FORSCHUNGSSTELLE OSTEUROPA BREMEN
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Jahrhunderts erschien erst im Jahr 1953. Eine echte Konjunktur regelmäßig erscheinender<br />
Tagebücher entwickelte sich erst in den achtziger Jahren. "36<br />
Die Beweggründe für das wachsende Interesse an dokumentarischen Texten, in denen<br />
bekannte Schriftsteller/innen, oft auch Politiker, Wissenschaftler und Publizisten<br />
authentische Zeugnisse ihrer Epoche hinterlassen haben, sind nach Ansicht von<br />
Drewnowski vor allem auf den Vertrauensverlust der fiktionalen Literatur zurückzuführen,<br />
die mit der Maskierung des Bösen und Falschen "Schindluder treibe". Deshalb<br />
ziehe es eine größer werdende Leserschaft vor, nur noch unmittelbare, persönliche<br />
Bekenntnisse von Menschen vergangener Zeiten zu lesen.<br />
Welchen Zuspruch solche intimen Bekenntnisse bei polnischen Lesern finden, verdeutlichte<br />
die begeisterte Rezeption der in den siebziger und achtziger Jahrei. erschienenen<br />
Tagebücher von Maria Dabrowska (1914-1965). Zwei andere Tagebuch-<br />
Editionen haben einen ebenso hohen Zuspruch gefunden: die Publikation der im<br />
Pariser Exil-Verlag Instytut Literacki bereits in den sechziger Jahren, also zu Lebzeiten<br />
der Schriftstellers, erschienenen Tagebücher von Witold Gombrowicz und die erst<br />
Mitte der neunziger Jahre abgeschlossene Edition der Tagebücher von Zofia<br />
Nalkowska (1899-1954).<br />
Daß das private Tagebuch auch unter den Bedingungen des starken ästhetischen<br />
Wandels in den Käuferschichten weiterhin eine große Anziehungskraft besitzt, zeigen<br />
die editorischen Vorhaben angesehener polnischer Verlage. Sie wollen in den<br />
nächsten fünfzehn Jahren die Tagebücher der unlängst verstorbenen Romanciers<br />
Teodor Parnicki (1908-1988) und Adolf Rudnicki (1912-1990) wie auch die umfangreichen<br />
Aufzeichnungen und Skizzen des bereits 1986 verschiedenen Miren<br />
Bialoszewski herausbringen. Mit der Verwirklichung ihrer editorischen Pläne befriedigen<br />
sie ein in breiten Leserschichten zweifellos noch vorhandenes Bedürfnis, hinter<br />
die Kulissen einer literarischen Bühne zu schauen, auf der unter dem Ancien Regime<br />
der Kommunisten das veröffentlichte Wort einer stetigen Verklausulierung ausgesetzt<br />
war. Mit Hilfe der Tagebücher'? kann sich der polnische Leser nunmehr in zwei<br />
Textversionen einen offensichtlichen Widerspruch anschaulich machen. Es ist die<br />
Diskrepanz zwischen verschönter Darstellung sozialer Realität aufgrund von Zensureinwirkungen<br />
unterschiedlicher Art in den Büchern der Staatsverlage und den<br />
intimen Bekenntnissen betroffener Autoren, die sich in ihren privaten Texten darüber<br />
beklagen, daß ihre Romane und Erzählungen aufgrund von Verfälschungen<br />
und Kürzungen verstümmelt worden seien.<br />
Mit der Schaffung einer offenen Informationsgesellschaft haben sich in der jungen<br />
polnischen Republik seit Beginn der neunziger Jahre völlig andere Bedingungen für<br />
den Zugriff und die Verarbeitung von Informationen herausgebildet. Vor allem die<br />
in den achtziger Jahren sozialisierte Jugend, die die repressiven Reglementierungen<br />
des kommunistischen Apparates nicht mehr bewußt erlebt hat, erfreut sich eines -<br />
36 Drewnowski, Tadeusz: Dose ''', loc.cit.<br />
37 Betrifft Tagebücher von Schriftsteller(n)/innen, die nach 1945 in der Volksrepublik Polen publiziert<br />
haben.<br />
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