Storia locale - Tuttapovo
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EINLEITUNG<br />
In seinem historischen Roman erzählt Aldo Giongo die traurigen Erlebnisse, die viele<br />
flüchtigen Familien aus Trentino durchmachen mussten. Die gewissenhafte und<br />
leidenschaftliche Erzählung verwickelt sofort den aufmerksamen Leser. Er fühlt sich in<br />
eine bestimmte Rolle der Geschichte ein und nimmt persönlich an den Ereignissen teil.<br />
Deswegen fühlt der Leser, dass er das ganze Buch schnell lesen muss, um das Ende der<br />
Geschichte zu kennen.<br />
Die einfachen aber lebendige Bilder vom Alltagsleben einer Familie überschneidet sich mit<br />
den Wechselfälle der Verwandten, die in Galizien an der Ostfront kämpfen. Der Leser<br />
nimmt an den Schwierigkeiten teil, mit denen die Familie aus Trient sich jeden Tag in einer<br />
fremden Umwelt auseinandersetzen müssen. Die Armut, der Mangel an Nachrichten von<br />
Freunden und Verwandten an der Front und die Unsicherheit der Zukunft fördern die<br />
dramatische Situation der Flüchtigen noch mehr. Unter solchen Umständen hebt der Autor<br />
die Empfindlichkeit und die Unternehmungslust der Frauen aus Trient hervor, die ohne<br />
Väter und Männer durchhalten müssen. Das Werk von Aldo Giongo wurde für die<br />
Flüchtigen und Soldaten unter der Donaumonarchie, allerdings aus seinem Dorf Povo<br />
stammend, geschrieben. Auf jeden Fall richtet sich das Buch auf den modernen Leser.<br />
Das ist eine Aussage gegen jeden Krieg, damit die Jugend den Kriegszustand in der<br />
Zukunft nicht erfahren wird. Auf der anderen Seite sollten sie das Geschichtsbewusstsein<br />
der Kriege und die Erinnerung an die nicht mehr zurückgekommenen Soldaten und<br />
Flüchtigen behalten.<br />
MARIO EICHTA<br />
EHRENVIZEKONSUL DER ÖSTERREICHISCHEN REPUBLIK<br />
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Vorwort<br />
Titel: Im Osten des Reiches<br />
Wir stehen am Anfang eines neuen Jahrtausends und zu Beginn des 21. Jahrhunderts;<br />
wir alle hoffen, dass es ein besseres wird als das vorausgegangene, eine Zeit ohne Krieg<br />
und Hungersnot, eine Zeit ohne Ungerechtigkeiten. Das vorige Jahrhundert hatte in der<br />
verheerendsten Weise begonnen, durch zwei Weltkriege wurde es zutiefst erschüttert. In<br />
der zweiten Hälfte haben zwei feindliche Blöcke die Welt beherrscht, wir haben hunderte<br />
lokale Konflikte erlebt, die sich nach dem Zerfall des kommunistischen Blockes im<br />
ausgehenden Jahrhundert noch verschärt haben.<br />
Gegen Ende des Jahres 1999, an der Schwelle zum letzten Jahr des scheidenden<br />
Jahrhunderts und des zweiten Jahrtausend, bildet sich beim Anhören der Erzählungen<br />
jener Menschen, die als Zeugen die meisten einschneidenden Ereignisse des 20.<br />
Jahrhunderts miterlebt hatten, fast naturgegeben ein dichtes Netz von Erinnerungen.<br />
An einem regnerischen Novemberabend saß ich mit meinem Vater am offenen Feuer. Und<br />
es geschah wie immer, dass die Erinnerungen wie ein alter Film zu fließen begannen, und<br />
das Vergangene lebte in seiner Erinnerung wieder auf.<br />
Mein Vater, Francesco Bonvecchio, war 1916 während des Ersten Weltkrieges geboren<br />
worden und hat durch seinen zehnjährigen Kriegsdienst die Leiden des Zweiten<br />
Weltkrieges auf der eigenen Haut zu spüren bekommen.<br />
Am Ende des vorgesehenen militärischen Pflichtdienstes wurde er Als Freiwilliger<br />
deklariert und in den spanischen Bürgerkrieg geschickt, dann an die französische Front,<br />
darauf nach Griechenland und schließlich nach Russland. Nach Hause zurückgekehrt hat<br />
er geheiratet, 35 Jahre lang in der Fabrik gearbeitet und ist dann in den verdienten<br />
Ruhestand getreten.<br />
Seine Jugendzeit war trotz allem voller Abenteuer gewesen , angefangen bei seiner<br />
Geburt in einem geheimnisvollen Land, das von den Landkarten verschwunden ist. Er<br />
wurde am 9. November 1916 in Urbau ( jetzt Vrbovec ), einer Fraktion von Znaim ( jetzt<br />
Znojmo ) in Südmähren ( jetzt eine Region der Tschechischen Republik ) geboren.<br />
Wie selbstverständlich entsteht die Frage, wo dieser Ort nun liege und warum die<br />
Großmutter sich dort befand, so weit weg von Trient? Mit Hilfe alter Familienfotos, von mit<br />
der Zeit vergilbten Briefen und durch den Vergleich mit historischen Fachtexten<br />
verschiedener Autoren haben wir die Geschichte der Familie Bonvecchio in der Zeit vom<br />
Jahrhundertbeginn bis 1918 rekonstruiert. Diese Geschichte wollen wir euch nun erzählen.<br />
3
ERSTES KAPITEL<br />
Man schrieb den 31. Dezember 1899. In den Villen der Herrschaften, aber auch in den<br />
Häusern und Wohnungen der Bauern und Arbeiter wartete man mit großer Spannung und<br />
mit einer gewissen Furcht vor dem Neuen auf die Mitternacht.<br />
Nicht irgendein Jahr ging zu Ende: in dieser Nacht klang das 19. Jahrhundert aus und es<br />
begann das 20.Jahrhundert, das neue Lebensformen versprach mit Dampfmaschinen,<br />
pferdelose Kutschen, neue Strassen, Eisenbahnen und Industriewerke. Aber die<br />
Festungen auf den Berghängen über dem Dorf Povo, eine Fraktion der Gemeinde Trient,<br />
bargen in sich auch die Bedrohung neuer Kriege mit Tod und Zerstörung.<br />
( Foto S. 8: Bäuerliche Frauen von Povo zu Beginn des 20. Jhd. ( Archiv Arci/Paho) )<br />
In einem bescheidenen Haus in Oltrecastello, einem Dorfteil von Povo, betreute Desiderio<br />
Bonvecchio, von Beruf Maurer und Bauer, gemeinsam mit seinem Sohn Francesco und<br />
der Tochter Maria Teresa seine Ehefrau Maria, die in den Geburtswehen daniederlag.<br />
Desiderio war ein kräftiger Mann von dreißig Jahren, eher großgewachsen, mit<br />
kastanienfarbenen Haaren, blauen Augen, mit langem, nach Oben gebogenem Schnurbart<br />
und großen, kliebigen Händen. Maria, seine Frau, war 28 Jahre alt, schön , etwas kleiner<br />
als er, rundlich aber wohlgeformt. Francesco war ein achtjähriger, kräftiger und<br />
intelligenter Junge und Maria Teresa war ein hübsches, blondes Mädchen mit blauen<br />
Augen , das als sechsjährige gerade die Schule begonnen hatte.<br />
Das Haus war ein altes Gebäude am Rande des Dorfes, das Desiderio als erfahrener<br />
Maurer hergerichtet hatte. Im Erdgeschoß befand sich ein großer Küchenraum mit einer<br />
hellblauen Kredenz mit einem Glasschrank als Aufbau, in dem das wertvolle Gläserservice<br />
und die Keramikteller aufbewahrt wurden; weiters stand da ein Tisch mit sechs Stühlen.<br />
Als Herd diente ein offener Kamin, von dem eine Eisenkette herunterhing, um den Kessel<br />
für die Polenta und den Minestrone über dem Feuer aufzuhängen; rund um den Kamin<br />
standen etliche Bänke. Von der Küche aus erreichte man das Schlafzimmer der Eltern und<br />
von diesem kam man in ein kleineres Zimmer, wo die zwei Kinder schliefen. Das<br />
Obergeschoß bildete der Heustadel und auf der Rückseite war der Stall für die zwei<br />
Ziegen und eine größere Anzahl von Kaninchen. Seitlich vom Haus führte eine Falltür in<br />
einen unterirdischen Keller.Im Schlafzimmer war mittlerweile die Hebamme tätig, eine<br />
hagere hohgewachsene Frau um die Fünfzig mit langen weißen Haaren die bis zu den<br />
Schultern reichten; sie versicherte, dass die Geburt kurz bevorstand und alle hofften auf<br />
einen guten Ausgang und auch , dass das Kind erst nach Mitternacht zur Welt käme,<br />
damit es nicht das letztgeborene des Jahres 1899 sein würde, sondern das erstgeborene<br />
des neuen Jahrhunderts.<br />
( Foto S.9: Mädchen aus Povo auf dem Dos S. Agata, 1906 (Archiv Arci/Paho ) )<br />
“ Papa” sagte Francesco, der auf die Bank neben dem Kamin gestiegen war “ die<br />
Pendeluhr hat halb zwölf geschlagen, die Mutter hat starke Schmerzen, denkst du, dass<br />
es vor Mitternacht zur Welt kommt ? “ “ Seid beruhigt Kinder” meinte Desiderio, der Vater,<br />
“ eure Mutter wird sicherlich das neue Jahr abwarten”. Das Warten wurde immer<br />
unerträglicher und die Minuten schienen zäher als Stunden abzulaufen, als plötzlich ein<br />
Gewehrschuss die Stille der Nacht durchbrach, dem in der Ferne Freudensrufe folgten.<br />
