Demokratische Sozialisation in der Schule - Initiative Bildung in ...

Universität Leipzig
Fakultät für Sozialwissenschaften und Philosophie
Institut für Soziologie
Magisterarbeit
Demokratische Sozialisation in der Schule
Wie Kinder und Jugendliche demokratische Werte, Einstellungen und
Verhaltensweisen entwickeln können
Vorgelegt von Veit Polowy
Matrikelnummer 8724830
Betreut von PD Dr. Uta Starke
Bearbeitungszeitraum 1. Juli 2006 bis 31. Januar 2007

Gliederung
Einleitung .................................................................................................................................. 4
1 Relevanz der Untersuchung: Individualisierung und Problemerscheinungen ............... 7
1.1 Persönlichkeitsentwicklung.............................................................................................. 7
1.2 Individualisierung und Entwicklungsaufgaben des Jugendalters..................................... 8
1.3 Individualisierung und Wertewandel ............................................................................. 11
1.4 Jugendkulturen als Chancen und Gefahren für Persönlichkeit und Gesellschaft........... 12
1.4.1 Menschenfeindliche Einstellungen ......................................................................... 14
1.4.2 Aggression und Gewalt in der Schule..................................................................... 17
1.4.3 Verdrossenheit gegenüber Politik und Politikern und politischem System ............ 17
2 Sozialisation in der Schule.................................................................................................. 20
2.1 Schule als Sozialisationsinstanz und Umweltfaktor....................................................... 20
2.3 Makro- und mikrosoziologische Theorieansätze zur schulischen Sozialisation............ 22
2.3.1 Strukturfunktionalistischer und historisch-materialistischer Ansatz....................... 22
2.3.2 Symbolisch-Interaktionistischer Ansatz.................................................................. 24
2.3.3 Theoriesynthese als Rahmen für die Analyse schulischer Sozialisationsprozesse . 24
2.4 Funktionen, Normen und Strukturen der Institution Schule .......................................... 27
3 Schulische Sozialisation und schulische Erfahrungen Jugendlicher.............................. 30
3.1 Ausdehnung der Schulzeit und Verlängerung der Jugendphase .................................... 31
3.2 Benachteiligung in der Schule........................................................................................ 32
3.3 Schulisches Leistungssystem und die psychosoziale Problembelastung Jugendlicher.. 32
3.4 Schulinvolvement und Sinnbezug schulischer Prozesse................................................ 35
3.5 Schulentfremdung, Schulunlust und Schulverdrossenheit............................................. 36
3.6 Schülertaktiken............................................................................................................... 38
3.7 Soziale Beziehungen als Erfahrungs- und Sozialisationsfeld ........................................ 39
3.7.1 Schulklasse als Erfahrungsfeld................................................................................ 39
3.7.2 Jugendliche Subkulturen und abweichendes Verhalten in der Schule.................... 40
3.7.3 Lehrer-Schüler-Beziehungen .................................................................................. 41
3.7.3.1 Lehrer-Schüler-Beziehungen aus Schülersicht ................................................ 42
3.7.3.2 Lehrer-Schüler-Beziehungen aus Lehrersicht.................................................. 43
3.7.4 Kommunikationsprozesse und Lerninhalte im Unterricht ...................................... 43
4 Bedingungen der Individualisierung und Freiheit ändern die Aufgabe der Schule..... 46
4.1 Grenzen der Wirksamkeit einer Schule mit klarem Zielsystem..................................... 47
4.2 Aufgaben für die Schule unter Individualisierungsbedingungen................................... 47
4.2.1 Selbstfindung durch Individualisierung von Lernen und Lernsituationen.............. 48
4.2.2 Selbständige Handlungsfähigkeit durch persönliche Freiheit und Verantwortung. 48
5 Individualisierung und Sinndefizite durch die Schule..................................................... 50
5.1 Problembelastungen, Nonkonformität und Normdistanz............................................... 50
5.2 Schulklima: Leistungs-, Konkurrenz- und Anpassungsdruck........................................ 50
5.3 Beziehung und Interaktionen mit LehrerInnen .............................................................. 51
5.4 Soziale Selektion, Aggression und Gewalt .................................................................... 52
6 Qualitäten einer „guten Schule“ ........................................................................................ 53
6.1 Entideologisierung der Schulformwahl.......................................................................... 54
6.2 „Bildung und Erziehung demokratisch mündiger Bürger“ ............................................ 55
2

6.2.1 Politische Programme für Toleranz und gegen Fremdenfeindlichkeit.................... 55
6.2.2 Auseinandersetzung als Aufgabe pädagogischer Institutionen............................... 57
6.3 Strategien der Gewaltprävention.................................................................................... 59
6.3.1 Schulqualität und Gewaltprävention ....................................................................... 59
6.3.2 Ganzheitliche Strategien der Gewaltprävention...................................................... 61
6.4 Demokratie als pädagogisches und politisches Prinzip.................................................. 61
6.4.1 Demokratie lernen durch Erfahrung von Demokratie............................................. 62
6.4.2 Erfahrene Demokratie als Antwort auf Verdrossenheit und Entfremdung sowie als
Voraussetzung für Engagement ....................................................................................... 63
6.4.3 Projekte als „demokratiepädagogisch wirksame Vorhaben“ und Beitrag zur
Individualisierung des Lernens ........................................................................................ 65
6.4.4 Partizipationsformen mit realem Einfluss ............................................................... 68
6.5 Lehrer(fort)bildung......................................................................................................... 70
6.6 Rekurs auf reformpädagogische Ansätze....................................................................... 72
7 Bedingungen „demokratischer Sozialisation in der Schule“........................................... 75
7.1 Fokussierung der Untersuchung..................................................................................... 75
7.2 Evaluation des BLK-Modellversuchsprogramm „Demokratie lernen und leben“......... 76
7.3 Eigene Untersuchung zu Bedingungen „demokratische Sozialisation in der Schule“... 79
7.4 Methodik des Experteninterviews.................................................................................. 80
7.4.1 Auswahl der Interviewpartner als „Experten“ ........................................................ 80
7.4.2 ExpertInnenwissen .................................................................................................. 81
7.4.3 Leitfaden und Diskursverlauf.................................................................................. 81
7.4.4 Auswertung ............................................................................................................. 82
7.4.5 Auswertungsverfahren: Thematischer Vergleich.................................................... 83
7.4.6 Soziologische Konzeptualisierung .......................................................................... 83
7.5 Die geführten Experteninterviews.................................................................................. 84
7.5.1 Auswahl der „Experten“ für Interviews .................................................................. 84
7.5.2 Leitfaden für die Interviews .................................................................................... 86
7.6 Auswertung der Experteninterviews – Thesen zu „demokratischer Sozialisation in der
Schule“ ................................................................................................................................. 87
7.6.1 These: Demokratie lernen durch Erfahrung von Demokratie ................................ 87
7.6.2 These: Mitspracherechte ermöglichen Mitbestimmung.......................................... 89
7.6.3 These: Gremien ermöglichen Partizipation im Schulleben..................................... 90
7.6.4 These: Offenheit ermöglicht Selbstbestimmung und Selbstorganisation ............... 92
7.6.5 These: SchülerInnen müssen Verantwortung übernehmen können ........................ 93
7.6.6 These: Demokratielernen sollte „so früh wie möglich“ beginnen .......................... 94
7.6.7 These: Demokratie zeigt sich in Kommunikation................................................... 95
7.6.8 These: LehrerInnen stellen „demokratische Verhältnisse“ her ............................... 99
7.6.9 These: Demokratie in der Schule braucht Rahmenbedingungen .......................... 100
7.6.10 These: Die Konsense bestimmen die Reichweite von Demokratie in der Schule
........................................................................................................................................ 102
7.6.11 These: Demokratieerfahrung in der Schule schafft Voraussetzungen für
Partizipation in Gesellschaft und Politik........................................................................ 103
7.6.13 These: Aushandeln stärkt die Persönlichkeit ...................................................... 105
7.6.14 These: Schulen und Familien müssen gemeinsam Probleme angehen ............... 106
7.6.15 These zum Ausblick: „Der stete heiße Tropfen hölt den Stein.“ ........................ 107
8 Resümee und Ausblick...................................................................................................... 109
9 Quellen................................................................................................................................ 113
3

Einleitung
In dieser Arbeit wird untersucht, was unter „demokratischer Sozialisation in der Schule“ zu
verstehen ist. Ausgangspunkt dieser Überlegung sind Bedingungen der Individualisierung und
Freiheit, die für die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen viele Chancen
bieten. Jedoch steht Individualisierung auch für eine Gratwanderung zwischen Freiheit und
Unklarheit. Daraus folgende Problemerscheinungen können unter anderem
menschenfeindliche Einstellungen, Aggression und Gewalt sowie Verdrossenheit gegenüber
Politik und Politikern und politischem System sein.
In dieser Arbeit wird argumentiert, dass die Schule auf die Bedingungen von
Individualisierung und Freiheit reagieren muss. Dies kann sie tun, indem sie Kindern und
Jugendlichen Möglichkeiten bietet, sich selbst eigene Orientierungen zu schaffen und starke
Persönlichkeiten auszubilden. Die Herausforderung für die Schule besteht darin, jungen
Menschen Erfahrungen zu ermöglichen, die sowohl für das spätere Leben handlungsfähig
machen als auch Demokratie als Lebensform und soziales Engagement verständlich machen.
Damit könnte menschenfeindlichen Einstellungen, Aggression und Gewalt sowie
Politikverdrossenheit vorgebeugt werden.
Im zweiten Abschnitt werden Prozesse der Sozialisation in der Schule innerhalb theoretischer
Ansätze verortet. Dabei wird die Schule als eine Sozialisationsinstanz bzw. als ein
Umweltfaktor betrachtet. Es wird gezeigt, wie sich schulische Sozialisationsprozesse aus
Sicht des strukturfunktionalistischen, historisch-materialistischen bzw. symbolischinteraktionistischen
Ansatzes darstellen. Da jedoch keiner dieser Ansätze allein schulische
Sozialisation erschöpfend erfasst, wird ihre Kombination vorgeschlagen, um Funktionen,
Normen und Strukturen der Institution Schule zu untersuchen.
Im dritten Abschnitt gehen wird auf Forschungsergebnisse zu schulischer Sozialisation ein.
Hierbei sind die Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen in ihrer Rolle als SchülerInnen
von zentraler Bedeutung. Wir gehen darauf ein, dass sich seit der Bildungsexpansion in den
letzten Jahrzehnten die Schulzeit und damit auch die Jugendphase ausgedehnt haben. Die
Bildungsexpansion verringerte auch Benachteiligungen im Bildungswesen, konnte sie aber
nicht gänzlich beseitigen. Wir fragen ferner, welche psychosozialen Problembelastungen das
schulische Leistungssystem für Kinder und Jugendliche bedeutet, unter welchen Bedingungen
sich SchülerInnen einerseits an der Schule beteiligt fühlen und anderseits einen Sinnbezug zu
4

schulischen Prozessen herstellen können. Dem gegenüber stehen Feststellungen, dass sich
SchülerInnen auch von der Schule entfremden und Schulunlust oder Schulverdrossenheit
empfinden. Wir gehen deshalb auf die Strategien und Taktiken ein, die SchülerInnen
entwickeln um gut durch die Schule zu kommen. Da sich schulische Sozialisationsprozesse
insbesondere im zwischenmenschlichen Bereich ereignen, betrachten wir die sozialen
Beziehungen in der Schule als Erfahrungs- und Sozialisationsfelder. Solche Felder können die
Schulklasse, aber auch die jugendlichen Subkulturen darin sein, wobei auch abweichendes
Verhalten von Bedeutung ist. Die Beziehung und Kommunikation zwischen SchülerInnen und
LehrerInnen erscheint ebenso wichtig.
Im vierten Abschnitt kommen wir auf die Bedingungen der Individualisierung und Freiheit
zurück und fragen, wie sich dadurch die Aufgabe der Schule ändert. Da unter Bedingungen
der Individualisierung und Freiheit die Sozialisation als offener Prozess verstanden werden
muss, wird die Wirksamkeit einer Schule mit Orientierung an einem klaren Zielsystem
begrenzt. Es wird argumentiert, dass die Schule Lernen und Lernsituationen individualieren
muss, um SchülerInnen Möglichkeiten zu geben, ihr Selbst zu finden und selbständige
Handlungsfähigkeit auszubilden. Dafür braucht es Erfahrungsräume für persönliche
Freiheiten und Verantwortung.
Im fünften Abschnitt reflektieren wir vor dem Hintergrund von Individualisierung und
Freiheit, dass die Schule für Kinder und Jugendliche Sinndefizite produzieren kann. Von
Bedeutung sind Problembelastungen, die zu Nonkonformität, Normdistanz, Aggression und
Gewalt führen können. Wir gehen diesbezüglich auch auf die Bedeutung des Schulklimas,
des Leistungs-, Konkurrenz- und Anpassungsdrucks, die Beziehungen und Interaktionen
zwischen SchülerInnen und LehrerInnen sowie die soziale Selektion des Schulwesens ein.
Im sechsten Abschnitt gehen wir auf die Qualitäten einer „guten Schule“ ein. Relevant
erscheinen hier auch Bedingungen für die Schulformwahl und das Ziel, demokratisch
mündige Bürger zu erziehen bzw. auszubilden. Dabei stllen sich die Auseinandersetzung mit
Fremdenfeindlichkeit und Konflikten sowie die Erfahrbarkeit von Demokratie als Aufgaben
und Strategien für pädagogische Institutionen dar, um Gewalt, Verdrossenheit und
Entfremdung vorzubeugen und zu demokratische Einstellungen, Werte und Verhaltensweisen
zu sozialisieren. Demokratie kann dabei in Projekten und anderen Partizipationsformen
erfahren werden. Im diesem Zusammenhang spielen auch die Kompetenzen von LehrerInnen
5

eine Rolle, weswegen auf die Lehrer(fort)bildung eingegangen wird. Da sich Ideen für die
Demokratisierung und Individualisierung von Schule bereits in reformpädagogischen
Ansätzen finden, wird auf diese kurz eingegangen.
Im siebten Abschnitt fragen wir mit Hilfe von Experteninterviews danach, unter welchen
Bedingungen wir von „demokratischer Sozialisation in der Schule“ sprechen können. Von
zentraler Bedeutung ist hierbei das BLK-Modellversuchsprogramm „Demokratie lernen und
leben“, mit dem die meisten Interviewpartner in Verbindung stehen. Die Auswertung der
Experteninterviews wird in Thesenform dargestellt. Diese Thesen können Ausgangspunkte
für vertiefende Untersuchungen sein.
6

1 Relevanz der Untersuchung: Individualisierung und Problemerscheinungen
Die Untersuchung erscheint relevant, da sich die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und
Jugendlichen heute unter Bedingungen von Individualisierung und Freiheit vollzieht.
Individualisierung bedeutet hierbei zugleich Chancen und Gefahren für die
Persönlichkeitsentwicklung. Besonders Jugendkulturen kommt eine große Bedeutung zu, da
von ihnen Problemerscheinungen ausgehen können. Die Schule ist deshalb auffordert,
Erfahrrungsräume anzubieten, in denen sich die Heranwachsenden selbst Orientierungen
schaffen und Fähigkeiten entwickeln können, um Wissen „in selbstentworfene
Handlungen“ (Brater 1997, S. 155) umzusetzen.
Zunächst soll der Begriff der Sozialisation als Prozess der Persönlichkeitsentwicklung
beschrieben werden (1.1). Danach wird auf Sozialisationsprozesse unter Bedingungen der
Individualisierung eingegangen (1.2) und dargestellt, welche Aufgaben Jugendliche in der
Entwicklung ihrer Persönlichkeit heute zu bewältigen haben (1.3). Abschließend betrachten
wir Jugendkulturen (1.4) und mit ihnen verbundene Problemerscheinungen, die einerseits
„typisch“ jugendlich, andererseits von gesellschaftlicher Bedeutung sind. Hier wird auf die
Problemerscheinungen menschenfeindliche Einstellungen (1.4.1), Agression und Gewalt in
der Schule (1.4.2) sowie Verdrossenheit gegenüber Politikern und dem politischen System
(1.4.3) eingegangen. Zum Ende des Kapitels wird mit Brater (1997) argumentiert, dass
Jugendliche Erfahrungsräume brauchen, um sich selbst gütlige Orientierung schaffen zu
können (1.5).
1.1 Persönlichkeitsentwicklung
Mit Hurrelmann (2002) gehen wir von einem Subjekt aus, das individuell (methodisch und
erkenntnistheoretisch) auf seine innere Realität (Anlagen, körperliche, psychische
Grundstrukturen) und äußere Realität (soziale, physikalische Umweltbedingungen) zugreift
und diese „produktiv“ verarbeitet. Aus dieser Perspektive wird Sozialisation verstanden als
produktive Verarbeitung innerer und äußerer Realität, wobei innere und äußere Realität in
wechselseitiger Abhängigkeit stehen. Mit „produktiver“ Verarbeitung ist hierbei einerseits die
individuell spezifische Verarbeitung, andererseits die individuell-kreative Anpassung gemeint.
(vgl. Hurrelmann 2002, S. 23-30) Die innere Realität ist Gegenstand psychologischer
7

Theorien der Sozialisation, die äußere Realität Gegenstand soziologischer Theorien der
Sozialisation. (Hurrelmann 2002, S. 26f.)
Aus soziologischer Perspektive kann entsprechend Sozialisation definiert werden „als der
Prozeß der Entstehung und Entwicklung der Persönlichkeit in wechselseitiger Abhängigkeit
der gesellschaftliche vermittelten sozialen und materiellen Umwelt. Vorrangig thematisch ist
dabei ..., wie sich der Mensch zu einem gesellschaftlich handlungsfähigem Subjekt
bildet.“ (Geulen/Hurrelmann 1980, S. 51) Persönlichkeit wird hier verstanden als „das
spezifische Gefüge von Merkmalen, Eigenschaften, Einstellungen und
Handlungskompetenzen, das den einzelnen Menschen kennzeichnet.“ (vgl. Tillmann 2004, S.
11)
Die Definition des Begriffs „Sozialisation“ grenzt nicht nur den Gegenstandsbereich ab,
sondern „enthält zugleich Grundannahmen über Charakter und Struktur des
Sozialisationsprozesses“. (Tillmann 2004, S. 10) So gehören zum Gegenstandsbereich all jene
Umweltbedingungen oder Umweltfaktoren, „die auf die Subjektentwicklung Einfluss
nehmen“ (ebd.); sie werden betrachtet unter der Perspektive „ihrer spezifischen Bedeutung für
die Entwicklung der Persönlichkeit“ (ebd.). Eine Grundannahme ist, dass die sozialen und
materiellen Umweltbedingungen „gesellschaftlich durchdrungen bzw. beeinflusst“ (ebd.) sind.
So sind die „sozialen Bedingungen des Aufwachsens“ u. a. abhängig vom elterlichen
Erziehungsstil, von Lernprozessen in der Schule sowie von ihrer „jeweiligen
gesellschaftlichen Einbindung“. (ebd.) Zu den physisch-materiellen Bedingungen gehören u. a.
Spielzeug, Wohnhäuser usw. (ebd., S. 10f.)
1.2 Individualisierung und Entwicklungsaufgaben des Jugendalters
Im Zuge gesellschaftlicher Entwicklungen haben sich sowohl die Lebenssituationen als auch
die Bedingungen für die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen verändert.
Besonders in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg sind die Lebensbedingungen von einem
„relativ hohen materiallen Wohlstand“ (Hurrelmann 1994, S. 171) gekennzeichnet. Physische
Grundversorgung und Sicherheit sind selbstverständlich geworden. Gewachsen sind auch die
Möglichkeiten, sich aus traditionellen Bezügen zu lösen und eigene Wege zu gehen. Dieser
gesellschaftliche Wandel wird als „Individualisierung“ bezeichnet. Wirklich eigene Wege zu
gehen gelingt allerdings nicht allen. Individualisierung steht eben nicht nur für mehr
Freiheiten, sondern auch für mehr Gefahren oder Gefährdungen für die
Persönlichkeitsentwicklung. (vgl. Brater 1997; Palentien/Hurrelmann 2003)
8

Die Lebensbedingungen heute bieten erhebliche Spielräume für Jugendliche. Allerdings ist
dabei Selbstorganisation gefragt. Heutige Jugendliche besitzen eine „frühe soziale und
kulturelle ‚Mündigkeit’“ (Hurrelmann 1994, S. 177), genießen ein „Leben aus eigenem
Recht“ (ebd.) in den Bereichen Partnerschaft, Freunde, Medien und Konsum in einem
abgeschirmten Raum und sind ökonomisch abgesichert. Gleichzeitig sind Jugendliche aber
ökonomisch ‚unmündig’, da sie nicht selbst durch eigene Arbeit die Basis herstellen. (ebd.)
Da für heutige Jugendlichen der Zukunftshorizont kaum berechenbar und die
Zukunftsperspektiven nicht verbindlich sind, gibt es keine „fest kalkulierbaren
Realisierungsmöglichkeiten für eigene Lebenspläne“. (ebd.) Es gibt keine „Garantie für eine
lebenswerte Zukunft“. (ebd.)
Der Alltag vieler jüngerer und älterer Menschen ist heute stark mit Medien durchsetzt. Dabei
vermittelt ein freier Zugang zu weltweiten Informationen mediale
„Lebenserfahrungen“ (Sekundärerfahrungen), die in sozialen Alltagserfahrungen nicht immer
möglich sind. Dies bedeutet einerseits die „Chance, eigene Wege zu gehen und einen höchst
individuellen Lebensstil aufzubauen“. (ebd., S. 178) Jedoch kann eine „wachsende
Partikularisierung von Lebensbereichen“ (ebd.) auch „eine gelingende Gesamtschau der
Lebenswelt“ und „die Strukturierung des Wahrgenommenen“ (ebd.) erschweren und damit
möglicherweise die Identitätsbildung behindern. (ebd., S. 177f.; vgl. Rolff & Zimmermann
1990) Medienerfahrungen und Partikularisierung von Lebensbereichen fordern entsprechend
„die persönlichen Kompetenzen der Lebensgestaltung und Identitätssicherung“ (Hurrelmann
1994, S. 178) heraus, da für die Persönlichkeitsentwicklung Gefahren in einer Vielfalt von
Information liegen, die – mangels „sozialer und psychischer Komepetenzen für die
Einordnung von Verarbeitung“ (ebd.) – desorientieren und verunsichern kann. Dies ist um so
bedeutsamer, da es an „ernsten“ Herausforderungen und Selbsterfahrungen mangelt, „die eine
Erprobung eigener psychischer und sozialer Kompetenzen gestatten“. (ebd.) Auch fehlten
genügend „anschauliche Erfahrungen und Erlebnisse für die politische Gestaltung und
Beeinflussung der unmittelbaren Lebensräume.“ (ebd.; vgl. auch Schorb/Mohn/Theunert 1991)
Der Individualisierungprozess steht also einerseits für die Öffnung und Gestaltbarkeit aller
Werte, Verhaltensmuster, Verhaltensweisen, Lebensformen und Lebensstile, andererseits für
den Verlust an Klarheit und Verbindlichkeit von Ordnungen, Orientierungen und Institutionen.
Diese Unklarheiten und Unverbindlichkeiten verbinden sich im heutigen Jugendalter mit
„Risiken und Überforderungen des Individualisierungsprozesses.“ (Brater 1997, S. 151) In
9

jeder Jugendlichenbiographie stellt sich entsprechend die Frage neu, „ob diese Überforderung
den jungen Menschen zerbricht oder gerade sein Ich herausbildet.“ (ebd.) Dieser
Grundkonflikt kann aber nur individuell gelöst werden. Die Jugendphase ist entsprechend
nicht mehr derjeniger Lebensabschnitt, in der lediglich „kollektiv geltende und vorgegebene,
institutionell abgestützte kulturelle Regeln und Normen“ (ebd.) individualgeschichtlich
übernommen werden. Die Jugendphase ist heute eher „ein entwicklungsoffener Prozess“ ohne
klaren Zielbezug, in dem „lediglich unverbindliche Möglichkeiten von Lebens- und
Handlungskonzepten zur Wahl“ (ebd.) stehen. (vgl. auch Beck 1986)
Unter Individualisierungsbedingungen wird für Jugendliche die „Aufgabe der Selbstfindung,
der Ausbildung von Ich-Identität“ zentral. (Brater 1997, S. 151). Das heißt die Aufgabe
besteht darin, das „eigene Ich als Handlungs- und Orientierungszentrum“ (ebd., S. 153)
auszubilden. (vgl. auch Schäfers 2001, S. 80-100)
Hierin kommt zum Ausdruck, dass die Jugend als eine Lebensphase zu verstehen ist, die
biologisch mitbestimmt (Einsetzen der Pubertät oder Sexualreife), aber auch sozial und
kulturell „überformt“ ist und „in der das Individuum die Voraussetzungen für ein
selbständiges Handeln in allen gesellschaftlichen Bereichen erwirbt“. (Schäfers 2001, S. 17)
Die Jugendphase gilt dann als abgeschlossen, „wenn ein Individuum seine persönliche und
soziale Identität gefunden hat.“ (ebd.) Indikatoren dafür sind die „ökonomische
Selbständigkeit durch Berufsausbildung und eigenes Einkommen und die soziale
Verselbständigung, z. B. durch Gründung eines eigenen Haushaltes und/oder einer eigenen
Familie“. (ebd.) Es ist allerdings (empirisch) schwer entscheidbar, „ob die Jugendphase eher
ein Schonraum oder eine Phase besonderer Belastungen ist.“ (ebd.) Hierzu gehen die
„Einstellungen der älteren Generation und der Jugend […] weit auseinander, weil die ältere
Generation eine andere Jugendzeit erlebt hat.“ (ebd.; vgl. auch Hurrelmann 1994, S. 87)
Entsprechend können Erwachsene, als Vertreter der Gesellschaft, Jugendlichen „niemals Ziele
des Handelns, bestimmte Lösungen der Suchfragen anbieten, sondern immer nur
Vorgehensweisen, Methoden, je persönliche Weisen, sich den Orientierungsproblemen zu
stellen.“ (Brater 1997, S. 150) So ist das Jugendalter zugleich „das ‚Wiederfinden’ der Welt in
Bewußtheit“ und „ein Stück individuelle ‚Konstruktion von (sozialer) Wirklichkeit’.“ (ebd.)
10

1.3 Individualisierung und Wertewandel
Da „die sozialen, kulturellen und ökonomischen Lebensbedingungen der Jugendlichen“ (ebd.,
S. 170) die Sichtweise der Jugendlichen auf ihre Lebenswelt und die gesamte Gesellschaft
prägen, wird damit auch festgelegt, „welche Vorstellungen von wünschenswerten
Entwicklungen und welche persönlichen Zielvorstellungen sie haben.“ (Hurrelmann 1994, S.
171) Werte können hierbei allgemein „als grundlegende, explizite oder implizite
Konzeptionen des Wünschenswerten“ (ebd.) definiert werden. Sie beziehen sich sowohl auf
Ziele als auch auf „Kriterien zur Beurteilung von Handlungen“. (ebd.) Werte erfüllen hierbei
die Funktion von Orientierungsstandards und Leitlinien und können Verhalten in bestimmte
Richtungen kanalisieren. (vgl. auch Wiedmann & Raffée 1986)
Da physische Grundversorgung und Sicherheit selbstverständlich wurden, traten ökonomische
und Sicherheitswerte (materialistische Werte) in den Hintergrund. Im Zuge dessen rückten
jene Werte in den Vordergrund, „die sich auf Selbstverwirklichung, Lebensqualität und
Mitgestaltung von sozialen Bedingungen beziehen“ („postmaterialistische“ Werte).
(Hurrelmann 1994, S. 171) Weiterhin kam es in allen westlichen Gesellschaften – und dort
besonders bei Jugendlichen – im Bereich der persönlichen Werte „zu einer Verschiebung weg
von Pflicht- und Akzeptanzwerten und hin zu den Selbstentfaltungs- und
Selbstverwirklichungswerten“ (Selbstentfaltung, Mitbestimmung). (Hurrelmann 1994, S. 171;
vgl. Inglehart 1979 und 1989 sowie Lange 1991, S. 99ff.)
Klages (1984) konnte Ingleharts Befunde hinsichtlich des Wertewandels für Deutschland
bestätigen und verwies darauf, dass auch die „Verlängerung der Bildungslaufbahnen und der
Trend zu immer hochwertigeren Schulabschlüssen ein entscheidender Motor für den
Wertewandel in der jungen Generation ist“. (Hurrelmann 1994, S. 173; vgl. Überblick bei
Maag 1991)
Aufgrund dieses Wertewandels ist es in den westlichen Industriegesellschaften typisch
geworden, dass es bei politischen Auseinandersetzungen unvermeidlich zu Zielkonflikten
kommt. Die Forderung ökonomischen Wachstums konfligiert beispielsweise mit Forderungen
nach „individueller Selbstverwirklichung und mehr Lebensqualität“. (Hurrelmann 1994, S.
172) So ist die Betonung „postmaterialistischer“ Werte (Lebensqualität, Mitbestimmung,
Umweltschut, Verbessung der Wohnbedingungen) ein „äußerst wichtiges Korrektiv für
politische Zielvorstellungen der westlichen Gesellschaftssysteme“ geworden. Dabei stehen
materialistische und postmaterialistische Werte nicht (mehr) in Opposition, sondern in
11

Synthese. (ebd.; vgl. Inglehart 1989) Für den Bereich der Politik lässt sich schlussfolgern,
dass mit der Zunahme politischer Mitbestimmungsbedürfnisse auch politische
Mitbestimmungsmöglichkeiten folgen sollten, etwa durch direktdemokratische Verfahren. In
diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass im ersten Halbjahr 2006 drei Fraktionen
dem Deutschen Bundestag Gesetzentwürfe zur „Einführung von Volksinitiative,
Volksbegehren und Volksentscheid in das Grundgesetz“ vorlegten. (vgl. Deutscher Bundestag
Drs 16/474 (Gesetzentwurf der FDP am 25.01.2006), Deutscher Bundestag Drs 16/680
(Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen am 15.02.2006) sowie Deutscher Bundestag Drs
16/1411 (Gesetzentwurf von Die Linke am 09.05.2006) Die drei Gesetzwürfe wurden am 11.
Mai 2006 beraten und an die zuständigen Ausschüsse überwiesen. (vgl. Deutscher Bundestag
Plenarprotokoll 16/35 11.05.2006 S. 2950B-2960D) Es bleibt abzuwarten, wann die
Ausschüsse ihre Berichte und Beschlussempfehlungen vorlegen und der Deutsche Bundestag
über die Gesetzentwürfe abstimmt. (zu direktdemokratischen Verfahren auf Landesebene vgl.
Kost 2005; vgl. auch Mehr Demokratie e.V. 1 )
Heute ist es auch typisch, „ethnische und moralische Werte, religiöse und politische
Orientierungen“ in Frage zu stellen. (Hurrelmann 1994, S. 178) Dabei nehmen Jugendliche
eine kritische Haltung gegenüber Orientierungen ein, die in der Vergangenheit als
funktionelle Antwortversuche gegeben wurden, beispielsweise eine Orientierung an Leistung
und Konkurrenz („besser“ oder „der Beste“ sein wollen) oder Handlungsorientierungen, die
durch Wissenschaft als „eine hochentwickelte, systematisierte Verstandeskultur“ (Brater 1997,
S. 154) begründet werden. Alternativ dazu greifen (viele) Jugendliche auf „nichtrationalistische
Quellen der Orientierung“ (ebd.) zurück, zum Beispiel aus dem Bereich der
Esoterik.
Es stellt sich also die Frage, wie Jugendliche Orientierung finden können, „wenn keine
Geleise vorgegeben sind und die eigenen Affekte eher in Krisen und Konflikte führen als zu
klaren Handlungsstrategien?“ (Brater 1997, S. 153)
1.4 Jugendkulturen als Chancen und Gefahren für Persönlichkeit und Gesellschaft
Jugendkulturen, das heißt „Gleichaltrigengruppen mit ihrer Subkultur“ (Brater 1997, S. 152),
können „ein Entwicklungsschritt auf dem Weg zur Selbstfindung“ (ebd.) sein, da Jugendliche
1 www.mehr-demokratie.de
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in ihnen „Selbstschutz“ (ebd.) suchen und auf diese Weise „angesichts fehlender
allgemeinverbindlicher Normen eigene Normen entstehen und ‚von unten’ gebildet
werden“ (ebd.) können. Jedoch sind Jugendkulturen selbst gefährdet, sie kommerzialisiert
werden können, was tendenziell „zur ferngesteuerten wirtschaftlichen Ausbeutung der
seelisch kritischen Situation der Jugendlichen“ (ebd.) führt. Das heißt „statt sich auf den Weg
der Selbstfindung zu machen“ (ebd.), unterliegen Jugendliche „Konsumzwängen und der
veräußerlichten Verhaltenscodices“. (ebd.) Daneben können Jugendkulturen selbst auch die
Bewältigung der Herausforderungen gefährden, wenn sie persönlichkeitszerstörend wirken,
wie beispielsweise im Drogenmilieu oder in rechtsradikalen Gruppen.
Es sind wiederum die Bedingungen der Individualisierung und Freiheit, die durchaus zu
Verunsicherungen sowie Frust, Perspektiv- und Orientierungslosigkeit führen und damit die
Herausbildung bzw. Übernahme von vereinfachten oder fundamentalistischen Wertsetzungen
sowie extremistischen politischen wie religiösen Einstellungen begünstigen können. (Schäfers
2001, S. 139f.; vgl. Heitmeyer 1987) Jugendliche sind für Ideologien deshalb so anfällig, weil
diese „eine vereinfachte Zukunftsperspektive“ (Erikson 1977, S. 187ff., zit. nach Schäfers
2001, S. 95) bieten, die ermöglicht, „sich einer gewissen Uniformität des Auftretens und
Handelns anzuschließen, die Befangenheit und Selbstbeobachtung entgegenwirkt“. (ebd.)
Weiterhin können Ideologien „aus der Enge der Eltern-Kind-Beziehung
herauszuführen“ (ebd.) und „eine (scheinbare) Harmonie“ (ebd.) herstellen „zwischen der
inneren Welt von guten und bösen Kräften einerseits und der äußeren Welt mit ihren realen
Zielen und Gefahren andererseits.“ (ebd.)
Extremistische Einstellungen müssen ernst genommen werden. Schlagen sie in gewalttätiges
Verhalten um, werden die Gesundheit oder das Leben anderer Menschen gefährdet. Die
Gefahr für die Gesellschaft besteht darin, dass bei politischen Wahlen rechtsextremistische
Parteien mit menschenverachtender Ideologie in Parlamenten politischen Einfluss gewinnen.
Im Folgenden geht es um die bereits angedeuteten Probleme und Krisen der modernen
Gesellschaft, die sich als „Nebenwirkung“ von Orientierungsproblemen im Zusammenhang
mit Individualisierung – besonders unter Jugendlichen – zeigen. Hierbei sind
menschenfeindliche Einstellungen (Rechtsextremismus, Rassismus) (1.4.1), Aggression und
Gewalt (1.4.2) von Bedeutung. Im Hinblick auf die politische Integration der Gesellschaft soll
auf das Misstrauen und die Verdrossenheit gegenüber Politikern, Politik und dem politischen
System (1.4.3) eingegangen werden.
13

Vorweg sei angemerkt, dass sich diese Krisen und Probleme nicht nur unter Jugendlichen,
sondern in der gesamten Gesellschaft zeigen. Dennoch richtet sich die Aufmerksamkeit auf
das Jugendalter, da dort „die beobachteten Erscheinungen radikaler, rücksichtsloser und
aggressiver auf[treten], als dies in der Regel bei Erwachsenen der Fall ist.“ (Edelstein &
Fauser 2001, S. 10) Weiterhin müssen die Problemerscheinungen teilweise auch als
experimentelles oder abweichendes Verhalten Jugendlicher (Jugend als „Als-ob-Periode“) in
Opposition zur Erwachsenengesellschaft und damit als ein Aspekt bei der Ausbildung einer
Ich-Identität gedeutet werden. (Schäfers 2001, S. 18)
1.4.1 Menschenfeindliche Einstellungen
Zur Verbreitung (gruppenspezifischer) menschenfeindlicher Einstellungen
(Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus, Abwertung von Minderheiten) liegen
zahlreiche Untersuchungen vor. (zum Beispiel Bromba/Edelstein 2001; Stöss 2005; Decker &
Brähler 2005 und 2006) Wir können von rechtsextremistischen Orientierungsmustern und
Handlungsweisen sprechen, wenn „strukturell gewaltorientierte Ideologie der Ungleichheit
verbunden wird mit Varianten der Gewaltakzeptanz als Handlungsform“. (Heitmeyer u. a.
1993, S. 14)
Für Beunruhigung sorgen insbesondere Studien, die zeigen, dass sich immer jüngere
Kohorten der „rechten Jugendbewegung“ (Edelstein & Fauser 2001, S. 9) anschließen. So
finden sich bei etwa 15 bis 30 Prozent der Jugendlichen und jungen Erwachsenen ein
„demokratieverdrossenes, teils explizit antidemokratisches, ausländerfeindliches und teilweise
antisemitisches Potential […] mit unterschiedlicher Intensität und Ausprägung“. (ebd.)
Hierbei verbinden sich „antidemokratische Gesinnung, autoritäre Einstellungen, gewalttätiger
Habitus, der Gruppenkohäsion stiftende Gebrauch symbolischer Codes, nationalistische
Ideologeme, eine aggressiv artikulierte Freund/Feind-Dichotomie […] zu einer Art rechter
Jugendkultur.“ (ebd.; vgl. auch Sturzbecher 1997 und 2001 sowie Sturzbecher/Freytag 2000)
Für die rechte Jugendkultur gilt, was für viele Subkulturen allgemein gilt: die gewählten
Ausdrucksmittel (Sprache, Mode, Körpersprache und Musik) einer Subkultur haben eine
integrierende, signalisierende und selektierende Funktion. (Schäfers 2001, S. 150)
Die „rechte Jugendkultur“ übernimmt „mit Einheit erzeugender Musik und kollektivem
Verhaltenshabitus […] lokal die Definitionsgewalt in Jugendklubs, Schulen oder auch
Stadtvierteln und wird dabei gelegentlich von akzeptierender Jugendarbeit zumindest indirekt
unterstützt“. (Edelstein & Fauser 2001, S. 9; vgl. Analysen des „Zentrums für demokratische
14

Kultur“ 2 ; zu verschiedenen Aspekten siehe Heitmeyer 1992, Heitmeyer et al. 1993,
Hoffmann-Lange 1996, Oepke/Kracke/Noack 1997, Noack 1998, Noack/Wild 1998, Schnabel
1993, Wagner 1998, Willems 1993; zum Antisemitismus siehe Sturzbecher/Freytag 2000)
Weiterhin ist das rechtsextreme Einstellungspotential schicht- und und bildungsspezifisch
verteilt. „In nichtgymnasialen Bildungsgängen (Haupt- und Gesamtschulen, berufsbildenden
Einrichtungen) lassen sich etwa doppelt so viele rechtsextreme Schüler und Vorfälle bzw.
doppelt so häufig intensive Ausprägungen auf den entsprechenden Einstellungsvariablen
nachweisen als in gymnasialen Schulen und Schulzweigen, insgesamt im Osten erheblich
häufiger als im Westen.“ (Edelstein & Fauser 2001, S. 10; vgl. Hopf 1994) Folglich sollte die
Schule „den Rechtsextremismus auch als ihr Problem erkennen.“ (Edelstein & Fauser 2001, S.
10)
Dass „rechtsextreme Mentalitäten und Aktivitäten“ in größerem Ausmaß in Ostdeutschland
zu finden sind als in Westdeutschland könnte auf „die Prägung der Wende-Kohorte (der
Geburtsjahrgänge von ca. 1975-1980)“ (Edelstein 2001, S. 12) rückführbar sein, „deren
Identitätsbildung in der vulnerablen Jugendphase unter dem Eindruck des Zusammenbruchs
bis dahin fester Institutionen, Sicherheiten und protektiver sozialer Regeln und demütigender
Erfahrungen von Eltern und anderen Bezugspersonen stattfand.“ (ebd.) Diese
„Kohortenproblematik“ würde „über die betroffene Generation hinaus“ (ebd.)
sozialpsychologisch bedingt weiterwirken. Neben den „Wende“-Erfahrungen wird –
wenngleich umstritten – die Verbreitung von Rechtsextremismus in den neuen Bundesländern
auf die Sozialisationsbedingungen in der DDR zurückgeführt. (vgl. Pfeiffer/Wetzels 1999;
Poutrus u. a. 2000; kritisch hierzu Friedrich 2001; als Reaktion darauf Danyel 2003)
Ergebnisse zur „Analyse der feindseligen Mentalitäten gegenüber Schwachen
Gruppen“ (Heitmeyer 2006) lassen vermuten, dass besonders Desintegration und
Orientierungslosigkeiten feindselige Mentalitäten erzeugen, das heißt unter anderem
Rassismus, Fremdenfeindlichekeit, Islamfeindlichkeit und Abwertung von Minderheiten wie
Homosexuelle oder Obdachlosen. (Heitmeyer 2006)
Heitmeyer bemerkt in seinen Untersuchungen (1987 und 1992), dass es sich weniger um eine
„rechte“ Orientierung handelt, sondern eher um eine Wertirritation und politische Verirrung
aufgrund von Vereinzelungserfahrungen; um Handlungsunsicherheiten hinsichtlich
anzustrebender beruflicher Ziele; um Ohnmachtserfahrungen gegenüber der weiteren
2 http://www.zentrum-demokratische-kultur.de/
15

