Problem treibt auch Bio-Landwirt Armin<br />
Salzmann um, der vor vier Jahren die solidarische<br />
Landwirtschaft Kohlkombinat Augsburg mitgegründet<br />
hat. Basierend auf einem Abo-Modell liefert<br />
er gemeinsam mit anderen lokalen Landwirten<br />
und Gärtnereien einen Teil seines Gemüses in<br />
einer wöchentlichen Erntekiste an die Mitglieder<br />
aus – für einen monatlichen Beitrag von 50 Euro.<br />
Für Rentner:innen, Alleinerziehende und Studierende<br />
besteht schon seit jeher die Möglichkeit, die<br />
Erntekisten zum halben Preis zu beziehen. Doch<br />
es scheint, als könnten sich viele auch das nicht<br />
(mehr) leisten. Regelmäßig erfährt Armin von<br />
Menschen, deren spärliches Einkommen für eine<br />
ausgewogene Ernährung mit frischem Obst und<br />
Gemüse schlicht nicht ausreicht.<br />
Wir besuchen Armin in seiner Gärtnerei im<br />
Bärenkeller. Die Sonne strahlt und es liegt schon<br />
eine Vorahnung von Frühling in der Luft – bestes<br />
Erntewetter also. Armin kommt gerade vom Feld,<br />
dort wird heute Rosenkohl abgeerntet. In den<br />
Gewächshäusern sprießt der Feldsalat. Beides wird<br />
tags darauf in der dieswöchigen Kohlkombinat-<br />
Kiste landen, die aktuell von 300 Augsburger<br />
Haushalten bezogen wird – auch solchen, die<br />
nicht nur beim Lebensmittelkauf jeden Euro<br />
zweimal umdrehen müssen. Armin liest eine<br />
Auswahl von Nachrichten vor, die ihn im Laufe<br />
des letzten halben Jahres erreicht haben. Sie<br />
stammen von Mitgliedern des Kohlkombinats, die<br />
ihre Arbeit verloren haben, ihr Studium beendet,<br />
aber noch keine bezahlte Stelle gefunden haben,<br />
oder von staatlicher Unterstützung leben. Die<br />
meisten fragen, ob es möglich wäre, die Erntekiste<br />
zum vergünstigten Preis zu beziehen. Verdienen<br />
würden Armin und die anderen Landwirte an<br />
der Kiste zwar nur, wenn sie sie zum regulären<br />
monatlichen Abopreis verkaufen. „Geht eine<br />
Kiste für den Sozialtarif von 25 Euro raus, gebe<br />
ich mein Gemüse praktisch zum Mindestpreis ab,<br />
damit mache ich keinen Gewinn. Aber die Ware<br />
auf dem Acker muss ja auch weg. Idealerweise verdiene<br />
ich natürlich ein bisschen was mit der Erntekiste,<br />
aber mir ist viel wichtiger, dass ich mein<br />
Gemüse an den Mann bringe.“ Und für wen auch<br />
der reduzierte Preis noch zu viel ist, bekommt<br />
die Kiste eben umsonst – solange, bis sich seine<br />
finanzielle Situation bessert und er sich wieder<br />
in der Lage fühlt, dafür zu bezahlen. Etwa zehn<br />
Prozent seiner Erntekisten gibt das Kohlkombinat<br />
auf diese Weise an Bedürftige ab.<br />
Doch die wenigsten davon sind von sich aus mit<br />
der Bitte auf das Kohlkombinat zugekommen. „In<br />
den meisten Fällen läuft es so, dass wir E-Mails<br />
bekommen, in denen die Leute schreiben, dass<br />
sie ihr Abo aufgrund von Veränderungen der<br />
persönlichen Lebenssituation kündigen möchten.<br />
Da frage ich dann einfach immer zurück, woran<br />
es genau liegt, und biete bei finanziellen Notlagen<br />
diese Möglichkeit an“, schildert Armin. „Wir<br />
wissen, dass Armut sehr schambehaftet ist und<br />
viele Betroffene auf keinen Fall damit hausieren<br />
gehen möchten. Deshalb ist es für uns wichtig, bei<br />
solchen Nachrichten nachzuhaken, um die Leute<br />
unterstützen zu können.“ Mittlerweile habe er ein<br />
gutes Gespür für diese versteckte Art von Armut<br />
entwickelt. „Die meisten tun alles, damit man<br />