4
Fast gleichzeitig kam aus dem Schlafzimmer das Schreien eines Neugeborenen und die<br />
Stimme von Bepina, der Hebamme, die warmes Wasser und die Wickeltücher für das Kind<br />
verlangte. Maria hatte es geschafft, ihr Sohn war das erstgeborene Kind des neuen<br />
Jahrhunderts.<br />
Desiderio und seine Kinder schauten schüchtern durch die Zimmertür und Bepina forderte<br />
sie auf einzutreten: “ Kommt, es ist ein Junge!” Desiderio und die Kinder liefen zur Mutter,<br />
die den Neugeborenen im arm hielt, und Maria, sichtlich mitgenommen, verkündete: “<br />
Lieber Desiderio, Giuseppe ist gleichzeit mit dem neuen Jahrhundert geboren: Freut es<br />
dich? Und euch Kinder?”<br />
Desiderio hatte ein Würgen im Hals und brachte kein Wort hervor, während die Kinder im<br />
Chor antworteten: “ Ja Mutter, es ist ein wunderschönes Brüderchen!”<br />
Endlich erlangte auch Desiderio wieder die Sprache , räusperte sich und sagte: “Danke<br />
Maria, nun habe ich meinen zwei Söhnen den Namen unseres geliebten Kaisers geben<br />
können, Franz Josef, Francesco Giuseppe. Du hast das wunderbar gemacht und ich bin<br />
froh, dass er am 1. Jänner 1900 geboren ist.”<br />
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ZWEITES KAPITEL<br />
Das Trentino liegt an einem Knotenpunkt der über die Alpen laufenden Nord-Süd-<br />
Verbindungen und hatte schon 500 vor Christus strategische Bedeutung gewonnen Daas<br />
Gebiet wurde von den Rätern beherrscht, dann von den Galliern. In der Zeit von 225 bis<br />
15 v. Chr. wurde es von den Römern besetzt und besiedelt; sie gründeten die Stadt<br />
Tridentum und brachten die römische Kultur und die lateinische Sprache. Unsere Stadt<br />
stellte so die äusserste Grenze der lateinischen Kultur zur germanischen Welt dar.<br />
Die vom Norden kommenden Einwanderungen trafen zuerst auf das Trentino; so wurde es<br />
bis 568 n.Chr. von den Ostgoten beherrscht, dann kamen die Langobarden, die 774 von<br />
den Franken Karl des Großen besiegt wurden. So wurde das Gebiet eine karolingische<br />
Mark.Nach dem Tode Karls des Großen wurde das Kaiserreich im Jahre 888 unter<br />
seinen Söhnen in drei Königreiche aufgeteilt: Frankreich, Italien und Germanien.<br />
DasTrentino wurde zum germanischen Reich des König Arnulfs geschlagen und damit<br />
beginnt der Einfluss der deutschen Welt auf unsere Region.<br />
Trient aber beharrt stolz auf seine Unabhängigkeit und das führt im Jahre 1027, durch<br />
einen kaiserlichen Erlass des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, zur<br />
Entstehung des Fürstbischofstum von Trient.<br />
Das Fürstbischofstum wird in einer Folge wechselnder Erreignisse bis zum Eintreffen von<br />
Napoleon bestehen, der es 1796 abschaffen wird. Im Jahre 1803 kam das Trentino zum<br />
ersten Male zu Österreich, dann wurde es in den nachfolgenden Jahren abwechselnd kurz<br />
zu Bayern, zu Österreich, wieder zu Bayern geschlagen. 1810 kam es drei Jahre lang zu<br />
Italien bis die Österreicher zurückkehrten und Trient endgültig Teil des österreich-<br />
ungarischen Kaiserreiches wird.<br />
Italien war jahrhundertelang in Kleinstaaten aufgeteilt, die sich ständig bekriegten.<br />
Napoleon hatte es unter seiner Herrschaft vereint und dem Land auch eine, der<br />
französischen Trikolore ähnliche Fahne gegeben. Das Expansionsstreben Italiens setzte<br />
sich mit weiteren drei Kriegen gegen Österreich fort, die es abwechselnd mit<br />
Unterstützung Frankreichs und Preussens gewann. Nach der Eroberung des Lombardo-<br />
Veneto richteten sich die Ansprüche Italiens auf die italienischsprachigen Gebiete des<br />
österreich-ungarischen Reiches, nämlich auf das Trentino, auf Friaul und Istrien.<br />
Im Krieg von 1866, der von Preussen und Italien gewonnen wurde, erreichten die<br />
italienische Truppen unter General Medici und Garibaldi’s Rothemden unter Bezzeca das<br />
Gebiet von Valsorda. Hätte Österreich die Übergabebedingungen nicht angenommen,<br />
wären die sabaudischen Truppen bis Trient und Riva del Garda gekommen.<br />
Um zu vermeiden, dass sich das in Zukunft wiederholen könnte, wurden auf den Bergen<br />
und Hügeln rings um der Stadt mächtige Festungsanlagen errichtet, obgleich zu jener Zeit<br />
Italien schon seit mehreren Jahren eine Dreierallianz mit Preussen und Österreich<br />
eingegangen war.<br />
Die Gemeinschaft von Povo war damals sehr rührig; wie auch in anderen Teilen des<br />
Trentino verbreiten sich neue Ideen und enstanden neue Bestrebungen. Ende 1896 hatte<br />
eie Gruppe von Mitbürgern die Raiffeisenkasse gegründet, während im Vorjahr eine<br />
Verbrauchergenossenschaft entstanden war. Im Vergleich zu anderen Gegenden des<br />
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Trentino ging es der Bevölkerung gut: es gab Arbeit, da waren Mühlen, aber vor allem gab<br />
es viele Maurer und Bauern. Viele öffentliche Bauten wurden abgeschlossen: so bestand<br />
seit 1855 eine neue Brücke über den Fersina-Bach, von wo auch die neue Strasse nach<br />
Povo ihren Ausgang nahm. Diese Brücke war der kaiserlichen Hoheit, dem Erzherzog Karl<br />
Ludwig gewidmet worden, der sie auch eröffnet hatte. In Pantè war eine neue Volksschule<br />
gebaut worden, ein neuer Kindergarten und ein neuer Friedhof waren errichtet worden.<br />
In einer Villa, die von der Adeligen Margherita Grazioli der Gemeinde geschenkt worden<br />
war, wurde 1891 das Altersheim von Povo eröffnet. !896 kam die Eisenbahn bis Mesiano.<br />
Die Orte Povo und Villazano hatten einen eigenen Bahnhof. Aber am meisten Arbeit für<br />
die Armen des Dorfes kam durch den Bau der mächtigen Festungsanlagen auf dem Berg<br />
Celva, dem Chegul und auf dem Marzola-Hügel; damit sollte die Stadt Trient gegen ein<br />
mögliches Eindringen der italienisches Truppen durch das Valsugana-Tal geschützt<br />
werden.<br />
Beachtlich war auch die landwirtschaftliche Tätigkeit; die Bauern waren zum Großteil<br />
Pächter un bearbeiteten den Besitz der Adeligen des Ortes; die Produkte waren Getreide,<br />
Mais und Wein, aber ein besonderes Augenmerk galt bei fast allen wegen des<br />
willkommenen Zuerwerbs der Produktion von Seidenraupen.In zwei Spinnereien wurden<br />
die Seidenraupenkokons verarbeitet, eine war neben der Villa Cavagna in Sprè, die<br />
andere bei der Villa Fogarolli in Oltrecastello. In den Spinnereien arbeiteten viele Mädchen<br />
für einen kümmerlichen Lohn, aber sie hofften so , sich die Aussteuer für die Heirat zu<br />
schaffen. Nach der Hochzeit hatten sie nämlich keine Zeit mehr für die Arbeit in der<br />
Spinnerei, da mussten sie die Kinder versorgen und die Familienfelder bearbeiten.<br />
( Bild S. 11:Politische Landkarte Europas im Jahre 1914)<br />
( Bild S. 12 :Ankündigung der Einweihung der neuen Brücke für Povo- 1855)<br />
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DRITTES KAPITEL<br />
Die Familie von Desiderio lebte anständig und würdevoll vom Maurerlohn und vom<br />
kleinen Feldstück in Selva di Oltrecastello. Desiderio arbeitete in Trient am Bau einer<br />
großen Villa, vorher war er beim Festungsbau in Celva tätig gewesen; nun waren dort die<br />
Arbeiten fast abgeschlossen. Francesco hatte den Auftrag, dem Vater zu Mittag das<br />
Essen zu bringen. Dazu musste er 16 Kilometer zu Fuß zurücklegen; er nutzte die<br />
Gelegenheit, um etwas dazu zu verdienen, indem er zwei weiteren Arbeitern das Essen<br />
brachte. Maria Teresa half der Mutter bei der Betreuung von Giuseppe und führte die<br />
beiden Ziegen auf die Weide, nachdem sie die Volksschule besucht hatte.<br />
Giuseppe wuchs gesund und kräftig heran, er hatte nur ein Jahr lang den Kindergarten<br />
besucht und im Herbst 1906 kam er in die Volksschule. Francesco hatte das sechste<br />
Schuljahr abgeschlossen und war bei einem Bäcker in der Stadt beschäftigt. Erhatte die<br />
Aufgabe , zu Fuß oder mit dem Fahrrad das Brot zu zustellen .<br />
Für Giuseppe war die Schule ein neues Erlebnis. Schnell hatte er die Grundstriche und<br />