Zukunftsgestaltung; um Misstrauen in eigene Fähigkeiten; um „Unfähigkeit, mit den
gesellschaftlichen Widersprüchen zurecht zu kommen“ (Hurrelmann 1994, S. 185); sowie um
ein Gefühl der „Konkurrenz der Erfolgreichen“ (ebd.), wobei Aggressionen gegen
vermeintliche „Sündenböcke“ aufkommen. Menschen, die ihr Leben so erfahren und
empfinden, entwickeln Einstellungen, die eine „Ideologie der Ungleichheit“ (ebd.), Gewalt
und „Bereitschaft zur Gewaltanwendung“ (ebd.) akzeptieren. Solche Menschen sind anfällig
für Vorurteile gegenüber Fremden, die sie – aus subjektiver Sicht – als Bedrohung des
eigenen sozialen Status wahrnehmen. Weiterhin besteht eine Anfälligkeit für Versprechen,
eine „alte Ordnung“ wiederherzustellen. Es ist dies „eine Ausgangslage, in der sich
Jugendliche unter ungünstigen Konkurrenzbedingungen gegenüber den privilegierten ‚Oberen
Zwei Dritteln’ fühlen und glauben, keine Chance zu haben, sich sozial und beruflich
durchzusetzen.“ (ebd.)
Die Bedingungen der Individualisierung und Freiheit stehen hier für Statusverunsicherungen,
einer sinkenden Berechenbarkeit von Lebens- und Berufswegen und Anforderungen an
Flexibilität. Diese Bedingungen motivieren die Suche nach Gewissheiten, das heißt nach
eindeutigen Normanweisungen, nach einer Identifikation mit Symbolen und Ritualen der
Stärke, nach Einordnung in natürliche Hierarchien, nach Zugehörigkeit zu mächtigen
Institutionen, nach Anbindung an scheinbar natürliche Prinzipien, die die Situation klären und
den einzelnen entlasten sollen. In diesem Falle ist z. B. das „Prinzip der Stärke als klares und
klärendes Prinzip“. (Hurrelmann 1994, S. 186; vgl. Heitmeyer 1987, S. 5)
In gewisser Weise stellen „die politischen Orientierungen der Jugendlichen […] die
‚psychosozialen Kosten’ des Individualisierungsprozesses in Rechnung, den unsere
Gesellschaft ihnen aufbürdet.“ (Hurrelmann 1994, S. 187) Von ihrer Ausgangssituation her
stellen rechtsextremistische und ausländerfeindliche Aktivitäten „einen Jugendprotest in
einem demokratischen Staat“ (ebd.) dar. Dabei handelt es „sich um politische
Artikulationsformen als Ausdruck von Problemverarbeitung – wie tauglich oder untauglich,
wie sozial angemessen oder unangemessen sie auh immer sein mögen.“ (ebd.)
Differenzierte Analysen zeigen, dass sich „das Ausmaß bei verschiedenen Elementen der
Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ (Heitmeyer 2006) deutlich unterscheidet
hinsichtlich der Größe der Wohngemeinde (Land vs. Stadt), dem Ausmaß der Abwanderung
aus einer Region sowie der wirtschaftlichen Entwicklung. So sind feindselige Mentalitäten
vor allem in jenen Regionen zu beobachten, die stark von Abwanderung gut ausgebildeter
junger Menschen, von Familien, Arbeitsplätzen und Ausbildungsplätzen betroffen sind sowie
16

wirtschaftlich „abdriften“ (v. a. dörfliche Gemeinden und Kleinstädte in Ostdeutschland).
Dies führe zu größerer Angst vor Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg, dem Gefühl
politischer Machtlosigkeit und mangelnder sozialer Unterstützung, kurz: einem
„Desintegrationsklima“. Weiterhin bestehe ein Zusammenhang zwischen Nationalstolz, das
heißt der „Identifikation mit Deutschland“ und dem „Stolz auf die eigene Gruppe“, und der
Abwertung von Fremdgruppen. „Wo solche Problemzonen verdichtet sichtbar werden, geht
es auch um die Substanz der demokratischen Ordnung, Demokratieentleerung entsteht.“ (ebd.;
vgl. auch Heitmeyer 2002, 2003, 2005a und 2005b)
1.4.2 Aggression und Gewalt in der Schule
Auch ohne rechtsextreme Hintergründe ist das „Problem der Gewalt unter
Jugendlichen“ (Edelstein & Fauser 2001, S. 10) ein Problem, das auch in der Schule zu Tage
tritt. So ist der „alltägliche Kommunikationsstil in den Schulen in bedenklicher Weise durch
aggressive Formen verbalen Verhaltens geprägt“. (ebd., S. 11; vgl. auch Beutel/Fauser 1995;
Schubarth/Melzer 1995; Tillmann u. a. 1999)
Untersuchungen zum Aggressionspotential zeigen, dass es sich primär um männliche
Gewaltphänomene handelt (Kraak/Eckerle 1999). Auch schlage „die soziale Selektion im
Schulwesen“ (Edelstein & Fauser 2001, S. 11) auf Gewaltakte durch, das heißt „schlechte
Schüler“ sind häufiger in Gewalthandlungen verwickelt als gute. Auch stehen das Schulklima,
die Lernqualität und die Bereitschaft zur Aggression im Zusammenhang. (ebd.) Es konnte
gezeigt werden, dass Opfer und Täter von Gewalt meist einer Gruppe angehören und schwer
unterscheidbar sind. (Tillmann u. a. 1999)
1.4.3 Verdrossenheit gegenüber Politik und Politikern und politischem System
Viel umfassender und stärker verbreitet als Rechtsextremismus ist die „Abwendung von der
Politik“ (Edelstein/Fauser 2001, S. 11), die seit zwei Jahrzehnten zunimmt. Insbesondere bei
der Post-68er-Generation (in Westdeutschland) hat sich das politische Interesse verringert.
(vgl. van Deth & Elff 2000, 2001) Seit der Wiedervereinigung hat sich ebenfalls das Vetrauen
gegenüber politischen Parteien, ihren Repräsentanten, aber auch der Demokratie insgesamt
verringert. (Edelstein/Fauser 2001, S. 11; vgl. Meier 2000, S. 288) Diese Politik- und
Parteienverdrossenheit findet sich vor allem bei Jugendlichen. (Deutsche Shell 1997 und 2000)
17

Auch im europäischen Vergleich sind es deutsche Jugendliche, die besonders desinteressiert
an Politik und politischen Themen sind. (vgl. Torney-Purta 2001; Oesterreich 2001)
Während die gesellschaftlichen Großorganisationen in Form von Parteien, Politikverbänden,
Gewerkschaften und Kirchen einen Nachwuchsmangel beklagen (Berton & Schäfer 2005, S.
2), findet gleichzeitig – und das wird als äußerst bedenklich eingeschätzt – „am rechten Rand
eine Politisierung von Jugendlichen“ (Edelstein/Fauser 2001, S. 11) statt. (vgl. Sturzbecher
2001, S. 119; Sturzbecher 1997; Sturzbecher u. a. 1994; Deutsche Shell 1997; Weiß 2000).
Die Abwendung junger Menschen von der Politik wird unterschiedlich gedeutet. Während
Jugendstudien (vgl. Deutsche Shell 1997, 2000; Deutsches Jugendinstitut 1997) Argumente
liefern, dass sich die nachwachsende Generation generell und nachhaltig „von der Demokratie
als politischer Lebensform, Gesellschaftsform und Regierungsform“ (Edelstein & Fauser
2001, S. 16) abwende und das Systemvertrauen verfalle, könne mangelndes politisches
Interesse und Wahlabstinenz ebenfalls relativiert werden, da „konsolidierte“ Demokratien
„politisches Engagement eher lokal und situativ mobilisieren“ (ebd.) wie beispielsweise „die
USA mit starken lokalen Initiativen bei ausgeprägter Wahlabstinenz.“ (ebd.) Dem gegenüber
sei es aber auch die „Wahlabstinenz in der jüngsten Wählergeneration“ (ebd.), die (größere)
„Erfolge rechtsextremer Gruppierungen bei den Wahlen verhindert.“ (ebd.) Das niedrige
Niveau beim politischen Interesse kann aber auch als ein Anzeichen gedeutet werden, dass die
„demokratische politische Sozialisation in modernen Gesellschaften zunehmend defizitär ist“.
(Berton & Schäfer 2005, S. 2)
Die Parteien- und Politikverdrossenheit von Jugendlichen kann auch als eine
Politikerverdrossenheit verstanden werden. So seien Jugendliche in Sachen Politik eher
zurückhaltend, aber nicht politikabstinent. Jugendliche zeigen eine „deutliche Skepsis […]
hinsichtlich der politischen Kompetenz von Politikern“ (Hurrelmann 1994, S. 181). Da (viele)
Jugendliche „Politikern eine Lösung nicht zutrauen“ (ebd.), schätzen sie auch ein, „die
Mitarbeit in Parteien und Bürgerinitiativen sei wirkungslos.“ (ebd.) Dies kann zum einen als
Ausdruck von „Pessimismus über die Möglichkeiten gesellschaftlicher
Zukunftsgestaltung“ (ebd.) gedeutet werden. Zum anderen wird darin aber auch „bei
Angehörigen der jungen Generation eine psychische und soziale Reserve gegenüber dem
politischen System erkennbar, die zwar noch keine krisenhaften Züge trägt, aber ein Signal
für fehlende Identifizierung ist, die offenbar sozialpsychologisch und sozialstrukturell in
18

verunsicherten Lebensperspektiven verankert ist.“ (ebd., S. 182; vgl. Palentien/Hurrelmann
1997) Jugendliche monieren auch, „daß sie selbst von wirklicher Mitsprache und
Mitentscheidung ausgeschlossen seien, obwohl sie die sich abzeichnenden bedrohlichen
globalen Fehlentwicklungen auszubaden hätten.“ (Hurrelmann 1994, S. 183; vgl. 1.3)
Themen, die „nur zu einem kleinen Teil dem eigenen, aktiven Bewältigungsverhalten
zugänglich“ (Hurrelmann 1994, S. 184) sind, können ein „Gefühl von Ohnmacht und
Hilflosigkeit“ (ebd.) und politische Ängste auslösen. Dass Nachrichten die Menschen mit
krisenhaften Weltereignissen versorgen und konfrontieren, kann schon eine psychische
Überforderungen bedeuten, wenn die berichteten Ereignisse dazu herausfordern, sich damit
auseinanderzusetzen, gleichzeitig aber nur ein beschränktes „Repertoire von Verarbeitungsund
Bewältigungsmechanismen“ (ebd.) für das eigene Leben verfügbar ist. Solch psychische
Überforderungen betreffen nicht nur Kinder und Jugendliche, sondern auch Erwachsenene.
(ebd.) Auf diese Belastungen reagieren Menschen unterschiedlich. Engel und Hurrelmann
(1989) konnten zeigen, dass die „Form der Belastungsreaktion“ je nach sozialen und
persönlichen Faktoren unterschiedlich ausfällt. Bedeutsam ist hierbei, dass Mädchen eher
introvertiert reagieren, das heißt die Anspannung orientiert sich an der eigenen Person,
während Jungen eher extrovertiert reagieren, was bis hin zu Agressivität und Gewalttätigkeit,
sozialer Abweichung und Kriminalität führen kann. Ferner reagieren
„privilegierte“ Jugendliche, das heißt aus „besseren Elternhäusern“ (mit hohen Einkommen
und hoher Bildung) eher introvertiert, während „weniger privilegierte“ eher extrovertiert
reagieren. (Hurrelmann 1994, S. 184; vgl. Hurrelmann & Lösel 1990; vgl. 1.4.2)
Es stellt sich auch die Frage, ob es „demokratischen“ Parteien und Organisationen
zuzuschreiben ist, in ihrer gesellschaftlich-politischen Praxis nur mangelhaft die
Verunsicherungen und Ängste von Menschen zu berücksichtigen. Immerhin wird der Erfolg
rechtsgerichteter Parteien bei politischen Wahlen auf Landes und Kommunaleben sowie bei
der lokalen „Kulturarbeit“ dem Versagen der „demokratischen“ Parteien und Organisationen
zugerechnet, die – vor allem in ländlichen Regionen – Deutungshoheit, Überzeugungskraft,
Vertrauen und Zuspruch eingebüßt hätten.
19

2 Sozialisation in der Schule
Zunächst soll die Schule in umfassende Prozesse der Persönlichkeitsprozesse eingeordnet
werden. Hierbei kann sie als Sozialisationsinstanz oder als Umweltfaktor begriffen werden
(2.1). Danach wird auf schulische Sozialisationsprozesse aus der Perspektive makro- und
mikrosoziologischer Theorieansätze eingeganegen (2.3). Als relevante makrosoziologische
Ansätze werden der strukturfunktionalistische und der historisch-materialistische Ansatz
verglichen (2.3.1). Für mikrosoziologische Analysen stellt der symbolisch-interaktionistische
Ansatz (2.3.2) Begriffe und Erklärungen zur Verfügung. Da keiner dieser Ansätze
Sozialisationsprozesse in der Schule umfassend beschreibt, erscheint eine Synthese der
Theorieansätze für eine Analyse schulischer Sozialisationsprozesse notwendig (2.3.3).
Abschließend werden die Funktionen, Normen und Strukturen der Institution Schule näher
betrachtet (2.4).
2.1 Schule als Sozialisationsinstanz und Umweltfaktor
Die Vermittler der Umwelt oder äußeren Realität werden als Sozialisationsinstanzen
bezeichnet. Diese sind – als soziale Organisationen und Systeme – jeweils durch spezifische
Regeln und Verfahrensweisen gekennzeichnet und können nach ihrer Relevanz für die
Persönlichkeitsentwicklung geordnet werden. So gelten zunächst Primärgruppen und soziale
Netzwerke (Familie, Verwandtschaft, Freundeskreis) als primäre Sozialisationsinstanzen. Zu
den sekundären Sozialisationsinstanzen werden pädagogische Einrichtungen gezählt, die
organisiert und gesellschaftlich etabliert sind (Kindertagesstätte, Kindergarten, Hort, Schule,
Ausbildungseinrichtungen, Hochschule, sozialpädagogische Institutionen). Es handelt sich
hierbei um gesellschaftliche Teilsysteme, in die Erziehung und Sozialisationsfunktion aus der
Familie auslagert wurden bzw. sind. Als tertiäre Sozialisationsinstanzen werden schließlich
formelle und informelle soziale Organisationen in Freizeit- und Wohnwelt bezeichnet
(Gleichaltrigengruppen oder Peers, Massenmedien, öffentliche Institutionen, Betriebe,
Behörden). (vgl. Hurrelmann 2002, S. 32-34)
Neben einer solchen Ordnung von Sozialisationsinstanzen, lassen sich auch
Sozialisationsbedingungen bzw. verschiedene Umweltfaktoren danach unterscheiden, „in
welchen systematischen Beziehungen“ (Tillmann 2004, S. 16) sie „stehen und in welcher
Weise sie – direkt oder indirekt – auf die Persönlichkeitsentwicklung wirken“. (ebd.) Als ein
20

„pragmatisches Raster für die weitere Theoriebildung“ (ebd., S. 17) haben hierzu Geulen und
Hurrelmann (1980, S. 64) ein „Strukturmodell der Sozialisationsbedingungen“ entworfen.
Dieses Strukturmodell stellt eine Ordnung „verschiedener gesellschaftlicher Komponenten
nach ihrer Nähe bzw. Ferne zum unmittelbaren Sozialisationsprozess (zur
Subjektwerdung)“ (Tillmann 2004, S. 17) her.
Die erste Ebene bildet hierbei das Subjekt, wobei es „um die Entwicklung der Individuen, um
die Herausbildung von Persönlichkeitsmerkmalen“ (ebd.) geht, das heißt „um
Erfahrungsmuster und Einstellungen, um Wissen und um emotionale Strukturen“ (ebd.) sowie
kognitive Fähigkeiten. Diese Fähigkeiten werden im gesellschaftlichen Austausch erworben
und „leisten einen Beitrag, um das Subjekt handlungsfähig zu machen.“ (ebd.) In Interaktion
mit anderen Menschen betreibt der sich entwickelnde Mensch „die handelnde Aneignung und
Umgestaltung der dinglichen Umwelt“. (ebd.)
Die zweite Ebene des Modells bezieht sich auf „Interaktionen und Tätigkeiten“, das heißt die
unmittelbare sozialisatorische Umwelt. Das sind insbesondere die Eltern-Kind-Beziehung, der
schulische Unterricht, die Kommunikation zwischen Gleichaltrigen, Freunden und
Verwandten. (ebd.)
Auf der dritten Ebene werden Institutionen verortet, die als sozialisatorische Umwelten
wirken. Gemeint sind Institutionen zum Zweck der Sozialisation, das heißt Einrichtungen der
Erziehung und Bildung. Doch auch Institutionen, die „nebenbei“ sozialisieren gehören zu
dieser Ebene, z. B. Betriebe, Massenmedien, Schulen, Universitäten, Militär, Kirchen. Hier
wird berücksichtigt, dass Schulen sowohl geplant als auch „nebenbei“ sozialisieren. (ebd.)
Die vierte Ebene schließlich nimmt die Gesamtgesellschaft in den Blick, das heißt das
gesamtgesellschaftliches System, in dessen „Zusammenhang sich Veränderungen
institutioneller Strukturen und Bedeutungen vollziehen.“ Diese Strukturen sind ökonomische,
soziale, politische und kulturelle. (ebd., S. 17f.; vgl. Abb. 1, ebd. S. 18)
Die „Beziehungsebenen“ dieses Modells nehmen „auf die Subjektentwicklung Einfluss“ (ebd.,
S. 17) und stehen „in einem hierarchischen Verhältnis zueinander“. (ebd.) Das heißt „die
jeweils höhere setzt die Rahmenbedingungen für die Strukturen und Abläufe in der
nächstniedrigeren“. (ebd.) Es finden aber auch Rückwirkungen auf die nächsthöhere Ebene
statt, und bewirken dort Veränderungen. So sind Prozesse der Makroebene
(gesamtgesellschaftliche Strukturen, Institutionen) mit Prozesse der Mirkoebene
(Interaktionen, Subjektentwicklung) verknüpft. Die Sozialisationsforschung hat entsprechend
die Aufgabe, „diese Verknüpfungen unter dem Aspekt ihrer Bedeutung für die
Subjektenwicklung zu analysieren“ (ebd.)
21

Die Ordnung von Einflüsse auf die Sozialisation nach Instanzen oder Ebenen verdeutlicht,
dass die Schule „nur eine Lebenssphäre Jugendlicher“ (Helsper 1993, S. 351) ist, das heißt
nur eine Instanz oder Institution unter vielen im Prozess der Sozialisation. Um „das Verhältnis
von Schule und Jugendlichen vor deren gesamten Lebenszusammenhang“ (ebd.) zu
reflektieren und es „auf die Veränderungen der jugendlichen Lebenslaufphase“ (ebd.) zu
beziehen, sollten gleichzeitig auch andere Sozialisationsprozesse (Familie, Gleichaltrige,
Medien etc.) berücksichtigt werden, die die schulischen Sozialisationsprozesse überlagern.
(vgl. Ulich 2002, S. 379) Entgegen diesem Anspruch fokussiert die vorliegende Arbeit auf
Bedingungen von Sozialisationsprozessen in der Schule, wobei Bezüge zum
Lebenszusammenhang Jugendlicher und überlagernder Sozialisationsprozesse nur angedeutet
werden.
2.3 Makro- und mikrosoziologische Theorieansätze zur schulischen Sozialisation
Für die meisten Untersuchungen zu schulischer Sozialisation bilden drei Ansätze die
theoretische Basis: der strukturfunktionalistische, der historisch-materialistische und der
symbloisch-interaktionistische Ansatz. Im Folgenden soll kurz aus vergleichender Perspektive
auf diese drei Ansätze eingagegen werden.
Der Vergleich zeigt, dass keiner dieser drei Ansätze allein „die Anforderungen an eine
umfassende Sozialisationstheorie“ (Tillmann 2004, S. 189) erfüllen kann. Allerdings könnte
eine Verknüpfung „zu einem angemessenen sozialisationstheoretischen Entwurf führen“.
(ebd., S. 190)
2.3.1 Strukturfunktionalistischer und historisch-materialistischer Ansatz
Sowohl der strukturfunktionalistische (Talcott Parsons) als auch der historischmaterialistische
(marxistischen) Ansatz (Karl Marx) gehen davon aus, dass zwischen Schule
und Gesamtgesellschaft ein funktionaler Zusammenhang besteht. Deshalb werden sie auch als
Reproduktions- und qualifikationstheoretische Ansätze bezeichnet. (vgl. Helsper 1993, S.
352f.) Die jeweils unterlegten gesamtgesellschaftlichen Theorien und entsprechende
Auffassungen über die Funktionserfüllung der Schule sind jedoch unterschiedlich ausgerichtet.
Im strukturfunktionalistischen Ansatz geht man davon aus, dass das soziale System auf
Harmonie und Gleichgewicht ausgerichtet ist. Die Schule erfüllt hierbei ihre Funktion durch
22

ihren Beitrag „zum wünschenswerten gesellschaftlichen Gleichgewicht“. (Tillmann 2004, S.
188) Der marxistische oder politökonomische Ansatz hingegen betont die Widersprüche, von
denen die kapitalistische Klassengesellschaft durchzogen ist. Die Funktion der Schule wird
hier erfüllt in ihrem Beitrag „zur (unerwünschten, aber erzwungenen) Sicherung der
Klassengesellschaft“. (ebd.)
Zwar sind dem strukturfunktionalistischen Ansatz und dem marxistischen Ansatz die
Beschreibung der drei Funktionsebenen der Schule – Qualifizierung, Legitimation und
Selektion – gemeinsam, welche jeweils „den Zusammenhang zwischen der Gesamgesellschaft
und der Institution Schule“ (ebd.) beschreiben und „zugleich den Handlungsrahmen innerhalb
der Institution“ (ebd.) definieren. Während jedoch der Handlungsrahmen im
strukturfunktionalistischen Ansatz mit Begriffen der Rollentheorie formuliert wird und aus
dieser Perspektive subjektive Bedürfnisse, schulische Funktionsansprüche und
gesamgesellschaftliche Stabilität tendenziell übereinstimmen, fehlt im marxistischen Ansatz
eine „durchgängig-systematische Begrifflichkeit für die Interaktion in der Face-to-Face-
Beziehung.“ (ebd.) Weiterhin wird „aus marxistischer Sicht die Widersprüchlichkeit dieser
Funktionen und ihr Herrschaftscharakter gegenüber den Subjekten betont“. (ebd.)
Zwar sind die „Ergebnisse der schulischen Interaktionsanalyse“ (ebd.) beider Ansätze ähnlich,
jedoch werden diese unterschiedlich pädagogisch und politisch bewertet. Während beim
strukturfunktionalistischen Ansatz „das Einüben in universalistische Kommunikationsformen
als notwendige und keineswegs bedürfnisunterdrückende Form schulischer Sozialisation
erscheint“ (ebd.), wird der gleiche Sachverhalt aus marxistischer Sicht als „schleichende
Einübung in die Verkehrsformen des Kapitalismus“ (ebd.) interpretiert („heimlicher
Lehrplan“), was „gegen die Interessen und Bedürfnisse der Schüler“ (ebd.) geschieht und der
Vorbereitung „auf Konformität in Betrieb und Gesellschaft“ dient. (ebd.)
Insgesamt ist die „Beschreibung des Prozesses schulischer Sozialisation“ (ebd.) sowohl im
struktur-funktionalen als auch im marxistischen Ansatz verkürzt. In beiden Ansätzen
dominieren makrosozioligische Konzepte und die einseitige „Darstellung der
gesellschaftlichen Anpassung“ (ebd.), während „die Aktivitäten des Subjekts und der Prozess
der Individuierung“ (ebd.), in Ermangelung eines umfassenden Subjektbegriffs, weitgehend in
den Hintergrund treten.
Trotz aller Defizite, liegt die kritische Potenz des marxistischen Ansatzes darin, dass
schulische Sozialisation u. a. beschrieben wird „als eine gesellschaftlich organisierte Form der
Unterdrückung von Subjektivität“ (ebd.), wenngleich „das bei Marx formulierte Verständnis
eines aktiv handelnden Subjekts“ (ebd.) kaum in materialistisch orientierten Konzepten
23

erücksichtigt wurde. Entsprechend ist es notwendig und möglich, innerhalb des
marxistischen Ansatzes eine Sozialisationstheorie weiterzuentwickeln. Demgegenüber fehlt
dem struktur-funktionalen Ansatz eine kritische Perspektive auf die ablaufenden
Sozialisationsprozesse, da diese „als Teil eines notwendigen und wünschenwerten Prozesses
gesellschaftlicher Stabilisierung“ (ebd., S. 189) verstanden werden. Sozialisationstheoretische
Entwicklungsmöglichkeiten sind für den struktur-funktionalen Ansatz deshalb nicht zu
erkennen, da „die grundlegende Vorstellung des konformen Rollenhandelns kein angemesses
Verständnis von Subjektivität und Individuierung zulässt“. (ebd.)
2.3.2 Symbolisch-Interaktionistischer Ansatz
Im Gegensatz zum strukturfunktionalistischen und historisch-materialistischen Ansatz geht
der interaktionistische Ansatz von einem „Subjekt aus, das aktiv den Kommunikationsprozess
betreibt und dabei seine Identität darstellt und verändert.“ (Tillmann 2004, S. 189)
Entsprechend setzt die Analyse schulischer Sozialisation bei der „inner-intitutionellen
Kommunikation zwischen den Beteiligten“ (ebd.) an „und beschreibt deren Bedeutung für die
Persönlichkeitsentwicklung der Schüler.“ (ebd.) Aus interaktionistischer Sicht arbeiten sich
der SchülerInnen an den institutionellen Vorgaben ab und betreiben „dabei ihre eigene
Individuierung wie auch die (partielle) Übernahme schulischer Wertmuster“. (ebd.) Die
Institution Schule wird kritisch betrachtet, da SchülerInnen „als ‚Abweichler’ etikettiert
werden können“ (ebd.), wenn sie „in dem stets prekären Verhältnis zwischen Normalität und
Abweichung die Balance verlieren“. (ebd.) Das interaktionistische Konzept beschränkt sich
also auf den sozialen Mikrobereich und entfaltet „keinerlei gesellschaftlich-strukturelle
Argumentation“. (ebd.; vgl. Helsper 1993, S. 353f.)
2.3.3 Theoriesynthese als Rahmen für die Analyse schulischer Sozialisationsprozesse
Die Schule kann als Institution betrachtet werden. Als Institutionen (lat. Einrichtungen),
werden Organisationen, Betriebe oder Einrichungen schlechthin bezeichnet, die in
„entwickelten, arbeitsteilig organisierten Industriegesellschaften“ (Tillmann 2004, S. 109)
spezielle gesellschaftliche Aufgaben wahrnehmen. Kennzeichen von Institutionen ist, dass sie
ihre Aufgabe „nach bestimmten Regeln des Arbeitsablaufes und der Verteilung von
Funktionen auf kooperierende Mitarbeiter“ (ebd.) zu erfüllen versuchen. Institutionen
bezeichnen „in einem weiteren Sinne jegl[iche] Form (entweder bewußt gestalteter oder
24

ungeplant entstandener) stabiler, dauerhafter Muster menschl[icher] Beziehungen, die in einer
Ges[sellschaft] erzwungen oder durch die allseits als legitim geltenden
Ordnungsvorstellungen getragen u[nd] tatsächlich ‚gelebt’ werden.“ (Hartfiel/Hillmann 1982,
S. 341) Weiterhin besitzen Insitutionen einen materiellen Apparat (Gebäude, Instrumente,
Techniken) und werden von Personen getragen, „die zueinander in formalisierten
Rollenbeziehungen stehen“ (Tillmann 2004, S. 109)
Schulen gehören – neben Kindergärten, Universitäten, Volkshochschulen, Jugendheimen u. a.
– zu jenen Institutionen, „die explizit die Funktion haben, in geplanter und organisierter
Weise Sozialisation zu betreiben“. (Tillmann 2004, S. 109) Diese Institutionen mit
pädagogischem Auftrag werden zusammenfassend als Erziehungs- und Bildungssystem
bezeichnet. (ebd., S. 110; vgl. Hurrelmann 1994, S. 105ff.)
Institutionen besitzen einen Doppelcharakter. Während sie auf der einen Seite entlasten und
Sicherheiten produzieren, da sich jede/r darauf verlassen kann, dass bestimmte Aufgaben
erledigt werden, können Institutionen auf der anderen Seite auch „lästig oder gar
unterdrückend“ (Tillmann 2004, S. 110; vgl. Hartfiel/Hillmann 1982, S. 342) sein. Da
Institutionen Menschen „als ‚objektive’ Gegebenheit unabweisbar gegenüber“ (Tillmann
2004, S. 110) stehen, müssen diese Menschen jeweils lernen, mit diesen Gegebenheiten
umzugehen, da sonst Zwangsmaßnahmen eingesetzt werden könnten. (vgl. Hurrelmann 1994,
S. 105f.)
Alle Institutionen – „ob mit oder ohne pädagogischen Auftrag“ (Tillmann 2004, S. 110) –
sind Felder für Sozialisationsprozesse, da in ihnen Menschen miteinander kommunizieren und
kooperieren, sich wechselseitig beeinflussen und auf diese Weise ihre Persönlichkeiten
verändern. Sozialisationsprozesse in Institutionen werden „durch Aufgabe, Struktur und
Geschichte des jeweileigen Apparats“ (ebd.) unterschiedlich vorgeprägt. So sind die
Kommunikations- und Handlungsformen der „Menschen, die in einer Intitutionen arbeiten
(Personal) oder von ihr behandelt werden (Klienten)“ (ebd.), nicht frei wählbar, sondern durch
Handlungsnormierungen (Aufgabenstellungen, Rollenerwartungen) und organisierte Formen
sozialer Kontrolle sowie Machthierarchien innerhalb einer Institution eingegrenzt. In der
Institution Schule haben LehrerInnen (Personal) und SchülerInnen (Klienten) „bestimmte
Aufgaben zu erledigen und dabei wechselseitige Rollenerwartungen zu erfüllen. Dies wird
durch organisatorische Strukturen gesichert und notfalls erzwungen.“ (ebd., S. 111)
25

Gleichwohl wird Erziehung als eine Teilmenge oder Subkategorie von Sozialisation
betrachtet. (Hurrelmann 2002, S. 17) Bei Erziehung ist von Bedeutung, dass sie eine bewusste
und geplante Beeinflussung von Heranwachsenden durch Erwachsene darstellt. (Tillmann
2005, S. 15) Andere bezeichnen Erziehung als „methodische Sozialisation“ (Durkheim 1922)
oder als „gesellschaftlich kontrollierte und veranstaltete Sozialisation“. (Fend 1980 und 2006)
Für eine Analyse von Sozialisationsprozessen in der Institution Schule müssen auf
gesamgesellschaftlicher Ebene die Aufgaben, und Funktionen der Institution Schule
betrachtet werden. Hierbei stehen die Funktionen Qualifizierung, Legitimation und Selektion
im Vordergrund, die durchaus einen Herrschaftscharakter zeigen und eine Unterdrückung von
Subjektivität bewirken können.
Für die Schule ist von Bedeutung, dass ihre gesellschaftlichen Aufgaben und Funktionen die
Kommunikations- und Handlungsformen der Menschen in der Institution definieren bzw.
strukturieren, da die Aufgabenerfüllung durch Regeln und Verteilung von Funktionen (über
organisatorische Strukturen) gesichert werden soll. Deshalb sind weiterhin – auf der Ebene
der Interaktionen – die Handlungsnormierungen (Verhaltensanforderungen,
Aufgabenstellungen, formalisierte Rollenerwartungen, organisierte Formen sozialer Kontrolle
sowie Machthierarchien in den organisatorische Strukturen) für Personal und Klienten der
Institution in den Blick zu nehmen.
Unter der Annahme aktiver Subjekte, die ihre Identität in Kommunikation darstellen und
verändern, ist davon auszugehen, dass diese Subjekte lernen, mit den institutionellen
Gegebenheiten umzugehen und subjektive Aneignungsformen entwickeln, um institutionelle
Vorgaben abzuarbeiten, während sie sich gleichzeitig individuieren (ihre eigene Individualität
herausbilden) und dabei teilweise schulische Wertmuster übernehmen. Eine kritische Sicht
liegt hierbei auf Prozesse der Etikettierung bei Formen abweichenden Verhaltens.
Diese Aspekte finden sich in einem Mehrebenenmodell als einem systematischen
Bezugsrahmen für Schule wieder, in der zwischen einer Struktur- und einer Prozessebene
unterschieden wird. (Ulich 1983, S. 47) Auf der Strukturebene entfalten sich die
Strukturdimensionen
- Schule als Institution,
- Schulsystem als Organisation und Differenzierung von Schule und Unterricht,
- Schulklasse als organisatorische Grundeinheit sowie
- Struktur der Lehrer-Schüler-Interaktion.
26

Auf der Prozessebene entfalten sich die Prozessdimensionen
- Normierung und Kontrolle der Schülerverhaltens,
- Leistung, Leistungsbewertung, Selektion sowie
- Unterricht als Vermittlung von Inhalten durch Kommunikationsprozesse. (nach Ulich
2002, S. 381)
In Anlehnung an diesen systematischen Bezugsrahmen lässt sich danach fragen, ob sich
(Unterschiede in den) Wirkungen schulischer Sozialisation auf das jeweilige Schulsystem, auf
die jeweilige Schulorganisationen oder auf das jeweilige Schulklima zurückführen lassen.
(Ulich 2002, S. 382) Weiterhin lässt sich danach fragen, welche Einflüsse Leistungsforderung
und Beurteilungen, soziale Beziehungen zwischen LehrerInnen und MitschülerInnen, soziale
Regeln und Sanktionen sowie Lernprozesse und –inhalte auf die Persönlichkeitsentwicklung
nehmen. (Ulich 2002, S. 381; vgl. Holtappels 1987, S. 34; Furtner-Kallmünzer & Sardei-
Biermann 1982; Ulich 1983)
2.4 Funktionen, Normen und Strukturen der Institution Schule
Lebenswege von Heranwachsenden werden durch das Bildungssystem stark vorgeprägt.
Durch gesellschaftliche Festlegungen, „wann ein Kind die Kinderkrippe, den Kindergarten,
die Grundschule, die Sekundarschule oder die Universität besuchen darf (bzw.
muss)“ (Tillmann 2004, S. 111), wird „ein Nacheinander von absolvierten
Bildungsinstitutionen gegliedert.“ (ebd.) Die Schule nimmt hierbei eine besondere Stellung
ein, da ihr Besuch kraft Schulpflicht eine Pflichtveranstaltung zwischen dem 6. und 18.
Lebensjahr ist. So ist die Schule „die einzige öffentliche Bildungseinrichtung, der niemand
ausweichen kann.“ (ebd.) Gleichwohl bestehen gewisse Spielräume für SchülerInnen und ihre
Eltern, da sie durchaus zwischen verschiedenen Schulen wählen können.
Entscheidungsleitend sind hier beispielsweise die Bildungsaspiration der Eltern, das
pädagogische Profil der Schule oder ihre Nähe zur Wohnung.
Das Schulsystem kann beschrieben werden „als eine Einheit von organisierten Normen,
formalisierten Rollenerwartungen und materiellem Apparat […], dessen Aufgabe es ist, für
die Sozialisation des gesamten gesellschaftlichen Nachwuchses zu sorgen.“ (Tillmann 2004, S.
111f.) Um diese Aufgabe sachgerecht zu erfüllen, arbeitet in Schulen Personal, das
berufsmäßig eine pädagogische Tätigkeit betreibt. Konkret heißt dies, „dass Lehrer(innen) in
27

geplanter, systematischer und kontinuierlicher Weise Unterricht erteilen.“ (ebd., S. 112) Die
pädagogische Arbeit ist in institutionelle oder organisatorische Strukturen eingebunden, die
sicher stellen sollen, dass in einem ausdifferenzierten Apparat zum einen „für alle
Heranwachsenden im schulpflichtigen Alter Unterricht tagtäglich immer wieder
stattfindet“ („kontinuierliche Lernarbeit“; ebd.) und zum anderen sich Inhalte und Methoden
an staatlichen Vorgaben (Lehrpläne) orientieren.
Die Strukturen zur Sicherung der schulischen Aufgabenerfüllung lassen sich in drei
ineinander greifende Organisationsebenen des Schulsystems gliedern. Auf der Ebene der
„Lernorganisation“ wird festgelegt, „welche Schüler mit welchem Lehrer welche Inhalte zu
erarbeiten haben.“ (ebd.) Lehrpläne, Richtlinien (Schulgesetze der Länder,
Landesverfassungen), Stundenpläne etc. sind „Instrumente dieser „Lernorganisation“. 3
Darüber erhebt sich die Ebene der „Verwaltungsorganisation“ als „ein Netz organisierter
Verfahrensregeln“ (ebd.), in dem hierarchische Kompetenzen hinsichtlich Kontrolle,
Entscheidungen, Rechten und Pflichten festgelegt werden. Niederschlag finden solche
Regelungen z. B. in Versetzungsordnungen, Laufbahnbestimmungen und
Haushaltszuweisungen. Diese beiden Ebenen sind eingegliedert in die „Makroorganisation
des Schulsystems“, die sich auf den Grundaufbau des Schulsystems bezieht. In den
Schulgesetzen und z. T. Verfassungen der Länder werden hierbei die Aufteilung nach
Schulformen (Dreigliedrigkeit von Hauptschule, Realschule und Gymnasium), Bildungsgänge,
Übergangsmöglichkeiten und Abschlussberechtigungen festgelegt. (ebd., S. 112f.)
Diese organisatorischen Strukturen verdeutlichen, „dass die organisierten Lernprozesse der
nachwachsenden Generation in einem staatlich gelenkten Behördenapparat eingebunden sind,
dass Lernen auf diese Weise administrativ kontrolliert und politisch beeinflusst werden
kann.“ (ebd, S. 113) So müssen institutionelle Eingriffe in pädagogische Prozesse verstanden
werden als „genuines Merkmal eines komplexen Pflichtschulsystems unter staatlicher
Aufsicht.“ (ebd.) Dieser steuernde Eingriff durch eine bürokratische Organisation wird jedoch
begrenzt, da Bildung und Erziehung durch die Schule nicht „auf klare und eindeutige Ziele
festgelegt werden“ (ebd.) können. So sind pädagogische Absichten interpretationsbedürftig
und pädagogische Leitziele (z. B. „Mündigkeit“) „sogar bewusst unbegrenzt und nichtmessbar
formuliert.“ (ebd.) Zudem setzen innerhalb des institutionellen Rahmens
„Lehrer(innen) ihre eigenen Prioritäten, suchen ihre eigenen Wege, ohne dabei hierarchisch
angewiesen werden zu können.“ (ebd.)
3 Es sollte von „Lehrorganisation“ gesprochen werden. Schließlich geht es um die Organisation von Lehre. Ob
und was mit bzw. an bestimmten Inhalten oder Ereignissen gelernt oder sich angeeignet wird, ist jedoch
individuell verschieden.
28

Während die pädagogische Arbeit eingebunden ist in organisatorische oder institutionelle
Strukturen, ist die Pädagogik ein Teil der „Super-Struktur“, das heißt eines „Systems
übergreifender und allgemein geteilter Werte […], an dem sich die Akteure in ihrem Handeln
orientieren.“ (Esser 1993, S. 455f.)
29

