IV. Semantik des blinden Sehens. Tomasz Sektas' Erzählverfahren. IV. I. Die Narratio von der abwesenden Weft Die Debüterzahlung'" des 1957 in Warschau geborenen Autors, 1986 auszugsweise in Tworczosc abgedruckt, bereitet ihren Lesern insofern eine Erwartungsenttäuschung, als sie die im Titel angekündigten .Erzählweisen" sehr vage einlöst. Schon der Einstieg in die "Erzählhandlung" ist ein Gang ins Dunkle. Ein blinder Ich-Erzähler?' beschreibt einen Spaziergang durch eine nicht näher bezeichnete Stadt. Seine Art, Realität zu erfassen, konzentriert sich auf bestimmte Sinnesorgane: "Geführt von einem weißen Stock besichtigte ich die mich umgebende Welt - wenn ich auch nicht wußte, wie einsam sie war - mittels einer ungegrenzten Menge von Details, die durch Nase und Ohr wie Luftwellen auf mich einstürzten. Ich ging aus dem Haus, um ein wenig auf den Straßen umherzugehen, die mich bei der Erledigung von alltäglichen Dingen mit Schmerz und U ngewißheit beschenkten. Jeder Gang in die Stadt war für mich eine leidvolle Pflicht. "95 Der Spaziergang durch die Stadt ist für den Erzähler mit einer schmerzvollen Erkenntnis verbunden. Doch seine Einsicht, daß man "das Sehen verlieren muß, um erst das wahrzunehmen, was nicht sichtbar ist", ist mit der Freude verbunden, daß er immer tiefer in die intime Weit der Gerüche, der Geräusche und Berührungen eindringen kann. Er erkennt, daß sein weißer Stock, "Symbol der Macht über die Quintessenz-Welten, sich in ein dem Blinden gehorsames Werkzeug verwandelt hatte" .96 Diese Erkenntnis löst in ihm Souveränität im Umgang mit seinem visuellen Defekt aus. Er verwandelt sich in eine Gnade, dank derer der Blinde "das Idol der sichtbaren Welt" nicht vergöttern muß. Er selbst gelangt in die Position desjenigen, der den "Sinn des heiligen Sakraments der Erblindung begriffen hat."?? Die erworbene Feinfühligkeit, ein Nichtsehender-Sehender zu sein, überprüft der Erzähler in dem Eingangskapitel mit der Überschrift "Blindlings". Sie löst eine doppelte Assoziation aus. Sie signalisiert sowohl eine tastende Bewegung im Dunkeln als auch eine vielschichtige Auseinandersetzung mit der Wortsemantik von 'blind'. Beide Operationen leistet der Erzähler mit einem hohen Aufwand an physischer und kognitiver Energie im Laufe der folgenden sieben Textsequenzen. Er reflektiert zunächst das Wechselverhältnis von Licht und Dunkelheit, die Verwandlung des Buntfilms in einen Schwarz-Weiß-Film, die der Blinde ( poln.: slepiec) bei seinem Gang durch die Stadt rekonstruiert: "Ieh, der Blinde, auf einer Parkbank sitzend, beneidete die sehenden Menschen, weil für jeden von ihnen die Möglichkeit, die Spur existiert, einen wahrhaft schönen, er- 93 94 95 96 97 28 Vgl. Sektas, Tomasz: Narracje. Kattowitz (Akapit Verlag) 1992. Im Text signalisiert dureh die Zwischenüberschrift "Na oslep". Loe.eit., 17. Loc.cit., 19. Loc.cit.. 21.
habenen Augenblick zu erleben. Gäbe es doch etwas in der Art eines Opfers für die sichtbare Welt. Dieses Opfer könnte ich schon nicht mehr bringen. In meiner Vorgeschichte brachte ich es vollkommen unbewußt, als ich seine Bedeutung nicht schätzte. Ich hatte begriffen, wie gnädig die Sonne war, die mir erlaubte, der Gnade der Blindheit teilhaftig zu werden. "