das Schreiben der ersten Wörter erlernt. Erbegann auch die italienische Hochsprache zu<br />
lernen, da zu Hause nur der trientner Dialekt gesprochen wurde. Österreich erlaubte es<br />
den Minderheiten, die jeweilige Muttersprache zu unterrichten und diese auch in den<br />
amtlichem Beziehungen zu benutzen.<br />
( Bild S. 14 : Der Salè-Bach im Dorfzentrum von Povo anfang 20.Jhd. )<br />
Im Laufe der folgenden Schuljahre erzählte ihm der Lehrer, ein nicht besonders großer,<br />
barscher Mann um die Vierzig, mit dem klassischen aufgezwirbelten Schnurrbart, von der<br />
Größe des österreich-ungarischen Kaiserreiches. Giuseppe begeisterte sich sofort für<br />
Geschichte und Geographie. Er erfuhr von Jahr zu Jahr, wie sich der Vielvölkerstaat mit<br />
seinen verschiedenen Sprachen und Kulturen herausgebildet hatte, von den fernen<br />
Ebenen Polens bis hin zur damatinischen Küste. Die historischen Ereignisse brachten den<br />
Jungen zum Träumen; er wähnte sich ein Anführer von Heeren, während er die Ziegen auf<br />
den Hängen des Monte Celva zur Weide führte und er fragte sich , ob er eines Tages die<br />
Provinzen des Reiches würde bereisen können oder in das angrenzende Reich gelangen,<br />
wo seine Sprache gesprochen wird.<br />
Die Bauern und Arbeiter schätzten die österreichische Regierung, auch weil sie eine klare<br />
Bestätigung hatten, dass sie über einen höheren Lebensstandard verfügten als im<br />
angrenzenden italienischen Reich. Anders die Adeligen und Reichen; diese teilten den Ruf<br />
nach einer italienischen Nation und wünschten die Annexion des Trentino an Italien. Ein<br />
Beweis dieses relativen Wohlstandes waren die sogenannten “Ciode”; das waren<br />
Mädchen und Frauen im Alter zwischen 10 und 26 Jahren, die zum Josefitag aus dem<br />
angrenzenden, zu Italien gehörenden Gebiet von Belluno ins Trentino kamen und zu<br />
Allerheiligen wieder zrückkehrten.Sie wurden “Ciode” genannt, weil sie beim Reden sehr<br />
oft das Wort “ciò” gebrauchten. Sie kamen aus Not ins Trentino, sie mussten arbeiten ,um<br />
einen kleinen Zuverdienst zu haben. Oft brachten sie auch ihre Kinder mit.<br />
Der Lohn schwankte zwischen einer Krone und einer Krone und 60 Pfennige, dazu kamen<br />
Verpflegung und Unterkunft, die ihnen der Lohnherr im Stadel des Hofes gewährte; ohne<br />
Unterkunft und Verpflegung war er etwas höher zwischen einer Krone und 60 Pfennige bis<br />
zu zwei Kronen.<br />
In Erwartung einer Anstellung oder bei zeitweiliger Beschäftigung ohne Unterkunft wurden<br />
sie im “Nachtasyl für italienische Einwanderinnen” untergebracht, das von der<br />
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Bevölkerung “Asilo delle Ciode” genannt wurde. Das Heim wurde von der Stiftung<br />
Bonomelli, einer italienischen Organisation, verwaltet und verfügte über 70 Betten, die<br />
aber nicht ausreichten. Das Heim befand sich in der heutigen Via S. Maddalena. Für die<br />
ersten drei Nächte war die Unterkunft kostenlos, dann kostete sie fünf Pfennige pro Nacht,<br />
um die Mädchen anzuregen, sich schnell eine Arbeit zu suchen.<br />
Giuseppe und seine Geschwister hatten in der Schule gelernt, dass es in der<br />
Vergangenheit Sklaverei gegeben hatte (in Amerika bestand sie bis kurz vor der Zeit ihrer<br />
Geburt) und dass sie aber von allen zivilisierten Völkern abgeschafft worden war, weil<br />
unmoralisch und ungerecht. Die Beschäftigung dieser Frauen und Mädchen glich stark<br />
einem Sklavenhandel. Rund um den Lindenbaum am Domplatz von Trient versammelt<br />
mussten sie die Arme vorzeigen, um ihre Kräftigkeit un Ausdauer als Arbeiterinnen zu<br />
beweisen; dabei waren sie oft gezwungen, ein Betasten und Befühlen seitens der Bauern<br />
über sich ergehen zu lassen, das ganz sicher nicht auf die Feststellung ihrer Arbeitskraft<br />
ausgerichtet war.<br />
Die jungen Männer des Ortes zeigten großes Interesse für die “Ciode”, die meistens<br />
schön, lebenslustig und fröhlich waren und im Vergleich zu den einheimischen Mädchen<br />
eher bereit waren an Tanzfesten teilzunehmen und Liebschaften einzugehen. Auch<br />
Francesco hatte sich mit diesen jungen Frauen angefreundet und eine hatte in besonders<br />
erobert. Sie hieß Lucia und war schön,nicht sehr groß aber wohlgestaltet , ein Zopf<br />
sammelte ihr langes schwarzes Haar, sie war um die zZwanzig, sehr sympathisch, fröhlich<br />
und voller Leben. Trotz der harten Feldarbeit war sie immer zu Unterhaltungen<br />
aufgelegt.Samstag abend zog Francesco sein bestes Gewand an, stieg aufs Fahrrad und<br />
fuhr zum Gionghi-Hof in Gabbiolo, eine Ortschaft zwischen Povo und Villazzano, wo Lucia<br />
Arbeit gefunden hatte.Teils zu Fuß, teils mit dem Fahrrad legten sie den Weg bis zum<br />
Gasthaus “Osteria della grotta” oberhalb Villazzano zurück, woo sich die Jugendlichen<br />
des Gebietes trafen, um bei Ziehorgelmusik zu tanzen und sich zu unterhalten. Dort<br />
tanzten sie lange und gegen Mitternacht begleitete Francesco Lucia zum Gionghi-Hof<br />
nicht ohne einige Zwischenaufenthalte um sich zu umarmen und leidenschaftlich zu<br />
küssen.<br />
Seit fünfzig Jahren nun waren Povo und Villazzano, die zusammen über mehrere<br />
Jahrhunderte die “Magnifica Comunità di Povo” (Dorfgemeinschaft) gebildet hatten, schon<br />
zwei getrennte, selbständige Gemeinden. Die Trennung war nicht gerade friedlich<br />
abgelaufen besonders was die Aufteilung des in Gemeinschaftsbesitz der Ansässigen<br />
stehenden Waldgebietes anging. Villazzano war ein Siebtel der Gesamtfläche zugefallen,<br />
d.h. jener Bruchteil, über den es als Fraktion der “Magnifica Comunità” verfügen konnte.<br />
Der Groll, den die beiden Gemeinschaften aufeinander entwickelt hatten, war nie<br />
ausgeräumt worden und wirkte weiter, so dass die Jugendlichen häufig<br />
Auseinandersetzugen hatten, die in wilde Kämpfe ausarteten. Aus diesem Grunde war es<br />
für einen jungen Mann aus Povo nicht gerade gefahrlos bei Gabbiolo die<br />
Gemeindegrenzen zu überschreiten, um im Gasthaus “Grotta” tanze zu gehen.Aber<br />
Francesco standen wohl größere Gefahren und ganz andere Grenzen bevor.<br />
(Bild S.16:Frauen vor dem Gemeindegebäude von Povo zu Beginn des !9.Jahrhunderts<br />
( Archiv Arci/Paho ))<br />
( Bild S. 17 : Dorfplatz von Povo, im Hitergrund der Eingang zur Villa Thun – 1914 (Archiv<br />
Arci/Paho ) )<br />
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VIERTES KAPITEL<br />
Es beginnt das Jahr 1914. Dieses soll das Leben aller Bürger Europas zutiefst<br />
kennzeichnen. Die Beziehubgen zwischen den europäischen Staaten werden immer<br />
angespannter. In zwei Blöcke gespalten warten sie nur auf einen Vorwand, um die<br />
Feindseligkeiten zu eröffnen. Giuseppe hat die Schule Abgeschlossen und wartet auf eine<br />
Beschäftigung; bei der Eröffnung der Baustellen übernimmt er die Aufgaben von<br />
Francesco und pendelt zwischen Trient und Povo mit dem Mittagessen für seinen Vater<br />
Desiderio und für andere Mitbürger des Dorfes.<br />
Francesco war mittlerweile zum Militärdienst einberufen worden. Er leistete seinen Dienst<br />
bei einer kleinen, nach Vallarsa abkommandierten Grenzabteilung des 2. Regiments der<br />
Tiroler Kaiserjäger ( eigentlich ein Glücksfall, denn laut Gesetz musste der Dienst in einem<br />
anderen Land des Kaiserreiches abgeleistet werden). Man war bis zum 32. Lebensjahr<br />
militärpflichtig. Die Einberufung erfolgte über ein Auslosungsverfahren; jede Gemeinde<br />
war verpflichtet, jedes Jahr eine bestimmte Anzahl junger Männer zu stellen. Der<br />
verpflichtende Militärdienst dauerte drei Jahre und laut Gesetz bestand die Möglichkeit,<br />
sich im Dienst ersetzen zu lassen; dadurch konnten die Reichen ihre Pflicht auf die Armen<br />
abwälzen.<br />
Wie jedes Jahr waren zur Feier des Hl. Vigilius, des Schutzheiligen der Stadt Trient,<br />
festliche Kundgebungen in der Stadt und rligiöse Zerimonien angekündigt, als wie ein Blitz<br />
eine schreckliche Nachricht die Bürger der Stadt traf: der Thronfolger, der Erzherzog<br />