3 Schulische Sozialisation und schulische Erfahrungen Jugendlicher
Es ist von Interesse, welche Phänomene bzw. Effekte im Zusammenhang mit schulischer
Sozialisation zu beobachten sind. Unterschieden werden sollte dabei, ob sich schulische
Sozialisationsprozesse in der Schule vollziehen oder sich auf Schule beziehen, also für die
Schule (z. B. in der Familie) vonstatten gehen. Zu berücksichtigen sind auch die
verschiedenen Lebenswelten der Menschen in Schulen. (Ulich 2002, S. 382; vgl. das Modell
von Melzer 1987, S. 50) Diesen Ansprüchen an eine Analyse schulischer Sozialisation steht
allerdings ein empirisches Defizit gegenüber. Es kann nur erahnt werden, unter welchen
Bedingungen Schule Spaß macht oder als Stress empfunden wird. Weiterhin bleibt offen,
„welchen Anteil schulische Sozialisation an der Herausbildung der sozio-kulturellen
Persönlichkeit des Einzelnen hat“. (Schäfers 2001, S. 121)
Die folgende Darstellung schulischer Sozialisationsprozesse geht darauf ein, dass sich im
Zuge der Bildungsexpansion die Schulzeit und damit die Jugendphase ausgedehnt haben (3.1).
Im Zuge von Reformen im Bildungswesen konnten auch Benachteiligungen im
Bildungssystem verringert werden, wenngleich sie nicht verschwunden sind (3.2).
Im Hinblick auf den schulischen Alltag wird gezeigt, dass das schulische Leistungssystem für
psychosoziale Problembelastungen Jugendlicher sorgt (3.3) und das Schulinvolvement (das
Beteiligtsein in der Schule) und der Sinnbezug schulischer Prozesse mit dem Klassen- und
Schulklima zusammen hängen (3.4). Hier ist von Bedeutung, dass SchülerInnen durchaus
Schulunlust, Schulentfremdung oder Schulverdrossenheit empfinden können (3.5), aber auch,
dass die Taktiken entwickeln, um mit den schulischen Anforderungen zurecht zu kommen
(3.6). Da soziale Beziehungen wesentliche Erfahrungs- und Sozialisationsfelder in der Schule
sind (3.7), wird zum einen auf die Bedeutung von Gleichaltrigengruppen (Peers) und
jugendlichen Subkulturen (3.7.1) bei der Herausbildung von abweichendem Verhalten
eingegangen (3.7.2) sowie die Rolle der Beziehungen zwischen LehrerInnen und
SchülerInnen betrachtet (3.7.3). Schließlich wird auf Kommunikationsprozesse und
Lerninhalte im Unterricht eingegangen (3.7.4).
Die Darstellung verdeutlich das „Dilemma der Schule“ (Schäfers 2001, S. 120), was sich
daraus ergibt „zwischen Allgemeinem und Individuellem, Fremd- und Selbstbestimmung,
Leistungsanorderung und individuell notwendiger Qualifizierungsmöglichkeit usw. ein
Gleichgewicht herzustellen.“ (Schäfers 2001, S. 120f.)
30

3.1 Ausdehnung der Schulzeit und Verlängerung der Jugendphase
Seit den 1960ern haben sich die Pflichtschulzeit und, damit einhergehend, die alltägliche
Schulzeit (Unterrichtszeit) verlängert. Auch haben sich schulische Fahr- und Wartezeiten
sowie häusliche Schularbeit ausgedehnt. Der Schulbesuch bzw. die Schulzeit von Kindern
und Jugendlichen erfuhr somit eine „lebensgeschichtliche Ausdehnung“. (Helsper 1993, S.
358) Gegenüber den 1950er Jahren wuchs die „Verweildauer in der Schule“ um zwei bis drei
Jahre. (ebd.) Ferner kam es zu „Verschiebungen in der Verteilung der Schüler auf die
Schulformen“. (ebd.; vgl. Schäfers 2001, S. 118f.; Hurrelmann 1994, S. 89)
Gleichzeitig verminderte sich die „Bedeutung von Arbeit und Erwerbstätigkeit für
Jugendliche“. (Helsper 1993, S. 359) Das heißt die Zeit zwischen dem 13. und 18. Lebensjahr
wurde immer weniger durch Erwerbstätigkeit, aber zunehmend durch die Schule bestimmt.
(ebd.)
Da sich der Übergang in den Arbeitsmarkt immer weiter aufschiebt und immer komplizierter
wird, kommt den allgemein bildenden Schulen als Sozialisationsinstanz im Jugendalter ein
immer größerer Stellenwert zu. Immer mehr Jugendliche „müssen sich immer länger auf die
von der Schule vorgegebenen Anforderungen und Erwartungen einlassen“ (Hurrelmann 1994,
S. 106), um ihre „späteren Sozialchancen zu sichern und zu wahren.“ (ebd.) Gleichzeitig
wuchs (und wächst) die Bedeutung hochwertiger Schulabschlüsse. Die Schule als
„Arbeitsplatz“ der Jugendlichen bestimmt ebenso die soziale Orientierung von Jugendlichen,
da diese daran „wichtige Gedanken und Planungsvorstellungen“ (ebd.) orientieren.
Vereinfacht lässt sich deshalb sagen, dass „die Jugendzeit in den modernen
Industriegesellschaften […] zur Schulzeit geworden“ (ebd.) ist. Das heißt die Schule bestimmt
den täglichen Lebensrhythmus für die Mehrheit der Jugendlichen bis zum Ende ihres zweiten
Lebensjahrzehnts.
Diese Entwicklungen werden gegensätzlich eingeschätzt. Auf der einen Seite wird die
Verlängerung der Jugendphase durch einen längeren Aufenthalt in Bildungsinstitutionen
gedeutet als ein Zuwachs an „Entfaltungs- und Verselbständigungsmöglichkeiten sowie
jugendlich-experimenteller Freiräume“. (Helsper 1993, S. 359) Auf der anderen Seite werden
„schulische Sinndefizite“ (ebd.), ein „Verlust produktiver Erfahrungen“ (ebd.) sowie „eine
Kolonialisierung lebensweltlicher Zusammenhänge durch schulische Leistungs- und
Plazierungszwänge“ (ebd.) kritisiert. (vgl. auch Fuchs 1983; Zinnecker 1987, 1990 und 1991
sowie Baethge 1985)
31

Festzuhalten bleibt, dass die Lebensform „Schüler“ für unterschiedliche jugendliche Gruppen
verschiedenes bedeutet, weshalb generelle Aussagen schwierig macht. (Helsper 1993, S. 359;
vgl. Bilden & Diezinger 1984; Hurrelmann/Rosewitz/Wolf 1984; Helsper 1989)
3.2 Benachteiligung in der Schule
Im Hinblick auf makrosoziale Auswirkungen schulischer Selektionsprozesse stellt sich die
Frage nach Chancengleichheit im Bildungswesen. Dabei geht es um Bildungsbenachteiligung
spezifischer Bevölkerungsgruppen. Für Benachteiligungen, Bildungsaspirationen,
Schulformwahl und Schulerfolg sind hierbei der familiale Hintergrund und die
soziokulturellen Einbettung von Bedeutung. Es lässt sich zeigen, dass seit den 1960ern in
Deutschland die geschlechtsspezifische Benachteiligung im Schulsystem zurückgegangen bzw.
sogar verschwunden ist. So wuchs nicht nur die Bildungsbeteiligung von Mädchen
„durchgängig in verschiedenen Soziallagen“. (Helsper 1993, S. 360) Auch erzielen Mädchen
bessere schulische Leistungen als Jungen und verlassen die Schule seltener ohne Abschluss.
Allerdings bestehen nach wie vor Benachteiligungen von jungen Frauen beim Start ins
Berufsleben bzw. im Berufsleben selbst. (beispielsweise im Himblick auf unvermittelte
Ausbildungsplatzberwerber oder weibliche Promoventinnen). (ebd.; vgl. Hurrelmann 1994, S.
90ff.)
Zwar hat sich auch die schichtspezifische Benachteiligung seit den 1970er verringert. Sie ist
jedoch nicht aufgehoben, betrachtet man die soziale Herkunft von SchülerInnen an den
Schulformen. Das heißt, dass „die Schule trotz aller Veränderungen seit den 60er Jahren eine
Institution der Reproduktion sozialer Ungleichheit geblieben ist, eine Instanz sozialer
Schließungsprozesse vor allem für Jugendliche aus Arbeitermilieus.“ (Helsper 1993, S. 361)
Empirisch lässt sich zeigen, dass schulische Bedingungen nur eine geringe eigenständige
Relevanz für die Bildungskarrieren Jugendlicher haben. (ebd.; vgl. Schäfers 2001, S. 119f.)
3.3 Schulisches Leistungssystem und die psychosoziale Problembelastung Jugendlicher
SchülerInnen machen im schulischen Alltag vielfältige Erfahrungen mit den ständigen
Bewertungen. Diese Bewertungen können einerseits herausfordern und zur Formierung des
jugendliche Selbst beitragen. Sie können aber auch belasten. Deshalb werden Bewertungen
oder Beurteilungen als „die unauffälligste – weil institutionell selbstverständliche – und
zugleich wirksamste Form der Machtausübung und Sanktionierung“ (Helsper 1993, S. 361)
32

angesehen. Hier soll es um die psychosozialen Auswirkungen schulischer Bewertung auf
Jugendliche gehen.
Die Bewertung von Leistungen in der Schule bedeutet immer auch eine Beurteilung der
SchülerIn als Person. So werden Leistungsurteile stets auch „als Ausdruck sozialer
Anerkennung bzw. fehlender Anerkennung oder gar Mißachtung seitens der Lehrer erfahren
und beeinflussen insofern die psychische Disposition.“ (Ulich 2002, S. 388; vgl. Furtner-
Kallmünzer & Sardei-Biermann 1982, S. 25)
Aus Untersuchungen geht hervor, dass unter Jugendlichen eine „instrumentelle Sicht der
Schule“ (Hurrelmann 1994, S. 110) weit verbreitet ist. So drückt sich „der Wert des
schulischen Bildungsprozesses […] maßgeblich oder sogar ausschließlich in dem Wert des
Abschlußzertifikats aus.“ (ebd.) Diese „Zumutung einer instrumentellen Orientierung“ (ebd.)
bewältigen SchülerInnen, „indem sie die schulische Tätigkeit wie eine industrielle, quasi den
Gesetzen von Lohnarbeit folgende, definieren und gestalten. Der Lohn ist für sie das Zeugnis
mit seinem Tauschwert für vermeintlich erfüllendere Lebensbereiche.“ (ebd.) (Schule als
„Arbeitsplatz“ der Jugendlichen; ebd. S. 106) Eine solche Orientierung zwingt zu einer
„Optimierungsstrategie“ (ebd., S. 110), in deren Rahmen schulische Bildungsgänge
instrumentalisiert werden und „Mittel zum Zweck des Erwerb eines
Abschlußzertifikates“ (ebd.) werden. Dies kann „Gefahren für die Persönlichkeitsentwicklung
der Jugendlichen“ in sich bergen. (ebd.)
Es erscheint offensichtlich, dass „sich die allermeisten Jugendlichen mit dem
Leistungsprinzip“ (Hurrelmann 1994, S. 115) identifizieren und „es als geeignetes Kriterium
für die gesellschaftliche Verteilung von Chancen“ (ebd.) akzeptieren. Da „aus Sicht der
Jugendlichen die eigenen Leistung entscheidend für das Erreichen des angestrebten
Schulabschlusses sind“ (ebd.), wird es von Jugendlichen als wichtig erachtet „in der Schule
gute Leistungen zu erbringen“. (ebd.; vgl. dazu Mansel & Hurrelmann 1991)
Die Kehrseits dessen ist, dass Versagensereignisse oder schulische Leistungsschwierigkeiten
– „insbesondere Klassenwiederholungen, dauerhaft schlechtem Leistungsstand in der Klasse
und Verfehlen der elterlichen Erwarungen im Leistungsbereich“ (Hurrelmann 1994, S. 113) –
mit sozialen, psychischen und gesundheitlichen Belastungen einher gehen.
Leistungsschwierigkeiten werden nicht nur „als spürbare Beeinträchtigung des
Wohlbefindens wahrgenommen“ (ebd.), sondern korrelieren auch deutlich mit Drogenkonsum,
delinquentem Verhalten, negativen Gefühlserlebnissen, psychosozialen Störungen und
33

psychosomatische Gesundheitsbeeinträchtigungen. (ebd., S. 114; vgl. Engel & Hurrelmann
1989, S. 183; Hurrelmann/Holler/Nordlohne 1988; Mansel & Hurrelmann 1991, S. 132)
Im Sinne der Stresstheorie (Siegrist 1988) können die erwähnten Phänomene als
„Streßreaktionen“ auf Anlässe sein „die zu Leistung, Wettbewerb und Kampf um
Selbstkontrolle einer Situation herausfordern“ (Hurrelmann 1994, S. 115) oder „die zu
Hilflosigkeit führen und mit einem Verlust von Kontrolle verbunden sind“. (ebd.)
Empirisch gesichert ist der „Zusammenhang von Leistungsangst und tatsächlichen
schulischen Leistungen“ (Helsper 1993, S. 361). Untersuchungen konnten zeigen, dass eine
bessere Schulleistung, mit weniger „Angst vor Leistungssituationen“ (ebd.) einher geht.
Weiterhin wird das „Ausmaß der Leistungsangst und der psychosozialen Problembelastung
Jugendlicher zentral durch das Schul- und Klassenklima beeinflußt“. (ebd.) Das heißt die
Leistungsangst erhöht sich, wenn Schülerbeziehungen durch „Konkurrenz und mangelnde
solidarische Kooperation“ (ebd.) geprägt sind, seitens der Schule ein hoher Leistungs-,
Disziplin- oder Anpassungsdruck herrschen und LehrerInnen streng und restriktiv
kontrollieren. (ebd.) In diesem Zusammenhang ist unter anderem die Schulform entscheidend.
Vergleichende Untersuchungen stellten bei Gesamtschülern eine „geringere Angst und
Problembelastung“ (ebd.) gegenüber Schülern anderer Schulformen fest. Dies wird
insbesondere auf das positive Klassenklima, auf einen geringeren Leistungs- und
Anpassungsdruck einer „progressiven“, engagierten Gesamtschullehrerschaft zurück geführt.
(ebd.) Leistungsangst wird jedoch auch durch elterliche Erziehungseinstellungen geprägt.
Schulisches Versagen erhält „seine emotionale Bedrohlichkeit“ (ebd.), insofern die
schulischen Leistungen des Kindes bzw. des Jugendlichen die Eltern-Kind-Beziehung
beeinflussen und negative Sanktionen mit sich bringen.
Empirisch konnten Nachweise erbracht werden für die psychosozial belastenden und
lebensgeschichtlich höchst bedeutsamen Folgen aus schlechten Schulleistungen, einem
negativen Selbstbild und ausgeprägter Schulangst, die zusammen ein komplexes Syndrom
ergeben, „das für Schulversagen kennzeichnend ist“. (Ulich 2002, S. 388; vgl. Hurrelmann &
Wolf 1986; Hurrelmann/Rosewitz/Wolf 1984; Hildeschmidt 1987;
Rosewitz/Wolf/Hurrelmann 1987; Haußer 1983)
34

3.4 Schulinvolvement und Sinnbezug schulischer Prozesse
Mit „Schulinvolvement“ (Beteiligtsein in der Schule) ist „das Wohlbefinden in schulischen
Lernprozessen und damit die Grundlage eines subjektiven Sinnbezugs schulischen
Lernens“ (Helsper 1993, S. 365) gemeint. Für das „Schulinvolvement“ sind besonders das
Klassenklima, das Alter und die Jahrgangsstufe relevant, weniger jedoch organisatorische
Unterschiede der Schulformen. Mit Schul- bzw. Klassenklima ist „die subjektive
Wahrnehmung und das Erleben der Schul- und Unterrichtsrealität der Schülerinnen und
Schüler“ (Ulich 2002, S. 383f.) gemeint. (zu Theorie und Methodik vgl. v. Saldern 1987; eine
umfassende Untersuchung dazu: Holtappels 1987)
Untersuchungen über Zusammenhänge zwischen Schulklima und Schülerpersönlichkeiten
(Pekrun 1983 und 1985) konnten zeigen, dass „das schulische und – weniger eng – allgemeine
Fähigkeits-Selbstkonzept der Schülerinnen und Schüler“ (Ulich 2002, S. 383) daran gekoppelt
ist, wie SchülerInnen „Unterrichtsanstrengung und Unterstützung der Lehrer“ (ebd.)
wahrnehmen und wie sie Kooperation und Zugehörigkeit untereinander erleben. Werden diese
„Klimavariablen“ (Anstrengung, Unterstützung, Kooperation und Zugehörigkeit) positiv
wahrgenommen oder erlebt, hat das positive Auswirkungen auf das „soziale
Selbstkonzept“ und das „allgemeine Selbstwertgefühl“ (ebd.) von SchülerInnen. Im Gegenzug
haben negative Erlebnisse wie zum Beispiel Überanstrengung, Unterforderung, mangelnde
Unterstützung durch LehrerInnen oder MitschülerInnen, wenig Zusammenarbeit unter den
SchülerInnen, kaum Erleben von Zugehörigkeit (Einsamkeit) entsprechend negative
Auswirkungen auf das „soziale Selbstkonzept“ und das „allgemeine Selbstwertgefühl“. Das
Schulklima kann somit von schulübergreifender Bedeutung für die
Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen sein.
Neben dem „Schulklima“ wurde auch die „Schulkultur“ untersucht (Forschungsgruppe
Schulevaluation 1998), das heißt wie die „didaktische Kompetenz“ und „Förderkompetenz
der Lehrer“ erlebt und die „soziale Situation in der Klasse“ von SchülerInnen wahrgenommen
wird Melzer & Al-Diban 2001, S. 42) Dabei zeigte sich, dass die „Schulkultur“ eng mit der
Sozialkompetenz zusammenhängt, das heißt dem „prosozialen Verhalten“, das sich in der
„Ablehnung von devianten und delinquenten Verhaltensweisen und Nichtbeteiligung“ (ebd., S.
40) an psychischen und physischen Formen schulischer Gewalt ausdrückt. Die Wahrnehmung
der sozialen Situation in der Klasse hing „geringfügig“ mit der Sozial- und Selbstkompetenz
zusammen, das heißt die Selbstsicherheit und Wertschätzung der eigenen Person. Ein
35

Zusammenhang zwischen Fachleistungen (dort gemessen an den Noten in den Hauptfächern
Mathematik, Deutsch, Englisch) und der Wahrnehmung der sozialen Situation in der Klasse
wurde jedoch nicht nachgewiesen. (ebd., S. 41f.) Die Untersuchungen wiesen auch darauf hin,
„dass erfolgreiche Schüler im Unterricht eher Mitbestimmungsmöglichkeiten sehen und auch
wahrnehmen, in geringerem Ausmaß von Schulhektik erfasst werden, in den Klassenverband integriert
sind, weniger Leistungsdruck und Schulangst empfinden, sich in der Schule wohler fühlen und den Sinn
des Lernens eher einsehen; sie sind kaum oder gar nicht nationalistisch und rechtsextremistisch
eingestellt, wissen sich bei ungerechter Behandlung zu wehren und verfügen über
Schlichterkompetenzen im Falle sozialer Konflikte unter Mitschülern.“ (ebd., S. 43)
Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass das Erziehungsmilieu außerhalb der Schule
(Sozialisationsbedingungen im Elternhaus, in der Gleichaltrigengruppe, durch das Medienund
Freizeitverhalten) und die Sozialkompetenz (das Sozialverhalten) von Kindern und
Jugendlichen zusammen hängt. So trägt ein „positiv eingeschätztes Familienklima“ (ebd., S.
41) zu „ausgeprägten sozialen Kompetenzen und zu einem positiven Selbstkonzept“ (ebd.) bei,
wenngleich die Fachleistungen davon nicht direkt beeinflusst werden. Es konnte auch
aufgezeigt werden, dass ein „restriktives Erziehungsverhalten der Eltern“ (ebd.) negativ mit
der Fachleistung, den Sozialkompetenzen und dem Selbstkonzept zusammen hängt. Negatives
Sozialverhalten, jedoch nicht das Selbstkonzept, steht weiterhin mit aggressivem Verhalten
im Freundeskreis und dem Konsum problematischer Filmmedien im Zusammenhang.
3.5 Schulentfremdung, Schulunlust und Schulverdrossenheit
Für einen beträchtlichen Teil der Jugendlichen steht „die Akzeptanz des Lebensraums
Schule“ (Helsper 1993, S. 365) in Frage. Diese Haltung wird als Schulentfremdung,
Schulunlust oder Schulverdrossenheit bezeichnet. In einer Untersuchung von Fend (1977)
unterschied sich die Unzufriedenheit mit der Schule zwischen verschiedenen „Jugendtypen“,
wobei die „autonomen Jugendzentrierten“ am unzufriedensten waren. (nach Helsper 1993, S.
365)
Schulverdrossenheit und –entfremdung können unter anderem auf einen hohen Disziplin- und
Anpassungsdruck zurückgeführt werden. Während die „psychosoziale Belastung durch
Leistungsangst bis zum Ende der Regelschulzeit sinkt“ (ebd.), steigt hingegen „die Belastung
in Form von Schulunlust“ (ebd.). Damit wird die Schule „im Laufe der Zeit immer mehr zu
36

einer Institution, die keinen Spaß macht und als Zwang empfunden wird.“ (ebd.; vgl. Ulich
2002, S. 379f.)
Holtappels (1987) untersuchte „schulbezogene Problembelastungen“ von SchülerInnen und
kam zu dem Ergebnis, dass
- ca. 60 % der SchülerInnen Unterrichtsinhalte für problematisch halten,
- ebenfalls ca. 60 % Regeln in der Schule für sinnlos erachten,
- sich 49 bis 43 % darüber beschweren, dass es nur geringe Freizeitangebote gibt, sie
unter Prüfungsangst und –stress leiden und nur wenig Mitbestimmungsmöglichkeiten
haben. (nach Ulich 2002, S. 379f.)
Da diese Ergebnisse bereits zwanzig Jahre alt sind, bleibt offen, welche schulischen Aspekte
SchülerInnen heute für problematisch erachten.
Es sind der Unterricht, die Tests, Zeugnisse, der schulische Leistungsdruck und das Verhältnis
zu den LehrerInnen, das heißt die „institutionellen Kernzonen der Schule“ (Helsper 1993, S.
366), die „von einer drastischen Zunahme der Kritik betroffen“ (ebd.) sind. Dem gegenüber
richten sich positive Schulbezüge auf die informellen Randzonen, das heißt Schulausflüge,
schulische Freizeit, die Möglichkeit zu einer „sorglosen“ Jugendzeit, „viel Freizeit“ und
Ferien, das Verhältnissen zu Gleichaltrigen (Schule als „alltäglichen Jugendtreffpunkt“). Wird
Schule als „Ort von Unlust und Entfremdung“ (ebd.) sowie „Lebensraum mit nur geringer
sinnstiftender Relevanz“ (ebd.) erlebt, so erzeugt „sie zumindest ‚latente’ Sinnproblematiken
und trägt […] wesentlich zur Entstehung jugendlicher Sinnkrisen bei.“ (ebd.; vgl.
Fuchs/Zinnecker 1985; Aster & Kuckartz 1988; Behnken u. a. 1991)
Vergleichende Studien (Tillmann et al. 1984; Wiederholf & Mitzlaff 1987) konnten
nachweisen, dass Übergangserfahrungen von SchülerInnen positiver gestaltet bzw. drastische
Negativentwicklungen (Sekundarstufenschock) „abgeschwächt oder gar verhindert“ (Helsper
1993, S. 365) werden können, wenn an Schulen Grundschulgruppen erhalten bleiben und eine
Kontinuität der Lehrer-Schüler-Beziehungen gewahrt bleibt. Somit ist Schulunlust kein
genereller Alterseffekt, sondern „den institutionell-pädagogischen Bedingungen
zuzuschreiben“. (ebd.)
37

3.6 Schülertaktiken
Um mit den Belastungen durch die Schule zurecht und gut durch die Schule zu kommen,
entwickeln SchülerInnen Strategien. Eder (1986) untersuchte solche Schülertaktiken im
Zusammenhang mit dem Schulklima und fand heraus, dass eine negativ erlebte Schulumwelt
zur Funktionalisierung von Beziehungen führt, während ein günstiges Klima das
demonstrative Engagement gegenüber LehrerInnen fördert. (nach Ulich 2002, S. 384) In einer
anderen Studie identifizierte Eder (1987) die Haupttaktiken von SchülerInnen, um gut durch
die Schule zu kommen. Bei den untersuchten 250 SchülerInnen einer 8. Gymnasialklasse
waren dies
- „ständige Mitarbeit und regelmäßiges Lernen“ (bei 94 % der SchülerInnen; nach
Ulich 2002, S. 384),
- Anpassung „an den Unterricht und die Regeln“ (ebd.) anpassen (73 %),
- Anpassung an die LehrerInnen (38 %)
- Einschmeicheln bei LehrerInnen (36 %),
- Widerstand (9%) sowie
- Distanzierung (8%) (ebd.; vgl. Holtappels 1987, 254-257)
Die meisten Jugendlichen sehen die Notwendigkeit, „sich in der Schule anders zu verhalten
als bei Freunden (80%) und zu Hause (65 %), taktisch zu handeln, z. B. sich nicht erwischen
lassen (77%) und Mühe demonstrieren (64 %), aber auch sich nichts gefallen zu lassen (58 %);
Anpassung an Lehrererwartungen und überdurchschnittliche Leistungen halten gut 40 % für
notwendig.“ (Ulich 2002, S. 380) Die SchülerInnen bemühen sich also um „einen
Verhaltenskompromiß zwischen den schulischen Forderungen und Belastungen, deren
überwiegend negativer Einschätzung und ihren eigenen Bedürfnissen.“ (ebd.; vgl. Holtappels
1987, 257). Jugendliche aus unteren Sozialschichten sind hierbei einem relativ höheren
Anpassungsdruck in der Schule ausgesetzt. Ihnen fällt entsprechend das Arrangieren mit der
Schule schwerer. (Ulich 2002, S. 380)
38

3.7 Soziale Beziehungen als Erfahrungs- und Sozialisationsfeld
3.7.1 Schulklasse als Erfahrungsfeld
Da Schulen zentrale Orte für „eine langdauernde Zusammenfassung von Kindern und
Jugendlichen zu altershomogenen Gruppen“ (Helsper 1993, S. 367) sind, können sie
angesehen werden als „Ort der Entstehung von Freundschaften und Cliquen, der als
Multiplikator und Umschlagplatz der Jugendkultur und als Entstehungsort jugendlicher
Subkulturen fungiert“ (ebd.). Mit dem „Beziehungsnetz der Gleichaltrigen“ (ebd.) oder Peers
entsteht in der Schule ein „zweites sozialisatorisches Feld“ (ebd.), das „zwar durch schulische
Inhalte und das Leistungssystem vorstrukturiert wird, aber eigenständige Einflüsse auf die
Jugendlichen“ (ebd.) sowie „für jugendliche Gestaltungsmöglichkeiten offen“ (ebd.) ist. (vgl.
Hurrelmann 1994, S. 112f. sowie Coleman 1961; Parsons 1981; Fend 1980; Specht 1982)
Möglichkeiten der Beziehungsgestaltung werden zwar in der „Schulklasse als eine
weitgehend altershomogene Zwangsgruppierung“ (Ulich 1983, S. 64) begrenzt, überlagern
sich jedoch mit außerschulischen Beziehungskontexten unter Gleichaltrigen (vgl. Krappmann
2002; Schäfers 2001, S. 163-166) und in der Familie. (vgl. Kreppner 2002; Schäfers 2001, S.
103-113)
Die Schulklasse kann als wirksames Erfahrungsfeld von Konkurrenz und Leistung aufgefasst
werden, in dem sich Konkurrenzstrukturen und Leistungshierarchien herausbilden sowie die
Anpassung gegenüber schulischen Normen und Beziehungskonflikte herausfordern. (Ulich
2002, S. 384; vgl. Holtappels 1987, S. 100; Petillon 1987, S. 102).
In ihren Untersuchungen gingen Fend (1980) bzw. Specht (1982) davon aus, dass Schule „die
Interaktionsmöglichkeiten, die Interaktionsformen und –inhalte vorstrukturiert“ (Helsper 1993,
S. 368) sind. Somit werden Jugendliche in die „ambivalente Situation“ (ebd.) versetzt,
„einerseits eine gemeinsame Lage zu teilen und andererseits in dieser Gemeinsamkeit
strukturell in Konkurrenzverhältnisse eingebunden zu sein“ (ebd.). Die Forscher ermittelten
ein informelles „Peer-Klima“ – „mit typischen jugendlichen Einstellungen zu schulischen
Anforderungen“ (ebd.) –, das sich im Ergebnis nach Schulform und Region (Stadt/Land)
unterscheidet. So sprachen sie beim Gymnasium von einer „Cross-Pressure-Situation“ für
Jugendliche, das heißt „Anpassung an schulische Leistungsanforderungen bei gleichzeitiger
Demonstration von Schuldistanz“ (ebd.). Für die Gesamtschule stellten sie ein
„schulkonvergentes“ Peer-Klima fest, das heißt „eine hohe Wertschätzung schulischer
39

Leistung“ (ebd.) bei einer gleichzeitig „positiven Einschätzung der Gesamtschule und einer
positiven Sanktionierung kritisch-progressiven Bewußtseins“. (ebd., S. 368f.)
Bauer (1980) untersuchte die Anerkennung unter Mitschülern sowie Schülerfreundschaften
und stellte eine schulartspezifische Verteilung fest, die zugunsten des Gymnasiums und
zuungunsten der Hauptschule ausfiel. (Ulich 2002, S. 384; vgl. Bauer 1980, S. 160)
Weitere sozialisatorische Konsequenzen (Verstärkereffekte) auf Schüler-Schüler-
Beziehungen haben affektive Lehrereinstellung zum einzelnen SchülerInnen (un-/beliebte
SchülerInnen) sowie ein Wechsel vom Klassen- ins Kurssystem (Kollegstufenschüler). (Ulich
2002, S. 384f.; vgl. Schmied 1982a)
Andere Untersuchungen (Krappmann/Oswald 1985) „zum Verhältnis von
Gleichaltrigengruppen und Schule“ (Helsper 1993, S. 367) fokussierten auch die „Bedeutung
symmetrischer oder konkurrenzorientierter Beziehungen von Gleichaltrigen im Schulalltag
für die Herausbildung sozialer und moralischer Kompetenzen“. (ebd.)
3.7.2 Jugendliche Subkulturen und abweichendes Verhalten in der Schule
Coleman (1961) konnte zeigen, dass sich in der Gleichaltrigengruppe „ein schulfremder
Wertekontext“ (Helsper 1993, S. 367) heraus bildet, der „letztlich den Erfolg schulischer
Norminternalisierung bedroht“. (ebd.; vgl. auch Fend 1980) Kommt es hierbei zu
permanenten und gravierenden Regelverletzungen, kann durch Prozesse der Etikettierung das
abweichende Verhalten der jeweiligen SchülerInnen festgeschrieben werden („sekundäre
Devianz“). Abweichendes Verhalten kann sich dadurch als „abweichende
Identität“ manifestieren. Insofern leisten Regelverletzungen und Etikettierungsprozesse einen
Beitrag zur Entstehung bzw. Aufrechterhaltung jugendlicher Subkulturen. (Helsper 1993, S.
368; vgl. Ulich 2002, S. 391f.; vgl. Holtappels 1987, S. 292; 1984, S. 25)
Etikettierungsprozesse werden weiter unten im Zusammenhang mit Interaktion zwischen
LehrerInnen und SchülerInnen (5.2.3) thematisiert.
Holtappels (1987) konnte zeigen, dass abweichendes Verhalten – als „schulstrukturell
produziertes Phänomen“ (Holtappels 1987, S. 267) – gefördert wird durch „negative
Schülererfahrungen mit den Lerninhalten, dem Unterrichtsverlauf, dem Lehrerengagement
40

und mit den Mitbestimmungsmöglichkeiten“, also mit den identifizieren Problembelastungen.
(Ulich 2002, S. 391f.; vgl. Holtappels 1987, S. 269; vgl. auch Fend & Schneider 1984)
3.7.3 Lehrer-Schüler-Beziehungen
Im Hinblick auf die Beziehungen zwischen LehrerInnen und SchülerInnen ist schulische
Sozialisation ein „pädagogischer Interaktions- und Beeinflussungsprozeß“. (Ulich 2002, S.
385; vgl. Ulich 1980, S. 473; zur sozialen Konstruktion der Lehrer-Schüler-Interaktion vgl.
Ulich 1983, S. 73) Als sozialisatorisches Hauptelemente der Lehrer-Schüler-Interaktion gelten
hierbei die gesellschaftlichen Aufgaben, das heißt die Qualifikations-, Selektions- und
Legitimationsfunktion der Schule. (vgl. Fend 1980; nach Hurrelmann 1994, S. 107f.)
In schulischen Interaktionen ist meistens die Macht ungleich verteilt ist, wobei sich
SchülerInnen unterordnen (müssen) und in Abhängigkeitsrollen gegenüber ihren LehrerInnen
treten (müssen). („asymmetrische Interaktionsstrukturen“; Ulich 2002, S. 385) Es sei dies das
„Dilemma des modernen Schulwesens“ (Schäfers 2001, S. 115), da die Schule in der Regel
keine „Schüler-Schule“ (ebd., S. 116), sondern eine „Lehrer-Schule“ (ebd.) ist, in der sich –
„noch extremer als in der Familie“ (ebd.) – zwei Generationen gegenüber stehen.
Da jahrelange Erfahrungen in untergeordneten, abhängigen Rollen einen Beitrag zur
„Internalisierung von Hierarchiestrukturen“ (Ulich 2002, S. 385) leisten können, gelten sie für
andere gesellschaftliche Bereiche wie Arbeit oder Politik durchaus als funktional. (vgl.
Furtner-Kallmünzer & Sardei-Biermann 1982, S. 33; Hurrelmann 1983, S. 52)
Interaktionen zwischen LehrerInnen und SchülerInnen sind zwar von Machtgefällen geprägt.
Jedoch sind die Beziehungen zwischen LehrerInnen und SchülerInnen wechselseitig abhängig
und bedingen einander. Für Untersuchungen sollte entsprechend die Lehrer-Schüler-
Beziehung von beiden Seiten angegangen werden (ansatzweise bei Petillon 1982). Die
Erfassung der Komplexität des Beziehungsgeschehens durch Feldbeobachtungen stellen
allerdings ein konzeptionelles und methodisches Problem dar. (Ulich 2002, S. 386) Dennoch
liegen Ergebnisse zur Einschätzung und Erfahrung der Lehrer-Schüler-Beziehung einerseits
aus der Perspektive von SchülerInnen (3.7.3.1), andererseits aus der Sicht von LehrerInnen
(3.7.3.2) vor.
41

3.7.3.1 Lehrer-Schüler-Beziehungen aus Schülersicht
In seiner Untersuchung ermittelte Holtappels (1987, S. 133) (Problem-)Erfahrungen von
SchülerInnen gegenüber LehrerInnen. Danach wurden Beziehungen zu LehrerInnen von
SchülerInnen als versachlichte und weniger persönliche Beziehungen erlebt, was durchaus
den formalen Erfordernissen der Schule entspricht. (Ulich 2002, S. 385f.) Weiterhin spürten
SchülerInnen Lehrermacht, wenn es um die Durchsetzung von Situationsdefintionen und
Entscheidungen ginge. „Erwartungen der Lehrer und ihre Formen der sozialen
Kontrolle“ (ebd., S. 386) wurden von SchülerInnen „überwiegend als restriktiv“ (ebd.)
erfahren. Das pädagogische Engagement der LehrerInnen wurde insbesondere kritisiert
hinsichtlich des mangelnden Eingehens auf schwächere und auffällige SchülerInnen.
Insgesamt ließ sich eine ambivalente Schülersicht der Beziehung zu LehrerInnen konstatieren:
„Einerseits legen die Schüler Wert auf Gleichberechtigung und demokratische
Entscheidungen, andererseits erwarten sie von den Lehrern Autorität und
Durchsetzungsfähigkeit; einerseits möchten die Schüler eine persönliche, je individuelle
Beziehung zu Lehrern, andererseits wollen sie gleich und gerecht behandelt werden – für die
Lehrer eine offenkundig schwer zu lösende Erwartungsdivergenz“. (ebd.; vgl. Furtner-
Kallmünzer & Sardei-Biermann 1982, S. 34; zum „emotionalen Defizit“ der Lehrer-Schüler-
Beziehung in der Kollegstufe vgl. Schmied 1982b) Als „positiv bewerten (hier:
unterprivilegierte) Jugendliche ihre Beziehung zu Lehrern, wenn ihnen gewisse Freiheiten
und Tätigkeitsmöglichkeiten eingeräumt werden“ (Ulich 2002, S. 386; vgl.
Bietau/Breyvogel/Helsper 1981)
Das Erleben von LehrerInnen fällt bei „beliebten Schülerinnen und Schülern“ (Ulich 2002, S.
386) deutlich positiver aus als bei unbeliebten. Beliebte SchülerInnen erleben LehrerInnen als
weniger streng und strafend. Diese SchülerInnen „fühlen sich sicherer und sind sich der
Lehrersympathie auch bewußt. Solche Erfahrungen hängen unter anderem mit dem
Leistungsstand und der Anerkennung der Mitschüler zusammen, aber auch mit dem
Selbstkonzept und der Ängstlichkeit; je günstiger die Lehrerbeziehung desto höher die
psychische Stabilität“ (ebd.; zur Reduzierung von Schülerangst durch Veränderung der
Lehrer-Schüler-Beziehung vgl. Bohse-Wagner 1985)
Als einzige Längsschnittstudie zur Entwicklung der Lehrer-Schüler-Beziehung untersuchten
Tillmann et al. (1984) 2500 GesamtschülerInnen und ihre Bewertung der Beziehung zu
LehrerInnen. Ein Ergebnis war, dass die Tendenz der Bewertung der Beziehung zu
LehrerInnen unabhängig war von der Leistungsentwicklung der jeweiligen SchülerInnen.
42

3.7.3.2 Lehrer-Schüler-Beziehungen aus Lehrersicht
Im schulischen Unterricht steht ein/e LehrerIn einer Klasse gegenüber, die sich aus
verschiedenen Kindern bzw. Jugendlichen zusammen setzt. Um mit dieser Vielfalt an
Individuen zurecht zu kommen, kategorisieren oder typisieren LehrerInnen SchülerInnen aus
wahrnehmungspsychologischen Gründen, aber auch nach berufsspezifischen Erfordernissen
(„Binnendifferenzierung“). Das jeweils resultierende Schülerbild bestimmt wesentlich das
Verhalten der LehrerInnen gegenüber SchülerInnen.
Als zentrale Dimensionen der Typisierung konnten Leistung (und schulinstitutionelle
Anforderungen an diese) sowie Konformität der SchülerInnen identifiziert werden. (Petillon
1987; nach Ulich 2002, S. 386f.) Danach bestimmt der jeweilige von der/dem LehrerIn
zugeschriebene Leistungs- und Konformitätsstatus den jeweiligen Schülertypen und das
entsprechende Interaktionsmuster. Danach sind leistungsstarke und konforme SchülerInnen
bei LehrerInnen am beliebtesten, wodurch die jeweiligen LehrerInnen die betreffenden
SchülerInnen häufig loben, freundlich behandeln und ihre Persönlichkeitseigenschaften
günstig beurteilen. Im Gegensatz dazu gelten „leistungsschwache und wenig
konforme“ (Ulich 2002, S. 387) SchülerInnen bei LehrerInnen als unbeliebt, werden nur
wenig gelobt, weniger freundlich behandelt und in ihren Persönlichkeitseigenschaften
ungünstig beurteilt. (ebd.; vgl. Petillon 1987, S. 82; Ulich 1980, S. 489) Zwischen diesen
Extremen liegen in der Wahrnehmung von LehrerInnen allerdings viele Zwischentypen.
3.7.4 Kommunikationsprozesse und Lerninhalte im Unterricht
Kommunikationsprozesse im Unterricht werden von LehrerInnen dominiert. Die
Machtposition der LehrerInnen drückt sich jedoch nicht nur in dieser kommunikativen
Dominanz aus (vgl. dazu Ulich 180, S. 476), sondern auch in seiner/ihrer Entscheidung über
Inhalt und Struktur der Unterrichtskommunikation sowie der Festlegung von Art und Umfang
der Schülerbeteiligung. In Studien (v. Engelhardt 1982; Ulich 1983) wurde festgestellt, dass
LehrerInnen Unterrichtsformen bevorzugen, die einerseits „den Schülern eine passiv-reaktive
Rolle zuweisen“ (Ulich 2002, S. 387; vgl. Ulich 1983, S. 98) und andererseits „in Verbindung
mit eher rigiden Kommunikationsregeln – vom Melden bis zum vollständigen Satz –
kommunikative Störungen begünstigen“ (Ulich 2002, S. 387; vgl. Ulich 1983, S. 92)
Von Bedeutung für (sprachliche) Sozialisation ist die Schul- und Lehrer-Sprache, die sich von
der Alltagssprache unterscheidet. Dies sorgt bei Schulanfängern zunächst für
43

