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FORSCHUNGSSTELLE OSTEUROPA BREMEN

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dieser Vorauswahl signalisiert der Text einen bestimmten perspektivischen Zugang<br />

zur Kulturgeschichte. Er dient der Entblößung überlieferter und verinnerlichter anthropologischer<br />

Muster, deren männliche Formen sich in der gesamten abendländischen<br />

Sakralarchitektur nach Ansicht der Erzählerin abgebildet hätten.<br />

"In dem Bauplan der Kathedrale (Zu Charles, W.S.) kann man einen Menschen mit<br />

ausgebreiteten Oberarmen einzeichnen. Diese menschliche Gestalt ist ein Mann, ein<br />

Mann hat nur einen Eingang ins Labyrinth - den Anus. Die mit Anus und Vagina<br />

ausgestattete Frau symbolisiert das Labyrinth mit zwei Eingängen, selten aber ist sie<br />

auf dem Fußboden von mittelalterlichen Kathedralen eingezeichnet. Eingeweiht in<br />

die gnostischen Mysterien bevorzugte man den männlichen Initiationsweg, der nach<br />

dem Weg des Feuers, des sonnigen Apolls genannt wurde. Der Weg der Frau - der<br />

Weg des Wassers - war kürzer, aber er erforderte von demjenigen, der sich der Initiation<br />

hingab, besondere Vorgaben, die Leichtigkeit, in den dionysischen Wahnsinn zu<br />

verfallen oder einfach hysterisch zu werden." 126<br />

Gegen diese Verinnerlichung männlicher anthropologischer Konstrukte in der Sakralarchitektur<br />

wehrt sich die Erzählerin mit dem Hinweis auf das Labyrinth der Kathedrale<br />

von Chartres. In ihren weiteren Ausführungen verweist die Erzählerin darauf,<br />

daß die Anwendung der esoterischen Initiationsrituale der Frauen "ihre Begründung<br />

in der alchemistischen Symbolik finden, was die Verschmelzung dessen ist,<br />

was männlich (Sonne, Feuer) und was weiblich (Mond, Wasser) ist. Und das alles<br />

zum Zweck der androgynen Vollkommenheit." Als Kronzeugin ihrer auf mittelalterlicher<br />

Weitsicht beruhenden Konzeption benutzt sie Beatrice, die eine der berühmtesten<br />

Jungfrauen des Duocento gewesen sei und Dante durch die Kreise von Hölle,<br />

Läuterungsberg und Paradies geführt habe.<br />

"Sie führte ihn durch das Labyrinth der jenseitigen Welten. Dante eilte hinterher<br />

und schaute auf ihren leuchtenden Anus, der sich verführerisch unter den gepolsterten<br />

Gewändern als eingelöste Erfüllung alchemistischer Rezepte der Androgynität<br />

abzeichnete. "127<br />

Die geschlechterversöhnende Position der Erzählerin befindet sich im Widerspruch<br />

zu den Postulaten der Kirchenväter, die in solchen Verschmelzungssehnsüchten stets<br />

eine Gefahr für den Bestand ihrer Institution sahen und jede Abweichung von den<br />

Grundsätzen christlicher Moral als Häresie ahndeten. Der Text setzt sich mit diesem<br />

Vorwurf auseinander. Das Zeichen 'herezja' ist mit einem Kreuz versehen. Es signalisiert<br />

damit eine verweisende Funktion, die der Text in der folgenden Sequenz auf<br />

ungewöhnliche Weise einlöst. Der männliche Protagonist, der Deutsche Wolfgang<br />

Zanzauer, Romanistikstudent an der Pariser Sorbonne, bezeichnet sich als<br />

"Häretiker der Liebe". Er hat sich gerade in Beba Mazepa verliebt, und er ist eifersüchtig<br />

auf den vermeintlichen Nebenbuhler Giugiu, einen sizilianischen Künstler,<br />

der mit ihm über den Wert von Kunst, Literatur, Sexualität und die potentiellen Gefahren<br />

der Ansteckung durch AIDS streitet. Wolfgang ist deshalb unsterblich in Be-<br />

126 Gretkowska, Manuela. Kabaret metafizyczny. Warschau 1994,7.<br />

m Loc.cit., 8.<br />

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