Franz Ferdinand von Este war mit seiner Gattin von einem serbischen Extremisten in<br />
Sarajewo getötet worden. In Abwartung der weiteren Entwicklungen wurden alle<br />
Feierlichkeiten eingestellt. Österreich hielt Serbien für das Attentat verantwortlich und<br />
beschloss Strafmaßnahmen.Es wurde Genugtuung gefordert, aber die von Serbien<br />
vorgebrachten Rechtfertigungen wurden als unzureichend erachtet. So erfolgte am 28.<br />
Juli die Kreigserklärung.<br />
Den einundzwnzigjährigen Francesco, der in weingen Tagen einen Kurzurlaub antreten<br />
sollte, traf der Krieg wie ein Faustschlag. Beim 2. Kaiserjägerregiment wurden deshalb die<br />
Entlassungen und der Heimurlaub eingestellt. Serbien forderte die Hilfestellung<br />
Russlands, welches Österreich – Ungarn den Krieg erklärte. Für Francesco beganndie<br />
Tragödie, das Regiment erhielt Marschbefehl und ihm blieb nur die Zeit, seine Familie mit<br />
einem Telegramm zu benachrichtigen, dass er am nächsten Morgen am Bahnhof von<br />
Trient in Durchfahrt zur fernen Front eintreffen wird.<br />
Maria war gerade von der Feldarbeit in Selva heimgekommen, als der Postbote aufgeregt<br />
und schweißüberannt an die Tür klopfte: “Frau Maria, ich muss leider schlimme<br />
Nachrichten überbringen ! “ Er stzte sich auf die Bank und wischte sich den Schweiß ab. “<br />
Was ist denn geschehen, Pietro?” fragte Maria ganz erschrocken undnahm das<br />
Telegrammin die Hand. Mit zitternden Händen las sie die paar Wörter und es war ihrals<br />
würde sie sterben. Francesco, ihr Sohn Francesco musste am nächsten Morgen in den<br />
Krieg ziehen. Sie ließ sich auf einen Stuhl vor dem Postboten niederfallen und schaute in<br />
die Leere. Pietro versuchte sie zu ermutigen und verabschiedete sich, da er, wie er sagte,<br />
noch weitere Telegramme zustellen müsse.<br />
Am Abend während sie Sachen zusammenstellten, die sie Francesco mitgeben wollten,<br />
meinte Desiderio “ Sollte ich auch meine Anstellung verlieren, morgen werden ich mit<br />
meiner ganzen Familie meinen Sohn verabschieden”. Es war ein trauriger Gang in die<br />
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Stadt! Am Bahnhof herrschte ein großes Durcheinander, sie sahen die soldaten, die auf<br />
den Zug warteten und die vielen Menschen, die hergekommen waren, um sie zu<br />
grüßen.Sie schlossen sich diesen an und trösteten sich gegenseitig.<br />
Nach mehr als einer Stunde traf der Zug ein; Francesco stieg aus und lief ihnen entgegen.<br />
Weinend umarmte er die Mutter, seinen Bruder und seine Schwester. Desiderio hielt sich<br />
zurück, er wollte Stärke zeigen. Francesco beruhigte alle, indem er sagte: “ Ihr könnt<br />
beruhigt sein, es besteht keine große Gefahr; man hat uns versichert, dass es ein<br />
Spaziergang sein wird, denn Russland hat nicht die Kraft zu widerstehen.” “ Francesco”<br />
sagte Maria “ ich bitte dich, sei vorsichtig, setz dich nicht unnötigen Gefahren aus, ich will<br />
dich nicht verlieren.” Mit einem Würgegefühl im Hals drückte desiderio seinem Sohn die<br />
Hand und sagte. “ Du musst stolz sein, diese Uniform zu tragen; verteidige das Vaterland<br />
und unseren Kaiser, aber komm heil zurück, wir brauchen dich hier,wir wollen uns an<br />
keinen toten Helden erinnern müssen; hier warten wir auf dich.” Die letzte Umarmung galt<br />
seinem Bruder Giuseppe und dann stieg er in den Zug ein.Ein Pfiff und mit dem Rauch<br />
und Dampf der Lokomotive rückte auch der Gesang der Soldaten in immer größere<br />
Ferne.<br />
Die erste Haltestelle war Brixen, dann folgten Lienz, Graz und Budapest. Der Zug fuhr<br />
weiter die Karpaten hoch und dann hinunter in die galizische Ebene. Endlich kam er in<br />
Przemysl an, eine mächtige Festungsstadt an der San.Francesco traf auf eine Unzahl von<br />
Menschen, die seltsame, nie zuvor gehörte Sprachen redeten, die scharfen Befehle waren<br />
auf Deutsch, eine Sprache , die er kaum sprechen konnte.<br />
In den folgenden Tagen entdeckte er, dass er zu einer Garnison gehörte, die aus 128.000<br />
Männern bestand, das sind 14 Bataillons, mit 14.000 Pferden und 1000 Kannonen.<br />
Österreich-Ungarn hatte zwei Drittel seines Heeres aufmarschieren lassen, Vier Armeen<br />
bestehend aus 32 Infantriedivisionen, 10 Reitdivisionen und 2000 Kannonen wurden<br />
gegen vier stärkere und besser ausgerüstete russische Armeen ins Feld geführt. Die über<br />
55.000 Trentiner sind als österreichische Untertanen in der ersten Armee eingeordnet und<br />
auf vier Kaiserjäger –und drei Landschützenregimente ( später auch Kaiserjäger)<br />
aufgeteilt.<br />
Am 23. August 1914 rückt das österreich-ungarische Heer unter der Führung von General<br />
Franz Konrad von Hötzendorf durch Volinien und überschreitet die Grenze des zu<br />
Russland gehörenden Polens in Richtung Lublin. Bald erfolgte der Zusammenstoß mit den<br />
vorrückenden russischen Truppen.Die Schlacht dauerte drei Tage und wurde auf beiden<br />
Seiten heftigst gekämpft, aber die Österreicher verloren. Darauf setzte eine großangelegte<br />
russische Gegenoffensive ein; anfangs September wurde Lemberg, die Hauptstadt<br />
Galiziens besetzt und nach wenigen Tagen erreichten die russischen Truppen den Fluss<br />
San und belagerten die Festung Przemysl.<br />
Die österreichische Kriegsführung war noch die des vorhergehenden Jahrhunderts: große,<br />
zum Angriff ausgerichtete Truppenaufmärsche, mit Gewehr und Bajonett bewaffnet. Die<br />
Russen hatten nach dem Japankrieg sei es die Waffenausrüstung wie auch die Strategien<br />
modernisiert. Es ein wahrhaftiges Massaker. Viezig österreich-ungarische Divisionen<br />
wurden vernichtet, auf dem Fluss San schwammen hundert Leichen und das Blut färbte<br />
das Wasser rot. Mit Unterstützung der deutschen Verbündeten konnten die Österreicher<br />
einen Gegenangriff organisieren und zwangen die Russen sich hinter die San<br />
zurückzuziehen; schon wenige Tage später mussten sie aber fluchtartig den Rückzug<br />
antreten und verloren ganz Galizien bis Krakau. Nur die Festung Przemysl leistete noch<br />
Widerstand, aber vollständig von den Russen eingeschlossen.<br />
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Der Krieg hatte seine ganze Grausamkeit und Gnadenlosigkeit gezeigt, nicht nur mit den<br />
Granaten und in den Nahkämpfen mit dem Feind, sondern auch mit den endlosen<br />
Märschen ohne Wasser und Verpflegung, unter unaufhörlichem Regen, im Schlamm, wo<br />
jeder Schritt mühsam wurde. Unmenschliche Strapazen unter den Befehlen gnadenloser<br />
Offiziere, die im Soldaten nur eine Nummer sahen. Wer es nicht schaffte, mit seiner<br />
Mannschaft mit zu marschieren, wurde ohne Rücksicht zurückgelassen; viele wünschten<br />
sich den Tod als Befreiung.<br />
Im Zuge dieser ersten Kriegsmonate hatte das österreich-ungarische Kaiserreich den<br />
Krieg praktisch schon verloren, denn die besten Kräfte seines Heeres waren zerstört<br />
worden,nur wollte die Führung das nicht zugeben und mobilisierte alle Reserven, indem<br />
zuerst alle Männer bis 45 und dann auch die älteren und die Jugendlichen ab 18 zum<br />
Kriegsdienst eingezogen wurden. Weiters wurden alle finanziellen Ressourcen und die<br />
Industriebetriebe dazu eingesetzt, schwere Waffen, kannonen und Maschinengewehre<br />
herzustellen.<br />
Deutschland beschloss Österreich zu unterstützen und griff die Russen an der Weichsel<br />
an. Der Angriff überraschte die zaristischen Truppen nicht, diese waren darauf vorbereitet,<br />
die Angreifer zurück zu stossen. Die Kämpfe dauerten 20 Tage lang und auf beiden seiten<br />
starben Tausende von Soldaten. Schließlich mussten sich die Deutschen geschlagen und<br />
gedemütigt zurückziehen.<br />
Für den armen Francesco war das alles andere als ein kurzer Spaziergang! Selbstbewusst<br />
waren sie von Lemberg losgezogen und nach einem schnellen Vormarsch mit nur sehr<br />
geringfügigen Zusammenstössen gerieten sie plötzlich unter einen starken<br />
Artillieriebeschuss: eine ware Hölle, vier Stunden lang Explosionen, Splittern, zerrissenen<br />