Umstellungsprobleme. (Ulich 2002, S. 387; vgl. Graf 1984, S. 157) Die Schulsprache ist
kritisch einzuschätzen, insofern Unterricht zum sprachlichen Suchspiel degeneriert (vgl.
Werres 1984) und insofern konkrete Erfahrungen und Bedürfnisse von SchülerInnen
abgeschnitten, entsinnlicht und entfremdet werden. Es konnte gezeigt werden, dass
„außerschulische Lebenszusammenhänge und Interessen“ auch unter Mitwirkung der
schulspezifischen Vermittlungs- und Aneignunsform der Lerninhalte ausgegrenzt werden.
(Ulich 2002, S. 387; Geißler 1985, S. 124; Holtappels 1987, S. 84; Rumpf 1988, S. 158; Ulich
1983, S. 106; Svensson 1981; Thiemann 1982)
Die Kommunikationen in der Schule sind meistens gekennzeichnet durch eine Trennung von
Inhalten und Stoffen in Fächer, einem starren Zeitplan, einzuhaltenden Zeitportionen,
inhaltsdifferenten, gleichförmigen, vorgeplanten „sozialen Situationen den Lernens“ sowie
dem Anspruch an Lerninhalte, reproduzierbar und prüfbar zu sein. Solch eine Organisation
des Schulalltags durch starre Zeiteinteilungen, Lernstoffvorgaben, eingespielte
Rollenverteilungen und sonstige Regelungen stellt „quasi eine Gegenwelt zu den als kindoder
jugendgemäß angesehenen Verhaltensweisen“ (Schäfers 2001, S. 116) dar. Es ist also
keine Überraschung, wenn unter diesen Bedingungen „die (allermeisten) Schülerinnen und
Schüler eine Haltung von Gleichgültigkeit und Desinteresse gegenüber den Inhalten ihres
Lernens“ (Ulich 2002, S. 387) entwickeln.
Diese Gleichgültigkeit drückt sich auch in der weitgehenden Ausklammerung der
Unterrichtsthemen bei Unterrichtsreportagen (Hagstedt 1980) aus, bei Interviews über den
Schulalltag (Hildebrand-Nilshon 1980), bei der Rekonstruktion einer Unterrichtsstunde durch
die SchülerInnen (Mühlhausen 1988), bei (kritischen) Gruppendiskussionen (Furtner-
Kallmünzer & Sardei-Biermann 1982; Sardei-Biermann 1985) sowie in der Vernachlässigung
der Inhalte durch SchülerInnen bei der „Beschreibung ihrer Taktiken zur
Schulbewältigung“ (Eder 1987; nach Ulich 2002, S. 387f.)
Das heißt „schulisches Lernen ist durch eine klare inhaltliche Distanzierung gekennzeichnet:
Die Lerngegenstände haben wenig bis nichts mit dem außerschulischen Leben zu tun, und der
Unterricht wird von den Lehrern (auch) inhaltlich bestimmt, während die Schüler sich passiv
und reaktiv verhalten“ (Ulich 2002, S. 387f.; vgl. Sardei-Biermann 1985; Hagstedt 1980)
Weiterhin konnte gezeigt werden, dass mit der Schulzeit die inhaltlichen Interessen der
SchülerInnen nachlassen (Ulich 2002, S. 388; Todt 1985; Schiefele 1986; zur Randständigkeit
der Schule bei außerschulischen Interessen vgl. Braungart & Jungkunz 1989)
Verschiedene Studien legen nahe, dass es die Leistungsorientierung von SchülerInnen ist, die
zu schulischem Lernen motivieren. (Ulich 2002, S. 388; Oerter 1985; Hildebrand-Nilshon
44

1980; Furtner-Kallmünzer & Sardei-Biermann 1982, S. 26) Daraus ließe sich zugespitzt
schlussfolgern, dass in der „Forderung und Förderung einer abstrakten, eben
inhaltsunabhängigen, Leistungsbereitschaft […] der wahrscheinlich wichtigste
Sozialisationseffekt von Schule“ liegt. (Ulich 2002, S. 388)
45

4 Bedingungen der Individualisierung und Freiheit ändern die Aufgabe der Schule
Auf die Frage, wie Jugendliche Orientierung finden können, gibt Brater (1997, S. 155) die
Antwort, dass Jugendliche Möglichkeiten haben sollten, „subjektive Fähigkeiten“ zu
entwickeln, „die den einzelnen in die Lage versetzen, sich selbst gültige Orientierungen zu
schaffen.“ (ebd.) Diese Antwort ist verbunden mit der Auffassung, dass unter
Individualisierungsbedingungen das dem Jugendalter „eine schöpferische, konstitutive
Aufgabe“ (ebd.) zukommt, in dem „angesichts der Vielfalt der Möglichkeiten ein
individuelles Lebenskonzept komponiert werden muß.“ (ebd.) Dabei geht es allerdings „nicht
um das individuelle Verhältnis zu den Regeln und Erwartungen der Gesellschaft, sondern
darum, dem eigenen Leben seine persönliche, unverwechselbare Gestalt zu geben.“ (ebd.)
Die Forderung nach Möglichkeiten zur Entwicklung „subjektiver Fähigkeiten“ beziehen sich
auf den sozialen Kontext, der „immer mehr von den Indidividuen selbst aus eigener Kraft
hergestellt, vereinbart werden“ (ebd.) muss, „ohne dabei den eigenen Weg zu opfern und ohne
die berechtigten Bedürfnisse der anderen zu verletzen.“ (ebd.) Dafür brauche es einen
„offenen sozialen Gestaltungszusammenhang“. (ebd.) Außerdem müssen Jugendliche das
„komplexe Spiel mit drei Bällen – den individuellen Einsichten, den eigenen und fremden
Bedürftigkeiten und den geltenden Vereinbarungen“ (ebd., S. 156) lernen.
Den eigenen Lebenslauf individuell zu gestalten ist mit „hohen sozialen Anforderungen mit
entsprechender kommunikativer Kompetenz“ (ebd.; zu kommunikativer Kompetenz in Bezug
auf Medien vgl. Baacke 1973) verbunden. Um sich eigene Orientierungen erschaffen zu
können, müssen zudem Möglichkeiten bestehen, „möglichst viel über das wirkliche Leben,
über die Realitäten gegenwärtiger Existenz kennenzulernen. Dabei reicht es nicht, von der
Welt nur zu wissen, sondern dieses Wissen muß umgesetzt werden können in selbst
entworfene Handlungen.“ (Brater 1997, S. 156) Diese „Umsetzungsfähigkeit“ müssen sich
junge Menschen selbst erarbeiten, wozu es „keine Schon-, sondern Erfahrungsräume“ (ebd.)
braucht. Menschen, ob jung oder alt, brauchen dazu (idealtypisch) dreierlei: a) Wissen und
Einsicht, b) „mannigfaltige Gelegenheiten des Erfahrungen-Machens“ (ebd.) sowie c)
Praxisfelder zur Erprobung und Korrektur eigener Annahmen und Möglichkeiten. (ebd.) In
diesem Zusammenhang müssen auch die Schule bzw. schulische Strukturen in den Blick
genommen werden, da sich mit den Veränderungen der Bedingungen für und Aufgaben des
Jugendalters auch „Stellung und Aufgabe der Schule“ (ebd.) verändern müssen.
46

4.1 Grenzen der Wirksamkeit einer Schule mit klarem Zielsystem
Eine Schule begreift sich selbst als Mittel zum Zweck, nämlich zur „Vorbereitung aufs
spätere Leben“ (Brater 1997, S. 157), wenn sie ihre Aufgabe, Autorität und Bedeutung an
einem klaren Zielsystem ausrichtet, das heißt an klaren Zielvorstellungen hinsichtlich
gesellschaftlichen Anforderungen, Orientierungen und Verhaltensweisen. Die Mittel zur
Durchsetzung von Bildungs- und Erziehungsbemühungen (Lerninhalte und Verhaltensnormen)
auch gegen die SchülerInnen sollen dem Zweck dienen, „auf die Notwendigkeiten und
Anforderungen des ‚späteren Lebens’“ (ebd.) vorzubereiten. Dieser Zweck, dieses „spätere
Leben“ ist allerdings „unter Individualisierungsbedingungen nicht mehr so klar“. (ebd.)
„Schule kann grundsätzlich nur dort als aus dem Leben herausgesonderter Lernort bestehen, wo die
Erfordernisse und Erwarungen dieses ‚Lebens’, auf das sie vorbereitet, ganz eindeutig klar und
vorgegeben sind. Allein dort läuft das Lernen neben und außerhalb des Lebens nicht Gefahr, völlig an
den Lebensfordernissen vorbeizubilden. Unter Individualisierungsbedingungen aber läuft die Schule
grundsätzlich Gefahr, zur Scheinwelt zu werden, anachronistisch zu sein, in Gesellschaften einzuführen,
die es gar nicht mehr gibt oder die nur noch für kleine Subkulturen Bedeutung haben.“ (Brater 1997, S.
158)
4.2 Aufgaben für die Schule unter Individualisierungsbedingungen
Aus den umrissenen Erfordernissen des Individualisierungsprozesses gehen Aufgaben hervor,
die auch die Schule für sich selbst erkennen muss. Die Schule muss dazu „neue Wege gehen,
um diesen Aufgaben gerecht werden zu können“ (Brater 1997, S. 158), wenn nicht weiterhin
„Riesen im Reproduzieren halb verdauter Wissensinhalte, aber Zwerge in persönlichen
Möglichkeiten der Lebensbewältigung“ (ebd.) hervorbringen will. An die Einlösung des
Anspruchs „auf das Leben vorzubereiten“ (ebd.) sind schließlich Legitimation und
Glaubwürdigkeit der Schule gebunden.
Wenn sich die Schule durch längere Besuchsdauern schon ausweitete, so sollte sie „‚Ersatz’
für die verlorengehenden außerschulischen kommunikativen und praktischen Erfahrungen
bereitzustellen“ (Helsper 1993, S. 367). Schule hätte deshalb die „Situation der jugendlichen
Subjekte in den schulischen Prozessen im Verhältnis zu ihrer außerschulischen Realität“ (ebd.)
in den Blick zu nehmen im Hinblick darauf, ob in diesem Verhältnis die „Entwicklung
kognitiver, kommunikativer und soziomoralischer Kompetenzen, der Herstellung und
Erprobung von Selbstentwürfen, Identitäts- und Lebensformen und der Erzeugung
47

motivationaler und sinnlich-expressiver Grundlagen ‚innerer Natur’“ (ebd.) eher blockiert
oder ermöglicht werden.
Im Folgenden soll näher ausgeführt werden, dass Jugendliche für ihre Selbstfindung in der
Schule Möglichkeitenen brauchen, um ihr Lernen und ihre Lernsituationen individuell
gestalten können (4.2.1). Damit Kinder und Jugendliche eine selbständige Handlungsfähigkeit
entwickeln können, sind weiterhin Erfahrungsräume für persönliche Freiheit und
Verantwortung notwendig (4.2.2).
4.2.1 Selbstfindung durch Individualisierung von Lernen und Lernsituationen
Die eine Kernaufgabe des Jugendalters, die der Selbstfindung und Ich-Werdung, kann
„letztlich nur von jedem Jugendlichen selbst gegangen werden“ (Brater 1997, S. 159) und
„nur als realer, krisenhafter Erfahrungsprozeß in Auseinandersetzung mit der sozialen
Umwelt geleistet werden.“ (ebd., S. 158) Erwachsene können dabei als „wohlwollenddistanzierte
Begleitung“ (ebd., S. 159) der Mühen Jugendlicher helfen. So hätte Schule
entsprechend „Erfahrungs-Lern-Situationen zu schaffen, zu vermitteln und zu begleiten. In
diesen können Jugendliche vor allem ihre eigenen Wege und Kräfte durch Erproben bilden
und sich selbst erfahren. […] Hierbei kann es freilich keinen abstrakten Normmaßstab geben,
sondern dazu ist hochgradige Individualisierung nun auch des Lernens und der Gestaltung
von Lernsituationen notwendig.“ (ebd.) Schule fiele somit die Aufgabe zu, auf den Übergang
von der Fremd- zur Selbsterziehung vorzubereiten, das heißt qualitativ auf das Ende des
Jugendalters. (ebd.)
4.2.2 Selbständige Handlungsfähigkeit durch persönliche Freiheit und Verantwortung
Die zweite Kernaufgabe des Jugendalters ist, „seine eigene, ganz unverwechselbare
Biographie konstituieren“ (Brater 1997, S. 159) sowie zu „lernen, sein eigenes Leben als
offenen Prozeß zu gestalten“ (ebd., S. 160). Die Legitimation von Schule wird immer
fragwürdiger, wenn Heranwachsende fragen, welchen Sinn es haben soll, „’etwas zu werden’,
wenn dieses ‚etwas’ nicht ganz konsequent ich selbst bin“ (ebd.). Um jedoch „spannende,
ungewisse, immer wieder neue Gestaltungsaufgaben annehmen, meistern und genießen zu
können“ (ebd.), sind persönliche Voraussetzungen notwendig, die heute durchaus schulische
Erziehungsaufgaben sein können. Schulische Erziehungsaufgaben können demnach sein
- den „Umgang mit persönlicher Freiheit“ (ebd.) zu üben,
48

- seine Außen- und „eigene Innenwelt genau wahrnehmen zu lernen“ (ebd.),
- Urteilsfähigkeit entwickeln zu können,
- „den eigenen Gefühlen und Empfindungen trauen zu lernen“ (ebd.),
- Unterscheidungsvermögen in Bezug auf die eigenen Affekte (Lust/Unlust) zu
entwickeln und die eigene Triebstruktur so beherrschen zu lernen, „daß sie der
Verwirklichung der Intentionen des Ich nicht im Wege steht.“ (ebd.)
Zur Beherrschung der eigenen Triebstruktur müssen Gelegenheiten bestehen „etwa
Selbstbeherrschung, Ausdauer und Geduld, Entschluß- und Entscheidungsfähigkeit“ (ebd.)
ausbilden zu können, das heißt Fähigkeiten mit „willensmäßigen Charakter“ (ebd.). Zu den
schulischen Erziehungsaufgaben kommt hinzu, dass sie ermöglichen das eigene Handeln im
sozialen Kontext zu betrachten, „das heißt draufhin, welche Folgen sich daraus für andere
Menschen ergeben können.“ (ebd.) Dafür notwendig sind die Ausbildung moralischer
Grundhaltungen, eines sozialen und ökologischen Verantwortungsbewusstsein, Selbstkritik
sowie die „Bereitschaft zur persönlichen Weiterentwicklung“ (ebd., S. 161), das heißt
„Fähigkeiten und Eigenschaften der Person, die dieser ein Handeln unter
Individualisierungsbedingungen ermöglichen“. (ebd.)
„Will die Schule mehr sein als eine Instanz der Vergabe formaler Abschlüsse und
Zugangsberechtigungen, dann wird sie sich heute diesem neuen Lern- und Bildungsziel der Förderung
‚selbständiger Handlungsfähigkeit’ verschreiben müssen, Ichfindung begleiten, die eigene Biographie
als individuelle Gestaltungsaufgabe begreifbar machen und die Fähigkeiten zum selbständigen Handeln
bilden, sind damit unter Individualsierungsbedingungen Kernaufgaben der Schule im
Jugendalter.“ (Brater 1997, S. 162)
Von der Schule wird also verlangt, auf Bedingungen der Individualisierung zu reagieren und
die Selbstfindung und Ich-Werdung Jugendlicher als ihre eigene Aufgabe zu erkennen. Dafür
solle sie „Erfahrungs-Lern-Situationen“ (Brater 1997, S. 159) schaffen, vermitteln und
begleiten sowie Lernen und die Gestaltung von Lernsituationen individualisieren.
Die Darstellung von Untersuchungsergebnissen zu schulichen Sozialisationsprozessen haben
gezeigt, dass diese Forderung berechtigt erscheint und dass bestimmte strukturelle
Eigenschaften der Schule bzw. des Bildungssystems kritisch zu beurteilen sind, da sie
Probleme für die (individuelle) Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen
mit sich bringen. Eine solche Kritik folgt im nächsten Abschnitt.
49

5 Individualisierung und Sinndefizite durch die Schule
Die Forderung, dass der Schule die Aufgabe zukommt, bei Kindern und Jugendlichen die Ich-
Stärkung, Ichfindung (Individuierung, Identitätsentwicklung) und Umsetzungsfähigkeit durch
eine Individualisierung „des Lernens und der Gestaltung von Lernsituationen“ (Brater 1997, S.
159) zu fördern, wird untermauert durch die Feststellung, dass SchülerInnen die Schule im
Lauf ihres Pflichtbesuchs zunehmend als Zwang und als „Lebensraum mit nur geringer
sinnstiftender Relevanz“ (Helsper 1993, S. 366) erleben. Insbesondere „schlechte
Schüler“ stehen schulischen Inhalten gleichgültig und desinteressiert gegenüber. Dies kann
zur Entstehung jugendlicher Sinnkrisen beitragen. (ebd.)
5.1 Problembelastungen, Nonkonformität und Normdistanz
Zeigen SchülerInnen einen Mangel an Disziplin durch (häufige) Regelverletzungen und
empfinden sie schulische Regeln als sinnlos (Normdistanz), so hat dies oftmals seinen
Ursprung in Problembelastungen in der Schule. Solche Problembelastungen können negative
Erfahrungen mit Lerninhalten, mit dem Unterrichtsverlauf, dem Lehrerengagement und einem
Mangel an Mitbestimmungsmöglichkeiten sein. SchülerInnen aus unteren Sozialschichten
erleben hierbei eine größere Problembelastung als SchülerInnen aus höheren Sozialschichten.
Besonders bei Jugendlichen mit „keiner als erfolgreich anerkannte Karriere“ (Edelstein &
Fauser 2001, S. 34) in der Schule sind dann „Gefühle der Enteignung und Hilflosigkeit, der
Unbeteiligtheit und Gleichgültigkeit“ (ebd.) entsprechend häufig anzutreffen. (vgl. Schäfers
2001, S. 97)
5.2 Schulklima: Leistungs-, Konkurrenz- und Anpassungsdruck
Wird in schulischen Belastungssituationen Leistung und Anpassung verlangt (Leistungs-,
Konkurrenz- und Anpassungsdruck unter den Gleichaltrigen in einer Klasse bzw. einem Kurs),
kann dies förderliche, aber auch irritierende Wirkungen auf Selbstkonzepte und
Selbstwertgefühl von SchülerInnen haben. Für eine schulübergreifende Bedeutung des
Schulklimas spricht, dass Merkmale von Schülerpersönlichkeiten (schulisches und
allgemeines Fähigkeits-Selbstkonzept, soziales Selbstkonzept sowie allgemeines
Selbstwertgefühl) gekoppelt sind an Merkmale des Schulklimas, besonders die
50

wahrgenommene Unterrichtsanstrengung, die Unterstützung der LehrerInnen sowie die
erlebte Zusammenarbeit und Zugehörigkeit zwischen SchülerInnen. (Ulich 2002, S. 383)
5.3 Beziehung und Interaktionen mit LehrerInnen
Gegenüber Schule reagieren SchülerInnen mit Verdrossenheit, Unlust, Gleichgültigkeit und
Desinteresse, wenn neben der Struktur schulischen Lernens das Verhalten von bzw. die
Interaktionen mit LehrerInnen als unangemessen erlebt werden. Die Beziehung zu
LehrerInnen wird aus Schülersicht als versachlicht und unpersönlich erlebt. Sie spüren die
Macht der LehrerInnen durch Leistungsdruck sowie strenge und restriktive Kontrollen, die
auch zur Sanktionierungen eingesetzt werden. Die kommunikative Dominanz der LehrerInnen
kommt weiterhin in Form von Frontalunterricht, bei der Durchsetzung der Situationsdefinition,
bei Entscheidungen in Bezug auf Inhalte und Struktur der Unterrichtskommunikationen, bei
Beurteilungen und der Beschränkung der Schülerbeteiligung (Mitbestimmungsmöglichkeiten)
zu Geltung. SchülerInnen bewerten die Beziehung zu ihren LehrerInnen dann positiv, wenn
den SchülerInnen Freiheiten und Tätigkeitsmöglichkeiten eingeräumt werden. Dem
gegenüber wird das Engagement von LehrerInnen (besonders im Eingehen auf schwache bzw.
auffällige SchülerInnen) als mangelhaft eingeschätzt.
Da die jeweilige Leistung und Konformität einer Schülerin oder eines Schülers die
Wahrnehmung und Anerkennung seitens der LehrerIn beeinflusst (zugeschriebener Leistungsund
Konformitätsstatus), tragen mangelnde Leistung und mangelnde Disziplin
(Regelverletzungen) durch Kategorisierung und Typisierung bei LehrerInnen zur Entstehung
der Kategorie bzw. des Schülertyps „schlechter“ bzw. „unbeliebter“ Schüler bei. Derlei
Kategorisierungen und Typisierungen wirken schließlich auf das Verhalten von LehrerInnen
gegenüber SchülerInnen (Interaktionsmuster). Auch Etikettierungen von SchülerInnen wirken
bei der Entwicklung „abweichender Identitäten“ mit. Dies kann in einer Schulklasse – als ein
Erfahrungsfeld für Konkurrenz, Leistung und Anpassung an schulische Normen – auf das
Klassenklima wirken und die Anerkennung unter Mitschülern sowie Schülerfreundschaften
verstärken (z. B. Gruppen „schlechter“ bzw. undisziplinierter SchülerInnen).
Zwar müssen sich SchülerInnen gegenüber ihren LehrInnen und den institutionellen
Strukturen der Schule unterordnen. Sie entwickeln jedoch auch Strategien bzw. Taktiken, um
gut durch die Schule zu kommen. Solche Strategien stellen Verhaltenskompromisse zwischen
den Anforderungen der LehrerInnen und den eigenen Bedürfnissen und (außerschulichen)
Interessen dar.
51

5.4 Soziale Selektion, Aggression und Gewalt
Auch im Hinblick auf die Uraschen für die Entstehung von Aggressions- und
Gewaltbereitschaft bei SchülerInnen sind Struktur, Kultur, Klima und Lernqualität in der
Institution Schule (Edelstein & Fauser 2001, S. 45) sowie ihre Funktionen (Qualifizierung,
Leistung, Selektion, Legitimation; Fend 1980) kritisch zu hinterfragen.
Gerade die soziale Selektion im Schulwesen auf der Grundlage des Leistungsprinzips sind
Faktoren für die Entstehung von Aggressions- und Gewaltbereitschaft bei SchülerInnen. Hier
sind es besonders die „schlechten“ SchülerInnen, die durch Aggression und Gewalt (vor allem
außerhalb der Schule) problematisch werden. (Edelstein & Fauser 2001, S. 11; vgl. Tillmann
u. a. 1999).
Neben der sozialen Selektion ist es eine „wenig schülerorientierte Pädagogik und
Didaktik“ (Edelstein & Fauser, S. 45), die das Klima in Schulen bestimmen (vor allem in
Ostdeutschland). Während SchülerInnen „auf dem Markt und im ‚Verhandlungshaushalt der
Familie’“ (ebd.) Freiheit genießen (vgl. Alt u. a. 2005), ist dies in der Schule nicht im
gleichen Maße der Fall. Deshalb begehren sie gegen LehrerInnen auf und klagen Freiheit ein.
Aus Schülersicht sind es oftmals die LehrerInnen, „die für die empfundene Misere und das
Sinndefizit des Lernens in der Schule verantwortlich gemacht werden“. (Edelstein & Fauser,
S. 45; vgl. Melzer 2001; Sturzbecher 2001) Das dadurch mitproduzierte Aggressionspotential
bei Jugendlichen kann zwar „in der Schule durch rigide Kontrollen (scheinbar)
wegreguliert“ werden, bricht aber „in weniger kontrollierten Räumen, meist außerhalb der
Schule“ (ebd.) in Form von Gewalt und Vandalismus auf dem Schulweg und in öffentlichen
Verkehrsmitteln durch.
Schulische Bedingungen sind freilich nur ein ein Aspekt des Ursachenkomplexes von
Aggression, Gewalt, Sinnkrisen und Verdrossenheit. Zu den Bedingungen außerhalb der
Schule gehören auch makrosoziale Strukturen, Einflüsse der politischen Kultur, die Familie,
Medien und Gleichaltrige. Bedeutsam für die Entstehung von Aggression und Gewalt sind
eine übermäßige Strenge des familialen Erziehungsstils, ein schlechtes Familienklima,
negative Sanktionen für schlechte Schulleistungen seitens der Familie, ein ungezügelter
Medienkonsum sowie negative Einflüsse durch Gleichaltrige. (Edelstein & Fauser 2001, S. 45)
52

6 Qualitäten einer „guten Schule“
Auch wenn die Mehrheit der SchülerInnen mit den schulischen Anforderungen der Schule
zurecht kommt und deutlich zufrieden ist mit dem schulischen Lern- und Unterrichtsangebot
– beim Gymnasium überwiegt hier „das Gefühl, eine für die spätere soziale und berufliche
Laufbahn assichtsreiche Bildung und Ausbildung zu erhalten“ (Hurrelmann 1994, S. 117) –
muss dennoch gefragt werden, ob nicht strukturelle und qualitativ-inhaltliche pädagogischen
Maßnahmen dazu betragen können, „das Belastungspotential der Schülerinnen und Schüler zu
verringern und möglichst abzubauen“. (ebd.)
Anhaltspunkte zur Beantwortung dieser Frage sind Kriterien einer „guten Schule“, die die
Gütequalität einer Schule daran messen, welchen fachlichen Leistungsstand SchülerInnen
erreichen und welche soziale Qualifikationen sie zeigen, z. B. „Fähigkeiten zur sozialen
Verantwortung, moralischen Urteilsfähigkeitund Kooperationsbereitschaft“ (Hurrelmann
1994, S. 117; vgl. Fend 1980; Rutter u. a. 1980) Danach kennzeichnen eine „gute Schule“ ein
„intensiver Grad der kollektiven Zusammenarbeit der Lehrerinnen und Lehrer in fachlichen
Fragen“ (Hurrelmann 1994, S. 117), „ständig wiederholte gemeinsame Erörterungen,
Abklärungen und möglichst Festlegungen auch zu allgemeinen pädagogischen
Verhaltensregeln des Schullebens“ (ebd.) sowie „effektive Beteiligung (Partizipation) der
Schülerinnen und Schüler und der Eltern an wichtigen schulischen und unterrichtlichen
Belangen“. (ebd., S. 117f.) Wenn also SchülerInnen und Eltern an der Schule partizipieren
können, das heißt Mitgestaltungsmöglichkeiten „in bestimmten Bereichen der Gestaltung von
Unterricht und Schule“ (ebd., S. 118) haben, können sie sich mit der Schule identifizieren. In
dieser Identifikation mit der Schule liegt ein „unschätzbares Kapital für das soziale Klima und
die Qualität der Beziehungen in der Sozialisationsinstanz und damit für eine gesunde
Persönlichkeitsentwicklung der Schülerinnen und Schüler.“ (ebd.) Auch Fend (1988, S. 540)
fand Inidizien für die allgemeine Qualität von Schulen. (vgl. auch Fend 1986; Haenisch 1986)
Danach macht eine gute Schule aus:
„u. a. die Leistungsfähigkeit, Chancengleichheit und Versorgungsdichte des Schulsystems; das Arbeitsund
pädagogische Ethos des Lehrerkollegiums, eine schülerorientierte Gestaltung der Schullebens
sowie das prosoziale Verhalten und die Offenheit der Schülerschaft auf der Schulebene;
Leistungsniveau und –bereitschaft, die Qualität der Schüler-Schüler- und der Lehrer-Schüler-
Beziehungen und die Problembelastung auf der Ebene der Schulklasse; die Beziehungs- und
persönlichen Kompetenzen sowie Mentalitäten und Arbeitshaltungen der Lehrer und Schüler für die
Personenebene.“ (Ulich 2002, S. 383)
53

Haenisch (1986, S. 21) ergänzt, gute Schulen zeichnen sich aus „durch positive
Schülererwartungen und pädagogisches Engagement der Lehrer, durch eine starke
Identifikation der SchülerInnen mit ihrer Schule, durch präzise und anerkannte
Leistungsansprüche, Stabilität des Kollegiums und gute Zusammenarbeit mit den Eltern“.
(Ulich 2002, S. 383; zur Rolle des Schulleiters vgl. Fend 1986, S. 286)
Unter der Maßgabe, an Schulen Stressfaktoren abzubauen, wird eine Konzipierung der Schule
als sozialer Kommunikationsraum gefordert. Hierbei soll es Aufgabe des Klassenlehrers sein,
„auf gruppendynamische Prozesse in der Schulklasse einzugehen und sie so zu steuern, daß
möglichst gute Kooperationsformen und Beziehungsstrukturen bestehen“ (Hurrelmann 1994,
S. 118). Weiterhin sollte Unterricht soziale Kommunikation prägen, das heißt eine
Verknüpfung der „Kontakte der Schüler untereinander mit dem Unterrichtsgeschehen auch in
fachlicher Hinsicht“ (ebd.). Die soziale Komponente des Unterrichts könnte zum Beispiel
gestärkt werden durch
- die Bildung von Lerngruppen, „denen ihre eigene soziale Dynamik zugestanden
wird“ (ebd., vgl. Hurrelmann 1989, S. 147);
- durch Möglichkeiten für SchülerInnen als Tutoren zu fungieren, indem ihnen kleine
Aufgaben anvertraut werden, etwa „schwächeren Schülern zu helfen“ oder
„arbeitsteilig in der Gruppe bestimmte Aufgaben zu lösen“ (Hurrelmann 1994, S. 118).
Außerhalb des Unterrichts und im Nachmittagsprogramm der Schule könnten auch ältere
SchülerInnen die Betreuung jüngerer SchülerInnen übernehmen. Schule muss dieses
„Potential von sozialen Erfahrungen der Zuständigkeit und Verantwortung“ (ebd.)
pädagogische aktivieren, „um der Erfahrungsarmut entgehenzuwirken, die in vielen täglichen
Lebensbereichen heute vorherrscht.“ (ebd.)
6.1 Entideologisierung der Schulformwahl
Jedoch reichen pädagogisch-inhaltliche Maßnahmen allein nicht, um die Spannung und den
Erwartungsdruck zu bewältigen, der auf SchülerInnen in allgemeinbildenden Schulen lastet.
Auch die Organisationsstruktur des Schulwesens ist eine Ursache für „Schulstreß“. Nachdem
Kindern „vier gemeinsame Schuljahre an der Grundschule“ (Hurrelmann 1994, S. 118)
verbracht haben, müssen Eltern (zusammen mit ihren Kindern?) „zwischen verschiedenen
Formen der weiterführenden Schule mit unterschiedlichen Bildungsprofilen und
Abschlußperspektiven“ (ebd.) entscheiden. Dabei bringt „das ausleseorientierte gegliederte
54

Schulwesen in der Bundesrepublik […] unverkennbar einen Prestige- und
Klassenkampfakzent in die Schulwahlentscheidungen von Eltern.“ (ebd.) Da an die
Gliederung des Schulwesen spätere Laufbahnberechtigungen gekoppelt sind, neigt es „von
seiner ganzen Konstruktion her“ dazu, „jungen Gesellschaftsmitgliedern schon frühzeitig
ihren sozialen Status in Beruf und Gemeinwesen zuzuweisen“. (ebd., S. 118f.; vgl.
Rolff/Klemm/Hansen 1990) Aus dieser Kritik erwächst die Forderung, „das Gefälle von
Privilegien zwischen den verschiedenen ‚weiterführenden’ Schulformen in der Sekundarstufe
I“ (Hurrelmann 1994, S. 119) abzubauen und „bisher getrennte Schulformen in der
Mittelstufe des deutschen Schulwesens“ (ebd.) zusammenzulegen. Es geht um eine
„Entideologisierung der Schulformwahl“. (ebd.)
6.2 „Bildung und Erziehung demokratisch mündiger Bürger“
Partizipation hat nicht nur Bedeutung im Hinblick auf eine „gute Schule“, sondern ist auch ein
Aspekt der politischen Bildung. Wird die „Bildung und Erziehung demokratisch mündiger
Bürger“ (Edelstein & Fauser 2001, S. 16) als ein Ziel „der schulisch institutionalisierten
politischen Bildung“ (ebd.) formuliert, das sich an „starker und aufgeklärter Beteiligung in
einem partizipatorischen Modell der Demokratie orientiert“ (ebd.), stellt sich allerdings die
Frage, inwieweit dieses Ziel erreicht wird. Schulen sind hierin kritisch zu betrachten, ob sie
nicht „mit ihren institutionellen und professionellen Ressourcen hinter dem zurück [beiben],
was für Bildung und Erziehung demokratisch mündiger Bürger […] erforderlich ist.“ (ebd., S.
71) Da „Entfremdung vom politischen System“ (ebd.) und „Verdrossenheit über Parteien und
Politik“ (ebd.), wie sie bei vielen Jugendlichen und jungen Erwachsenen anzutreffen ist,
„unter dem Druck potentieller sozialer Belastungen […] als Einfallstor für politikindifferente
oder auch antidemokratische Einstellungen“ (ebd.) gelten, erscheint eine gelingende „Bildung
und Erziehung demokratisch mündiger Bürger“ notwendig. (ebd.; zum Begriff der
„demokratischen Persönlichkeit“ vgl. Berg-Schlosser 1981)
6.2.1 Politische Programme für Toleranz und gegen Fremdenfeindlichkeit
Im Herbst 2000 erkannten die Landesregierungen und die Bundesregierung endlich, dass auch
politischer Handlungsbedarf besteht, auf das Problem Rechtsextremismus und
Fremdenfeindlichkeit zu reagieren. So wurden „Initiativen gegen Rechts, Bündnisse für
55

Toleranz und gegen Fremdenfeindlichkeit und Gewalt“ 4 aktiv. Es entstanden zahlreiche
Handlungsprogramme sowie bürgerschaftliche Initiativen „gegen Rechts“ in vielen Städten
und Kommunen. (Edelstein & Fauser 2001, S. 8f.) Die Entscheidung der Bundesregierung
kann als „bundesweiter Feldversuch“ (Seils 2006) gedeutet werden, wobei „die gute
Absicht“ (ebd.) entscheidendes Kriterium dafür war, welche Projekte eine beantragte
Förderung erhielten. Als Voraussetzung für ihren „Erfolg“ galt die „Vielfalt der
Strategien“ (ebd.). Insgesamt wurden 4000 Anträge bewilligt, die der Bund mit insgesamt 192
Mio. Euro unterstützte. (ebd.)
Wie sich aber heute zeigt, haben „weder staatliche Repression noch Bündnisse für Toleranz
und Demokratie […] bisher vermocht, die Häufigkeit von Gewaltakten oder rechtsextreme
Umtriebe wesentlich einzudämmen, ebenso wenig wie antisemitische Friedhofsschändungen
und demonstrative Denkmalsbeschädigungen.“ (Edelstein & Fauser 2001, S. 9) Auch ein
„explizit demokratiefeindlicher Rechtsextremismus“ (ebd.) – vor allem in den neuen
Bundesländern ist kein vorüber gehendes Phänomen. 5 Ferner verbreiten sich im Internet
„rechtsradikale bis neonazistische Aufrufe mit bedrohlichen Implikationen sowie
Organisationsappellen“. (ebd.)
Im Jahr 2007 tritt an die Stelle der bisherigen Bundesprogramme Civitas, Entimon und Xenos
ein Programm zur „Förderung von Vielfalt, Toleranz und Demokratie“. Dafür stellt der Bund
24 Mio. Euro zur Verfügung. Um zu entscheiden, wie zukünftig das Geld verteilt werden
muss, stellt sich für dieses neue Programm die Frage, welche Projekte in der Vergangenheit
„erfolgreich“ waren, das heißt welche Initiativen tatsächlich zivilgesellschaftliche Strukturen
stärken. Dabei steht die „Abwesenheit von NPD-Kadern“ (Seils 2006) nicht gleich dafür,
„dass es mehr Zivilgesellschaft gibt. Umgekehrt bedeutet mehr Zivilgesellschaft nicht
unbedingt weniger NPD.“ (ebd.)
Eine Evaluation des Civitas-Programms durch die Uni Bielefeld kommt zum Schluss, dass
das Programm insbesondere dort erfogreich sei, „wo sich Initiativen lokal verankert und mit
Schulen oder Jugendeinrichtungen verzahnt hätten.“ (ebd.) Dem gegenüber steht allerdings
die Gefahr, „dass sich konurrierende Parallelstrukturen etablieren“ (ebd.), sowie das Defizit,
4 http://www.buendnis-toleranz.de/
5 Für die Monate September 2005 bis September 2006 wurden jeweils zwischen etwa 800 und etwa 1200
Straftaten gemeldet, die dem Phänomenbereich „Politisch motivierte Kriminalität – rechts“ zugeordnet werden,
darunter zwischen 28 bis 88 Gewalttaten (entspricht 3 % bis 8 % der Straftaten) sowie 593 bis 903
Propagandadelike (oder 67 % bis 76 %). Zwischen 96 und 204 (oder 11 % bis 19 %) dieser Straftaten zählen
zum Phänomenbereich „Politisch motivierte Kriminalität – rechts“ mit fremdenfeindlichen Hintergrund, darunter
11 bis 43 Gewalttaten (oder 8 % bis 26 % der Straftaten mit fremdenfeindlichen Hintergrund) sowie 27 bis 47
Propagandadelike (17 % bis 30 %); vgl. Antworten der Bundesregierung auf die Kleinen Anfragen der Fraktion
DIE LINKE. zu „Ausländerfeindlichen und rechtsextremistische Ausschreitungen in der Bundesrepublik
Deutschland“ für die Monate Januar bis September 2006 (Bundestagsdrucksachen 16/23, 16/193, 16/340, 16/632,
16/995, 16/1393, 16/1394, 16/1811, 16/2195, 16/2386, 16/2578, 16/2958, 16/3380; via URL = dip.bundestag.de)
56

dass bildungsferne Schichten, die besonders für Rechtsextremismus anfällig sind, nicht
erreicht werden. (Seils 2006; zur „Stärke der Zivilgesellschaft in Deutschland“ vgl. Reimer
2006)
Es ist auch bemerkenswert, dass politisch geförderte Projekte gegen Rechtsextremismus,
Fremdenfeindlichkeit und Gewalt hinsichtlich ihrer Wirksamkeit von politischen
Schlagabtauschen nicht verschont bleiben. Anfang der 1990er waren es „Aktionsprogramme
gegen Aggression und Gewalt“ in den CDU-geführten Ländern, die von der SPD und den
Grünen als „Glatzenpflege auf Staatskosten“ (Seils 2006) kritisiert wurden. Im Sommer 2006
waren es anders herum die „rot-grünen Programme“, die von CDU-Politikern kritisiert
wurden, da sie z. B. den Erfolg der NPD bei den Landtagswahlen in Mecklenburg-
Vorpommern nicht verhindern konnten. Auch die Ansichten über die Zuständigkeit für
Förderprogramme driften auseinander. Während Experten und Praktiker Förderprogramme
auf Bundesebene begrüßen, fordert Familienministerin Ursula von der Leyen von den
Kommunen, lokale Programme zu fördern. Weiterhin sollen die aktiven Beratungsinitiativen
in bundesweit agierende „Kriseninterventionsteams“ umgewandelt werden. Dieser Semantik
des politischen Schlagabtausches entspricht, dass SPD und CDU (heute als
Regierungskoalition) einen handlungsfähigen Staat vorweisen wollen, wenn
ausländerfeindliche Gewalttaten und die NPD für Schlagzeilen sorgen. Dem gegenüber
weisen viele Praktiker und Experten darauf hin, dass nur eine langfristige und kontinuierliche
Arbeit professionelle Arbeit zum Erfolg führen kann. Wie sehr die Ansichten auseinander
gehen zeigt der Fall Roland Roth, ein Professor aus Magdeburg, der nicht mehr zu Tagungen
des Familienministeriums eingeladen wurde, nachdem er sich kritisch gegenüber einigen
Civitas-Projekten äußerte. Für Roth ist die Politik unbelehrbar, da in Deutschland eine
Tradition der Evaluation staatlicher Programme fehle. 6 (ebd.)
6.2.2 Auseinandersetzung als Aufgabe pädagogischer Institutionen
Im Hinblick auf ihre Ausgangssituation – „Statusverunsicherungen, sinkende Berechenbarkeit
von Lebens- und Berufswegen, Anforderungen an Flexibilität“ (Hurrelmann 1994, S. 186) –
können rechtsextremistische und ausländerfeindliche Aktivitäten auch als ein „Jugendprotest
in einem demokratischen Staat“ (ebd., S. 187) gedeutet werden, wobei die
Problemverarbeitung politisch zum Ausdruck kommt. Auf diese Form des Jugendprotests
müssen konsequenterweise Schul- und Jugendarbeit reagieren. Dabei ist eine Messung der
6 Roland Roth hat Programme und Maßnahmen gegen Rechtsextremismus wissenschaftlich begleitet; vgl. URL
= http://www.sgw.hs-magdeburg.de/mitarbeiter/roth.html
57