ihnen nicht ansieht, dass sie kein Geld haben.<br />
Aber ich merke trotzdem, wenn irgendwas nicht<br />
stimmt.“<br />
Vor allem bei Altersarmut sei die Scham der<br />
Betroffenen groß, weil sich viele selbst die<br />
Schuld an ihrer prekären Lage geben würden,<br />
meint Armin, der sein übriggebliebenes Gemüse<br />
regelmäßig an die Tafel liefert, wo er besonders<br />
häufig ältere Menschen in der wachsenden<br />
Schlange der Essensausgabe antreffe. „Obwohl<br />
die meisten ihr Leben lang gearbeitet haben,<br />
reicht ihnen die Rente einfach nicht zum Leben,<br />
vor allem seit die Kosten links und rechts gestiegen<br />
sind. Aber statt die Schuld beim Staat oder<br />
Arbeitgeber zu verorten, denken viele: Ich habe<br />
mir das selbst zuzuschreiben, weil ich versäumt<br />
habe, fürs Alter vorzusorgen und mir genug<br />
Geld zurückzulegen.“ Schamgefühle würden<br />
außerdem viele Bedürftige daran hindern, staatliche<br />
Unterstützung in Anspruch zu nehmen,<br />
weiß Armin. „Wie ich das mitbekomme, ist der<br />
Gang zum Amt für Rentner:innen, Arbeitslose<br />
oder Alleinerziehende oft mit Demütigung<br />
verbunden, weil sie dort ihre Lebenssituation<br />
offenlegen müssen und nicht selten auch Vorwürfe<br />
zu hören bekommen. Deshalb entscheiden<br />
sich viele eben dagegen, Sozialleistungen zu<br />
beziehen.“ Außerdem kann es auch mit einem<br />
gewissen Unbehagen einhergehen, finanzielle<br />
oder materielle Unterstützung zu erhalten. Das<br />
bekommt auch Armin immer wieder von den<br />
Menschen zu hören, denen er die Erntekiste<br />
umsonst zukommen lässt. Obwohl sie das Angebot<br />
sehr zu schätzen wissen, ist es ihnen unangenehm,<br />
Essen geschenkt zu bekommen und<br />
sie bieten häufig im Gegenzug an, bei der Ernte,<br />
beim Packen oder Ausfahren der Gemüsekisten<br />
mitzuhelfen. Das nimmt Armin meist dankend<br />
an, denn helfende Hände kann er eigentlich<br />
immer gebrauchen.<br />
Doch was könnten Politik und Gesellschaft<br />
tun, um der zunehmenden Armut entgegenzuwirken?<br />
„Da ich denke, dass vor allem die<br />
Altersarmut in den nächsten Jahren ein immer<br />
größeres Problem wird, fände ich es grundsätzlich<br />
sinnvoll, eine gesetzliche Mindestrente für<br />
alle einzuführen, die auf jeden Fall ausreicht, um<br />
gut über die Runden zu kommen.“ Aber auch<br />
jeder Einzelne kann laut Armin etwas beitragen:<br />
„In unserer egoistisch geprägten Gesellschaft<br />
sieht man nur das, was man auch sehen will.<br />
Deshalb ist es so wichtig, im Alltag die Augen<br />
für seine Mitmenschen offen zu halten. Wenn du<br />
mit einer gewissen Aufmerksamkeit durch die<br />
Stadt gehst, wird dir auf deinem Weg mindestens<br />
eine bedürftige Person begegnen. Dann<br />
bleib kurz stehen, greif in deine Tasche und gib<br />
ihr einen kleinen Schein. Es muss aber nicht<br />
unbedingt finanzielle Hilfe sein, man kann sich<br />
auch bei zahlreichen sozialen Einrichtungen<br />
ehrenamtlich engagieren. Es gibt so viele Möglichkeiten,<br />
wie jeder einen kleinen Beitrag dazu<br />
leisten kann, dass es den Menschen zumindest<br />
ein bisschen besser geht.“ Armin und sein Kohlkombinat<br />
beweisen, dass es sich gerade in diesen<br />
schwierigen Zeiten lohnt, auf Bedürftige zuzugehen<br />
und seine Hilfe anzubieten, wo es eben<br />
geht. Denn wenn sich die Armut zu verbergen<br />
versucht, sind wir alle umso mehr aufgefordert,<br />
genauer hinzusehen. (lina)