Leiber von Menschen und Pferden. Zu Tode erschrocken hatte sich Francesco mit<br />
anderen Kameraden in eine Grube verkrochen und er sah wie viele seiner Kameraden von<br />
den Granaten zerfetzt wurden. Nach dem Bombardement zogen sie sich nach Lemberg<br />
zurück, aber in Sichtweite der Stadt gelangt erhielten sie den Befehl unter allen<br />
Umständen Widerstand zu Leisten, um Lemberg zuretten.Es erklang die Trompete, alle<br />
mussten sich in Reih und Glied aufstellen, es ergingen ein Paar kurze Befehle und dann<br />
begann der Angriff mit aufgepflanztem Bajonett. Francesco stand in den ersten Reihen.<br />
Still betete er zur Muttergottes und lief gegen den Feind, dem er nie begegnete: das<br />
plötzliche Rattern eines Maschinengewehrs, ein heftiger Schmerz in der Brust, Blut<br />
strömte heraus, dann kam Kälte und Dunkelheit. Für Francesco war es das Ende.<br />
Bild S.19 : Kaiserjägerkompanie vor der Abfahrt zur Front- 1914 ( Archiv der Bibliothek<br />
von Povo)<br />
Bild s. 20 : Österreichische Besetzung von Lublin in Polen- 1914 ( Archiv der Bibliothek<br />
von Povo)<br />
Bild S. 21 : Trentiner Kaiserjäger in Galizien – 1914 ( Archiv der Bibliothek von Povo )<br />
Bild S. 22 : Trentiner Soldaten in der Ukraine – 1914 ( Archiv der Bibbliothek von Povo )<br />
12
FÜNFTES KAPITEL<br />
Die Nachricht des tragischen Todes von Francesco fiel wie ein Stein auf die Familie<br />
Bonvecchio. Die Mutter war verzweifelt, nie mehr hätte sie ihren Sohn wiedergesehen und<br />
nicht einmal einGrab wurde es geben, an dem sie weinen könnte. Der Vater verstummte in<br />
seinem unermessllichen Schmerz. In Tränen aufgelöst waren dei Geschwister Maria<br />
Teresa und Giuseppe. Der August ging zu Ende, der Krieg dauerte erst seit einem Monat<br />
und hatte der Familie Bonvecchio und vielen anderen Familien im Trentino schon solch<br />
große Verluste zugefügt.Es verging der Herbst und es kam der Winter. Tieftraurig war das<br />
Weihnachtsfest ohne Francesco. Man musste es hinnehmen und in die Zukunft schauen.<br />
Das Jahr 1914 ging zu Ende und das neue Jahr brachte keine neuen Hoffnungen: Italien,<br />
offiziell mit den Mittelmächten verbündet, war nicht an deren Seite in den Krieg eingetreten<br />
wie es in den Verträgen vorgesehen war und führte als Begründung an, dass Österreich<br />
Bosnien-Herzogowina annektiert hatte ohne zuvor die Verbündeten zu befragen.<br />
Auf der italienischen Halbinsel häuften sich die Kundgebungen der Interventionisten, die<br />
den Kriegseintritt gegen die Verbündeten des Dreierbundes forderten. Mittlerweile setzten<br />
die Russen ihren Vormarsch fort: die Festung Przemysl war gefallen und 130.000<br />
Soldaten wurden gefangen genommen; die Offensive erfolgte auch auf der karpatischen<br />
Front; der Schnee war blutgefärbt und die Wiesen von Grabkreuzen übersät. Die<br />
Österreicher leisteten zähen Widerstand und mit den andauernden Schneefall und den<br />
eisigen Temperaturen schien die Natur das Massaker aufhalten zu wollen.Auf den<br />
Passhöhen zu Ungarn wurden die Russen schließlich aufgehalten. Der schreckliche<br />
Winter ging zu Ende und es kam der Frühling; am 3. Mai begann die Gegenoffensive der<br />
gesammelten Streitkräfte der Deutschen und Österreicher und mit der schlacht von<br />
Tarnów und Gorlice gelang der Durchbruch der russischen Front, Galizien ( an die<br />
hundert Kilometer von Krakau entfernt ) und die Bukowina wurden zurückgewonnen,<br />
Przemysl und Lemberg sowie alle vor dem Krieg besessenen Gebiete wurden wieder<br />
erobert.<br />
Es war Ende Juni. Unter den Soldaten befand sich auch Desiderio, der mittlerweile zum<br />
Waffendienst eingezogen worden war. Seine Einheit hielt sich in einem Birkenwald nahe<br />
Lemberg auf und er stand vor einem Massengrab, über dem seine Kameraden gerade ein<br />
großes Kreuz aufstellten. Da ruhte für immer sein Sohn Francesco. Vor seiner Abfahrt<br />
hatte ihm seine Frau Maria eine Blume anvertraut, die er aufs Grab legen sollte, als letzten<br />
Gruß für den Sohn. Er legte diese mittlerweile verwelkte Blume hin und betete. Im<br />
Gedanken sprach er zu seinem Sohn : „ Lieber Francesco, ich bin jetzt auch hier in<br />
diesem grausamen Land und kämpfe gegen einen Feind, den ich nicht kenne, gegen<br />
Männer, die dich getötet haben, um nicht getötet zu werden, Männer, die ohne zu wissen<br />
warum in den Tod geschickt wurden. Deine Mutter läßt dich grüßen, auch Maria Teresa<br />
und Giuseppe, adieu Francesco, du wirst immer in unseren Herzen sein.<br />
Die Komilitonen von Desiderio sprachen alle im Reich bestehenden Sprachen; nur wenige<br />
aber sprachen Italienisch. In seiner Einheit war nur ein Italiener, Paolo Trevisan aus Triest,<br />
ein eher kleiner, dunkelhaariger Mann, der etwas jünger war als er, mit dem er sich aber<br />
gut verstand und oft die Freizeit verbrachte. Die lokale Speisekarte war nicht besonders<br />
abwechslungsreich: Rotkohlsuppe und mit Sauerrahm abgerichtetes Gemüse mit einigen<br />
Stücken Schweinefleisch.<br />
Die Nachrichten, die aus den Grenzgebieten zum Königreich Italien kamen, versprachen<br />
nichts Gutes; die kürzlich gebauten Festungswerke wurden mit Waffen ausgerüstet und es<br />
waren Truppenverlagerungen nach Süden im Gange, hin zu der zwischen Tezze<br />
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Valsugana und Primolano, dann weiter über die Gebirgskämme und die Hochebenen<br />
(Lavarone, Monterovere, Luserna, Vezzena) verlaufenden Grenze.<br />
Die Orte südlich von Rovereto hatten schon den Evakuierungsbefehl bekommen. Kinder<br />
und Erwachsene, Gesunde und Kranke mussten sich binnen weniger Stunden auf die<br />
Abreise vorbereiten. Auch Mütter mit fünf oder sechs Kindern, deren Mannan der Front<br />
war, mussten ihre Habseligkeiten zusammenrichten und sich zum nächstgelegenen<br />
Bahnhof begeben und alles zurücklassen.<br />
Die Propaganda der Interventionisten unter der Führung des Trentiner Sozialdemokraten<br />
Cesare Battisti, Abgeordneter im österreichischen Parlament und nach Italien geflüchtet,<br />
zeitgte ihre Erfolge: die italienische Regierung erwägte ernsthaft, den Verbündeten den<br />
Krieg zu erklären, um im Osten Friaul, Triest, Istrien und Dalmatien und im Norden das<br />
Trentino zu annektieren. Um die Eröffnung einer neuen Front zu vermeiden, war<br />
Österreich bereit zu verhandeln und Teile der Gebiete abzutreten , falls Italien weiterhin<br />
neutral bliebe; aber es schien kein politischer Wille zu einem Abkommen zu bestehen.<br />
Immer stärker bliesen die Kriegswinde. Nach Ostern zeigte sich der Frühling in all seiner<br />
sprießenden Blätter- und Blumenpracht. Am 24. Mai verbreitete sich die gefürchtete<br />
Nachricht in den Städten und Dörfern: Italien hatte Österreich die Kriegserklärung<br />
übergeben.<br />
Am gleichen Tag wurde das Trentino Kriegsgebiet. Von den Festungen der Vezzene-<br />
Berge schossen die italienischen Kannonen auf die Festung auf der Levico-Spitze, von wo<br />
die Kannonen zurückschossen. Mitte Mai erschienen zwei Staatsbeamte im Gasthaus<br />
„Doro“ (Giuseppe Frizzera) in Oltrecastello mit der Aufgabe, die Bevölkerung auf eine<br />
eventuelle Evakuierung vorzubereiten. Man wollte vermeiden, dass die Bevölkerung unter<br />
das Feuer des Feindes geraten könnte, falls die Italiener die Verteidigungslinien von<br />
Celva und Marzola durchbrechen sollten. Der Bevölkerung wurde aber verschwiegen,<br />
dass ein genauer Evakuierungsplan vorlag, der schon 1912 ausgearbeitet worden war.<br />
Äusserst unauffällig hatten die Gendarmen schon am 20. Mai begonnen alle für Italien<br />
sympathisierenden Bürger zu verhaften; diese wurde mit eigenen Zugtransporten in das<br />
Konzentrationslager von Katzenau in der Gemeinde Linz überführt, wo sie bis Kriegsende,<br />
in Holzbaracken untergebracht, verblieben sind. Zu Kriegsbeginn hatte das Trentino<br />
392.000 Einwohner; 60.000 waren an die Front gezogen und gemäß den<br />
Evakuierungsplänen sollten weitere 75.000 Einwohner, großteils Frauen und Kinder, nach<br />