Orientierung von Jugendlichen an etablierten politischen Parteien „kein tauglicher Maßtab für
die politische Sensibilität einer Bevölkerungsgruppe“ (ebd.). Jugendiche zeigen hingehen
selbst „der gesellschaftlichen Öffentlichkeit, welche politischen Themen dringend diskutiert
werden müssen. Sie tun das auf ihre Wiese, teilweise in einer unbeholfenen, provozierenden
und gewalttätigen Form.“ (ebd.)
Deshalb gilt es, die Auseinandersetzung mit (rechts-)extremistischen Positionen als ständiges
Aufgabengebiet in pädagogischen Institutionen zu begreifen. Dazu ist es erforderlich,
Sprachlosigkeit zu überwinden und ausländerfeindliche Äußerungen von Jugendlichen zu
thematisieren. Wichtig ist, diese Jugendlichen nicht auszugrenzen. Es muss deutlich gemacht
werden, „wie wenig wir ihre Auffassungen teilen können, wie sehr wir sie aber als
Mitmenschen in einer demokratischen Kultur akzeptieren“. (ebd., S. 188) Es ist bedeutsam,
die politischen Ängste von Jugendlichen nicht zu übersehen oder verächtlich zu machen. Man
muss Jugendlichen Gelegenheit geben, Ängste zu zeigen, sie zu kommunizieren. Damit kann
man psychischen Abwehrreaktionen vorzubeugen. Werden Ängste hingegen ins
Unterbewusstsein verdrängt und kapseln sich darin ein, können von dort als „ständiger
Auslöser für Verunsicherungen“ (ebd.) wirken. Es braucht also „einfühlsame Formen der
Zuwendung und Unterstützung und gleichzeitiges sachliches Informieren und
Aufklären“ (ebd., S. 189), um die „die Persönlichkeit von Kindern und Jugendlichen so zu
stärken, daß sie die Perspektive und Glaube in die eigene Zukunft erntwickeln und zugleich
einen Sinn für politisches Engagement sehen“ (ebd.); um Eigenaktivität anregen; sowie um
jene Kräfte zu stärken, mit denen Kinder und Jugendliche „sich durch gezielte Tätigkeiten
selbst aus einer schwierigen Situation heraushelfen können“ (ebd.). Auch müssen politische
Probleme angesprochen, emotionale Äußerungen und biographischer Erfahrungen (Sorgen
und Ängste) generationsübergreifend thematisiert werden. Es gilt, in gedankliche
Auseinandersetzung und Kontroversen, „den Blick für die Position des
Andersdenkenden“ (ebd.) zu sensibiliseren, um Feindbilder abzubauen und eine gemeinsame
Verantwortung für Frieden und Gerechtigkeit aufzubauen. (vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung,
Gesprächskreis Migration und Integration 2005)
In diesem Zusammenhang muss jedoch auch der „heimliche Lehrplan“ der Schule daraufhin
überprüft werden, was getan wird, „um die ‚Leistungsschwachen’ nicht zu ‚Sozialschwachen’
zu machen“ (Hurrelmann 1994, S. 188). Strategien hierzu sind „Förderprogramme für die
soziale Integration von randständigen deutschen und ausländischen Schülerinnen und
Schülern […], faire Leistungsbeurteilung, Chancengleichheit und Transparenz der
Bewertungsmaßstäbe“. (ebd.)
58

Schließlich müssen „klare demokratische Spielregeln für den Umgang
miteinander“ (Hurrelmann 1994, S. 188) in der Schule und der Jugendarbeit abgefordert
werden. Das heißt Sanktionen bei der Verletzung dieser Spielregeln müssen eindeutig sein
und gewaltförmige Konfliktlösungen müssen sofort zum Gruppenthema gemacht werden.
Auch können geeignete Unterrichtsthemen in allen (!) Fächern ausgewählt werden, die
„Fremdenangst“ und „Angst der Fremden“ zum Inhalt haben sowie zur „Entwicklung einer
argumentativen Streitkultur über soziale und ‚moralische’ Themen“ (ebd.) fördern.
6.3 Strategien der Gewaltprävention
Strategien zur Vorbeugung von Gewalt beziehen sich einerseits auf die Schule als Institution,
deren „Qualität“ als ein Faktor bei der Entstehung von Aggression und Gewalt gilt (6.3.1).
Andererseits müssen gewaltpräventive Strategien die Lebenswelt von Kindern und
Jugendlichen einbeziehen, wobei die Schule nur ein Aspekt davon ist (6.3.2).
6.3.1 Schulqualität und Gewaltprävention
Es von großem Interesse, wie in Schulen Gewalt vorgebeugt werden kann. Da Struktur,
Kultur und Klima der Institution Schule nachweisbar zum Auftreten von Stressreaktionen und
Gewalt an der Schule beitragen (Edelstein & 2001, S. 45; Hurrelmann 1994, S. 118), gilt –
neben Eltern- und Jugendarbeit – die allgemeine Verbesserung von Schulqualität als eine
Strategie zur Stress- und Gewaltprävention. Ein Aspekt dieser Schulqualität sind ebenso die
Lehrkräfte, da sie potentiell aggressives Verhalten mitverursachen, insofern sie „ihre Schüler
beschämen und abwerten und ggf. auch Aggressionen gegen sie entwickeln“. (Edelstein &
2001, S. 45) Lehrkräfte können also selbst aggressivem Verhalten vorbeugen, indem sie
SchülerInnen mit Respekt und Anerkennung begegnen.
Dass die „soziale und pädagogisch-interaktionale Schulqualität“ (Edelstein & Fauser 2001, S.
45) eine „verallgemeinerbare gewaltpräventive Funktion“ (ebd.) hat, zeigen Schulen, die
„weitgehend frei von Gewalterscheinungen“ (ebd.) sind, insofern in ihnen eine „eine
schülerfreundliche Didaktik, ein soziales Klima und demokratische Interaktionsnormen“ (ebd.)
gepflegt werden. Dennoch sind für Gewalt manche Schularten anfälliger als andere und
„innerhalb der Schulformen [bestehen] große Unterschiede zwischen einzelnen Schulen“.
(ebd.; vgl. Fauser 1996; Melzer 2000; Frindte/Neumann 2001)
59

Gerade bei der Qualitätsentwicklung von Schulen – als „einer der wichtigsten Ansätze der
Gewaltprävention“ (Edelstein & Fauser 2001, S. 46) – setzt das Modellversuchsprogramm
„Demokratie lernen und leben“ an. Dabei sollen die „allgemeinen Qualitätskriterien von
Schulen“ (ebd., S. 45) entwickelt werden, das heißt eine „schülerzentrierte Didaktik, die
Einbeziehung von Schülern in die Organisation von Unterricht und Schule (Partizipation), die
Gestaltung des Schullebens, außerunterrichtliche Angebote usw.“ (ebd.) Eine derartige
Schulkultur trage nicht nur zur Minderung von Gewalt bei, sondern steigert außerdem „das
Selbstvertrauen der Schüler“ (ebd., S. 46) und mehrt ihre Leistungen. Die Strategie des
Modellversuchsprogramms zielt einerseits „auf Optimierung der Schulqualität im Bereich von
Unterricht und Schule insgesamt“ (ebd.). Allerdings ist es andererseits erforderlich,
„opferbezogene Maßnahmen und Maßnahmen, die auf Verbesserung der Kommunikation
gerichtet sind“ (ebd.), einzubeziehen, das heißt Maßnahmen „auf der Individual- und
Klassenebene“ (ebd.).
Strategien für für die Gewaltbekämpfung und Konfliktbewältigung an Schulen „sind
unterschiedlich weitreichende Formen der Konfliktmediation bzw. der
Streitschlichtung“ (Edelstein & Fauser 2001, S. 47). Bedeutsam hierbei ist das Konzept der
Peer Mediation, „bei dem Schüler als neutrale Dritte ihren Mitschülern helfen, sich bei der
Regelung interpersoneller Konflikte selbst zu helfen.“ (ebd.) Diese Ansatz strebt „gewaltfreie
und interessenbezogene Konfliktregelung und die Übernahme der Verantwortung für das
eigene Tun“ (ebd.) an. Zugrunde liegt das Prinzip des „Win-Win“, das heißt „beide bzw. alle
Beteiligten gewinnen, keiner verliert“ (ebd.). Dies „entspricht der Zielsetzung einer
demokratisch-multikulturellen Schule, die eine positive Veränderung der Beziehung der
Konfliktpartner durch Überwindung des Freund-Feind-Denkens beabsichtigt.“ (ebd.)
Da es aber auch viele Einzelschulen gibt, „deren Gewaltprobleme mit den üblichen
Sozialisationsarrangements der Schule nicht zu bewältigen sind“ (Edelstein & Fauser 2001, S.
46) – insbesondere Schulen in Ostdeutschland sowie in soziale Brennpunkten in West und Ost
–, müssen „Unterstützungsnetzwerke mit einer Kooperation zwischen Elternhaus, Schule und
Jugendhilfe gefunden und konkrete Konzepte der Schulsozialarbeit verwirklicht
werden.“ (ebd.)
60

6.3.2 Ganzheitliche Strategien der Gewaltprävention
Da eine komplexe Ursachenstruktur für Gewalt in der Schule besteht – auch die Familie, der
Medienkonsum und Einflüsse von Gleichaltrigen sind bedeutsam –, können sich „präventive
Strategien nur auf die Einzelschule beziehen“ (Edelstein & Fauser 2001, S. 16). Dabei gilt es,
die spezifischen Bedingungen einer Schule, das heißt „ihrer Schüler-, Lehrer- und
Elternschaft, des Stadtteils und des Umfelds, in dem eine Schule sich befindet“ (ebd.) zu
berücksichtigen. Erfolgversprechend sind hierbei „Projekte der Elternarbeit […], die zu
kritischer Medienreflexion führen“ (ebd.) sowie „Maßnahmen im Bereich der Sozialökologie
der Schule und der Jugendarbeit“ (ebd.). Ferner „muss Gewaltprävention geschlechts- und
altersspezifische Bedingungen berücksichtigen und die Strategien gezielt nach Tätern und
Opfern differenziert einsetzen.“ (ebd.)
Anknüpfungspunkte für die Förderung kritischer Medienreflexion oder
„Medienkompetenz“ bieten medienpädagogische Projekte in und außerhalb der Schule. (vgl.
Baacke 1973, 1997, 1999; Bertelsmann-Stifung 2001; Fritz/Sting/Vollbrecht 2003;
Hiegemann & Swoboda 1994; Hüther/Schorb/Brehm-Klotz 2005; Kron & Sofos 2003; Maier
1998, 2001; Maier/Mikat/Zeitter 1997; Moser 1995; Schäfer & Hille 2000; Schell 1989;
Schell/Stolzenburg/Theunert 1999; Schill/Tulodziecki/Wagner 1992; Tulodziecki 1995)
6.4 Demokratie als pädagogisches und politisches Prinzip
Dem Modellversuchsprogramm „Demokratie lernen und leben“ liegt die Auffassung
zugrunde, dass Gewalt und Demokratie „einander entgegenstehende Prinzipien menschlichen
Zusammenlebens“ (Edelstein & Fauser 2001, S. 18) sind. „Demokratie“ ist
umgangssprachlich ein politischer Begriff, der die Qualität gesellschaftlicher Ordnung
(Demokratie als Gesellschaftsform) sowie staatlicher Ordnung und Verfassung (Demokratie
als Regierungsform) beschreibt, insofern diese „am Anspruch humaner Verhältnisse“ (ebd.)
gemessen werden und Gewaltverzicht einfordern. (zu Demokratietheorien vgl. Massing 2003;
Schmidt 1997; Saage 2005)
„Demokratie“ kann danaben aber auch als eine Lebensform oder eine „Qualität des gelebten
Alltags“ (Edelstein & Fauser 2001, S. 18) begriffen werden. Somit ist „Demokratie“ auch von
pädagogischer Bedeutung, eine Aufgabe und ein Kriterium für die Qualität des gelebten
Schulalltags zugleich.
61

Die Forderungen nach „Demokratie in der Schule“ bzw. einer „Demokratisierung der
Schule“ wird jedoch nicht erst heute formuliert. Bereits im Rahmen der von den US-
Amerikanern getragenen Umerziehung (Re-Education) in Deutschland nach dem Zweiten
Weltkrieg wird die „Erziehung zur Demokratie als Lebensform“ (Kuhn/Massing 1990) als
Ziel politischer Bildung formuliert. Weiterhin sei auch auf ein breites Spektrum von
„Ansätzen, Begründungen und Zielsetzungen der Demokratisierung von Schule“ (Roth 1977,
S. 9) verwiesen. Hierzu zählen „Forderungen nach Demokratisierung aller gesellschaftlichen
Bereiche“ (ebd.), also auch der Schule (gesellschaftlicher Demokratisierungs-Ansatz). Eine
„Demokratisierung der Schule“, das heißt Stärkung der „Demokratie in der Schule“ setzt
dabei auf eine Fortsetzung einer sozialen Bewegung, die Aufklärung (Autonomisierung und
Selbstbestimmung) und Emanzipation (der Befreiung aus autoritären, bevormundenden
Strukturen) zum Ziel hat (emanzipatorischer Ansatz). Schulen und LehrerInnen müssten sich
zunächst ihrer autoriären Strukturen, Verfahrens- und Verhaltensweisen bewusst werden,
diese an „demokratischen“ Maßstäben messen lassen und schließlich versuchen,
Mitbestimmungsmöglichkeiten ihrer SchülerInnen auszuweiten (antiautoritärer und
partizipatorischer Ansatz). (vgl. auch Wilhelm 1970; Baacke/Brücher 1982;
Palentien/Hurrelmann 2003; zu „Demokratisierung“ vgl. von Alemann 1981)
Beispiele einer formalen „demokratischen Praxis“ sind Modelle der Mitverwaltung,
Mitbestimmung und Mitverantwortung von SchülerInnen in der Schule. Allerdings ist kritisch
zu hinterfragen, wie solche Mitwirkungsrechte von SchülerInnen beispielsweise in
entsprechende Unterrichtsmodelle umgesetzt werden bzw. „ergänzende“ Schulordnungen in
Ergänzungen zur allgemeinene Schulordnung von SchülerInnen erstellt und geändert werden
können. (vgl. Junk/Hagner 1972)
6.4.1 Demokratie lernen durch Erfahrung von Demokratie
„Demokratie“ stellt sich zwar in unterschiedlichen Formen dar, gilt aber auch als „eine
historische Errungenschaft, deren Erhalt und Entwicklung […] sich nicht von selbst ergibt,
sondern von dem Wissen, den Überzeugungen und der Bildung aller abhängt.“ Deshalb muss
„Demokratie“ gelernt werden – und zwar durch Erfahrung. (Edelstein & Fauser 2001, S. 18)
„Demokratie wird erfahren durch die Verbindung von Zugehörigkeit, Mitwirkung, Anerkennung und
Verantwortung. Diese Erfahrung bildet eine Voraussetzung dafür, dass Alternativen zur Gewalt
wahrgenommen und gewählt werden können. Von dieser Erfahrung hängt zudem die Fähigkeit ab,
Zugehörigkeit zu anderen und Abgrenzung von anderen als demokratische Grundsituation verstehen zu
62

können und sie nicht mit blinder Gefolgschaft, mit Abwertung Anderer und mit Fremdenfeindlichkeit
zu beantworten. Entsprechend bilden demokratische Verhältnisse auf den verschiedenen Ebenen des
Umgangs und der Institutionen innerhalb und außerhalb der Schule die wichtigste, die grundlegende
Vorkehrung gegen Gewalt. Gewalt und rechtsextreme oder fremdenfeindliche Tendenzen bei
Jugendlichen sind stets auch Folge fehlender Erfahrung der Zugehörigkeit, mangelnder Anerkennung
und ungenügender Aufklärung.“ (Edelstein & Fauser 2001, S. 18)
6.4.2 Erfahrene Demokratie als Antwort auf Verdrossenheit und Entfremdung sowie als
Voraussetzung für Engagement
Die „Erfahrung demokratischer Verhältnisse im Nahbereich, in Familie, Schule, Verein oder
Betrieb“ (Edelstein & Fauser 2001, S. 19) ist nicht nur eine „Vorkehrung gegen
Gewalt“ (ebd.), sondern bildet auch „eine Voraussetzung für Interesse und Bereitschaft zu
demokratischem Engagement auch im Verhältnis zu Gesellschaft und Staat“. (ebd.)
In diesem Zusammenhang steht die Vermutung, dass sowohl die Verdrossenheit gegenüber
Schule als auch die Verdrossenheit gegenüber dem politischen System darauf zurückzuführen
sind, dass (gelebte) Demokratie nur wenig erfahren wird oder werden kann, nicht in der
Schule und nicht in der politischen Kultur.
Zwar ist die Schule formell beauftragt, „demokratische Verhältnisse oder
Loyalität“ (Edelstein & Fauser 2001, S. 19) durch die Organisation „demokratiekonstitutiver
Bildungsprozesse“ (ebd.) zu sichern bzw. herbeizuführen. Allerdings „muss sie zu allererst
selber demokratische Verhältnisse als Erfahrung bieten – Erfahrungslernen der Demokratie
als Lebensform möglich machen.“ (ebd.) Wenngleich die formale Struktur der Institution
Schule auch „anderen Imperativen genügen muss als dem Erlernen der Demokratie“ (ebd.),
muss Schule unabhängig davon „den wesentlichen formalen Normen einer demokratischen
Ordnung genügen: der institutionell zwar kontrafaktischen, interaktional aber realen
Gleichheitsunterstellung, dem Achtungsgebot, dem Demütigungsverbot, dem
Reziprozitätsprinzip und dem Fürsorgeprinzip.“ (ebd.) Für die „Struktur des schulischen
Alltags, das pädagogische Leben und die didaktischen Prozesse in der Schule“ (ebd.) hat die
Geltung dieser Normen Konsequenzen.
Da das Lernen von Demokratie insbesondere an die „Erfahrung demokratischer
Verhältnisse“ (ebd.) gebunden ist, bedeutet dies für die Schule, „die konstitutiven Prinzipien
des sozialen Zusammenlebens im Modus der Demokratie – Gleichheit, Würde der Person,
63

Anerkennung – als regulative Prinzipien durchzusetzen.“ (ebd., S. 20) Durch solche
„schulspezifischen Gestaltungsimperative und die funktionalen Leistungen ihres
Aufgabenspektrums (Unterricht, Erziehung, Schulleben ...)“ (ebd.) kann die Schule dazu
beitragen, „demokratie-verleugnende und demokratie-destruktive Bedingungen der
Jugendkultur“ (ebd.) zu bekämpfen. Leitidee für Demokratie als „allgemeine Praxis des
Zusammenlebens in der Schule“ (ebd.) ist dabei, „den Beteiligten und Betroffenen eine
(alternative) Erfahrung zur Verfügung“ (ebd.) zu stellen, „die zugleich reale und normative
Grundlagen für ein demokratisch geführtes Leben vermittelt.“ (ebd.) In der Schule kann sich
diese „Einheit der realen Erfahrung mit der normativen Praxis […] zu einem
verständnisintensiven Lernen der Demokratie als Lebensform und als Theorie
verbinden.“ (ebd.) Dieser Auffassung folgend, ist das Gelingen der Vermittlung von
Demokratie in der Schule, das heißt der „Erwerb intelligenten Wissens und kritischer
Urteilsfähigkeit“ (Edelstein & Fauser 2001, S. 71) gebunden an eine „demokratische Kultur
der Schule“ (ebd.). Eine solche demokratische Schulkultur ist gekennzeichnet durch „Fairness
der Beurteilung“, „Qualität des Umgangs im gelebten Alltag“ (Demokratie als Lebensform)
sowie „demokratische Relevanz und Funktionstüchtigkeit der Schulverfassung“ (ebd.).
Es ist jedoch nicht allein die Entwicklung einer demokratischen Schulkultur, mit der die
Vermittlung gelingen kann. Angesichts des „unverbundenen Nebeneinanders von
Fachunterricht, gelegentlichen Projekten und Gremienarbeit (die zudem häufig als wenig
sinnvoll erlebt wird)“ (ebd.), wird „Demokratie in pädagogisch umfassender Perspektive
sowohl zur Aufgabe einzelner Handlungsbereiche als auch zur Gesamtaufgabe der
Schule“ (ebd.). Hier setzt das Modellversuchsprogramm „Demokratie lernen und leben“ an
und versteht sich als ein „Programm der systematischen institutionellen und professionellen
Innovation“. (ebd.)
Es bleibt offen, ob die hier angesprochenen Reformbemühungen (zumindest in Teilbereichen)
ermöglichen, aus der Lehrer- eine Schüler-Schule zu machen, in der die Selbstbestimmung
durch die SchülerInnen über der Funktionsbestimmung durch die Schule steht. Immerhin
liefen viele „staatlich initiierte Reformversuche des Schulwesens in der
Bundesrepublik“ (Schäfers 2001, S. 116) in der Vergangenheit darauf hinaus,
„problematische Trends der Gegenwartsgesellschaft (unfreiwillig) zu verstärken:
Zentralisierung und Anonymisierung, Bürokratisierung und Verrechtlichung, Einschränkung
von Handlungskompetenzen der ‚vor Ort’ Handelnden, also vor allem der Pädagogen,
64

Pseudo-Demokratisierung in Bereichen der Eltern- und Schüler-Mitbestimmung.“ (ebd., S.
117)
6.4.3 Projekte als „demokratiepädagogisch wirksame Vorhaben“ und Beitrag zur
Individualisierung des Lernens
Das Desinteresse an Politik und Verdrossenheit ihr gegenüber ist eine überwiegende Haltung
bei Jugendlichen (in ganz Europa). Im Gegensatz zur Politik, engagieren sich jedoch
Jugendliche viel ausgeprägter an Projekten zu politischen Themen und Sachproblemen in der
eigenen Lebenswelt. „Teilnahme an einem Projekt macht es zum eigenen Projekt.“ (Edelstein
& Fauser 2001, S. 34; vgl. z. B. den Wettbewerb „Demokratisch Handeln“ der Theodor-
Heuss-Stiftung oder den Wettbewerb „Jugend übernimmt Verantwortung“ der Stiftung
Brandenburger Tor; zu lebensweltorientierten Projekten politischer Bildung vgl. Kern &
Waldmann 2000)
Projekte bieten sich auch im schulischen Leben als „partizipative Formen“ (Edelstein &
Fauser 2001, S. 25) an. In ihnen können die „formalen Normen einer demokratischen
Ordnung“ (ebd., S. 19) zum Tragen kommen, das heißt Gleichheit, Würde der Person und
Anerkennung. So ermöglichen Projekte SchülerInnen „reale Erfahrungen mit der normativen
Praxis“ (ebd., S. 36) zu machen, zum Beispiel was es heißt „Spielregeln“ anzuerkennen.
Besonders bei politischen Themen können „innovative Unterrichtsprojekte“ die
Selbständigkeit und Eigenarbeit von SchülerInnen in Bezug auf ihre politische Situation und
die eigenen Interessenlagen in den Vordergrund stellen. Belehrungen über Politik sollten
gleichzeitig in den Hintergrund treten. SchülerInnen können mit Projekten Möglichkeiten
geboten werden, „nach Mitteln und Wegen zu suchen, die politische Lage im Sinne der
eigenen Interessen zu beeinflussen.“ (ebd., S. 29)
In den Prinzipien Selbständigkeit, Eigenarbeit für die Suche nach Mitteln und Wegen zur
Beeinflussung der Lage überhaupt (nicht nur politischen) „im Sinne der eigenen
Interessen“ (Edelstein & Fauser 2001, S. 29) liegt auch das Potential, eine Individualisierung
„des Lernens und der Gestaltung von Lernsituationen“ (Brater 1997, S. 159) zu realisieren. Es
stellt sich allerdings die Frage, inwiefern SchülerInnen tatsächlich Mitbestimmungsrechte bei
der Entscheidung über Inhalte und Themen zugebilligt werden, da LehrerInnen die Interessen
der SchülerInnen mit Lehrplanvorgaben abgleichen müssen.
65

Das Ziel, „handlungsbezogene und praxistaugliche Kompetenzen“ (Edelstein & Fauser 2001,
S. 29) aufzubauen, „mit denen Jugendliche auf der Ebene elementarer politischer
Gemeinschaften“ etwas „anfangen“ können (ebd.), das heißt in der Gruppe der Gleichaltrigen,
in der Schule und in der Gemeinde, hat Konsequenzen für die Gestaltung von
Unterrichtsvorhaben. Für den Aufbau „handlungsbezogener und praxistauglicher
Kompetenzen“ (ebd.) oder „Umsetzungsfähigkeit“ (Brater 1997, S. 156) ist „ein auf
verständnisintensives Lernen orientierter Unterricht“ (Edelstein & Fauser 2001, S. 29)
notwendig, das heißt eine „Abkehr von einem auf deklaratives Fakten- und Systemwissen
angelegten Vorratswissen zugunsten von intentionalem, handlungsorientiertem und
anwendungsbereitem Wissen.“ (ebd.) In der Verbindung mit Sinnerfahrung liegt der
„Transferwert“ der genannten Komeptenzen „für das spätere Leben und für größere politische
Systeme“. (ebd.)
Die Aufgabe und das Ziel, „Motivation zu wecken, die ihrerseits Niederschlag in
partizipativem, soziomoralischem und demokratischem Engagement finden kann“ (ebd.), setzt
auch voraus, „für viele Schüler abstrakte und realitätsferne Darstellung politischer
Sachverhalte in Formen sprachlicher, ikonischer und aktionaler Repräsentation
(Bruner)“ (ebd.) in „entwicklungsangemessene Repräsentationsformen“ (ebd.) zu übertragen.
Weiterhin müssen sich solche Unterrichtsvorhaben an drei „Kernelementen einer
Demokratiedidaktik“ (ebd.) orientieren: Erstens sollen die Unterrichtsvorhaben „zur Stärkung
und Differenzierung politischer Urteilsbildung beitragen – begleitend zu und vernetzt mit
handlungsorientierten Projekten“ (ebd.). Zweitens sollen sie „Demokratie in ihren
Ambivalenzen und Spannungen erfahrbar machen.“ (ebd., S. 30) Was Martin Wagenschein
als „Konzept des genetischen Lernens […] für den naturwissenschaftlichen Unterricht“ (ebd.)
formulierte, „sollte für eine genetische und fallorientierte Demokratiedidaktik formuliert
werden.“ (ebd.) Schließlich sollen drittens Unterrichtsvorhaben „die Selbstwirksamkeit der
Schüler fördern, indem sie ihnen metakognitive Evaluationsinstrumente (Erkenntnisse über
die eigenen Lernprozesse und die eigenen Wege zu demokratischem Engagement) zur
Verfügung stellen.“ (ebd.) Dies können in Anknüpfung an den Kernprozess politischer
Bildung „kategoriale Netzwerke sein, die Begriffe für die Urteilsbildung bereitstellen.“ (ebd.)
Beispiele für „demokratiepädagogisch wirksame Vorhaben“ (ebd.), in denen „Gegenstände
des fachlichen Lernens“ (ebd.) im Mittelpunkt stehen, sind
66

- das Projekt „Wählen mit 16“, in dem SchülerInnen das „Verhalten der
Jungwählerschaft in ihrem Stadtteil eine Studie zur Wahlforschung“ (ebd.)
untersuchen;
- das Projekt „Bewegte Geschichte“, bei dem Studienfahrten nach Auschwitz um die
Arbeit am Themenkreis „Widerstand im Konzentrationslager“ erweitert werden,
SchülerInnen „ein Theaterstück mit Szenen aus dem Häftlingsleben im KZ
Buchenwald und eine Ausstellung“ (ebd.) erarbeiten, während sie parallel dazu eine
Video- und eine Fotodokumentation produzieren in Kooperation mit verschiedenen
Projektgruppen; sowie
- das Projekt „Biologie-AG“, bei dem die Themenbereiche „Biologie/Ökologie“,
Fachbereich „Geschichte“ sowie „städtische Behörden und Partnerschulen in Polen,
Holland, Ungarn und Russland“ (ebd.) kooperieren.
Unterrichtsvorhaben in Form von Projekten können außer auf „Gegenstände des fachlichen
Lernens“ (Edelstein & Fauser 2001, S. 34) auch auf „Handlungsziele oder Handlungsformen,
Aufgaben und Probleme“ (ebd.) fokussieren sowie „das Schulleben bestimmende
Funktion“ (ebd.) haben. Da hierbei der Handlungsansatzes zugrund liegt, sind solche
„Vorhaben gleichsam an sich politisch, sofern sie sich auf die Mitarbeit an Aufgaben für das
Gemeinwohl richten.“ (ebd.) Durch eigenes Handeln wird ein „Erfahrungskontext“ erzeugt,
„der auf fachlich vielfältige Weise zum Gegenstand des unterrichtlichen Lernens und
Wissenserwerbs wird.“ (ebd.) Praktischem Lernen ermöglicht auf dies Weise wowohl „den
Erwerb von Handlungskompetenz“ als auch „den Aufbau kognitiver Strukturen auf der Basis
von Handeln und Erfahrung“. (ebd.)
Es seien wieder drei Beispiele für Unterrichtsvorhaben genannt. Diese haben solidarische
Hilfe, „forschendes Erkunden eines ganzheitlichen Erfahrungsraumes“ (ebd., S. 34) sowie
„ökologisch orientiertes Handeln und Gestalten und die Übernahme von
Verantwortung“ (ebd.) als tragendes Thema.
- In der AG „Fairständnis“ erwirtschaften Jugendlichen – im Rahmen einer
Schülerpartnerschaft mit einer Schule in San Salvador – Spendengelder und leisten
Aufklärungsarbeit (ebd., S. 33);
- Im Projekt „Tour de Deich“ arbeiten SchülerInnen aus drei Schulen in Polen und
Deutschland „gemeinsam ein Jahr an einem Projekt zur Erkundung der
Oderregion“ und setzen sich „intensiv mit historischen, geografischen und
touristischen Aspekten“ auseinander.
67

- Im Projekt „Agenda von unten“ arbeien Kinder langfristig „an der Ausgestaltung des
Ökoparks ihrer Schule“ (ebd.), was mit dem umwelterzieherischen Ziel einhergeht, ein
„Bewusstsein für Bewahrung und Pflege der natürlichen Umwelt und die Bereitschaft,
sich aktiv für die Bewahrung der Umwelt in ihrer Umgebung einzusetzen“ (ebd.).
6.4.4 Partizipationsformen mit realem Einfluss
Zwar werden formell – im Rahmen der Schulverfassung – Möglichkeiten schulischen
Mitbestimmung eingeräumt. Jedoch sind die „üblichen Modalitäten“ dabei wenig
„demokratiepädagogisch“ wirksam, „weil sie als formale Partizipation an
Verwaltungsentscheidungen kaum substantiellen Einfluss auf die Gestaltung der
Schulwirklichkeit nehmen können.“ (Edelstein & Fauser 2001, S. 34; vgl. die Kritik bei Knab
1987) Deshalb ist es wichtig, „Partizipationsformen mit realem Einfluss auf die
Lebenswirklichkeit, auf die Kultur einer Schule“ (Edelstein & Fauser 2001, S. 34) zu
entwickeln, um die „Schule zu einer aktiven Gemeinschaft“ (ebd.) zu gestalten. Diese
Absichten werden durch „eine bloß quantitative Erweiterung der formalen
Schülermitbestimmung (SV) bzw. Schülerrepräsentation in den Gremien einer Schule“ (ebd.,
S. 35) jedoch nicht erfüllt. Entscheidend ist, „reale Mitbestimmung einzuräumen und im
Rahmen mikropolitischer Prozesse, im Schutz zu entwickelnder Regeln und Prozeduren und
nach Maßgabe von Entwicklungsalter und Funktionsverständnis der Inhaber von
Teilhaberechten Macht abzugeben bzw. zu verteilen.“ (ebd.) Ziel soll es dabei sein, „für die
einzelne Schule eine republikanische Verfassung zu entwickeln.“ (ebd.) Ein zweifellos „stets
zeit- und energieaufwendiger Versuch“ (ebd.)
Da zu den Beteiligten an der Schule nicht nur SchülerInnen zählen, geht es bei der
„Entwicklung von Partizipationsformen mit realem Einfluss auf die Lebenswelt Schule“ (ebd.,
S. 35) nicht nur „um Formen der Teilhabe für Schüler“ (ebd.). Erst durch „die funktionale und
aktive Teilhabe aller Akteure im Handlungsfeld der Schule“ (ebd.) gewinnt diese „an
politischer Tiefe und erfahrungsprägender Kraft.“ (ebd.)
Eine derartige Entwicklung der Schulorganisation zielt allerdings nicht darauf „einzelne
gelungene oder attraktive Modelle partizipatorischer Mitbestimmung zu kanonisieren“ (ebd.,
S. 34), sondern darauf, „eine Vielfalt funktional zweckmäßiger Formen der Teilhabe an
Gestaltungsmacht und Mitsprache der an der Schule Beteiligten auf allen Ebenen schulischer
Praxis und institutioneller Organisation zu ‚erfinden’ und zu fördern.“ (ebd., S. 34f.) So
68

„erscheint es wichtig, an Schulen jeweils individuell und institutionell angemessene und spezifische
Kooperations- und Mitgestaltungsformen auszuhandeln, die es Schülern, Lehrern, Eltern und ggf.
anderen zivilgesellschaftlich oder kommunal ausgewiesenen Akteuren erlaubt, sich die Schule
gemeinsam ‚anzueignen’, diese im emphatischen Sinn zu ‚ihrer Schule’ und Schule damit zu einem
kommunalen und zivilgesellschaftlichen Mittelpunkt gemeinsamer Gestaltung und Verantwortung
werden zu lassen.“ (Edelstein & Fauser 2001, S. 34f.)
Für eine „‚konstitutionellen Praxis’ der Selbst- und Mitverantwortung aller Mitglieder der
Schulgemeinschaft in verschiedenen funktionellen Gliederungen der Schule wie auch in ihrer
Gesamtregelung“ (Edelstein & Fauser 2001, S. 35) gibt es viele verschiedene Formen und
Möglichkeiten. Sie reichen „von der selbstverantworteten (wöchentlichen) Verfügungsstunde
mit gemeinsam ausgehandelten Regeln der Repräsentation, Leitung, Diskussion,
Beschlussfassung, Beschlussüberwachung, Weiterleitung an andere oder höhere Gremien, bis
zur Vertretung bzw. Beteiligung an weiteren Gremien und Regelungen der Kooperation mit
ihnen.“ (ebd.) Partizipatorische Regelungen bleiben jedoch nicht bei der Klassenstunde oder
der Jahrgangsversammlung stehen. Darüber hinaus können sie „die funktionale Gliederungen
der Schule (Stufen, Schulzweige) vertreten, verzahnen und umfassen, Schulparlamente oder
Konferenzbeteiligungen begründen“ (ebd.). Auch die Begründung „Just Communities“, das
heißt schuldemokratische Gemeinschaften im Sinne von Lawrence Kohlberg, können
motiviert werden. (vgl. Oser/Althof 1992; 2001) Auch an „Runden Tischen“ könnten einzelne
Probleme oder Konflikte verhandelt, die „Mitbestimmung in einzelnen Gruppen, Klassen oder
Jahrgängen“ (Edelstein & Fauser 2001, S. 35) reguliert oder das gesamte Schulleben geregelt
werden. Schließlich könnte eine „Schulrepublik“ parlamentarisch oder nach dem Modell der
direkten Demokratie organisiert werden. Entscheidend ist „stets die funktionale Bedeutung,
die reale Beteiligung am Leben und der Regelung der Institution.“ (ebd.)
Die formalen Prozeduren, Regeln und Konstitutionen, die dafür entwickeltet und von den
Beteiligten ausgehandelt werden, „sind bedeutsame Elemente einer rationalen Kultur, sofern
sie dazu dienen und regelhaft dazu gebraucht werden, Interessen zur Artikulation und
Interessendifferenzen zur Aushandlung gelangen zu lassen.“ (Edelstein & Fauser 2001, S. 35)
Damit leisten sie einen Beitrag, „ein zugleich politisches und demokratisches Leben in der
Institution diskursiv zu begründen, zu klären und zu verankern.“ (ebd.) Deshalb sind sie
„wesentlich für die institutionelle Verfassung, das ‚Klima’, die Atmosphäre“ (ebd.) der
Schule, in der dann „demokratische Prozesse mit Sinn, nämlich Erfahrungssinn, gefüllt und
69

demokratische ‚Tugenden’ als zivile und moralische Leistungen mit Handlungssinn
ausgestattet, zugleich funktional und ‚exemplarisch’ sein können.“ (ebd., S. 35f.)
6.5 Lehrer(fort)bildung
Der herkömmlichen Schule könnte „die zukunftsorientierte Wendung in Richtung einer
‚Vorbereitung auf das Leben’ gelingen“ (Brater 1997, S. 162), wenn „drei zentrale
methodische Voraussetzungen“ (ebd.) erfüllt seien. Die erste methodische Voraussetzung
bezieht sich auf die formale Pädagogik, wobei der Stoff „vom Lernziel zum Lernanlaß
werden“ (ebd., S. 162f.) muss. Im Hinblick auf handlungsorientiertes, entdeckendes Lernen
ist die zweite methodische Voraussetzung, dass Lernen „vom passiven Rezipieren zum
selbständigen Erproben und Entdecken werden“ (ebd., S. 163) muss. Die dritte methodische
Voraussetzung ist, drittens, das Lernen in Echtsituationen. Das heißt „Lernen darf nicht in
kognitiven Sondersituationen stattfinden, sondern es muß in möglichst lebensnahen,
lebensechten Handlungsituationen als selbstverständliches (‚natürliches’) Moment des
Handelns sich vollziehen“ (ebd.; vgl. ebd., S. 163-174).
Es erscheint plausibel, dass diese drei methodischen Voraussetzungen im Zusammenhang mit
demokratischen Prinzipien in der Schule erfüllt werden können, um eine Individualisierung
von Lernen und Lerngestaltung zu realisieren und um Handlungskompetenzen, auch im
Hinblick auf zivilgesellschaftliches bzw. politisches Engagement, aufzubauen.
Die Durchführung von Unterrichtsvorhaben in der beschriebenen Weise steht und fällt mit der
jeweiligen Lehrkraft. Deshalb setzt das Modellversuchsprogramm „Demokratie lernen und
leben“ bei der LehrerInnen(fort)bildung an, die „auch Mittel der Evaluierung
bereichsspezifischer Entwicklungsfortschritte des Verstehens und des Urteils“ (Edelstein &
Fauser 2001, S. 30) zur Verfügung stellen muss. Im einzelnen geht es um
„programmspezifische Bereiche professioneller Kompetenzerweiterung“ (ebd., S. 56), die
nicht nur Projektdidaktik umfassen, sondern auch Kompetenzen von LehrerInnen zur
„Förderung der Selbstwirksamkeitsüberzeugungen, der intrinsischen Motivation und der
sozialen Kompetenz der Schüler“ (ebd., S. 57), zur Förderung der sozialkognitiven und
soziomoralischen Entwicklung, zur Förderung „demokratischer Tugenden“ (ebd., 58), zum
„Training von Zivilcourage“ (ebd., S. 60), zum „Interkulturellen Lernen“ (ebd., S. 62), zur
„Gewaltprävention und -intervention, Konfliktbearbeitung, Mediation“ (ebd., S. 64).
Wesentlich sind auch „Methoden und Elemente einer ‚Erziehung für die Zivilgesellschaft’
70

(Civic Education)“ (ebd., S. 65), das heißt konkret „Kooperatives Lernen“ (ebd.),
„Demokratisches Sprechen“ (ebd.), „Leadership Training” (ebd.) und “Service-Lernen in
Projekten” (ebd.).
Für eine „umfassende Lehrerqualifikation“ (Melzer & Al-Diban 2001, S. 44) gehören nicht
nur „hervorragende Fachkenntnisse“ (ebd.) und Wissen über unterschiedliche Lehrmethoden,
sondern ebenfalls „die Handlungskompetenz, unterschiedliche Lehrmethoden auch
angemessen und souverän einzusetzen, sowie die Fähigkeit, Schüler zu integrieren und
individuell zu fördern.“ (ebd.) Es geht einerseits um eine problembezogene und
situationsadäquate Anwendung der für den Sozial- und Selbstkompetenzbereich
erforderlichen Präventions- und Interventionsprogramme. (vgl. Holtappels / Heitmeyer /
Melzer / Tillmann 1999) Andererseits sollten LehrerInnen fähig sein, „immer wieder
sinnstiftende Bezüge zwischen dem Unterrichtsstoff und der gesellschaftlichen Realität
herstellen zu können“ (Melzer & Al-Diban 2001, S. 44), beispielsweise durch
fächerübergreifende Themenstellungen oder Projekte.
Die Qualität einer Schule steht und fällt mit den LehrerInnen. Obwohl es LehrerInnen
„oftmals am Handwerkszeug und an durchdachter Erfahrung fehlt, um einen anspruchsvollen,
lernförderlichen Unterricht zu gestalten“ (Baumert & Lange 2006), zögere die Politik die
Reform der Lehrerausbildung anzugehen. Zudem herrsche in der Lehrerausbildung „ein
großes Durcheinander“ (ebd.) als Ergebnis unterschiedlicher Reformansprüche an
Lehramtsstudiengänge seitens der Kultusministerien (praxisnähere Ausbildung) und
Wissenschaftsministern (Neugestaltung mit dem Bachelor- und Masterschema). Man wisse zu
wenig darüber, „welche Form der Lehrerausbildung die beste ist“ (ebd.). Auch bildeten „gut
ausgebildete Lehrer von den Universitäten […] an der Schule zunächst immer die
Minderheit“. Die die Standards werden aber von der Mehrheit gesetzt. Eine „Wende zu
besserem Unterricht“ (ebd.) hängt entsprechend davon ab, „wie man die jetzigen Lehrer dafür
gewinnt und qualifiziert.“ (ebd.) Immerhin seien LehrerInnen „bereit, dazuzulernen“ (ebd.).
Die Politik sollte aber auch den LehrerInnen zeigen, „dass die Subjekt und nicht Objekt der
nötigen Veränderungen sind“. (ebd.; zu Lehrersozialisation für bzw. durch den Beruf vgl.
Ulich 2002, S. 392)
71

6.6 Rekurs auf reformpädagogische Ansätze
Die Methoden zur Demokratisierung und Individualisierung von Schule und Lernen müssen
gar nicht neu erfunden werden. Besonders in der Zeit zwischen 1890 bis 1933 bemühten sich
in Deutschland und anderen Ländern verschiedene Pädagogen um eine „theoretische
Fundierung wie praktische Erprobung neuer pädagogischer Ansätze“. (Brater 1997, S. 162)
Brater verweist hier auf einzelne pädagogische Apologien und Versuche, die unter dem
Begriff „reformpädagogische Bewegung“ zusammengefasst werden. Auch wenn den
Akteuren damals das einheitsstiftende Motiv einer Bewegung abging, wird von einer
„pädagogischen Bewegung“ gesprochen, da die Reformansätze und Neurerungsbewegungen
in der Kulturkritik der 1880er einen gemeinsamen Ausgangspunkt haben, „gemeinsame
Motive der Reform“ (Oelkers 1992, S. 15) hatten und aus der Jugendbewegung als „einem
gemeinsamen Fundus von Erfahrungen“ (Oelkers 1992, S. 15) schöpfen. So stammen die
Protagonisten der „reformpädagogischen Bewegungen“ selbst aus der Jugendbewegung.
(Scheibe 1969, S. 37) Jugendbewegung bezeichnet hier jenes „frei sich entfaltendes
Jugendleben in Gruppen und Bünden“ (ebd., S. 39), was sich zuerst in der
Wandervogelbewegung zwischen etwa 1900 und 1933 zeigte. Diese Bewegung betonte die
„Jugend als eine eigene Lebensphase“ (ebd., S. 48), die „eigene Lebens- und
Ausdrucksformen“ (ebd.) beanspruchte. Getragen wuurde die Jugendbewegung vom „Wille
zu einer natürlichen und gesunden Lebensführung“ (ebd., S. 40), etwa durch Wandern und
dem Verzicht auf Alkohol und Nikotin. Beim Wandern waren auch Gesang und Musik von
zentraler Bedeutung. (ebd., S. 45) Wenngleich diese Jugendbewegung sehr vielgestaltig war,
wird Gustav Wynekens „Meißner Formel“, die er auf dem Ersten Freideutschen Jugendtag im
Oktober 1913 auf dem Hohen Meißner verkündete (z. B. in Wilhelm 1970, S. 16-27), als das
gesehen, was die Jugendbewegung war und wollte. (Scheibe 1969, S. 39) Wyneken hob
hierbei besonders auf die eigene Bestimmung und eigene Verantwortung von Jugendlichen ab
und trat für eine aktive Rolle Jugendlicher im öffentlichen Leben und der Kulturarbeit ein.
(ebd., S. 40)
Die Jugendbewegung verstand sich als ein Protest gegen die gesellschaftlichen Ansprüche
Erwachsener und der bürgerlichen Gesellschaft, deren traditioneller Lebensstil als unnatürlich,
unwahrhaft und unecht abgelehnt wurden. (ebs., S. 41) Dem gegenüber suchten Jugendliche
Erlebnisse in der Gemeinschaft, in der sowohl Jungen als auch Mädchen menschliche
Anerkennung spüren durften. (ebd., S. 43) Ein Wille zur Tat motivierte gemeinsame
Unternehmungen wie Grenzlandfahrten, Volkstumsarbeit und Sozialarbeit. (ebd., S. 46)
72

Die „neuen Wertgehalte und Maßstäbe“ (ebd., S. 48), die die Jugendbewegung hervorbrachte,
schlugen sich auch in Zielsetzungen der Erziehungen nieder. Freizeit wurde als ein „neues
pädagogisches Feld“ (ebd., S. 49) erkannt. Neue Formen der Jugendarbeit galten als ein
„neuer pädagogischer Bereich neben der Familie und Schule“ (ebd., S. 48). Es bestand eine
starke Verbindung zwischen Jugendbewegung und Reformschulen, besonders zu
Landerziehungeheimen und freien Schulgemeinden. Sie verstanden sich als
Lebensgemeinschaften, in denen ein partnerschaftliches Lehrer-Schüler-Verhältnis sowie
Wandertage, Schülerfahrten, Spiele, Sportfeste, Landheimaufenthalte, freiwillige
Arbeitsgruppen und Schülermitverantwortung wesentlich waren. (vgl. ebd., S. 49 und S. 111-
137) Die Landerziehungsheimbewegung wirkte auch als praktisches Vorbild für spätere
„Lebensgemeinschaftsschulen“ (ebd., S. 136) in den 1920ern, zum Beispiel dem Jena-Plan
von Peter Petersen freie Waldorfschulen nach Rudolf Steiner. Auch waren „Erfahrungen der
Heimgemeinschaft“ (ebd.) in Schullandheime für „öffentliche Schulen ohne
Heimcharakter“ (ebd.) bedeutsam.
Neben der Jugendbewegung und der „Landerziehungsheimbewegung“ (Protagonisten waren
hierbei Herrmann Lietz, Gustav Wyneken, Kurt Hahn und Paul Geheeb) wurden im Laufe der
Geschichtsschreibung auch andere vereinzelte Ansätze zusammenfassend als
„reformpädagogische Bewegung“ kanonisiert, für eine „Pädagogik vom Kinde aus“ (Ellen
Key, Maria Montessori) Programm war. (vgl. Scheibe 1969, S. 57) Hierzu zählen (nach
Oelkers 1992, S. 15) die „Volkshochschulbewegung“, die
„Kunsterziehungsbewegung“ (Alfred Lichtwark), die „Arbeitsschulbewegung“ (Hugo Gaudig,
Georg Kerschensteiner, Pavel Petrovic Blonskij), die „Einheitsschulsbewegung“ sowie
Berthold Ottos Schulversuch, nach dem verschiedene Generationen in einer
„organischen“ Gemeinschaft leben sollten. (Zum Kanon vgl. Böhm 1974, S. 763; Flitner 1968,
S. 71ff.; zur Darstellung der einzelnen Strömungen vgl. Röhrs 1986; Wagenschein 1991;
Wenzel 1987; Rumpf 1988; Terhart 1989; Blonskij 1973, Wisskirchen 1973, Winkel 1989;
Scheibe 1969; Flitner & Kudritzki 1995)
Es muss kritisch angemerkt werden, dass dieser Kanon zwangsläufig eine Auswahl darstellt
und nur selten hinterfragt, inwiefern die „Reformpädagogik“ die Erziehungswirklichkeit jener
Zeit beeinflusst hat. (Oelkers 1992, S. 15) Weiterhin ist kritisch zu betrachten, dass in der
Jugendbewegung auch das Eliteprinzip ein tragendes Element war. Wer sich um
Führungspositionen bewarb war gezwungen, der „Auffassung und dem gewonnen
Stil“ (Scheibe 1969, S. 43) zu entsprechen. So muss auch deutlich gemacht werden, dass
Elemente der Jugendbewegung auch für die Schul- und Erziehungspolitik der
73

Nationalsozialisten mit deren Machtergreifung 1933 bedeutsam wurden. Im Zuge dessen ging
der ursprüngliche Erziehungscharakter der Jugendbewegung (natürliche und freie Entfaltung)
verloren. Sie wuchs zu einer Massenbewegung an, in der ein Führer-Gefolgschafts-Verhältnis
kennzeichnend war. (ebd., S. 44)
Einige „reformpädagogische“ Schulversuche retteten sich durch die Zeit des Dritten Reiches.
(zu Landerziehungsheimen im Allgemeinen und der Odenwaldschule im Besonderen vgl.
Alphei 2002) Andere wurden nach dem Zweiten Weltkrieg weitergeführt. Insgesamt war aber
vorsichtig und zurückhaltend, was den Rekurs auf die „reformpädagogische
Bewegung“ betraf. In den in den 1960er und 70er Jahren jedoch erfuhren
„reformpädagogische“ Ansätze einen erneuten Aufschwung „in Gestalt alternativer
Schulkonzepte und –gründungen.“ (Brater 1997, S. 162) Dennoch wurden ihre
konzeptionellen und methodischen Anregungen nur wenig ins öffentliche Schulwesen
integriert. (ebd.)
74

7 Bedingungen „demokratischer Sozialisation in der Schule“
Die Entwicklung der Schulorganisation im Rahmen des Modellversuchsprogramm
„Demokratie lernen und leben“ zielt darauf „eine Vielfalt funktional zweckmäßiger Formen
der Teilhabe an Gestaltungsmacht und Mitsprache der an der Schule Beteiligten auf allen
Ebenen schulischer Praxis und institutioneller Organisation zu ‚erfinden’ und zu
fördern.“ (Edelstein & Fauser 2001, S. 34f.)
Es wurde gezeigt, dass Demokratie als ein pädagogisches Prinzip begriffen werden kann und
„Formen der Teilhabe“ eine Stratgie sind, um Aggression, Gewalt, Politikverdrossenheit und
menschenfeindlichen Einstellungen vorzubeugen, sowie soziale Komeptenzen,
Verantwortungsübernahme und Urteilfähigkeit zu stärken. (vgl. 6.4) Ferner sind mit einer
partizipativen Aneignung von Schule Chancen für die Individualisierung von Lernen und dem
Aushandeln gemeinsamer Regeln des Lernens verbunden. Eine derartige „demokratische
Schulkultur“ stellt bestimmte Bedingungen für die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern
und Jugendlichen, unter denen eine „demokratische Sozialisation in der Schule“ möglich wird.
Im folgenden Abschnitt gehen wir der Frage nach, unter welchen schulischen Bedingungen
Kinder und Jugendliche demokratische Werte, Einstellungen und Verhaltensweisen
(demokratische Handlungskompetenzen) entwickeln können, das heißt wie „demokratische
Sozialisation in der Schule“ aussehen kann. Unter der Annahme, dass eine (mehr oder
weniger) gelebte „demokratische Schulkultur“ mit darüber entscheidet, wie sehr die
Sozialisation von Kindern und Jugendlichen hinsichtlich ihrer „demokratischen
Handlungskompetenz“ gelingt, ist zu fragen, was eine solche „demokratische
Schulkultur“ kennzeichnet.
7.1 Fokussierung der Untersuchung
An die Erforschung von Sozialisationsprozessen stellen sich drei Forderungen: Erstens sollten
in der Sozialisationsforschung positivistische (quantitative) Methoden und hermeneutische
(qualitative) Verfahren aufeinander bezogen werden mit dem Ziel,
„objektive“ Umweltanalyse und subjektiver Innenweltanayse miteinander zu verbinden.
Zweitens sollten zur Analyse von Prozessen der Persönlichkeitsentwicklung Informationen
sowohl über Selbsteinschätzung als auch über Fremdeinschätzung gewonnen werden. Drittens
75

sollten Querschnitts- und Längsschnittverfahren im Forschungsdesign intergriert werden, das
heißt einerseits Momentaufnahmen durchgeführt werden, um subjektive Deutungen einer
Situation und ihren Bezug zur Umwelt zu erfassen, und andererseits wiederholt werden, um
Veränderungen auf gesellschaftlicher und personaler Ebene sowie in Korrespondenz
zueinander zu erfassen. (vgl. Hurrelmann 2002, S. 40-45)
Die hier vorliegende Untersuchung zum Phänomen „demokratische Sozialisation in der
Schule“ wird nur annähernd dem ersten Anspruch gerecht. Quantitative Methoden werden auf
qualitative Verfahren bezogen, indem Ergbnisse verschiedener Studien zu schulischer
Sozialisation im Zusammenhang mit den Ergebnissen von Experteninterviews gelesen werden
können. Wie und ob Kinder und Jugendliche in der Schule „demokratisch sozialisiert“ werden
(können), wird nur indirekt über die dargestellten Deutungen über Zusammenhänge von
Schulbedingungen und Einstellungen Jugendlicher sowie über die Fremdeinschätzung der
interviewten Experten beantwortet.
Diese Untersuchung zielt darauf, Bedingungen „demokratischer Sozialisation“ zu
identifizieren. Daran anknüpfen könnten subjektive Deutungen von konkreten Situationen,
beeinflussende Umweltaspekte sowie Veränderungen auf gesellschaftlicher und personaler
Ebene. Die hier vorliegende Untersuchung liefert also nur einen ersten Schritt für Quer- bzw.
Längsschnittanalysen.
Trotz dieser Beschränkungen soll versucht werden, das Phänomen „demokratische
Sozialisation in der Schule“ möglichst umfassend in den Blick zu nehmen. Aufschlussreich
dürften auch die Ergebnisse der Evaluation zum BLK-Modellversuchsprogramm „Demokratie
lernen und leben“ sein. Bislang stehen allerdings nur Ergebnisse zur Analyse der
Eingangsbedingungen zur Verfügung. Die Erhebung von Veränderungen in den untersuchten
Schulen fand erst im Jahr 2006 statt. Mit der Veröffentlichung von Ergebnissen ist Anfang
Februar 2007 zu rechnen.
7.2 Evaluation des BLK-Modellversuchsprogramm „Demokratie lernen und leben“
Wie die „Demokratisierung der Schule“ auf bundesdeutscher Ebene angegangen werden kann,
soll exemplarisch anhand des Schulentwicklungs- bzw. Modellversuchsprogramm
„Demokratie lernen und leben“ der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und
76

Forschungsförderung (BLK) untersucht werden. Auf die konzeptionelle Grundlage des
Programms (Edelstein & Fauser 2001) wurden bereits mehrfach verwiesen.
Träger von „Demokratie lernen und Leben“ ist das Interdisziplinäres Zentrum für Lehr- und
Lernforschung (IZLL) 7 an der Freien Universität Berlin unter Leitung von Gerhard de Haan.
Am IZLL wurde eine zentrale Koordinierungsstelle zur bundesweiten Koordination der
Programmaktivitäten eingerichtet sowie eine Stelle zur Unterstützung von Selbstevaluation an
den am Programm beteiligten Schulen. Mit der externen Evaluation des Programms wurde
das Deutsche Institut für internationale Pädagogische Forschung (DIPF) 8 beauftragt.
Als Hauptziele des Programms wurden formuliert:
- die Förderung demokratischer Handlungskompetenzen,
- die Entwicklung einer demokratischen Schulkultur (in den am Programm beteiligten
Schulen) sowie
- die Förderung der Demokratisierung der gesamten Schullandschaft in Deutschland,
wobei nach transferfähigen Modellen gesucht und Veröffentlichung von Materialien
und Praxisbausteinen für andere Schulen zur Verfügung gestellt werden sollen.
Es wurde ein Multiplikatorenprogramm durchgeführt, bei dem LehrerInnen zu BeraterInnen
für Demokratiepädagogik ausgebildet wurden. Die Entwicklung der Schulen soll weiterhin
durch Erfahrungsaustausche gefördert werden.
Dass Schule umfassend auf die Problemerscheinungen unter Jugendlichen –
Rechtsextremismus, Gewalt und Politikverdrossenheit – einwirken kann, schränken Edelstein
und Fauser (2001, S. 12) im Hinblick auf das BLK-Programm „Demokratie lernen und
leben“ allerdings ein. So sei z. B. das Phänomen der Politikverdrossenheit der Jugend nicht
nur in Deutschland, sondern in ganz Europa zu beobachten. Politik, politisches System und
Politiker seien „für junge Leute teils suspekt, teils stehen die Jugendlichen ihnen
desinteressiert oder auch ablehnend gegenüber“ (ebd.; vgl. Torney-Purta u.a. 2001,
Wilkinson/Mulgan 1995)
Das BLK-Programm könne hingegen beim „Interesse und der Bereitschaft zum Engagement
bei Projekten im Nahbereich“ (Edelstein & Fauser 2001, S. 12) ansetzen. Die pädagogische
Strategie für Schulen und Jugendarbeit hierzu sei, von den Erfahrungen der Jugendlichen
auszugehen, um Situationen zu gestalten, Lernprozesse zu aktivieren und Projekte
einzurichten, „die geeignet sind, Erfahrungen mit elementaren demokratischen Prozessen zu
machen (Verhandeln, Kooperieren, Planen, Abstimmen, Entscheiden etc.), die
7
http://web.fu-berlin.de/allg.paedagogik/izll/index.htm
8
http://www.dipf.de/
77

verständnisintensives Lernen, moralisches Urteilen und verantwortungsvolles Handeln mit der
Förderung von Überzeugungen eigener Wirksamkeit verbinden, um elementares ziviles
Engagement und die Entwicklung einer ‚demokratisch orientierten’ Handlungskompetenz
anzuregen.“ (ebd.)
Die vom Deutschen Institut für internationale Pädagogische Forschung (DIPF) durchgeführte
Evaluation des Modellversuchsprogramms zielt einerseits darauf, den Stand von Schulen
zurückzumelden „im Hinblick auf verschiedene Aspekte der Schulentwicklung und der
Demokratieerziehung (demokratische Handlungskompetenzen, politisches Wissen, politische
Einstellungen, demokratische Schulkultur, Rand- und Rahmenbedingungen
etc.).“ (Konzeption der Evaluation 9 ) Andererseits gilt es, „etwaige Veränderungen der
demokratischen Handlungskompetenzen bei den beteiligten Akteuren sowie in der
Schulkultur insgesamt zu beobachten“ (ebd.).
Zur Vorbereitung und Durchführung von zwei Erhebungen in allen Programmschulen wurde
2003 eine schriftliche Eingangserhebung durchgeführt. (Klieme/Abs/Diedrich 2004) Anhand
einheitlicher Fragebögen jeweils für SchülerInnen der Sekundarstufe, LehrerInnen sowie
SchulleiterInnen wurden die Ausgangsbedingungen für alle Beteiligten analysiert, das heißt
„unter welchen Voraussetzungen die Schulen in das Programm starten und welche
unterschiedlichen Ausgangsbedingungen für Schulentwicklungsprozesse vorliegen“.
(Konzeption der Evaluation )
In der Eingangserhebung kommen Klieme/Abs/Diedrich (2004) zu dem Schluss, dass zum
einen „an einigen Schulen offenbar eine Verankerung des Programms nur unbefriedigend
gelingt“ (Klieme/Abs/Diedrich 2004, S. 36), worauf die unterschiedlichen Teilnahmequoten
schließen lassen. Zum anderen liege „bei einer Mehrheit der Schulleiter/-innen zum Zeitpunkt
der Erhebung noch kein Verständnis für Netzwerke als Arbeitsform“ (ebd.) vor. Dies verweist
auf die wahrgenommene Unterstützung des jeweiligen Bundeslandes, zum Beispiel durch die
Schulaufsicht. Die Autoren sind besorgt hinsichtlich der Zielprioritäten und
Fortbildungswünsche bei LehrerInnen, da „das Demokratieprogramm in den Schulen zu sehr
auf den Bereich der sozialen Kompetenz fokussiert wird.“ (ebd.) So werden „wesentliche
Zielsetzungen des Programms (Akzeptanz und Verständnis von Demokratie, Engagement in
gesellschaftlichen Handlungsfeldern, tatsächliche Mitgestaltung der schulischen
Wirklichkeit)“ (ebd.) in teilnehmenden Schulen häufig „nicht in dem Maße als Probleme und
9 Konzeption, URL = http://www.blk-demokratie.de/programm/externe-evaluation/konzeption.html
78

Gestaltungsfelder wahrgenommen, dass Sie tatsächlich prioritären Handlungsdruck
erzeugen.“ (ebd.)
„Da schulisches Handeln immer Handeln unter Druck 10 ist, wird verständlich, dass die Beteiligten vor
allem dort zu Veränderung und Engagement bereit sind, wo Gefährdung der eigenen Routinen,
Anpassungsdruck und wegbrechende Ressourcen dies am stärksten erfordern. Unter den Bedingungen
aufwändiger curricularer und schulorganisatorischer Reformen sowie Deputatserhöhungen in vielen
Bundesländern ist es deshalb beachtlich, dass sich überhaupt so viele Lehrkräfte aus Idealismus und
Reflexion ihrer Erfahrungen für die schulübergreifenden Ziele des Modellprogramms engagieren. Dass
die Förderung von demokratischer Handlungskompetenz und demokratischer Schulkultur dabei
insbesondere als Förderung sozialer Kompetenzen aufgefasst wird, ist insofern als Teilerfolg auf einem
längeren Weg zu begrüßen. Nach einer weitergehenden Interpretation bilden die Muster der Familie und
anderer Gemeinschaften des Nahraums eine entscheidende Orientierung für diejenigen, die in Schule
arbeiten. Entsprechend wird das eigene Handeln wesentlich aus einer interpersonalen Perspektive
reflektiert, Demokratie wird dann auf Mittun, soziale Kompetenzen und die Tugenden der Gemeinschaft
reduziert. Demokratiepädagogisch wird dies begründet, indem das Verständnis von Demokratie als
Lebensform gleichsam als Grundlage für Demokratie in Staat und Gesellschaft gilt. 11 Die relative
Vernachlässigung des verrechtlichten Charakters von Demokratie, d.h. der transpersonalen
Zusammenhänge der Gesellschaft, könnte aber in der Konfrontation mit tatsächlicher Politik eben die
Enttäuschung hervorrufen, die eigentlich durch das Modellprogramm mit bekämpft werden soll. Dabei
ist zu bedenken, dass Enttäuschungen auch durchaus entwicklungsfördernd sein können, wenn es
Räume gibt, in denen eine Bearbeitung entsprechender Enttäuschungserfahrungen vorgesehen
ist.“ (Klieme/Abs/Diedrich 2004, S. 36f. sowie wortgleich und mit Literaturverweisen
Abs/Diedrich/Klieme 2004, S. 5f.)
Im Jahre 2006 soll auf Grundlage dieser Eingangserhebung untersucht werden, „welche
Veränderungen die Schulen während des Programms durchlaufen haben und welche
Wirkungen die verschiedenen Maßnahmen insgesamt zeigen“ (Konzeption der Evaluation). In
begrenztem Umfang sollen ferner vertiefende Evaluationen einzelner Teile des Programms
erfolgen. 12
7.3 Eigene Untersuchung zu Bedingungen „demokratische Sozialisation in der Schule“
Um zu klären, unter welchen Bedingungen „demokratische Sozialisation in der
Schule“ realisiert werden kann bzw. wie Schulen demokratisiert werden können, lassen sich
unterschiedliche Perspektiven, Ansätze und Strategien anführen und vergleichen. Für die
10 vgl. dazu Wahl 1991
11 Zu den Grenzen dieser Vorstellung vgl: Oelkers 2000; Schutz 2001
12 Es sei auf http://democracy.dipf.de verwiesen, wo (bald) Evaluationsberichte abgerufen werden können
79

dieser Frage, halte ich die Befragung von „Experten“ für unverzichtbar. Deshalb habe ich für
diese Untersuchung „Experten“ interviewt, die einerseits in unterschiedlicher Nähe zum
Modellversuchsprogramm „Demokratie lernen und leben“ stehen bzw. auf unterschiedlicher
Ebene in diesem Programm aktiv sind. Andererseits wurden „Experten“ interviewt, die mir zu
Schul- bzw. Schulungskonzepten Auskunft gaben, in denen Demokratie ein wesentliches oder
tragendes Element des Schullebens darstellt.
Im Folgenden wird zunächst die Methodik des Experteninterviews erörtert (7.4). Es wird
gezeigt, wie Experteninteviews durchgeführt und ausgewertet werden können. Danach wird
auf die konkrete Durchführung der Interviews mit ausgewählten Experten eingegangen und
die Ergebnisse der Auswertung der Interviews in Form von Thesen dargestellt (7.5).
7.4 Methodik des Experteninterviews
Neben Interviews mit der Zielgruppe, teilnehmender Beobachtung oder der Analyse von
Dokumenten und Akten stellen Experteninterviews freilich nur eine Datenquelle dar. Ziel von
Experteninterviews ist es, „von den ExpertInnen ausgehende ‚außerbetriebliche’ Effekte und
Normierungen als Kontextbedingungen zu bestimmen“. (Meuser & Nagel 1991, S. 445f.)
7.4.1 Auswahl der Interviewpartner als „Experten“
Das Interesse, bestimmte Personen zu befragen gründet darin, dass sie als „Experten für ein
bestimmtes Handungsfeld“ (Flick 2002, S. 139) gelten. Hierbei werden die Befragten „nicht
als Einzelfall, sondern als Repräsentant einer Gruppe […] in die Untersuchung einbezogen“.
(ebd.; vgl. Meuser & Nagel 1991, S. 444)
Diese „Experten“ sind von Interesse „als FunktionsträgerInnen innerhalb eines
organisatorischen oder institutionellen Kontextes.“ (Meuser & Nagel 1991, S. 444)
Entsprechend sind die Gegenstände des ExpertInneninterviews die mit dieser Funktion
„verknüpften Zuständigkeiten, Aufgaben, Tätigkeiten und die aus diesen gewonnenen
exklusiven Erfahrungen und Wissenbestände“ (ebd.). Interviews werden mit bestimmten
„Experten“ durchgeführt, um Auskünfte über ihr eigenes Handlungsfeld zu bekommen bzw.
um „Informationen über die Kontextbedingungen des Handelns“ (ebd.) zu liefern. Für die
Bildungsforschung sind zum Beispiel Personen interessant, die „als EntwicklerInnen oder
MultiplikatorInnen von Bildungskonzepten“ (ebd., S. 445) fungieren.
80

7.4.2 ExpertInnenwissen
Das in den Interviews kommunizierte „ExpertInnenwissen“ soll in dieser Untersuchung als
Kontextwissen dienen, das heißt es soll „Eigenschaften und Strukturen der Handlungssituation
der Zielgruppe“ (Meuser & Nagel 1991, S. 447) aufschließen. Von Interesse sind
Eigenschaften und Strukturen der Handlungssituation „demokratische Sozialisation in der
Schule“ für die Zielgruppe SchülerInnen.
Die Ergebnisse der ExpertInnenuntersuchung sind als Beitrag „zur Bestimmung des
Sachverhaltes“ (ebd.) zu sehen, nicht aber als Prüfkriteriem für „die Gültigkeit theoretischer
Behauptungen über den Sachverhalt“ (ebd.). Es davon auszugehen, dass das ein „Experte“ in
einem sozialen Systems agiert, (hier Schule) „dessen Funktionieren durch die ExpertInnen
mitbedingt ist“ (ebd., S. 454). Weiterhin muss man davon ausgehen, dass innerhalb dieses
Systems wechselseitige Beziehungsmuster eine Rolle spielen, deren „Bestimmung jedoch in
Beobachtungskategorien erfolgt und nicht im Rahmen theoretischer Erklärungsansätze“ (ebd.).
In diesem Sinne ist das Kontextwissen von Interesse, um diese Beobachtungskategorien aus
empirischem Wissen zu gewinnen und zu bestimmen.
7.4.3 Leitfaden und Diskursverlauf
Bei der Durchführung von Interviews besitzen Leitfäden eine Steuerungsfunktion, um
unergiebige Themen auszuschließen. (vgl. Flick 2002, S. 140) Experteninterviews stellen
einen Typ bzw. eine spezelle Anwendungsform von Leitfaden-Interviews dar. Leitfaden-
Interviews sind gekennzeichnet durch eine relativ offenen Gestaltung der Interviewsituation.
Davon ist zu erwarten, dass „die Sichtweisen des befragten Subjekts eher zur Geltung
kommen als in standardisierten Interviews oder Fragebögen.“ (Flick 2002, S. 117; vgl.
Meuser & Nagel 1991, S. 448f.)
Da in die Leitfadenkonstruktion bereits „Annahmen über den inhaltlichen Zusammenhang
von Themen im Sinne von Sachaffinitäten eingehen“ (Meuser & Nagel 1991, S. 449), ist zu
beachten, dass ein Leitfaden nur Offenheit des Interviewverlaufs gewährleistet, wenn er nicht
„als zwingendes Ablaufmodell des Diskurses gehandhabt wird.“ (ebd.)
81

7.4.4 Auswertung
Nachdem die Aufnahmen der geführten Interviews verschriftet (transkribiert) wurden, können
sie ausgewertet werden. (zu Transkription vgl. z. B. Flick 2002, S. 252f.) Die Auswertung der
Experteninterviews soll in dieser Untersuchung der Analyse und dem Vergleich der Inhalte
des Expertenwissens dienen (vgl. Flick 2002, S. 141) und fungiert als eine
„Entdeckungsstrategie“ (Meuser & Nagel 1991, S. 453).
Ein Vergleich von Inhalten des Expertenwissens beschränkt sich „auf die Analyse von
alltäglichem Wissen über bestimmte Gegenstände und Themen“ (Flick 2002, S. 166) sowie
die eigene Geschichte der Befragten. Das Handeln in konkreten Situationen sowie
Interaktionen können ledigleich aus der Sicht der darin Beteiligten (und hier befragten
Experten) „rekonstruiert und die gruppenspezifische Unterschiedlichkeit solcher
Erfahrungsweisen verdeutlicht werden.“ (ebd.)
Ziel des Vergleichs unterschiedlicher ExpertInnentexte ist, „das Überindividuell-Gemeinsame
herauszuarbeiten, Aussagen über Repräsentatives, über gemeinsam geteilte Wissensbestände,
Relevanzstrukturen, Wirklichkeitskonstruktionen, Interpretationen und
Deutungsmuster“ (Meuser & Nagel 1991, S. 452), aber auch Unerwartetes zu treffen. (vgl.
ebd., S. 448)
Die Vergleichbarkeit der Interviewtexte wird zum einen weitgehend gesichert durch den
„gemeinsam geteilten institutionell-organisatorische Kontext der ExpertInnen“ (Meuser &
Nagel 1991, S. 453), das heißt den Handlungsbedingungen oder dem Funktionskontext, in
dem die Äußerungen der ExpertInnen verortet werden. Zum anderen sichert die
leitfadenorientierte Interviewführung die Vergleichbarkeit, da auf interessierende Themen
fokussiert wird.
Das erhobene ExpertInnenwissen in dieser Untersuchung kann als ein Schritt gesehen werden
auf dem Weg zu einer umfassenderen Untersuchung zu Bedingungen „demokratischer
Sozialisation in der Schule“. Entsprechend wird die Auswertung im Stadium der empirischen
Generalisierung enden, wenn „die durch die ExpertInnen gesetzten Bedingungen inhaltlich
bestimmt sind“ (ebd., S. 448) sowie „wenn Themen und Hypothesen für die weiteren
Untersuchungsschritte realitätsgesättigt sind“. (ebd.)
82

7.4.5 Auswertungsverfahren: Thematischer Vergleich
Das hier angewandte Verfahren zur Auswertung der ExpertInneninterviews ist der
thematische Vergleich, der sich „an thematischen Einheiten, an inhaltlich zusammengehörigen,
über die Texte verstreuten Passagen“ (Meuser & Nagel 1991, S. 453) orientiert. Dabei geht es
um die Feststellung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden, welche durch typische
Äußerungen dokumentiert werden. Dem eigentlichen thematischen Vergleich gehen zwei
Schritt der Verdichtung des Textmaterials voraus: Als „erster Schritt des Verdichtens des
Textmaterials“ (Meuser & Nagel 1991, S. 456) wird dieses paraphrasiert, das heißt der Text
wird in thematischen Einheiten zerlegt. Dabei sollen die Äußerungen der Experten zu einem
Thema explizit gemacht werden: „die Interviewte spricht über, äußert sich zu und berichtet
von, sie hat beobachtet und meint, interpretiert dies als das, gelangt zu dem Urteil, erklärt sich
etwas, hält sich an jene Faustregel.“ (ebd., S. 457)
Im zweiten Schritt der Verdichtung des Materials werden die paraphrasierten Passagen mit
Überschriften versehen. Die Vergabe von Überschriften geschieht textnah, das heißt unter
Rückgriff auf die Terminologie der Interviewten. Die Sequenzialität des Textes wird
aufgebrochen, um „Passagen, in denen gleiche oder ähnliche Themen behandelt
werden“ (Meuser & Nagel 1991, S. 457f.) zusammenzustellen.
Für den thematische Vergleich wird nun nach „thematisch vergleichbaren Textpassagen aus
verschiedenen Interviews“ (Meuser & Nagel 1991, S. 459) gesucht. Die Überschriften der
Paraphrasen sollen dabei helfen, „um den Äußerungen die Relevanzstrukturen des
ExpertInnenwissens abzulesen: typische Erfahrungen, Beobachtungen, Interpretationen und
Konstruktionen, Verfahrensregeln und Normen der Entscheidungsfindung, Werthaltungen
und Positionen, Handlungsmaximen und Konzepte im Rahmen der
Funktionsausübung“ (Meuser & Nagel 1991, S. 460).
7.4.6 Soziologische Konzeptualisierung
Wie erwähnt, soll das in den Interviews kommunizierte „ExpertInnenwissen“ als
Kontextwissen heran gezogen werden. Ziel bei der Ermittlung von Kontextwissen ist eine
soziologische Konzeptualisierung auf der Abstraktionsebene der empirischen Generalisierung.
Gemeint ist damit, dass „Aussagen über Strukturen des ExpertInnenwissens“ (Meuser &
Nagel 1991, S. 462) abgelöst werden „von den Texten und auch von der Terminologie der
Interviewten“ (ebd.) und – „im Rekurs auf soziologisches Wissen – begrifflich gestaltet, das
83

heißt in die Form einer Kategorie gegossen“ (ebd.) werden. In einer solchen „Kategorie ist
das Besondere des gemeinsam geteilten Wissens eines Teils der ExpertInnen verdichtet und
explizit gemacht.“ (ebd.) Der „Prozeß der Kategoriebildung impliziert einerseits ein
Subsumieren von Teilen unter einen allgemeine Geltung beanspruchenden Begriff,
andererseits ein Rekonstruieren dieses allgemeinen, für den vorgefundenen
Wirklichkeitsausschnitt gemeinsam geltenden Begriffs.“ (ebd., S. 463) Die Übersetzung der
„dem Text entnommenen Begriffe und Überschriften in soziologische“ (Meuser & Nagel
1991, S. 462) soll „einen Anschluß der Interpretation an allgemeinere disziplinäre
Diskussionen“ (ebd.) ermöglichen. (vgl. Strauss 1987, S. 34) Ziel dieser Kategorienbildung ist
„eine Systematisierung von Relevanzen, Typisierungen, Verallgemeinerungen,
Deutungsmustern“ (Meuser & Nagel 1991, S. 462f.), wobei Verknüpfungsmöglichkeiten
einzelner Konzepte berücksichtigt werden sollten.
7.5 Die geführten Experteninterviews
7.5.1 Auswahl der „Experten“ für Interviews
Für die Ermittlung „Eigenschaften und Strukturen der Handlungssituation der
Zielgruppe“ (Meuser & Nagel 1991, S. 447) – hier: die Handlungssituation Schule und der
Zielgruppe LehrerInnen – habe ich Interviews mit Personen durchgeführt, die ich als
„Experten“ für das Handungsfeld Schule bzw. die Lehrerbildung betrachte. Die Befragten
vertreten unterschiedliche Ansätze und Bemühungen,
„demokratische“ Sozialisationsbedingungen in Schulen zu realisieren. Die Befragten sind
einerseits im Rahmen des BLK-Modellversuchsprogramms „Demokratie lernen und
leben“ aktiv, andererseits unabhängig davon.
Das BLK-Modellversuchsprogramm „Demokratie lernen und leben“ stellt einen expliziten
Versuch dar, „demokratische“ Sozialisationsbedingungen in Schulen zu implementieren. Von
den Programmaktivitäten sind hierbei von Interesse
- die Fort- und Weiterbildung von LehrerInnen zur Förderung ihrer
„demokratiepädagogischen“ Kompetenzen,
- das Multiplikatorenprogramm zur Ausbildung von BeraterInnen für
Demokratiepädagogik sowie
- konkrete „demokratiepädagogische“ Aktivitäten in Schulen, die durch Beratung im
Rahmen des Modellversuchsprogramms initiiert wurden.
84