Österreich ( 45.000 ), Böhmen ( 11.405 ) und Mähren ( 19.717 ) übersiedelt werden.<br />
Während die an der Front gelegenen Orte vollständig evakuiert wurden, betraf die<br />
Aussiedlung in den weiter dahinter liegenden Orte die wirtschaftlich nicht selbständigen<br />
Familien. Am 25. Mai erging auch an die um Trient gelegenen Pfarreien und Ortschaften<br />
der Evakuierungsbefehl. Es bestanden sehr strenge Regeln: wer nicht imstande war, sich<br />
innerhalb von drei Tagen einen Lebensmittelvorrat für die nächsten vier Monate zu<br />
beschaffen, musste wegziehen. Die Mindestmengen waren vorgegeben: 60 Kilogramm<br />
Mehl, 30 Kilogramm anderer Lebensmittel ( Fett, Öl usw. ) und ausreichend<br />
Brennmaterial. Von Trient und Umgebung mussten 27.256 Menschen wegziehen.<br />
Giuseppe war traurig, der Tod des Bruders hatte ihn hart getroffen; er glaubte einfach<br />
nicht, dass er ihn nie mehr wiedersehen würde. Er fehlte ihm, aber noch mehr fehlte ihm<br />
der Vater, von dem er wusste, dass er in Gefahr war, und für den er betete,damit er<br />
unversehrt heimkehren möge. Die Mutter rief ihn und Maria Teresa zu sich und<br />
gemeinsam besprachen sie das neue Missgeschick, das ihnen bevorstand. “ Kinder,wir<br />
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können nicht in unserem Haus bleiben, jetzt, wo der Vater fehlt und Francesco uns<br />
verlassen hat, reicht das Geld nicht mehr. Wir haben nicht genug Lebensmittel und es<br />
besteht die Gefahr, dass die Italiener von unseren Bergen herab auf uns schießen,falls sie<br />
Pergine erreichen. Wir müssen nach Österreich übersideln, dort sind wir in Sicherheit und<br />
wir bekommen auch eine Geldbeihilfe, hoffentlich nehmen uns die Menschen dort mit<br />
christlicher Nächstenliebe auf.“ Maria Teresa weinte ganz still, während Giuseppe sich von<br />
dieser bevorstehenden Veränderung angezogen fühlte. Er stellte sich vor, in fremde<br />
Länder zu reisen wie er schon immer geträumt hatte. Aber angesichts dieser Art von Reise<br />
konnte er dies nicht laut sagen. „ Mutter „ sagte der Junge „ du wirst sehen, wir schaffen<br />
es und denke dran, dass wir so unserem Vater näher kommen und vielleicht kann er uns<br />
dann auch besuchen.“<br />
In wenigen Tagen schlossen sie die Reisevorbereitungen ab: die zwei Ziegen wurden<br />
nach Trient gebracht und dort einem Züchter verkauft; Hennen und Kaninchen wurden an<br />
den Metzger verkauft,mit Ausnahme des größten Hasen, der für den Reiseproviant<br />
bestimmt war; die wenigen wertvolleren Sachen wie Gläser, Tassen und Bettwäsche<br />
wurden versteckt.<br />
Die Vorschriften mussten strengstens eingehalten werden. Ausser den Kleidern durften<br />
pro Person nur 5 Kilogramm Proviant als Gepäck mitgenommen werden. Zusätzlich<br />
wurden auch Speisen für die Reise zubereitet. Das Kaninchen wurde gebraten und in ein<br />
weisses Tuch eingewickelt; dasselbe geschah mit einem Stück Käse.Alles wurde in einen<br />
Rucksack gesteckt, der Giuseppe, dem Mann des Hauses, anvertraut wurde.<br />
Nachdem sie voller rauer und Wehmut die Haustür abgeschlossen hatten begaben sie<br />
sich am frühen Morgen des 28. Mai zum Bahnhof von Povo. Sie waren nicht allein, viele<br />
andere Dorfbewohner teilten ihr Schicksal. Zwischen Povo und Villazzano stiegen an die<br />
1.600 Personen in den Zug ein. Unter diesen befand sich auch Don Emilio Cavalieri, der<br />
Kaplan von Povo, der sich aufopfernd bemühte, das Leid der Flüchtlinge zu lindern. In<br />
Trient, der ersten Station auf den zu einem unbekannten Bestimmungsort, war für sie ein<br />
Güterwagen bereitgestellt worden, ohne Sitzbänke, nur mit einer Schicht Stroh auf dem<br />
Boden.<br />
( Bild S.24: Soldaten auf Skiern in den Karpaten ( Druck aus der Zeitschrift des nationalen<br />
Alpiniverbands ANA „ l’ alpino “ von 1995 entnommen)<br />
( Bild S.26: Povo, die Wegkreuzung „S. Zoan „- Anfang 20.Jhd. ( Archiv Arci/Paho ) )<br />
( Bild S.28: Die alte Kirche von Povo um 1900 (Archiv Arci/Paho ) )<br />
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SECHSTES KAPITEL<br />
Reisen, die Welt sehen, das hatte sich Giuseppe immer gewünscht. Er klettrete bis zum<br />
kleinen Fenster hoch, um die Orte und Landschaften zu betrachten, an denen der Zug<br />
vorbeifuhr. In Bozen hielt der Zug. Die Waggons wurden geöffnet und es stiegen die<br />
Gendarmen ein. Alle jungen und noch rüstigen Männer mussten aussteigen, auch<br />
Giuseppe; es wurde das Alter überprüft. Er war glücklicherweise zu jung und konnte<br />
wieder einsteigen : wer älter als 17 war wurde militarisiert und in der Etappe eingesetzt.<br />
Sie bekamen etwas Wasser, dann fuhr der Zug wieder weiter. Neuer Halt in<br />
Franzensfeste und nochmals eine Inspektion der Waggons; dann kam der Brenner, wo die<br />
Lokomotive mit Wasser aufgetankt wurde und die Passagiere die Möglichkeit hatten zu<br />
trinken. Dann ging die Fahrt weiter.<br />
Der Zug war um 6 Uhr früh von Povo abgefahren und während der Zug nach Innsbruck<br />
hinabfuhr, fielen die ersten Abendschatten. Als derZug in den Bahnhof von Innsbruck<br />
einfuhr, stand die Uhr auf neun Uhr. Endlich bekamen sie eine Tasse warmen Tee und<br />
etwas Brot. Aus dem Rucksack von Giuseppe wurden der Braten und der Käse<br />
herausgenommen und still verzehrten sie etwas davon. Sie überlegten, wie sie wohl in<br />
dieser Dunkelheit und Kälte die Nacht verbringen würden. Der Zug fuhr weiter, durch die<br />
Gebiete Tirols, es war die erste Nacht fern von ihrem Heimathaus. Zusammengekauert<br />
versuchten sie zu schlafen; die Müdigkeit übermannte sie und trotz der stechend kalten<br />
Luft, die durch die Risse in der Brettewand hereinpfiff, gelang es ihnen etwas Schlaf zu<br />
finden.<br />
Bei Tagesanbruch wurde Giuseppe von Marie Teresa geweckt; unabsichtlich war sie<br />
durch ein Rucken des Zuges bei ihm angestossen. So zog er sich hoch zum Fenster und<br />
sah, dass sie eine ebene Landschaft mit angebauten Feldern und Ortschaften<br />
durchquerten. Es war schon fast Mittag, als sie in Salzburg ankamen. „ Erinnert ihr euch<br />
noch an die Erzählungen des Großvaters?“ fragte die Mutter „ Das ist Salzburg, hieher<br />
kamen die von Ochsen gezogenen Wagen, um für die ganze Stadt das Salz zu holen.“<br />
Wieder mussten sie aussteigen und eine Stunde lang gingen sie unter der brennenden<br />
Sonne den Geleisen entlang bis zu einer großen, verlassenen Fabrikhalle, wo sie eine<br />
Tasse Fleischbrühe und Brot bekamen. Mit weinenden Kindern und Diskussionen über die<br />
Dauer und die ertragenen Mühseligkeiten der Fahrt, aber besonders über das<br />
Unbekannte, das sie erwartete, verging der Tag. Weder konnte man die das Essen<br />
wärmen, noch sich umziehen. Nach der kalten Nacht hatten alle beim langen Marsch in<br />
der Hitze stark geschwitzt und nun mussten sie eine weitere Nacht auf dem Stroh in dieser<br />
Halle verbringen, nachdem sie mit der Suppe, die ihnen zum Abendessen ausgeteilt<br />
wurde, auch den letzten Proviant aufgezehrt hatten, den sie von zuhause mitgenommen<br />
hatten.<br />
Am nächsten Morgen kehrten alle zum Bahnhof zurück, wo in schneller Abfolge ständig<br />
Züge ein- und wieder abfuhren. Dann kam ihr Zug und wieder waren es Viehwagone, nur<br />
war diesmal das Stroh sauber. Sie fuhren mit anderen evakuierten Landsleuten weiter,<br />
die mit einem anderen Zug aus Rovereto gekommen waren. Die Fahrt ging ostwärts, längs<br />
der Donau, auf der Boote zusehen waren. Die Donau, dachte Giuseppe, die so bekannte<br />
Donau, die ganz Europa quert und durch Wien, der Hauptstadt des Reiches fließt. Sie<br />
fuhren an Linz vorbei und nach vielen Stunden erreichten sie Wien. Nie hatten sie sich<br />
eine so große Stadt vorgestellt, der Bahnhof war riesengroß, ein Gewirr von Menschen<br />
und Geleisen. Wieder hieß es aussteigen, es war eine weitere Verteilungsstelle. Hier ist<br />
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die Aufnahme besser, sie bekommen ausreichend Brot, Wurst, Tee und Milch. Die Nacht<br />
verbringen sie wieder in einer Halle neben dem Bahnhof.<br />