Daneben sind Schul- und Schulungskonzepte von Interesse, in denen Demokratie ein
wesentliches oder tragendes Element des Schullebens bzw. pädagogischer Ansätze von
Schulungen mit jugendlichen Teilnehmern darstellt, also die Entwicklung „demokratische
Handlungskompetenzen“ von SchülerInnen und LehrerInnen fördern, ohne Teil des
Modellversuchsprogramms „Demokratie lernen und leben“ zu sein. Ich habe folgende befragt:
Aus dem Bereich Fort- und Weiterbildung von LehrerInnen 13
- Wolf Wildfeuer – Kommunikationstrainer und Lehrerfortbilder an der Sächsischen
Akademie für Lehrerfortbildung in Meißen, Berater für das Förderprogramm
„Demokratisch Handeln“ sowie Berater für Demokratiepädagogik in Sachsen;
- Harry Beetz – Lehrer am Schulzentrum Walliser Straße in Bremen 14 , Berater für
Demokratiepädagogik sowie Landesbeauftragter für Bremen beim Wettbewerb
„Jugend debattiert“ 15 ;
aus dem Bereich des Multiplikatorenprogramms 16
- Kurt Edler – Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung Hamburg, dort
Leiter des Referats Gesellschaft 17 in den Fächern Politik, Gesellschaft, Geschichte,
Geographie, Religion, Ethik und Philosophie; in Edlers Referat arbeitet Wolfgang
Steiner 18 , der das BLK-Programm „Demokratie lernen und leben“ in Hamburg vertritt;
Edler selbst arbeitet in Hamburg schulbezogen an der Basis mit den
MultiplikatorInnen für eine demokratische Schulentwicklung zusammen;
- Wolfgang Edelstein – geb. 1929, Emigration nach Island 1938; von 1954 bis 1963
Mitarbeiter an der Odenwaldschule; zuletzt Wissenschaftler am Max-Planck-Institut
für Bildungsforschung in Berlin 19 ; Autor der Expertise zum Modellversuchsprogramm
„Demokratie lernen und leben“ (Edelstein & Fauser 2001); Vorsitzender der
Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik (DeGeDe) 20 ;
13
Interview am 25.09.2006 im Rahmen des SALF-Lehrerfortbildungsseminars „Demokratiepädagogik. Eine
aktuelle Aufgabe für die Schule“, das vom 25. bis 27.09.2006 im DAETZ-Centrum, Lichtenstein/Sachsen,
stattfand
14
http://www.schule.bremen.de/schulen/wallis/
15
http://www.jugend-debattiert.ghst.de/
16
Interview am 16.11.2006 im Rahmen der Abschlusskonferenz des Multiplikatorenprogramms „BeraterInnen
für Demokratiepädagogik“ im Landesinstitut für Schule und Medien (LISUM), Ludwigsfelde/Brandenburg. Der
Text des Interviews mit Kurt Edler und Wolfgang Edelstein findet sich in Kurt Edlers Weblog „Blog 14. Forum
Politische Bildung und Schulentwicklung“ (URL = http://hoheweide.twoday.net/) unter „Taugt unsere Schule für
die Demokratie?“, Eintrag vom 7. Januar 2007, Direktlink: http://static.twoday.net/hoheweide/files/polowyinterview.pdf
17
http://www.li-hamburg.de/abt.lif/bf.1400/index.html
18
Vgl. http://www.li-hamburg.de/demokratie
19
http://ntfm.mpib-berlin.mpg.de/mpib/FMPro
20
http://www.degede.de
85

zu konkreten „demokratiepädagogische“ Aktivitäten
- Katja Witt – Lehrerin und Projektleiterin am See-Gymnasium Rangsdorf und
Beraterin für Demokratiepädagogik; 21
- Christfried Siegert – seit 1996 Schulleiter der Evangelischen Mittelschule „Erhard
und Rudolf Mauersberger“ 22 in Großrückerswalde, eine staatlich anerkannte
Ersatzschule seit 1996 und eine Teilnehmer-Schule am Modellversuchsprogramm
„Demokratie lernen und leben“ in den Modulen Partizipation und
Unterrichtsgestaltung; 23
und zu demokratieorientierten Schul- und Schulungskonzepten
- Uta Kursawe – seit 1989 Leiterin der Freien Schule Leipzig 24 , einer Schule mit
Demokratie als pädagogischer Grundsatz, 25 die noch zu DDR-Zeiten genehmigt wurde;
- Claudia Rathering – Teamerin bei der Europäischen Jugendbildungs- und
Jugendbegegnungsstätte Weimar (EJBW) 26 in den Seminarprojekten „Schule und
Ausbildung für Demokratie und Toleranz“ (SAfT, 2000 bis 2003, für SchülerInnen der
8. bis 13. Klasse und Auszubildende, Rathering begleitete dabei 13 Schulen in
Thüringen) und „Findet Demo!“ 27 (seit 2004, für SchülerInnen der 1. bis 4. Klasse);
Teamerin beim Bildugsförderwerk Arbeit und Leben Leipzig im Seminar in „Uns
selber mitgestalten – Klassensprecherseminar“ (seit 2005, für SchülerInnen von der 5.
bis 10. Klasse). 28
7.5.2 Leitfaden für die Interviews
Die Durchführung der Interviews orientierte sich an einem thematischen Leitfaden, der
folgende Aspekte „demokratischer Sozialisation in der Schule“ fokussierte:
- Tätigkeiten des Befragten hinsichtlich „demokratischer Sozialisation“
- Kennzeichen „demokratischer Sozialisation in der Schule aus“ (pädagogische
Handlungskonzepte; Unterschiede zu „üblicher“ bzw. nicht explizit „demokratischer
Sozialisation in der Schule“)
21
Interview am 17.11.2006 im Rahmen der Abschlusskonferenz des Multiplikatorenprogramms „BeraterInnen
für Demokratiepädagogik“ im Landesinstitut für Schule und Medien (LISUM), Ludwigsfelde/Brandenburg
22
http://www.ev-ms.de/
23
Interview am 08.11.2006 im Schulleiterbüro von Christfried Siegert
24
http://www.freie-schule-leipzig.de/
25
Interview am 08.11.2006 in der Freien Schule Leipzig
26
http://www.ejbweimar.de/
27
http://www.diskurs.org/findetdemo/
28
Interview am 30.11.2006 im Rahmen eines Seminars von Arbeit und Leben in Bennewitz/Sachsen
86

- „Demokratische Sozialisation in der Schule“ und soziale Probleme des Umfelds
(Wirkung gegenüber Problemen, z. B. Rechtsextremismus)
- Reichweite „demokratischer Sozialisation in der Schule“ bzw. von „Demokratisierung
der Schule“ bei der Schulgestaltung in Anbetracht von Vorgaben (Lehrplan)
- Ausblick (institutionell-organisatorische Sicherung und Fortsetzung von Aktivitäten)
Die durchgeführten Interviews haben gezeigt, dass dieser knappe Leitfaden bei den
Interviewten Antworten hervor brachte, die für der Identifizierung von Bedingungen
„demokratischer Sozialisation in der Schule“ brauchbar sind. Die Antworten fielen je nach
Handlungskontext der ExpertInnen unterschiedlich umfangreich aus, was sich auch in den
Thesen niederschlägt, die im folgenden dargestellt werden.
7.6 Auswertung der Experteninterviews – Thesen zu „demokratischer Sozialisation in
der Schule“
Die befragten Personen sprechen aus den (Rollen-)Perspektiven von LehrerInnen,
SchulleiterInnen, BeraterInnen (für Demokratiepädagogik, für Projektwettbewerbe),
Lehrerfortbildnern, Seminartrainern sowie Wissenschaftlern. Sie haben zwar unterschiedliche,
aber nicht all zu sehr abweichende Bezugspunkte zu „demokratischer Sozialisation in der
Schule“.
Im Folgenden soll – in Form von Thesen – ausgeführt werden, wie die interviewten Experten
jene Bedingungen beschreiben, die „demokratische Sozialisation in der Schule“ kennzeichnen.
In den Klammern am Ende von Absätzen wird gekennzeichnet, wer von den ExpertInnen das
jeweilige Thema deutlich ansprach. Es wird deutlich, dass bei bestimmten Themen nur
wenige ExpertInnen Auskünfte gaben, was die Aussagekraft jedoch nicht schmälert.
7.6.1 These: Demokratie lernen durch Erfahrung von Demokratie
Für schulische Sozialisation im Hinblick auf die Entwicklung „demokratischer
Handlungskompetenzen“ sind drei Perspektiven des „Demokratielernens“ bzw. der
Demokratiepädagogik bedeutsam: Über, Für und Durch Demokratie lernen. Über Demokratie
lernen heißt, über das demokratische System etwas zu lernen. Für Demokratie lernen bezieht
87

sich auf das Erlernen demokratischer Rollen und Verantwortungsperspektiven durch
Erfahrungen „demokratischer Verhältnisse“. (Edelstein)
In deutschen Schulen sei es üblich, fast nur über, nicht aber für oder durch Demokratie zu
lernen. Nur über das politische System „Demokratie“ zu lernen, sei für viele Kinder
demotivierend. Es fehlten sowohl eine „Demokratiepraxis“ (Edelstein) unter LehrerInnen als
auch „demokratische“ Experimente, in denen durch selbsttätiges Ausprobieren gelernt werden
kann. In naturwissenschaftlichen Fächern (Physik, Chemie, Biologie) seien hingegen
Experimente oder Exkursionen eine Selbstverständlichkeit. (ebd.)
Die Auffassung, dass Menschen insbesondere durch Erfahrung, Ausprobieren und
Experimentieren lernen, kommt in reformpädagogischen Ansätzen zur Geltung, die – wie zum
Beispiel Montessori und Freinet – die Grundlage von Schulkonzepten sein können. (Kursawe)
Da sich Lernen in Prozessen vollzieht, muss auch Demokratielernen an den Prozessen
aufgehängt werden (Schule als Lebensform, als Lebenswelt), weniger an Inhalten (z. B.
Demokratie oder politische Konflikte als Thema im Unterricht). Eine demokratische
Schulkultur zeichne im sich Wesentlichen dadurch aus, dass SchülerInnen in den Prozess
involviert werden. Dass die Auseinandersetzung mit politischen Konflikten in der Schule
nicht notwendig „demokratiepädagogisch“ ist, wird damit begründet, dass politische Kämpfe
eine Diskurskultur voraus setzten, das heißt Fähigkeiten von Menschen, überhaupt politische
Positionen einnehmen zu können. Hierbei hat die hat das Recht, „vor gesellschaftlichen
Konflikten insoweit geschützt zu werden als sie nicht diskursfähig sind.“ (Edelstein) Die
Schule sollte schon deshalb vor politischen Konflikten bewahrt werden, „dass Leute aus
unterschiedlichen Klassen und unterschiedlichen […] Sozialisationsperspektiven und –
hintergründen koexistieren können.“ (Edelstein) Inhalte (auch politische Konflikte) seien
dennoch im jeweiligen Fall, z. B. in Projekten, relevant. (ebd.)
Dieser (Lern-)Prozess trage außerdem eine individuelle und eine kollektive Komponente. So
lernen die einzelnen aus eigenen Erfahrungen (und) im Umgang mit anderen (in Gruppen)
über die Zeit (alltäglich über die Jahre, im Unterricht oder in Wochenseminaren). Es sind
diese eigenen Erfahrungen von SchülerInnen oder SeminarteilnehmerInnen, die Demokratie
„mit emotionalem Inhalt, mit emotionalem Handeln“ (Rathering) füllten. Doch nicht nur
Schule oder Seminare bieten solche Erfahrungen für Kinder und Jugendliche. Auch Vereine
seien oftmals durch demokratische Verhältnisse geprägt. (ebd.)
88

Welche Erfahrungen SchülerInnen in einer Schule machen können, wird wesentlich bestimmt
von den Grundsätzen der Schule – „Das Prinzip ist das entscheidende“ (Wildfeuer).
Demokratierelevante Erfahrungen können in einem Schulklima gemacht werden, in dem
- Demokratie als Lebensprinzip verstanden wird (Wildfeuer);
- SchülerInnen ihre LehrerInnen „als Partner erleben“ (ebd);
- SchülerInnen selbst Entscheidungen treffen, abstimmen oder Beschlüsse fassen, die
sie selbst angehen (ebd.);
- SchülerInnen Verantwortung übernehmen, zum Beispiel durch die
eigenverantwortliche Gestaltung von Projekten, die sie „für gesellschaftlich wichtige
Themen halten“ (Wildfeuer).
Weiterhin gehört die Einbeziehung von Minderheiten zu Demokratie „als
Bewusstseinsprozess im alltäglichen Handeln“ (Rathering). Ein konkretes Beispiel dafür ist
die Selbstverständlichkeit körperbehinderter Kinder im Rollstuhl in einer allgemeinbildenden
Schule, „wo die Schüler lernen, mit Menschen mit Handikap umzugehen.“ (Siegert)
7.6.2 These: Mitspracherechte ermöglichen Mitbestimmung
Demokratische Rollen sind gegeben, wenn LehrerInnen und SchülerInnen in einem
Partnerschaftsverhältnis interagieren. Demokratie ist hierbei zu verstehen als
„Aushandlungsprozess“ (Rathering) zwischen und unter LehrerInnen und SchülerInnen. Es
eröffnen sich entsprechend demokratische Impluse und Verfahren, wenn SchülerInnen selbst
Entscheidungen treffen, abstimmen oder Beschlüsse fassen (können), die SchülerInnen
angehen. (Wildfeuer)
Gemeint sind damit Formen der Beteiligung oder Partizipation von SchülerInnen, das heißt
Mitspracherechte von SchülerInnen, „im schulischen Leben eben auch wirklich selber
bestimmen“ (Kursawe) zu können bzw. über bestimmte Sachverhalte der Schule
mitzubestimmen. Allerdings muss dies eine „ehrlich gemeinte Beteiligung“ (ebd.) sein. Das
heißt, es muss versucht werden, SchülerInnen (schrittweise) in Entscheidungsgremien
einzubeziehen, in denen aber auch die Entscheidungen der Kinder bzw. der SchülerInnen
zählen. (ebd.)
Im Hinblick auf Möglichlichkeiten der Mitentscheidung und Mitbestimmung versteht sich
Demokratie sowohl als „ein Bewusstsein“ (Rathering), als „ein Handeln“ (ebd.) aller (Kinder,
89

Jugendlicher und Erwachsener), als auch eine „Querschnittsaufgabe“ (ebd.) für alle Bereiche
der Schule.
Zwar werden Mitspracherechte für Kinder und Jugendliche in der Schule durch
Entscheidungungskompetenzen und Hierarchiedenken der Erwachsenen beschränkt.
Sachverhalte, bei denen SchülerInnen Mitspracherechte haben (sollten), können jedoch
Regeln sein, nach denen in einer Schule, „in den Gruppen oder in einzelnen
Räumen“ (Kursawe) gelebt werden soll. In der Geltung von Regeln drücke sich auch aus, dass
Demokratie „auch eine bestimmte Form“ (Wildfeuer) habe, die einerseits „gewahrt
werden“ (ebd.) muss, an der man aber auch „feilen“ (ebd.) könne. Sachverhalte für
Mitbestimmung und Mitentscheidung können aber auch die Planung von Unterricht bzw.
Lerngelegenheiten sowie die Auswahl von Themen sein, die behandelt bzw. an denen gelernt
werden darf. (Kursawe) In verschiedenen Lernformen (z. B. Projekten) tragen SchülerInnen
mehr oder weniger die Verantwortung für und Entscheidung über Themen und Planung.
(Wildfeuer)
7.6.3 These: Gremien ermöglichen Partizipation im Schulleben
Für die Einbeziehung von SchülerInnen (aber auch Eltern) in Entscheidungen über Belange
der Schule stehen verschiedene Partizipationsformen bzw. –möglichkeiten zu Verfügung.
Eine Möglichkeit, sowohl SchülerInnen als auch LehrerInnen und Eltern in Entscheidungen
einzubeziehen, sind Steuergruppen, in denen gemeinsam wichtige Themen beraten werden
könnten, z. B. die Hausordnung, die Schulhofgestaltung oder die Dauer von
Unterrichtsstunden und Pausen. Wichtig sei allerdings, alle gleichberechtigt zu Wort kommen
zu lassen – „die Kinder sprechen lassen“ (Rathering)
Die Institution des Klassenrats bietet SchülerInnen Möglichkeiten, Probleme und Anliegen zu
besprechen sowie Lob und Änderungswünsche, zum Beispiel hinsichtlich der Schulgestaltung,
zu äußern. Der Klassenrat kann auch „die basisdemokratische Aushandlungsrunde und
Legislative“ (Edelstein) für die Verhandlung, Bewertung und Veränderung von Lebensregeln
sowie Thematisierung von Gerechtigkeisfragen sein, mit dem sich „mit der Zeit eine
grundlegende Erfahrung“ (ebd.) verbinde, nämlich „Demokratie in der Schule“ (ebd.) zu
leben. Der Klassenrat ist also Teil einer „schuldemokratischen Lebensform“ (Edelstein).
90

Der Klassenrats ist durchaus an „festen Vorgaben“ (Witt) gebunden. Beispielsweise
dokumentieren SchülerInnen ihre Anliegen über die Wandzeitung oder einen Hefter, die dem
Klassenrat wiederum als Tagesordnung unterbreitet werden. Weiterhin kann vorgegeben sein,
dass in Klassenratssitzungen die SchülerInnen im Stuhlkreis sitzen; dass ein/e SchülerIn
moderiert, eine/r für die Rednerliste führt, eine/r die Zeit überwacht sowie eine/r das Protokoll
schreibt. (ebd.) Außerdem kann vorgegeben sein, dass SchülerInnen anwesend sein müssen,
um sich äußern zu können, falls sie von bestimmten Themen und Problemen betroffen sind.
Schließlich kann vorgegeben sein, dass bei Beschlussfassungen LehrerInnen „nur
Mitspracherecht“, aber kein Stimmrecht, haben. (Witt)
In der Schülerversammlung (SV), die von der/dem SchulsprecherIn und der/dem
VertrauenslehrerIn organisiert wird und in der sich die KlassensprecherInnen versammeln,
können Belange der ganzen Schule besprochen werden, zum Beispiel „Ganztag oder
nicht?“ (Witt) oder „Welche AG-Angebote?“ (Witt)
Weiterhin können SchülerInnen involviert werden in Gremien, in denen Schulen
Schulentwicklung „als Aufgabe für sich selbst bestimmen“ (Wildfeuer). Ein Beispiel hierfür
ist das „Schulteam“ (Siegert), in dem SchülerInnen, LehrerInnen, Eltern, und VertreterInnen
des Schulträgers (des Schulvereins einer Schule in freier Trägerschaft) gemeinsam bzw. in
Arbeitsgruppen an Schulentwicklung arbeiten, zum Beispiel die Vorbereitung eines
Schulfests, oder einer Befragung von SchülerInnen und LehrerInnen. (Siegert)
Die Mitbestimmung von SchülerInnen bei der Schulgestaltung kann bewirken, dass nicht nur
die Tischordnung in Räumen verändert wird (Siegert), sondern die Schule im „ganzen
Erscheinungsbild […] schülerfreundlicher“ (Witt) wird. Durch die Mitbestimmung von
SchülerInnen an der Schule können auch die Anschaffung neuer Geräte (z. B. Beamer) oder
die Einrichtung eines Schülerradios angeregt werden. (ebd.)
Als ein Beispiel einer Schule mit langjährigen Erfahrungen „sehr weit gehender
Schülermitbestimmung“ (Edelstein) sei die Odenwaldschule genannt, wo es
Klassengemeinden (ähnlich dem Klassenrat), ein Schulparlament und eine Schulkonferenz
gibt. (Edelstein 29 )
29 Wolfgang Edelstein war selbst Mitarbeiter an der Odenwaldschule von 1954-63 und hat dazu auch einige
Schriften veröffentlicht, vgl. dazu: Berichte aus der Odenwaldschule: Bibliographie der Odenwaldschule, OSO-
91

7.6.4 These: Offenheit ermöglicht Selbstbestimmung und Selbstorganisation
Bei Partizipation geht es auch darum, dass SchülerInnen Möglichkeiten haben, Einfluss zu
nehmen „auf Unterrichtsstrukturen, Unterrichtsthemen aber auch auf die Art und Weise wie in
der Schule […] mit bestimmten Themen umgegangen wird“. (Witt) Auch eine „gemeinsame
Unterrichtsplanung“ (Edelstein) könnte – „mindestens partiell“ (ebd.) – stattfinden. In
Schulen sollten SchülerInnen also unterschiedliche Formen von Lehr-Lern-Situationen
vorfinden können, die (Entscheidung- und Mitbestimmungs-)Spielräume bieten hinsichtlich
zu behandelnder oder behandelbarer Themen. Daneben sollten auch Möglichkeiten bzw.
Aufforderungen bestehen, selbständig zu lernen oder selbständig zu arbeiten.
Beispielsweise sollen Wochenpläne (wie in Montessori-Schulen) ein selbstorganisiertes
Lernen – sogar im Grundschulbereich – ermöglichen. Solch selbständiges Arbeiten fände aber
auch statt, wenn – zum Beispiel bei Ausfall eines Lehrers – SchülerInnen Aufgaben gereicht
bekommen, die sie in selbständiger Übung lösen können. (Siegert)
Während an einer Schule Lernen im Blockunterricht von 90 Minuten Länge stattfindet –
einschließlich (Übungs-)Phasen zur Entspannung und Erholung (Siegert) –, sind andere von
Offenheit geprägt. Das heißt statt Unterricht im „klassichen Sinne“ (Kursawe) wird ein
„offenes Konzept“ (ebd.) des Lehren und Lernens (ohne Stundentafel oder Fächer) und eine
freie Gestaltung der Schule vertreten, wobei Erwachsene in der Schule Angebote (und
Themen) unterbreiten und Kinder selbst bestimmen, welche sie davon wie lange bearbeiten
möchten (selbstbestimmtes Lernen, selbst bestimmte Zeit für das Lernen). Solch „offene
Konzepte“ gehen sogar so weit, dass Kinder selbst bestimmen können, mit wem sie (in
Gruppenprojekten) lernen wollen. Damit soll dem sozialen Bezug in Lerngruppen Rechnung
getragen werden. (Kursawe)
SchülerInnen die Entscheidung zu überlassen, mit wem sie lernen (wollen), wird aber auch
kritisch betrachtet. So habe die/der LehrerIn (wie in kanadischen Schulen) darauf zu achten,
dass die „soziale Mischung“ (Beetz) stimme, das heißt Lern- und Arbeitsgruppen aus
SchülerInnen mit unterschiedlichem Leistungsvermögen oder (sozialer, ethnischer) Herkunft
zusammen gesetzt werden, auch um kooperatives Lernen zu ermöglichen. Außerdem müssten
„Schüler lernen, mit Menschen mit Handikap umzugehen“ (Siegert), zum Beispuel mit
körperbehinderten MitschülerInnen im Rollstuhl.
HEFTE 2004, Neue Folge: 17, URL = http://www.odenwaldschule.de/pdf/Hefte/OSO-
Heft%2017%20Bibliographie.pdf
92

7.6.5 These: SchülerInnen müssen Verantwortung übernehmen können
Ein wesentliches Kennzeichen „demokratischer Sozialisation in der Schule“ ist, dass
SchülerInnen Verantwortung übernehmen (können), womit auch „eine Grundkompetenz des
Lebens“ (Wildfeuer) geschärft würde.
Eine Form kooperativen Lernens (Edelstein) und Möglichkeit, SchülerInnen sowohl am
inhaltlichen Prozess zu beteiligen als auch ihnen Verantwortung zu übergeben, sind Projekte,
in denen SchülerInnen für Themen, Planung, Durchführung und Präsentation selbst
verantwortlich sind. In solch eigenverantwortlich gestalteten Projekte können SchülerInnen
auch Inhalte bearbeiten, die sie selbst „für gesellschaftlich wichtige Themen halten“.
(Wildfeuer)
Es stellt sich die Frage, wieviel Stellenwert Projekten beigemessen wird, das heißt
Gelegenheiten im Laufe eines Schuljahres eingeräumt werden. An einer Schule organisieren
einmal im Jahr die SchülerInnen der 11. Klasse die Projektwoche für Klassen 7 bis 10. (Witt)
An einer anderen Schule sind Projekte – statt nur eine Projektwoche am Ende des Schuljahres
durchzuführen – eine „ganzjährige Strategie“ (Siegert) und „fester Bestandteil“ (ebd.) des
Schullebens. Dort beziehen sie sich zum Beispiel auch auf die Vorbereitung von
Schulveranstaltungen oder Klassenfahrten. Die Durchführung von Projekten kann durchaus
mit der Schulleitung verhandelt werden: „Wenn’s dem Unterricht und der effektiven
Stoffvermittlung und dem vernünftigen Wissenertrag dient, da kann bei mir jede Klasse
soviele Tage bekommen, wie sie will.“ (Siegert)
Schließlich werden an einer weiteren Schule die Kinder täglich gefragt, was sie wie lernen
wollen. Dort sind Projekte sozusagen ein tragendes Element des Schullebens. So findet an der
Freien Schule Leipzig (nach den Aussagen von Kursawe) täglich in den Altersgruppen ein
Morgenkreis (von mindestens einer halben Stunde Länge) statt, bei dem Kinder und
Erwachsene Lernthemen für den Tag absprechen und Konflikte geklärt werden können.
Einmal in der Woche und anstelle des Morgenkreises werden in der „Großen
Schulversammlung“ mit allen Kindern und Erwachsenen Schulangelegenheiten und
Projektthemen diskutiert und entschieden. An dieser Schule sind Kinder für ihr Lernen selbst
verantwortlich. Entsprechend sind ihre Interessen (zum Beispiel bei Projektvorschägen)
leitendes Element. Erwachsene unterstützen die Kinder – ob allein, in Kleingruppen einer
Altersstufe oder gemischter Altersstufen –, indem sie Material und Erkundungsorte
93

zugänglich machen. „Dann können die Kinder halt dieses Projekt verfolgen. Und das können
sie so lange machen bis sie sagen: Ok, jetzt reicht mir das. Jetzt habe ich die Information
bekommen.“ (Kursawe) Außerdem gibt es im Frühsommer ein dreiwöchiges Schulprojekt, zu
dem zunächst Themenvorschläge gesammelt werden und schließlich durch Abstimmung aller
(mit Wahlzettel und Wahlurne) entschieden wird, welches Thema von allen behandelt wird
bzw. welche Themen parallel in verschiedenen Gruppen behandelt werden. (ebd.)
Weitere Beispiele für Möglichkeiten, dass SchülerInnen Verantwortung übernehmen, sind
- die Schüleraufsicht, das heißt „große Schüler“, die als Schülerschlichter ausgebildet
wurden, machen die (Pausen-)Aufsicht in der Schule (Siegert);
- Schülerpatenschaften, wobei die neuen fünften Klassen jeweils eine ältere Patenklasse
an die Seite gestellt bekommen (ebd.);
- soziales Engagement vorort (in der Kommune), wobei SchülerInnen zum Beispiel in
Altenheimen, Pflege- und Betreuungseinrichtungen aktiv werden (in Kooperationen
mit Partnerorganisationen, zum Beispiel dem Projekt „Soziales Handeln“ 30 , dem
Diakonischen Werk, dem Blauen Kreuz oder einem Haus für die Unterbringung von
Obdachlosen). (ebd.)
Diese verantwortungsrelevanten Aktivitäten sollten allerdings nicht nur zentral an einem Tag
– wie in Sachsen – sondern ganzjährig stattfinden. (Siegert)
7.6.6 These: Demokratielernen sollte „so früh wie möglich“ beginnen
LehrerInnen fehlten oftmals die Geduld und der „Mut, Verantwortung abzugeben“ (Beetz).
Häufig werde Kindern nicht zugetraut, dass diese selbst die Verantwortung für ihr Lernen
übernehmen und selbst über den Umgang mit Regelverstößen entscheiden können. (Kursawe)
Häufig würden Erwachsene annehmen „Kindern könnte man keine Rechte und keine Räume
einräumen, was mitzubestimmen“. (Rathering) Entsprechend würden Kinder nur scheinbar
beteiligt, das heißt sie werden zwar gefragt, die Entscheidung stünden aber schon fest.
(Kursawe)
Es stellt sich also die Frage, wann Kinder bzw. Jugendliche fähig sind, selbst zu entscheiden
bzw. Verantwortung zu übernehmen. In welchem Alter sollten entsprechend Kinder und
30 http://www.sozial-handeln.de/
94

Jugendliche (in pädagogischen Arrangements) Möglichkeiten für Erfahrungen erhalten, in
denen sie Entscheidungs- bzw. Verantwortungskompetenzen ausbilden können.
Eine Antwort ist, dass durch bzw. in Demokratie lernen „so früh wie möglich“ (Rathering)
beginnen sollte, das heißt dass schon in Kindertagesstätten und Kindergärten Kinder nach
ihren Interessen und Bedürfnissen gefragt werden sollten. (ebd.)
Und auch wenn sich GrundschülerInnen in ihren Entscheidung eher an anderen orientierten,
würden sie mit der Zeit lernten, „alleine für sich zu entscheiden, auch gegen die beste
Freundin oder den Erwachsenen“ (Kursawe).
An dieser Stelle soll ergänzend zu den Aussagen der interviewten Experten auf Studien
verwiesen werden, die diese These sützen. Die meisten Kinder scheinen nämlich ihre
politische Umwelt schon ungefähr mit 5 Jahren wahrzunehmen und erwerben relativ früh
elementare und klar unterscheidbare politische Einstellungen und Verhaltensmuster.
(Ackermann 1996) Viel früher als angenommen finden entscheidende Impulse zur
Entwicklung demokratischer Persönlichkeiten statt. (für die USA vgl. Greenstein 1965,
Hess/Easton 1960, Hess/Torney 1967, Easton/Dennis 1969; für die Niederlande Gemmeke
1998) Diese Befunde können mit einer explorativen Studie in Deutschland gestützt werden, in
der Tiefeninterviews hinsichtlich der politischen Orientierung von Grundschulkindern
(zwischen 6 und 8 Jahren) ausgewertet wurden. (Berton & Schäfer 2005) Das heißt bereits in
der Grundschule sollten Möglichkeiten politischen Lernens bedacht werden. (Ziegler 1988;
Marz et al. 1978). Selbst im Kindergärten bieten sich Möglichkeiten der Partizipation.
(Hansen 2004) Es bleibt die Forderung nicht aus, das Mindestalter beim Wahlrecht
abzuschaffen, um Kindern und Jugendlichen zu ermöglichen, an politischen Wahlen
teilzunehmen. (Weimann 2002)
7.6.7 These: Demokratie zeigt sich in Kommunikation
Ein wesentliches Element für Demokratie in der Schule ist Kommunikation in vielseitiger
Hinsicht. Erstens sind damit (die Einübung von) Kommunikationfähigkeiten gemeint, zum
Beispiel
- Kritik konstruktiv äußern (Rathering),
- „aktives Zuhören“ (ebd.),
- jemanden aussprechen lassen (ebd.),
- „nicht intervenieren“ (ebd.),
95

- „partnerschaftliche Kommunikation“ (ebd.),
- „eine notwendige Konfrontation anleiten“ (ebd.),
- den eigenen Standpunkt „neutral, rational rüber bringen“ (ebd.),
- eine Moderation von Prozessen anleiten (ebd.) oder
- sein Recht gewaltfrei erkämpfen können. (Kursawe)
Solche demokratischen Kommunikationsformen können geübt werden, z. B. wenn bei
Klassenleiterstunden nichts anliegt und – „in Kombination mit dem Klassenrat“ (Siegert) –
SchülerInnen methodisch darin geschult werden, „ihren eigenen Standpunkt zu
vertreten“ (ebd.), zu argumentatieren und aktiv zuzuhören. Weiterhin können mit Hilfe von
Trainern Sozialkompetenztrainings für alle SchülerInnen einer Schule durchgeführt oder
SchülerInnen zu Streitschlichtern ausgebildet werden. (Siegert) Dilemmata-Übungen können
nicht-demokratisches oder gewalttätiges Verhalten in Konflikterfahrungen, aber auch
Konfliktlösungsstrategien bewusst zu machen. (Rathering) So können durchaus
Haltungsänderungen bewirkt werden oder soziale Kompetenzen (Zivilcourage) gestärkt
werden. (Siegert)
Zweitens muss Kommunikation – aber auch Verantwortung (Beetz) - gleichberechtigt verteilt
sein, um eine „Partizipation aller“ (Rathering) zu ermöglichen. Dies betrifft sowohl den
Unterricht als auch gemeinsame Absprachen (in Gremien) zwischen SchülerInnen,
LehrerInnen und der Schulleitung. (Siegert)
Drittens geht es um geeignete Rahmenbedingungen (ausreichend Zeit, Rituale), um alle
(SchülerInnen in einer Klasse bzw. LehrerInnen, SchülerInnen und Eltern in einem
Schulgremium) zu Wort kommen zu lassen und eine offene und freie Kommunikation zu
ermöglichen. Demokratischen Prozessen genug Zeit einzuräumen, erfordert ein „strategisches
Management in der Schule“. (Rathering)
Ein erster Schritt, Kommunikation in der Schule gleichberechtigt zu verteilen, sind Feedback-
Verfahren. Sie ermöglichen Rückmeldungen von SchülerInnen über die Einschätzung des
Unterrichts oder die LehrerInnen selbst. (Beetz) Es wird von „Feedback-Kultur“ gesprochen,
wenn (regelmäßig – als Ritual) SchülerInnen ihre LehrerInnen sowie – in vergleichender
Gegenüberstellung – LehrerInnen sich selbst einschätzen können. (Witt, Edelstein, Beetz)
Während LehrerInnen „laufend“ Feedback an SchülerInnen geben (Lob und Kritik,
Leistungseinschätzung, Zensuren etc.) (Beetz), müssen – entsprechend dem Prinzip
96

gleichberechtigter Kommunikation – auch den SchülerInnen Möglichkeiten eingeräumt
werden, „Einfluss auf die Lehrer zu nehmen“ (Witt) und „Lehrern etwas mitteilen zu
können“ (ebd.). LehrerInnen müssten dabei einsehen, dass sie mit SchülerInnen zusammen
arbeiten müssen und eine Art „Coach-Funktion“ (ebd.) erfüllen.
Rückmeldungen können anhand eines Fragenkatalogs mit zuvor festgelegten Schwerpunkten
der Einschätzung gegeben werden. So bestehen für SchülerInnen Möglichkeiten, sich sowohl
wertschätzend als auch kritisch zu den Verhaltensweisen ihrer LehrerInnen zu äußern und
Wünsche für Veränderungen zu artikulieren. Sind LehrerInnen bereit, ihre Einschätzung
durch SchülerInnen anzunehmen, können sie – nach einer anonymen Auswertung der
Ergebnisse – die geäußerte Kritik und konstruktive Änderungsmöglichkeiten mit ihren
SchülerInnen diskutieren. Auch kann das Lehrerkollegium ihre Schulleitung bewerten wie
auch Eltern in die Befragungen einbezogen werden können. (Witt)
Dort, wo Raum für gleichberechtigte Kommunikation, das heißt Möglichkeiten für
Rückmeldungen, geschaffen wurden, habe sich der Umgang und die Beziehung zwischen
SchülerInnen und LehrerInnen „komplett verändert“ (Witt). Durch Möglichkeiten,
„miteinander zu reden und Dinge vernünftig abzuklären, um den Schulalltag gut gestalten zu
können“ (Siegert) können sich SchülerInnen „als Teil der Schule“ (Witt) fühlen und nicht nur
in einer „Konsumhaltung“ (ebd.) verharren gegenüber der „Show“ (ebd.) von LehrerInnen.
Viertens spielt Kommunikation eine Rolle bei Aushandlungen, in Bezug auf Inhalte, die
(gewaltfreie) Lösung von Konflikten bzw. Problemen oder den Umgang mit
Regelverletzungen. Konfliktbewältigung kann im Alltagserleben in einer Schule durchaus
Vorrang haben und den Fortgang geplanter Lehr-Lern-Vorhaben unterbrechen. Konflikte
treten auf, z. B. wenn (in der Grundschule) ein Kind einem anderen etwas wegnimmt oder
wenn Kinder sich gewalttätig gegeneinander verhalten. Dann werde zunächst mit
Unterstützung durch Erwachsene versucht, dass der Konflikt durch jene selbst geklärt wird,
zwischen denen er besteht. (Kursawe) Wenn auf diese Weise „Konflikte nicht zu klären
waren“ (ebd.) oder „wenn bestimmte Regeln einfach gebrochen werden“ (ebd.), könne in
einem weiteren Schritt eine „kleine Schulversammlung“ einberufen werden. Dann besprechen
zwei Kinder als Vertreter der Altersgruppen oder Klassen und zwei Erwachsene zusammen
„die Regelverletzungen, die Konflikte, die aufgetreten sind“ (ebd.) und entscheiden, „wie
weiter verfahren wird“ (ebd.). Angestrebt werde bei der Konfliktlösung ein „Täter-Opfer-
Ausgleich“ nach dem Prinzip Wiedergutmachung. „Das Kind, das gestört wurde von dem
anderen Kind“ (ebd.) soll einen Ausgleich haben, in dem das störende Kind etwas anbietet,
97

was das „Opfer“ annehmen kann, aber auch als „nicht gerechtfertigt oder nicht
ausreichend“ (ebd.) zurückweisen kann. Dann müsse „so lange mit den Kindern
diskutiert“ (ebd.) werden, bis eine Einigung erzielt und diese auch ausgeführt wird. Zum
Beispiel: „der übernimmt eben jetzt drei Mal immer meinen Tischdienst“ (ebd.)
Dauert der Konflikt länger an oder tritt er immer wieder auf, werden die Eltern zum Gespräch
eingeladen. Hilft auch das nicht, einen Konflikt beizulegen, wäre der nächste Schritt, dem
störenden Kind „eine Zeit lang“ (ebd.) Schulverbot zu erteilen. Die allerletzte Konsequenz ist
der „Rausschmiss“. (ebd.) In den 17 Jahren der Freien Schule Leipzig mussten Kinder nur
zwei Mal Kinder zu Hause bleiben. Noch nie wurde dort ein Kind rausgeschmissen. (ebd.)
Fünftens bezieht sich Kommunikation auf den Austausch von Informationen und Erfahrungen.
Dies kann wichtig sein für Angelegenheiten der Schule, z. B. wenn in der Schulkonferenz
(mit Elternvertreter) jahrgangsspezifische Problemen und Aufgaben beraten werden und
„benachbarte Klassenstufen zusammen genommen“ (Siegert) werden, um Erfahrungen
auszutauschen, wie z. B. ähnliche Probleme im vergangenen Schuljahr gelöst wurden.
Für die Unterrichtsplanung ist Informationsaustausch von zentraler Bedeutung.
Lehrerkollegen sollten sich untereinander darüber verständigen, welche Themen sie wann im
Unterricht behandeln wollen. „Manch einer hat ein Thema – da wusste ich gar nicht, dass es
das in Mathematik gibt – Goldener Schnitt. Dass das aber auch ein Thema für Kunst ist … Da
waren so ein paar Aha-Effekte.“ (Witt)
Der Austausch von Erfahrungen ist für die Auswertung von Feedback-Verfahren relevant.
Bei Diskussionen darüber, wie mit den Ergebnissen von Feedback-Befragungen umgegangen
werden soll, können sich LehrerInnen über ihre jeweiligen Erfahrungen im Umgang mit
bestimmten SchülerInnen (und Klassen) austauschen. Hierbei kann eine „externe Person“ den
Austausch moderieren und Hilfestellung bieten.
An Schulen, an denen eingesehen wurde, dass die Zusammenarbeit von LehrerInnen wichtig
ist, entstanden Institutionen für Kommunikationen zwischen LehrerInnen, beispielsweise
„Jahrgangsstufenteams“ (Witt), in denen FachlehrerInnen für einen Klassenjahrgang
gemeinsame methodische und inhaltliche Absprachen treffen und über Lösungswege für den
Umgang mit problematischem Verhalten von SchülerInnen vertändigen. (Witt)
Der Austausch von Information ist wiederum eine Voraussetzung, um Transparenz
herzustellen, zum Beispiel wenn LehrerInnen ihre geplante Unterrichtsstruktur offenlegen und
vielleicht auch für Ergänzungen durch und Absprachen mit mit SchülerInnen offen halten.
98

(Beetz) Wenigsten sollten Schulleitung und LehrerInnen einen „Termin- und
Höhepunktplan“ für das Schuljahr als Ausblick für Eltern und Schüler bekannt geben. (Siegert)
7.6.8 These: LehrerInnen stellen „demokratische Verhältnisse“ her
LehrerInnen fällt die Aufgabe zu, „demokratische Verhältnisse im Klassenraum“ (Edelstein)
und in der Schule herzustellen, indem sie selbst in „demokratischen Rollen“ (ebd.) agieren,
„demokratische Impulse“ (ebd.) geben sowie „demokratischen Verfahren“ (ebd.) und
„demokratische Organisationsformen“ (ebd.) zulassen bzw. unterstützen. LehrerInnen sollten
den Anspruch an sich selbst haben, sich diesbezüglich fort- und weiterzubilden. (Siegert)
Ziel solcher Maßnahmen ist es, dass LehrerInnen Demokratie emotional zu verinnerlichen,
um einen „respektvollen Umgang mit dem Schüler“ (Edler) zu üben. Es sollte versucht
werden, eine „Anerkennungskultur“ (Edler) zu leben und das Anderssein von Menschen
(Differenz) auszuhalten. Übungen für das Dilemma-Lernen können beispielsweise Dilemma-
Diskussionen sein. LehrerInnen selbst sollten „Freude am Debattieren, am Streiten
miteinander“ (Edler) stärken. In Lehrerfortbildungen könne auch die Angst von LehrerInnen
vor Kritik bei Rückmeldungen durch SchülerInnen gemindert werden. Insgesamt soll
LehrerInnen „Spaß an Demokratie“ (Edler) vermittelt werden, den sie wiederum SchülerInnen
vorleben.
Möglichkeiten, die Entwicklung „demokratiepädagogischer Kompetenzen“ bei LehrerInnen
zu fördern, sind nicht nur Fort- und Weiterbildungen für LehrerInnen, sondern auch
Beratungen und Erfahrungsaustausche mit LehrerInnen, die (für ein Bundesland) zu
BeraterInnen für Demokratiepädagogik ausgebildet wurden (wie im
Multiplikatorenprogramm des BLK-Modellversuchsprogramm „Demokratie lernen und
leben“). Solche BeraterInnen wurden ausgebildet, um sich für Schülerbeteiligung einzusetzen,
das heißt bei Schulleitern Einsicht zu wecken, Rahmenbedingungen zu schaffen, und
LehrerInnen und SchulleiterInnen Mut zu machen, dass „möglich ist, solche Dinge zu machen,
also, sich anders zu begegnen, anders miteinander umzugehen.“ (Wildfeuer)
Im Hinblick auf die demokratiepädagogische Relevanz von Projekten können solche
Beratungen und Erfahrungsaustausche von LehrerInnen und Schulleitung darauf zielen, eine
„veränderte Sichtweise“ (Wildfeuer) herzustellen sowie „handhabbare Lösungsschritte“ (ebd.)
anzubieten, z. B. wie mit Verbindlichkeiten zwischen LehrerInnen und SchülerInnen
umgegangen werden soll. Somit können „die einzelnen Projekte Ansätze kriegen zur
99