Am nächsten Morgen verlesen Militärsleute am Bahnhof, wo ein wildes Durcheinander<br />
herrscht und man aufpassen muss, dass man sich nicht in der Menge verliert, die Namen<br />
der Familien, die nach den jeweiligen Bestimmungsorten verteilt wurden. Gegen<br />
Mitternacht erhielten sie wiederrum zu essen ( Brot, Salami, Tee und Milch ) und dann fuhr<br />
endlich ihr Zug ein. Die Gruppe war viel kleiner geworden und sie trafen auf Menschen<br />
aus ihrem Dorf oder aus Villazzano. Einmal eingestiegen merkten sie zu ihrer Freude,<br />
dass es ein Personenwagen war mit bequemen Sitzbänken aus Holz. Der Zug fuhr ab in<br />
Richtung einer weiten Ebene und fern konnte man im Hintergrund einen Hügelzug<br />
erkennen. Aber nicht unweit von Wien hielt der Zug an und stundenlang ließ er den<br />
Militärzügen, die die Soldaten an die Front brachten, die Vorfahrt. Die Kinder an sich<br />
drückend musste Maria an ihren Mann denken, der irgendwo in diesen fernen Ländern an<br />
der Front stand! Zum Glück war es bewölkt und es fiel auch ein feiner Regen; das machte<br />
die Temperatur in den Waggons erträglicher. Endlich setzte sich die Lokomotive zischend<br />
und quitschend wieder in Bewegung. Sie fuhren durch weite Getreidefelder und dann<br />
erblickten sie zu ihrem Erstaunen große Weinberge, wo die Reben im Spalier<br />
hochgezogen waren, aber nicht so hoch wie bei ihnen im Trentino. Aber immerhin kannten<br />
sie den Weinbau und das brachte ihnen diese noch unbekannte Gegend näher.Dann<br />
wurde es Nacht und der Regen begann in Strömen zu fallen.<br />
Noch vor Mitternacht erreichten sie Znaim. Es regnete und der Wind blies kalt, als sie in<br />
den von Petroleumlampen beleuchteten, kleinen Bahnhof einfuhren. Eine groe Gruppe<br />
Neugieriger beobachtete die Ankunft dieser seltsamen Reisenden. Sie wurden mit ihrem<br />
jeweiligen Gepäck nach Familien zusammengestellt. Ihr Hunger und Durst wurde mit<br />
Tee,Milch, Kuchen, Reis und Fleisch gestillt. Nach einer Stunde fuhr ein langer Zug von<br />
Pferde- und Ochsenwagen auf. Unter dem peitschenden Regen wurden sie gruppenweise<br />
auf die Wagen gesetzt und in die Ortschaften um Znaim gebracht. Don Emilio grüßte sie<br />
und versprach, sie baldigst zu besuchen. Er hatte in Znaim beim Pfarrer Holza Brychta<br />
Unterkunft gefunden. Maria und ihre Kinder stiegen zusammen mit Anna Giacomoni, die<br />
auch aus Povo kam, und deren Kinder auf einen von Pferden gezogenen Wagen mit<br />
hohen Leitern. Der Weg führte an zwei kleineren Ortschaften vorbei und dann erreichten<br />
sie Urbau wie sie aus der Anschrift an einer Häuserwand erfahren konnten. Auf dem<br />
kleinen Dorfplatz werden sie fürsorglich von einer kleinen Menschengruppe empfangen,<br />
die ihnen Glühwein und Brotwecken anbietet. Ohne das Deutsch ihrer Wohltäter zu<br />
verstehen versuchen sie mit Gesten zu danken. Die drei Neuangekommmenen werden<br />
dann zu einem winzigen, einstöckigen Häuschen begleitet, das wahrscheinlich als<br />
Heustadel oder als Lager für landwirtschaftliche Geräte oder Produkte diente. Ihr Begleiter<br />
sperrte die Tür auf, forderte sie auf einzutreten , verabschiedete sich mit einem Wink und<br />
überließ ihnen die Petrolrumlampe. Sie befanden sich in einem großen Zimmer mit einem<br />
Ofen in der Mitte, einem breiten Bett, einem Tisch mit vier Stühlen. Endlich ein Bett! Sie<br />
zogen sich die nasssen Kleider aus und hängten diese , so gut sie konnten, auf den<br />
Stühlen zum Trocknen auf . Mit dem, was sie im geschnürten Bündel mitgebracht hatten,<br />
deckten sie sich zu und schliefen fest bis zum nächsten Morgen. Als sie aufwachten,<br />
schien die Sonne schon zum Fenster herein. Giuseppe sprang vom Bett und lief zum<br />
Fenster:eine kleine Strasse, die ins Dorf führte, ein Platz mit einem Brunnen in der Mitte.<br />
Für Giuseppe war das ganz neu. Ringsum Felder und Weinberge soweit das Auge reichte;<br />
in der Ferne niedrge Hügel mit kleinen, reihenartig angeordneten Häusern. „ Mutter, Maria<br />
Teresa, wacht auf“ sagte Giuseppe „ seht doch welch schöner Tag heute ist !“ „ Kinder,<br />
wohl oder übel, haben wir ein neues Haus “ sagte die Mutter und fügte hinzu „weiss Gott,<br />
wie lange wir bleiben werden, aber wir wollen uns anstrengen, damit es unser Haus wird,<br />
denn vielleicht müssen wir doch länger bleiben.“ Darauf Maria:“ Seid unbesorgt, es wird<br />
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uns gut gehen; die Leute hier sind freundlich und haben uns wohlwollend aufgenommen.“<br />
Sie begann nun die Sachen auszupacken, wobei sie versuchte , die Kleider an die Wand<br />
zu hängen.Die noch nassen legte sie in die Sonne zum Trocknen. Gegen Mittag meinte<br />
Giuseppe: „ Mutter wir haben nichts mehr zu essen. Es ist doch besser wir schauen, ob<br />
wir im Dorf etwas bekommen können.“ Die Mutter antwortete, dass er recht hätte und dass<br />
sie sich so und anders bei den Behörden vorstellen müssten , auch um zu erfahren, was<br />
zu tun sei, um die versprochenen Unterstützung zu erhalten und welche Papiere dafür<br />
erforderlich seien. Sie hatte kaum ausgesprochen, als es an der Tür klopfte. Teresa<br />
öffnete und es Traten zwei Frauen ein, eine jüngere um die Zwanzig mit langen,blonden<br />
Zöpfen und eine ältere so um die Vierzig. Mit einem breiten Lächeln grüßten sie auf<br />
Deutsch und stellten einen aus Weidenruten geflochtenen Korb auf den Tisch: Die<br />
Jüngere entnahm dem Korb ein großes Stück frisches , wohlriechendes Brot, an die<br />
zwanzig gekochte Kartoffeln,einige Eier und eine Tüte voll Weissmehl. Die Drei waren<br />
angenehm überrascht und dankten von Herzen. Die zwei Frauen ließen sie wissen, dass<br />
sie sich am nächsten Tag im Gemeindeamt vorstellen mussten, und verabschiedeten<br />
sich.Froh über die gute Aufnahme in Urbau setzten sie die Erforschung ihres neuen<br />
Hauses fort: vor dem Haus fanden sie etwas Brennholz; das trugen sie ins Haus, um den<br />
Ofen einzuheizen. Nicht ohne Schwierigkeiten gelang es ihnen , Wasser aus dem Brunnen<br />
zu schöpfen. Dann holten sie den Kochtopf aus dem Rucksack, den Maria vorsichtshalber<br />
mitgebracht hatte, kochten die Eier und aßen sie mit den Kartoffeln und dem Brot. Am<br />
Nachmittag gingen sie ins Dorf, um Geschirr für die Küche und Lebensmittel zu suchen.<br />
Längs des Weges dehnten sich endlose Kornfelder aus, diese Weite ließ sie fast<br />
erschauern, denn sie kannten ja nur die kleinen steilen Felder von Oltrecastello.<br />
Am nächsten Tag gingen sie frühzeitig zur Gemeinde. In einem kleinen Zimmer saß ein<br />
grauhaariger Gendarm mit einem nach unten hängendem Schnurrbart hinter einem<br />
Schreibtisch aus dunklem Holz, auf dem sich die Akten stapelten. Ein zweiter Gendarm ,<br />
ein jüngerer, mittelgroßer , blonder Mann mit typisch deutschem Aussehen, spazierte im<br />
Zimmer auf und ab und versäumte nicht, das Mädchen mit Interesse zu betrachten.<br />
Wenngleich nicht elegant gekleidet war Maria Teresa sehr schön; sie hatte langes , eher<br />
helles, kastanienfarbenes Haar, mit dem sie eien Zopf machte, der ihr weit unter die<br />
Schultern reichte; sie hatte eine durch die Arbeit auf dem Feld leicht gebräunte Hautfarbe,<br />
kastanienbraune Augen und war nicht besonders groß, aber wohlgestaltet. Mit 21 war sie<br />
in der Blüte der Jahre. Auch Maria war mit ihren 43 Jahren noch eine schöne Frau. Ihr<br />
langes, auch kastanienbraunes Haar säumte ein von bäuerlicher Bräune<br />
gekennzeichnetes, schönes Gesicht und fiel auf einen bemerkenswerten Busen.<br />
Maria legte die Personalausweise vor und der ältere Gendarm verglich die Angaben mit<br />
denen seines Registers und trug entsprechende Vermerke ein. In einem mühseligen und<br />
notdürftigen Italienisch, informierte er die Drei, wie sie die staatliche Unterstützung<br />
erhalten können: „Frau Maria und figli (Kinder), erste Tag di ogni ( eines jeden) Monat in<br />
kuesto Biro ( in diesem Büro), zwei Kronen für Personen für Tag; se volere ( wenn sie<br />