Weiterarbeit“ (ebd.) sowie an Klarheit und Stärkung gewinnen. Diesbezüglich müssten
hierfür Schulen und LehrerInnen häufig angesprochen werden.
Bilden Schulen Netzwerke – wie beispielsweise im „Regionalset“ der zwölf sächsischen
Schulen, die am BLK-Modellversuchsprogramm „Demokratie lernen und leben“ teilnehmen –,
können gemeinsame Workshops, Workshops oder „Modellversuch-Kongresse“ veranstaltet
werden, bei denen „demokratiepädagogische Kompetenzen“ gestärkt sowie Erfahrungen und
Informationen ausgetauscht werden (können). (Siegert)
Wenngleich das Handeln von LehrerInnen und die Durchführung von Unterricht stark durch
Zielvorgaben von Rahmenlehrplänen geprägt wird, so sind die Modalitäten demokratiefähig,
unter denen der Rahmenlehrplan verwirklicht wird. (Edelstein) Solche Modalitäten sind zum
Beispiel der Unterrichtsstil, der Einsatz von Benotung (nicht zum Zweck der Bestrafung) und
Freiräume für Verhandlungen. (ebd.) Auch wenn die Vorbereitung auf zentrale Prüfungen im
Vordergrund steht, sind Verlagerung von Lehrplaninhalten sowie flexible Methodiken, wie
die Nutzung erreichbarer Lernorte, möglich. (Siegert)
Da Demokratie sich als eine Querschnittsaufgabe stellt, die in allen Fächern relevant ist,
müssen auch alle LehrerInnen ein Bewusstsein für Demokratie entwickeln. Dieses bezieht
sich auf geeignete Lernkonzepte, das Verhältnis von Mehrheiten und Minderheiten,
Grundrechte, Macht, die Thematisierung von Ausgrenzung und die Einbeziehung (Inklusion)
aller. LehrerInnen müssen SchülerInnen Lern- und Erfahrungsräume anbieten können, in sie
Verantwortung übernehmen können und sich stark fühlen zu können. Dafür braucht es Zeit,
geeignete Rahmenbedingungen und Kommunikationsräume. Ein Schwarzes Brett kann ein
solcher Kommunikationsräum sein, über das selbst Kinder, die noch nicht schreiben können,
mittels Bildern kommunizieren können. (Rathering)
7.6.9 These: Demokratie in der Schule braucht Rahmenbedingungen
Aus der Perspektive, dass der Unterricht der Kern der Schule sei, stehen LehrerInnen im
Zetrum von Gruppe, Fach und Klasse. Jedoch heißt Unterricht nicht automatisch Lernen. Eine
alternativen Perspektive sollte deshalb das Lernen als den Kern der Schule sehen, um das sich
alles zentriert. (Edelstein) Bereits dieser Perspektivwechsel könnte eine Änderung der
100

Haltung von LehrerInnen, aber auch BildungspolitikerInnen, gegenüber SchülerInnen
bewirken.
Neben solchen Perspektivfragen geht es um die konkreten Rahmenbedingungen für die Arbeit
von LehrerInnen zu. Auch die Arbeitsbedingungen müssen zulassen, dass LehrerInnen
Handlungsfreiheiten genießen und sich methodische ausprobieren können. (Siegert) Häufig
seien die Arbeitsbedingungen von LehrerInnen jedoch durch Stress, eine fehlende
Außenperspektive auf das eigene Handeln (Beetz) sowie „undemokratische
Strukturen“ geprägt. (Witt) Mit „undemokratischen Strukturen“ ist auf der einen Seite der
hierarchische Aufbau einer Schule gemeint, mit der Schulleitung als „der Bestimmer oder die
Bestimmerin“ (Witt) an der Spitze, darunter die LehrerInnen und an „unterster Stelle“ die
SchülerInnen. Diese Hierarchie kommt zur Geltung, wenn Entscheidungen der Schulleitung
auch gegen den Willen der LehrerInnen und schließlich gegen den Willen der SchülerInnen
durchgesetzt werden. „So machen wir das, dann wird’s durchgesetzt“ (Witt).
Auf der anderen Seite sind SchülerInnen und LehrerInnen mit „undemokratischen
Strukturen“ konfrontiert, die das Schulsystem insgesamt prägen. So ist der Besuch einer
Schule nicht freiwillig (oder stets frei wählbar) sondern verpflichtend (Schulpflicht). Ob
LehrerInnen oder SchülerInnen wollen oder nicht, Klassenarbeiten müssen geschrieben
werden. (Witt)
Schließlich ist in einem gegliederten Schulsystem der Zwang zur Selektion konstitutiv,
einschließlich des Zwangs für LehrerInnen Bildungsempfehlungen zu geben. Die Gliedrigkeit
steht in Frage, da Schuluntersuchungen (z. B. PISA) belegen können, dass die Verteilung von
SchülerInnen auf unterschiedliche Schultypen nicht allein auf ihr jeweiliges
Leistungsvermögen zurückzuführen ist, sondern wesentlich auf ihre soziale Herkunft. (Edler)
Außerdem sprechen neurologische und entwicklungspsychologische Befunde dafür, dass eine
„Differenzierung aufgrund von Ergebnissen“ (ebd.) nur stattfinden kann „zu einem Zeitpunkt,
wo diese Ergebnisse zumutbar sind“ (ebd.), das heißt „fühestens nach der Pubertät, […] wenn
die differentielle Entwicklung im Westentlichen ausgeglichen ist.“ (ebd.)
Diskurse über die Selektion Bildungswesen würden jedoch meist zugunsten des Gymnasiums,
das heißt zugunsten der Bourgeoises geführt. (Edelstein) Das „anti-demokratische System“ in
Deutschland wurde auch schon durch die EU-Kommission und den UNO-
Kinderrechtsbeauftragten, Vernor Muñoz, kritisiert, weil es wider die „Gleichberechtigung
der Chancen“ sei. (Edelstein) Die „fundamental anti-demokratischen“ (ebd.) Strukturen des
101

deutschen Schulsystems produzieren durch die Selektionen nicht nur „Verlierer“, sondern
flankieren auch die Möglichkeiten für Heranwachsende, in der Schule Anerkennung zu finden
und Selbstwirksamkeit zu erleben. (ebd.) Dem gegenüber habe Südtirol im Hinblick auf
Qualität und Gleichheit das beste Schulsystem in Europa (so die Auffassung von Edelstein).
Südtirol habe die Einheitsschule, in der Kinder und Jugendliche gemeinsam erzogen würden.
Einheitsschule bzw. Gemeinschaftsschule seien „ein gemeinsames Erbe Europas, nämlich der
Aufklärung, einer aufklärerischen Vorstellung von Demokratie“ (Edelstein), bei der
Gleichheit im Sinne von „Gleichheit vor dem Recht, Gleichheit der Chancen, Gleichheit der
Opportunitäten, Gleichheit der Perspektiven“ (ebd.) zu verstehen ist. Allerdings seien selbst
demokratische Strukturen im Schulsystem, wie z. B. bei der Einheitsschule in Südtirol, zwar
notwendige, aber keine hinreichenden Bedingungen für eine demokratische Gesellschaft.
Strukturen müssten (mit Leben) gefüllt werden. (Edelstein)
7.6.10 These: Die Konsense bestimmen die Reichweite von Demokratie in der Schule
Es ist bedeutsam, wer über welche schulischen Sachverhalte und damit Bedingungen
schulischer Sozialisation entscheiden kann. Im Hinblick auf eine „demokratische
Sozialisation in der Schule“ stellt sich die Frage, inwiefern die an einer Schule Beteiligten
(SchülerInnen, LehrerInnen, Schulleitung, Eltern, Schulaufsicht) bei bestimmten
Entscheidungen mitbestimmen dürfen. In den Experteninterviews fragte ich, welche
Entscheidungen gemeint sein könnten, das heißt, wie weit Demokratie in der Schule gehen
kann.
Da es sich bei Demokratie um ein „kollektives Verhältnis“ (Edelstein) handelt, sind
entsprechend die „kollektiven Konsense, normativen Konsense einer Institution
maßgeblich“ (ebd.). So kann Demokratie in Schulen, „in denen die entsprechenden Konsense
vorherrschen“ (ebd.) sehr weit gehen. Eigentlich gäbe es „überhaupt keine Grenze der
Demokratie, der Demokratisierung von Schule, wenn es einen Konsens gibt, weil es dann
rationale oder auch affektive Argumente sind, die zu Gehör gebracht werden können. Und es
gibt in keinem Unterricht den Zwang, auf Demokratie zu verzichten, weil wir Inhalte haben.
Die sind ja verhandelbar. Das heißt der Lehrer steht demokratisch vor der Aufgabe, den Sinn
dessen, was er zu tun gedenkt, mit den Schülern abzustimmen.“ (ebd.)
In der Schule als Institution sind SchülerInnen wie LehrerInnen Teil kollektiver Verhältnisse.
Deshalb sollten beide Gruppen gleichberechtig an der Entwicklung über kollektiver Normen
102

eteiligt werden. Damit wird auch die Bindung an Regeln legitim, insofern sie als „Form“ der
Demokratie (Wildfeuer) selbst generiert, selbst gewollt und hinterfragbar sind. (Edler)
Die Grenzen von Entscheidungen, an denen SchülerInnen beteiligt werden, werden letztlich
vom jeweils verfügbaren Budget der Schule (ist das bezahlbar?) oder durch
Verletzungsrisiken an bestimmten (Lern-)orten gesetzt. (Kursawe) Jedoch können auch solche
Grenzen (Geld, Risiken, öffentliche Auflagen) Lerngelegenheiten sein, insofern sie „mit den
Kindern thematisiert“ (Rathering) werden unter dem Anspruch von „Aufklärung, Respekt und
Ernstnahme“. (Rathering)
7.6.11 These: Demokratieerfahrung in der Schule schafft Voraussetzungen für
Partizipation in Gesellschaft und Politik
Die Erfahrung der Demokratie wird als eine der „notwendigen Bedingungen einer reflexiven
Partizipation an Demokratie als Herrschaftsform“ (Edelstein) gesehen. Das heißt eine
Demokratie als Lebensform ist eine Voraussetzung für Partizipation, insofern diese
Lebensform selbst auch basisdemokratisch ist. (ebd.) Dies verweist auf den Zusammenhang
von Demokratie und Erziehung, wie ihn John Dewey (1916) formulierte.
Es liegt die Einschätzung vor, dass die Abstinenz Jugendlicher bei politischen Wahlen ein
Ausdruck von Frustration und Ratlosigkeit gegenüber dem politischen System sei. Es gibt
aber auch Nichtwähler aus Zufriedenheit mit dem politischen System. Protestwähler ließen
sich von populistischen Parteiprogrammen leiten, während die „demokratischen“ Parteien
unfähig scheinen, Engagement anzustiften. Zudem sind für viele Menschen andere
Organisationen von größerer Bedeutung „als die politischen Parteien im demokratischen
Spektrum“ (Edler). Politische Parteien wirken nicht nur „unter anderen“ an der „politischen
Willensbildung des Volkes“ (Art. 21 GG) mit. (Edler)
Viele Menschen, nicht nur Jugendliche, seien enttäuscht und verbittert gegenüber dem
politischem System. Dies, eine mythische Vorstellungen über den Nationalsozialismus und
eine intelligente Mediennutzung durch rechte Intellektuelle (zum Beispiel Internet) nährten
die Akzeptanz rechtsextremer Ideologien. Zudem biete Antisemitismus eine
„identitätsstiftende Opposition“ (Edelstein), da sie den „philosemitischen Grundton der
deutschen Gesellschaft“ (ebd.) demoralisieren und „als parasitäre Perspektive“ (ebd.)
verklären könne.
103

In dieser Haltung verstehen sich einige „selbst als diejenigen, die gegen ein Unrecht
aufstehen“ (Edler), während sie „die passiv bleibenden Menschen, die sich alles gefallen
lassen, als Duckmäuser, als Anpasser“ (ebd.) verachten. Es bleibt unklar, ob diese Haltungen
eine „rechte Jugendkultur“ tatsächlich auszeichnen oder ob von Texten deutsch-nationaler
Musik (zum Beispiel der NPD-Schulhof-CD) auf die Gesinnung ihrer Hörer geschlossen wird.
Rechtsextremismus ist nicht nur ein Phänomen in Deutschland, sondern überall in Europa.
Weiterhin sei Rechtsextremismus nur ein Aspekt eines weltweiten Jugendproblems, dass sich
aus Perspektivlosigkeit speist und mit Fanatismus verbindet. Insgesamt weiß die Wissenschaft
aber nur sehr wenig über diese weltweit anzutreffenden Problemlagen Jugendlicher. Das heißt,
eine Ausweitung der Jugendforschung ist notwendig. (Edelstein)
Das Phänomen Rechtsextremismus bringt die Potentiale Jugendlicher zum Ausdruck, „die
Welt sich gefügig zu machen, die Welt zu organisieren.“ (Edelstein) Jugendlichen wehren
sich dabei gegen ihre Perspektivlosigkeit. Allerding tun dies „rechte“ Jugendliche oft „mit
Gewalt und mit der Bemächtigung eines Territoriums.“ (ebd.) Entscheidend sei also, diese
„Potentiale präventiv auf unsere Seite zu ziehen“ (ebd.), das heißt auf die Seite
demokratischer Haltungen und sozialem Engagements. (ebd.) Jugendliche präventiv auf die
Seite der Demokratie zu „ziehen“ könnte als eine Aufgabe der Schule formuliert werden. Dies
bezieht sich sowohl auf die Vorbereitung gesellschaftlichen bzw. politischen Engagements
also auch auf die Entwicklung von Persönlichkeiten, die Distanz wahren zu rechten
Ideologien. (Edelstein)
Demokratiepädagogik könne jedoch nicht „selbsttätig zu Politisierung“ (Edelstein) führen,
sondern nur Politikverdrossenheit mindern, „ohne politisches Engagement in einem formellen
Sinne“ (ebd.) zu fördern. Dennoch könne Schule Gelegenheiten bieten, politisches
Engagement vorzubereiten und zu erproben. (ebd.) So könne Schule eine gesellschaftliche
Organisation sein, die die Voraussetzungen für eine Politisierung und die Entwicklung
demokratischer Haltungen schafft, insofern Kinder lernen, dass sie akzeptiert und anerkannt
sind und sich dadurch „als Etwas erleben, als Subjekte ihres Handelns erleben, das heißt
selbstwirksam werden.“ (ebd.) Selbstwirksamkeit sei wiederum eine Voraussetzung für die
Übernahme von Verantwortung. Schule muss deshalb Gelegenheiten für die Übernahme von
Verantwortung und das Erleben von Selbstwirksamkeit bieten, da Kinder und Jugendlichen
lernen müssen, „dass sie selber ihren Lebensraum gestalten, dass sie selber verantwortlich
104

ernst genommen werden, dass es ihre Welt ist, die sie dann auch selber gestalten müssen und
verantwortlich gestalten müssen.“ (ebd.)
Wird Demokratie in der Schule nicht nur als Thema im Unterricht vermittelt sondern auch in
der Schule gelebt („Leben in Demokratie“), so wird auch eine Grundlage geschaffen, um
einen „demokratischen Habitus“ bzw. eine „demokratische Haltung“ zu erwerben, der
wiederum Voraussetzung ist, um „in der Gesellschaft als Demokrat aktiv zu werden und sie
zu transformieren“, das heißt „im Herrschaftssystem als Subjekt mitzuwirken“. (Edelstein)
Wahlabstinenz ließe sich vielleicht auch vorbeugen, wenn SchülerInnen den Wert des
Wahlrechts als verfasstes Bürgerrecht zu schätzen wissen lernen, da dieses (historisch) gegen
den Staat erkämpft wurde. (Edler) Die verweist auf „über Demokratie lernen“.
Die Erfahrung von „Demokratie als Lebensform“ sei auch eine Voraussetzung für das
Delegationsprinzip, das heißt die Delegations von vertrauenswürdigen Mitmenschen, zum
Beipsiel in die Jahrgangskonferenz, die Schulkonferenz, oder das Schulparlament. Durch die
Erfahrung von „Demokratie als Lebensform“ könnten Kinder und Jugendliche lernen, „das
Delegationsprinzip ernst zu nehmen und eben gerade nicht unter dem Gesichtspunkt von
Verdrossenheit oder partizipatorischer Langeweile“ (Edelstein) wie beim „Vier-Jahres-
Rhythmen der distanzierten Parlamentswahl.“ (ebd.)
Neben der Schule müssen auch in kommunalen Ordnungen Möglichkeiten geschaffen werden,
um Jugendliche zu Wort kommen zu lassen, etwa in Jugendparlamenten, so dass „eine
Kontinuität der Beteiligung, der partizipatorischen Mitwirkung“ (Edelstein) gewährleistet
werden kann, insofern Jugendliche „eine basisdemokratische Grundlegung dafür in ihren
Lebenswelten Schule haben.“ (ebd.)
7.6.13 These: Aushandeln stärkt die Persönlichkeit
Die „präventive Kraft“ (Edelstein) von Demokratiepädagogik liege in der „Stärkung der
Identität, der Persönlichkeitsentwicklung“ (ebd.) durch „Erfahrung der Demokratie in
Praxis“ (ebd.), das heißt Erfahrungen im sozialen Umgang und Gesichtspunkten von Toleranz,
Courage und Gerechtigkeit. Es geht um Erfahrungen, die „differenzierende
Perspektiven“ (ebd.) zulassen und somit auf die Entwicklung von Überzeugungen wirken.
Individuen können in ihren Persönlichkeiten gestärkt werden, indem sie zwischen ihren
105

sozialen und kommunikativen Kompetenzen sowie ihrem Bewusstsein eine Balance finden
können. Menschen müssten lernen können Probleme mit anderen zu verbalisieren und zu
thematisieren, um mit diesen Problemen umgehen zu können. „Wir können gemeinsam
verschiedene Interessen haben, müssen nur darüber reden und sie aushandeln“ (Rathering).
Wer erlebt, dass Probleme und Konflikte ausgehandelt werden können, würde in seiner
Persönlichkeit gestärkt statt menschenfeindliche Haltungen aufzubauen. (Rathering)
Erfahrungen im Umgang mit Menschen nicht deutscher Herkunft könnten ebenso
fremdenfeindlichen Einstellungen vorgebeugt werden. Das gilt auch für die Schule. Sind an
einer Schule jedoch keine Kinder oder Jugendlichen mit Migrationshintergrund, können
entsprechende (Konflikt-)Erfahrungen gar nicht gemacht werden. (Kursawe)
Zwar kann man durch Verbotsregeln Jugendliche davon abhalten mit „rechten“ Klamotten in
der Schule aufzutauchen. Ein kritischer Umgang mit dem (historischen) Nationalsozialismus
und seiner Ideologie wird aber vielleicht erst gestärkt mit Hilfe von Zeitzeugen-Projekten, das
heißt Begegnungen und Gesprächen mit Menschen, die die Zeit des Nationalsozialismus,
vielleicht sogar ein KZ, selbst erlebt und überlebt haben. (Siegert)
Es bleibt offen, ob Jugendlichen mit bereits gefestigten rechtextremen Einstellungen durch
Demokratiepädagogik (wieder) zu demokratischen Einstellungen gelangen. Es wird betont,
dass hierbei auch eine offene Jugendarbeit und Einzelfallbetreuung (Sozialpädagogen,
Mediatoren) notwendig sind. (Rathering) Ansonsten gilt, Demokratie „so früh wie
möglich“ (ebd.) erfahrbar zu machen, damit diese Erfahrung präventiv gegen rechtsgerichtete,
anti-demokratische Einstellungen wirkt.
7.6.14 These: Schulen und Familien müssen gemeinsam Probleme angehen
Die Probleme, die SchülerInnen in die Schule tragen, stellen Herausforderungen für
LehrerInnen dar. LehrerInnen könnten zwar versuchen, SchülerInnen zu
„erziehen“ hinsichtlich ihrer Kommunikationsfähigkeiten (nicht nur in Halbsätzen sprechen),
ihrer Ernährung (Frühstück zu Hause statt Döner in der Pause) und ihrer Gesundheit (Sport in
der Freizeit). (Beetz) Jedoch kann Schule allein diese „Erziehung“ nicht leisten. Auch die
Eltern sind diesbezüglich gefragt und miteinzubeziehen. Unter Umständen ist eine
Erziehungsberatung für Eltern notwendig. (Beetz)
106

Nichtsdestotrotz können Schulen, etwa durch Ganztagsangebote, auf die Familiensituationen
reagieren, in dem Alternativen zum häuslichen Fernsehnachmittag von SchülerInnen schaffen.
(Beetz) Nehmen Kinder und Jugendliche (in oder außerhalb der Schule) Freizeitangebote in
den Bereichen Sport, Musik, Tanz, Theater oder Kunsthandwerk wahr, können sie auch eher
„einen anderen Horizont“ entwickeln, was Perspektivlosigkeit entgegenwirken kann. (Siegert)
Die zeitliche Organisation von Ganztagsschulangeboten unterliege allerdings den
Bedingungen der öffentliche Schülerbeförderung, die sich im ländlichen Raum
problematischer darstellt als in einer (größeren) Stadt. (Siegert)
7.6.15 These zum Ausblick: „Der stete heiße Tropfen hölt den Stein.“
Die Demokratisierung der Schule, das heißt die Einbeziehung (Partizipation) von
SchülerInnen durch demokratierelevante Lernformen wie Projekten oder die
Mitentscheidungen in Gremien der Schule, stellt sich der Schule als ständige Herausforderung
und Aufgabe. Zwar hat auch der Europarat mit dem „European Year for Civic
Education“ (EYCE) in 2005 „Civic Education als zentrale Gemeinsamkeit
Europas“ (Edelstein) erklärt. Es stellt sich jedoch die Frage, inweit
Schulentwicklungsprozesse zur „Demokratisierung“ von Schulen und Stärkung
demokratipädagogischer Kompetenzen bei LehrerInnen selbständig ablaufen (können) oder
durch bildungspolitische Fördermaßnahmen (weiterhin) angestoßen bzw. getragen werden
müssen. Ein Beispiel für Fördermaßnahmen, um die Entwicklung
„demokratischer“ Schulkulturen voranzubringen, ist das BLK-Modellversuchsprogramm
„Demokratie lernen und leben“, in dem unter anderem BeraterInnen für Demokratiepädagogik
ausgebildet wurden und Schulnetzwerke entstanden. Allerdings läuft das Programm nach fünf
Jahren im März 2007 aus. Ob solche bundesweiten Programme auch in Zukunft aufgelegt
werden, ist seit der Föderalismusreform ungewiss, da der Bund in Bildungsangelegenheit
keine Kompetenzhoheiten mehr besitzt und die Länder Abkommen über die Zusammenarbeit
im Bildungsbereich abschließen müssen. (Wildfeuer, Beetz, Edelstein) Die (politischen)
Rahmenbedingungen für die BeraterInnen für Demokratiepädagogik, wie auch den
Wettbewerb „Demokratisch Handeln“ sind zwar unsicher. Über (Kompetenz-)Netzwerke ist
aber eine Weiterarbeit für die BeraterInnen für Demokratiepädagogik und
LehrerfortbildnerInnen möglich. (Edelstein, Edler) Als ein (Kompetenz-)Netzwerk hat sich im
Jahr 2005 die Deutsche Gesellschaft für Demokratiepädagogik (DeGeDe) 31 konstituiert, die
31 www.degede.de
107

zukünftig mit den Landesinstituten für Fort- und Weiterbildung von LehrerInnen
zusammenarbeiten sowie Öffentlichkeit für Demokratiepädagogik herstellen kann. Für die
Weiterführung der Demokratisierung von Schulen seien ferner Ganztagsschulen und
Gesamtschulenm „systemische Fenster“ (Edelstein). Jedoch muss jeweils das Problem der
Finanzierung solcher Netzwerke und Programme gelöst werden. Zum anderen brauchen die
BeraterInnen für Demokratiepädagogik Freistellungen von ihrer Unterrichtspflicht
(Entlastungsstunden), um andere LehrerInnen (an anderen Schulen im jeweiligen Bundesland)
beraten zu können. (Beetz, Wildfeuer)
Die Ausbildung von BeraterInnen für Demokratiepädagogik kann als ein Anschub für
Schulentwicklungsprozesse, im Sinne einer Demokratisierung von Schulen, gesehen werden.
Die in den Teinehmerschulen des BLK-Programms entwickelten Praxisbausteine können
praktisch in allen Schulen Anwendung finden, vorausgesetzt, sie werden gelesen und
verstanden. (Witt) Durch die im BLK-Programm geschaffenen regionalen Netzwerke
(„Regionalsets“) wurden Kontakt zwischen Schulen geknüpft, die auch weiterhin für die
Organisation gemeinsamer Veranstaltungen für die Fort- und Weiterbildung und
Erfahrungsaustauschen nützlich sein können. (Siegert) Schulpartnerschaften können für eine
gegenseitige Befruchtung hinsichtlich Schulentwicklung sorgen. (Witt)
Es kann auch von einer weiteren Verbreitung und Weiterentwicklung demokratischer
Schulentwicklungsprozesse ausgegangen werden, wenn LehrerInnen, Schulleitungen,
LehrerfortbildnerInnen und Schulverwaltungsbehörden motiviert sind, Schule demokratisieren
zu wollen. „Der stete heiße Tropfen hölt den Stein.“ (Edelstein) Offen bleibt, ob sich (Lehrer-)
Beamte dazu motivieren lassen. Diese Motivation kann jedoch aus einem „Erlebnis des
Staunens“ (Rathering) erwachsen, das mit eine demokratischen Leitung von
Gruppenprozessen und den darin freigesetzten Potentialen von SchülerInnen einher geht.
Es sind auch basisdemokratische Änderungen der Binnenstruktur des Schulsystems, die eine
„Reform von unten“ (ebd.) bewirken können. Dies könne zum Beispiel in Form von
Schultandems (wie in Berlin) geschehen, bei denen die Tandemschulen ein gemeinsames
Schulprogramm verfolgen und sich gemeinsam unter LehrerInnen und Eltern verständigen.
(Edelstein)
108

8 Resümee und Ausblick
Diese Untersuchung nahm ihren Ausgang in der Betrachtung der Schule unter Bedingungen
der Individualisierung und Freiheit, aus denen Aufgaben und Entwicklungsmöglichkeiten für
die Schule abgeleitet werden können. Das BLK-Modellversuchsprogramm und andere
demokratiepädagogische Vorhaben wie Projektwettbewerbe und Seminare erheben den
Anspruch, diese Aufgaben und Entwicklungspotentiale Schulen und LehrerInnen bewusst zu
machen. Die eigene Untersuchung zu „demokratischer Sozialisation in der Schule“ konnte mit
Hilfe von Experteninterviews einzelne Ansätze, deren Reichweite und Erfahrungen mit ihnen
verdeutlichen. Die formulierten Thesen liefern hierzu einen Überblick.
Zwar können die identifizierten Ansätz als notwendige Bedingungen verstanden werden,
damit junge Menschen unter demokratischen Verhältnissen in der Schule ihre Persönlichkeit
individuell entfalten können. Um zu klären, ob diese Strategien jedoch auch hinreichende
Bedingungen für die Vorbeugung von menschenfeindlichen Einstellugen, Aggression, Gewalt
und Verdrossenheit gegenüber Schule oder dem politischen sind, müssen vertiefende
Untersuchungen angestellt werden.
Diese Untersuchung beschränkte sich auf die Betrachtung von Bedingungen „demokratischer
Sozialisation in der Schule“. Dieser Fokus auf einen Aspekt der äußeren Realität von
Sozialisation ist jedoch ergänzungsbedürftig. Einerseits müssen auch andere Aspekte der
äußeren Realität von Sozialisation, zum Beispiel die Familie, Medien oder die
Gleichaltrigengruppe in den Blick genommen werden. Hierbei erscheint auch die Evaluation
von Programmvorhaben und Projekten in und außerhalb der Schule wichtig, die sich als
Maßnahmen gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit verstehen.
Andererseits müssen auch subjektive Perspektiven (innerer Realitäten) einbezogen werden.
Das heißt in weiteren Untersuchungen müssen auch die Ansprüche und Erwartungen
gegenüber der Schule identifiziert werden, die aus der Perspektive von LehrerInnen,
SchülerInnen, aber auch Eltern bestehen. Auch sind die konkreten Interaktionen und
Kommunikationen in der Schule weiter untersuchungsbedürftig. Im Hinblick auf eine
„demokratische Sozialisation in der Schule“ sind konkrete Ergebnisse von
Aushandlungsprozessen und Entscheidungen relevant sowie, welchen Einflüsse diese auf die
Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen haben. Es stellt sich auch die
Frage, ob aus subjektiver Perspektive nicht auch ein Widerspruch zwischen demokratischen
Entscheidungen und dem Zwangscharakter der Schule (Schulpflicht) bestehen.
109

Weitere Untersuchungen könnten auch erhellen, ob sich Schüler in ihrer Persönlichkeit
unterscheiden, wenn sie unterschiedliche Schulen besuchen oder besucht haben, an denen
jeweils in unterschiedlicher Ausprägung demokratische Verhältnisse herrschen. An dieser
Stelle sei auf Dokumentationen verwiesen, in denen Interviews mit Experten im Hinblick auf
Konzepte und Ansätze „demokratischer Sozialisation in der Schule“ im Mittelpunkt stehen.
Dies sind „Treibhäuser der Zukunft – Wie in Deutschland Schulen gelingen“ von Reinhard
Kahl (2004) und „Democratic Schools“ von Jan Gabbert (2005).
Ein Vergleich zwischen Schulen ist in mehrfacher Hinsicht möglich. Zum einen müssten
Grundschule, Hauptschule, Realschule, Gymnasium und Gesamtschule im Hinblick auf
Unterschiede in den Sozialisationsbedingungen verglichen werden. Zum anderen ist ein
Vergleich zwischen öffentlichen und privaten Schulen von Interesse, da private Schulen in der
deutschen Schullandschaft an Bedeutung gewinnen. Von den insgesamt 12,3 Millionen
SchülerInnen an öffentlichen und privaten Schulen im Schuljahr 2005/06 besuchten 873.000
(5,9 % aller männlichen, 8,4% aller weiblichen) SchülerInnen Schulen in privater
Trägerschaft. In den einzelnen Bundesländern lagen die Anteile von SchülerInnen an privaten
Schulen zwischen 3,3% (Schleswig-Holstein) und 11,4% (Sachsen). Im Schuljahr 2005/06
wurden 33 neue Privatschulen sowie 2,9 % mehr SchülerInnen an Privatschulen gegenüber
dem Vorjahr verzeichnet. Seit 1992/1993 wuchs damit die Zahl der Privatschulen um 1.405
(+ 43,5%) auf insgesamt 4.637, die der SchülerInnen an Privatschulen um 52,0%. Von diesen
SchülerInnen an Privatschulen besuchten 639.000 allgemeinbildende Schulen und 233.000
berufliche Schulen. Die PrivatschülerInnen in allgemeinbildenden Schulen verteilten sich im
Schuljahr 2005/06 auf Gymnasien (40,4%), Realschulen (17,3%), Freien Waldorfschulen
(12,0%) und Förderschulen (10,4%). Die SchülerInnen in privaten beruflichen Schulen
besuchten Berufsfachschulen (52,2%), Fachschulen (19,9%) und Teilzeit-Berufsschulen
(17,4%). (Statistisches Bundesamt 2006b, c)
Wenngleich die Mehrheit privater Schulen konfessionell (katholisch, evangelisch) sind,
orientieren sich viele andere oftmals an „reformpädagogischen“ Konzepten. Für einen
Überblick sei auf die Bundesarbeitsgemeinschaft Freier Schulen (AGFS 32 ) verwiesen sowie
auf die sechs Vereinigungen und Verbände von Schulen in freier Trägerschaft, die in der
AGFS auf Bundesebene zusammenarbeiten: der Arbeitskreis Katholischer Schulen in Freier
Trägerschaft in der Bundesrepublik Deutschland (AKS 33 ), der Arbeitskreis Evangelische
Schule (AKES 34 ), der Bundesverband Deutscher Privatschulen (VDP 35 ), der Bundesverband
32 http://www.agfs.org/
33 http://dbk.de/katholische_kirche/deutschland/bildung/katholische_verbaende/data/01061/index.html
34 http://www.evangelische-schulen-in-deutschland.de/
110

der Freien Alternativschulen e.V.(BFAS 36 ), der Bund der Freien Waldorfschulen e.V. 37 sowie
die Vereinigung Deutscher Landerziehungsheime e.V. (LEH 38 ). Weiterhin sollten Internate in
den Blick genommen werden. Immerhin gibt es in Deutschland über 300. (Für einen
Überblick vgl. Internatsberatung 39 )
Das Recht zur Errichtung von Schulen in freier Trägerschaft wird durch Artikel 7 Absatz 4
des Grundgesetzes ausdrücklich gewährleistet. Privatschulen finanzieren sich über über das
Schulgeld der Eltern bzw. Schüler und/oder einen Finanzausgleich vom Staat. Allerdings
erhalten nur „Ersatzschulen“ einen Finanzausgleich pro Schüler vom Staat.
„Ersatzschulen“ bezeichnen Privatschulen, die im Prinzip eine staatliche Schule „ersetzen“,
indem sie Bildungsgänge oder Abschlüsse anbieten, die so oder vergleichbar auch an
staatlichen Schulen angeboten werden oder zumindest vorgesehen sind. So sind Ersatzschulen
an die jeweils geltenden staatlichen Lehrpläne gebunden und stehen unter der Rechtsaufsicht
des Staates. In vielen Bundesländern wird zwischen „anerkannten“ und
„genehmigten“ Ersatzschulen unterschieden. Dabei können „anerkannte“ Ersatzschulen selbst
staatliche Abschlüsse (z. B. Abitur, Mittlere Reife) vergeben können, während
„genehmigte“ Ersatzschulen diese Abschlüsse nicht selbst vergeben dürfen und ihre
SchülerInnen diese Abschlüsse in externen Prüfungen erwerben. Da in manchen
Bundesländern kein Schulgeld erhoben werden darf, zahlen die Eltern i. d. R. einen
freiwilligen Beitrag an einen Förderverein. Auch Ergänzungsschulen und freie
Unterrichtseinrichtungen werden nicht gefördert. Sie finanzieren sich meist ausschließlich
über Schulgeld bzw. Kursgebühren. (vgl. VDP: Privatschul-Info 40 ) Es ist deshalb zu fragen,
ob die Abhängig von Schulen von der Finanzierung durch die Eltern bzw. den Staat einen
Einfluss darauf hat, inwieweit SchülerInnen, LehrerInnen und Eltern die Bedingungen in einer
Schule mitgestalten können.
Über die Schule hinaus, sollte auch das politische System berücksichtigt werden. Hier sei
abschließend auf Beck (1997) verwiesen, der das Verhältnis der Jugend zur Politik in den
Blick nimmt und Vorschläge macht, wie aus dem Wertewandel durch Individualisierung neue
Orientierungen hervorgehen (können). Er hebt insbesondere auf politischer Freiheit,
35 http://www.privatschulen.de/
36 http://www.freie-alternativschulen.de/
37 http://www.waldorfschule.de/
38 http://www.leh-internate.de/
39 http://www.internate.at
40 http://www.privatschulen.de/index.php?option=com_content&task=view&id=31&Itemid=53#3
111

Citizenship und Bürgergesellschaft ab, welche eine „zugleich uralte und hochaktuelle“ (Beck
1997, S. 10) Sinnquelle der Moderne darstellen. Das Problem „verinnerlichter Freiheit“ (ebd.,
S. 12) bestehe darin, dass niemand weiß, wie das Verhältnis der „Ansprüche auf Freiheit und
Selbstentfaltung“ (ebd.) bzw. „Ansprüche auf Selbstbeteiligung und Selbstorganisation“ (ebd.)
einerseits gegenüber traditionellen Autoritätsgefügen und (politischer Massen-)
Organisationen andererseits in Einklang zu bringen sind.
Statt eines Werteverfalls, haben wir es mit einem Werte-Konflikt zu tun, „mit zwei in Stil und
Inhalt verschiedenartigen Gesellschafts-, Politik-, und Demokratiebildern.“ (Beck 1997, S. 16)
Während auf der einen Seite Gefahren in „der neuen Vielfalt“ (ebd.) gesehen werden, wird sie
auf der anderen Seite gesehen „in der Unfähigkeit der politischen Parteien, Gewerkschaften,
Kirche, Vereine usw., mit der gewachsenen Vielfalt umzugehen.“ (ebd.) Die Herausforderung
besteht nun darin, Individualismus „als ein wünschenswertes und unvermeidliches Produkt
der demokratischen Entwicklung in Deutschland erkennen.“ (ebd., S. 17)
Eine Strategie, den Nationalstaat und „die nach diesem Muster institutionalisierte
Politik“ (Parlament, Parteien, Regierung) von den Überforderungen durch Globalisierung,
Schrumpfen der Arbeitsgesellschaft, unfinanzierbar gewordener Sozialstaat und
Anstrengungen zur Milderung der ökologischen Krise, zu entlasten, sei die Stützung sowie
der Ausbau der Selbstverantwortlichkeit der Bürgergesellschaft durch „Aufwertung des
demokratischen Nahbereichs“ (Beck 1997, S. 30), das heißt eine Repolitisierung der
Kommunalpolitik.
112

9 Quellen
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9.2 Internetquellen
http://dbk.de/katholische_kirche/deutschland/bildung/katholische_verbaende/data/01061/index.html
(Arbeitskreis Katholischer Schulen in Freier Trägerschaft in der Bundesrepublik Deutschland)
http://democracy.dipf.de (Evaluation demokratiepädagogischer Vorhaben, darunter das BLK-
Modellversuchsprogramm „Demokratie lernen und leben“)
125

http://ntfm.mpib-berlin.mpg.de/mpib/FMPro (Wolfgang Edelstein)
http://web.fu-berlin.de/allg.paedagogik/izll/index.htm (Interdisziplinäres Zentrum für Lehr- und Lernforschung)
http://www.agfs.org/ (Bundesarbeitsgemeinschaft Freier Schulen, Vereinigungen und Verbände öffentlicher
Schulen in freier Trägerschaft)
http://www.blk-demokratie.de (BLK-Modellversuchsprogramm „Demokratie lernen und leben“)
http://www.buendnis-toleranz.de/ (Initiativen gegen Rechts, Bündnisse für Toleranz und gegen
Fremdenfeindlichkeit und Gewalt)
http://www.degede.de (Deutsche Gesellschaft für Demokratiepädagogik)
http://www.demokratisch-handeln.de ( Wettbewerb „Demokratisch Handeln“)
http://www.dipf.de/ (Deutsche Institut für internationale Pädagogische Forschung)
http://www.diskurs.org/findetdemo/ (Findet Demo!)
http://www.ejbweimar.de/ (Europäische Jugendbildungs- und Jugendbegegnungsstätte Weimar)
http://www.evangelische-schulen-in-deutschland.de/ (Arbeitskreis Evangelische Schule)
http://www.ev-ms.de/ (Evangelischen Mittelschule „Erhard und Rudolf Mauersberger“, Großrückerswalde)
http://www.freie-alternativschulen.de/ (Bundesverband der Freien Alternativschulen e.V.)
http://www.freie-schule-leipzig.de/ (Freie Schule Leipzig)
http://www.internate.at (Internatsberatung)
http://www.jugend-debattiert.ghst.de/ (Wettbewerb Jugend debattiert)
http://www.leh-internate.de/ (Vereinigung Deutscher Landerziehungsheime e.V.)
http://www.li-hamburg.de/abt.lif/bf.1400/index.html (Kurt Edler)
http://www.li-hamburg.de/demokratie (Wolfgang Steiner)
http://www.mehr-demokratie.de (Mehr Demokratie e. V.)
http://www.privatschulen.de/ (Bundesverband Deutscher Privatschulen)
http://www.schule.bremen.de/schulen/wallis/ (Schulzentrum Walliser Straße, Bremen)
http://www.sgw.hs-magdeburg.de/mitarbeiter/roth.html (Evaluationen von Programmen und Maßnahmen gegen
Rechtsextremismus von Roland Roth)
126

http://www.sozial-handeln.de/ (Soziales Handeln)
http://www.waldorfschule.de/ (Bund der Freien Waldorfschulen e.V.)
http://www.zentrum-demokratische-kultur.de/ (Zentrum für demokratische Kultur)
9.3 Filme
Kahl, Reinhard: „Treibhäuser der Zukunft - Wie in Deutschland Schulen gelingen“, 2004, URL = www.archivder-zukunft.de
Gabbert, Jan: „Democratic Schools“, 2005, URL = www.democratic-schools.com
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