wollen) Arbeit für ciovane ( jungen) Mann, noi avere contadino ( wir haben Bauern ) per<br />
( für) Arbeit.“ Giuseppe, der zwar mager aber kräftig war, bot sich nach Erlaubnis seiner<br />
Mutter gerne an, etwas Geld zu verdienen.<br />
Der junge Gendarm erhielt den Befehl, Giuseppe zu begleiten. Die zwei Frauen hingegen<br />
gingen nach dem Erhalt eines Vorschusses von 50 Kronen zum Laden, wo sie einige<br />
Einkäufe tätigen wollten. Der Gendarm machte Giuseppe ein Zeichen und sie gingen los.<br />
Beim Gehen versuchte er mit dem Jungen zu sprechen, aber es war sehr schwierig, da<br />
Giusppe weder Deutsch geschweige denn Tschechisch und der Gendarm seinerseits<br />
kein Italienisch verstand, wenn sich aber zwei Menschen wirklich verständigen wollen,<br />
dann ist nichts unmöglich.<br />
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Nachdem sie eine halbe Stunde einen Weg gegangen waren, der an Kartoffelfeldern und<br />
an etlichen Weinbergen vorbeiführte, erreichten sie einen großen Bauernhof; da stand ein<br />
schönes, zweistöckiges Haus mit einem großen Stall auf der Rückseite und daneben war<br />
ein weiters Gebäude, das als Heustadel verwendet wurde. Der Gendarm, der auch Joseph<br />
hieß, stellte Giuseppe dem Besitzer des Hofes vor. Herr Otto Schneider, so hieß der<br />
Besitzer, war um die Fünfzig, kräftig gebaut, hatte blaue Augenund schutternes blondes<br />
Haar. Er trug braune Kordhosen ,ein weisses Hemd und einen schwarzen Lederhut. Als<br />
Giuseppe mit dem Gendarm eingetroffen waren, war er gerade dabei, ein wunderschönes,<br />
schwarzes Pferd zu striegeln; er war froh über die Ankunft des Jungen aus dem Trentino.<br />
Joseph der Gendarm grüßte und entfernte sich.<br />
Giuseppe verstand nicht, was Herr Otto zu ihm sagte; diesem aber gelang es sofort sich<br />
mitzuteilen: er nahm eine Mistgabel und zeigte auf den Stall und auf einen Schubkarren.<br />
Giuseppe verstand, dass er den Stall ausmisten sollte und begann guten Mutes mit der<br />
Arbeit. Im Stall waren drei Pferde , zehn Kühe und ein Stier untergebracht, dazu noch zwei<br />
große und sieben kleinere Schweine sowie eine ganze Menge von Hühnern und Gänsen.<br />
Als es begann finster zu werden, rief der Bauer den Jungen zu sich“ Josep komm,komm,<br />
brav, gut!“ sagte er und überreichte ihm ein Körbchen mit drei Gänseeiern, ein Dutzend<br />
Hühnereier und einige reife Birnen. Giuseppe dankte, verabschiedete sich und ging nach<br />
Hause zu den zwei Frauen, denen er stolz das Körbchen zeigte, den Verdienst seiner<br />
Arbeit. Mutter und Tochter hatten mittlerweile das Haus hergerichtet, die Kleider<br />
gewaschen und das Abendessen vorbereitet. Am Tisch tauschten sie die Eindrücke aus,<br />
die sie in ihrem ersten Tag in Mähren gesammelt hatten. Sie waren müde, aber froh<br />
darüber, wie sie in der neuen Gemeinschaft aufgenommen worden waren.<br />
Bild S.30 : Ansicht von Salzburg- 1915 ( Archiv der Bibliothek von Povo )<br />
Bild S.33 : Urbau (Vrbovec) Dorfmitte – 1915 ( Archiv der Bibliothek von Povo )<br />
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SIEBENTES KAPITEL<br />
Desiderio war in Lemberg stationiert,als er den Brief von Maria und seinen Kindern erhielt<br />
mit der neuen Adresse in Mähren, wohin sie evakuiert worden waren. „Lieber Ehemann“<br />
hatte Maria im Brief geschrieben „ ich hoffe, dass es die gut geht, wir sind nicht mehr in<br />
unserem alten Haus, wir sind nach Mähren geschickt worden; jetzt sind wir in Urbau, eine<br />
Fraktion von Znaim. Die Fahrt war sehr anstrengend, aber jetzt geht es uns gut. Wir haben<br />
ein kleines Haus für uns allein, wir haben es hergerichtet so gut wir konnten ; schön wäre<br />
es , wenn du bei uns sein könntest! Du wüedest es noch gemütlicher machen. Giuseppe<br />
arbeitet an einem großen Bauernhof, ich und Maria Teresa helfen bei der Feldarbeit und<br />
als Gegenleistung bekommen wir Mehl und Kartoffel. Es beruhigt mich, dass du in der<br />
Nähe von Francesco bist; auch wenn du ihn nicht sehen kannst, schaut er vom Himmel<br />
auf dich und ich hoffe, dass er dich schützt. Wenn du Urlaub bekommen solltest, so sind<br />
wir jetzt viel näher. Ich sehne mich so sehr nach dir. Pass auf dich auf. Ich grüße dich in<br />
Liebe. Deine Maria. Es grüßen dich auch herzlichst deine Kinder , Maria Teresa und<br />
Giuseppe.“<br />
Die militärische Lage war zu jenem Zeitpunkt vorübergehend ruhig. Die österreichungarischen<br />
Truppen waren dabei, die zurückeroberten Positionen zu festigen, während<br />
sie weiter im Norden mit Unterstützung der Deutschen gegen Lublin vormarschierten.<br />
Desiderio, der aufgrund seines Alters im Verpflegungs- und Nachschubdienst tätig war,<br />
konnte oft die Stadt und ihre Umgebung besuchen.<br />
In Galizien lebte eine zahlreiche jüdische Gemeinschaft; diese Relgion war den Soldaten<br />
aus dem Trentino völlig unbekannt, da nach der Geschichte vom angeblichen Ritualmord<br />
eines Kindes, mit Namen Simoncino eine Judenverfolgung eingesetzt hat und die Juden<br />
für mehrere Jahrhunderte aus Trient verschwunden waren. Die Galizier waren ein sehr<br />
armes Volk, das etwas Landwirtschaft betrieb und Ziegen züchteten und höchsten eine<br />
Kuh für den Milchverbrauch der Familie hielten.Die Juden hingegen widmeten sich mehr<br />
dem Handel. Die Menschen waren nach Sitte der slavischen Welt gekleidet, die Männer<br />
trugen große Strohüte, Hosen und weite Röcke aus grobgewobenem Stoff, die Frauen<br />
Kopftücher mit farbigen Blumenmustern, weisse Blusen und kurze, nur bis ans Knie<br />
reichende Röcke. Sie sahen eher schmutzig aus und vor allem die Männer hatten Flöhe;<br />
die Männer konnten zumindest nach enem westlichen Geschmack nich als Schön<br />
bezeichnet werden, sie hatten grobgeschnittene, eher ausdruckslose Gesuchter. Die<br />
Frauen hingegen, besonders die jüngeren, waren schön und beindruckten mit ihren<br />
nackten Beinen; so was hatte man im Trentino und allgemein in Österreich, wo die Röcke<br />
bis zu den Fußknöcheln reichten, nie gesehen; Männer wie Frauen gingen immer barfuß,<br />
Schuhwerk war in der schönen Jahreszeit selten zu sehe.<br />
Lemberg war eine große Stadt mit alten Palästen, schönen Stadtplätzen und Denkmälern,<br />
aber Desiderio zog den Stadtrand vor, die Wälder und die Felder, er bewunderte die Vögel<br />
in den Bäumen, die Elstern und in der Ferne hörte er den Kuckuck rufen. Unter den Birken<br />
wuchsen Veilchen und Maiglöckchen und wenn nicht die Berge gefehlt hätten, wäre er<br />
sich wie auf den Hängen seines Hausberges Marzola vorgekommen.<br />
Sofort nachdem er den Brief erhalten hatte , begab sich Desiderio zu seinem Vorgesetzten<br />
und beantragte einen Kurzurlaub mit der Begründung, er müusse seiner Familie, die nach<br />
Mähren übersiedelt war, helfen, die Wohnung herzurichten.Der Vorgesetzte, ein Leutnant,<br />
der vom Verlust des Sohnes im Kampf wusste, hörte den Worten von Desiderio, die von<br />
einem Feldwebel.übersetzt wurden, aufmerksam zu; er erhob sich und zu Ehren des<br />
Francesco Bonvecchio, der für den Kaiser gestorben war, stellte er sich, Die Hacken<br />
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zusammenschlagend, auf Habtacht. Er beglückwünschte Desiderio und gab Anordnung,<br />
eineUrlaubserlaubnis von 10 Tagen mit zusätzlichen 4 Tagen für die Reise vorzubereiten.<br />
Desiderio stellte sich seinerseits auf Habtacht und grüßte den Leutnant. Glücklich begann<br />
er die Reisevorbereitungen.<br />
Um sechs Uhr früh des nächsten Tages war er schon am Bahnhof, eine schnaufende<br />
Lokomotive fuhr gerade ein und zusammen mit vielen Galiziern und einigen Soldaten stieg<br />
er in den Waggon ein und los ging es zu seiner geliebten Familie. Der Zug fuhr an<br />
Przemysl vorbei und durchquerte die galizische Ebene. Überall waren Zeichen der<br />
Zerstörung.Der Zug hielt häufig an , auch gab es viele Militärkontrollen. Dörfer und Felder<br />
zeigten ganz deutlich die Spuren der Schlachten. Gegen Abend fuhr der Zug in Krakau<br />
ein, der ehemaligen Hauptstadt des polnischen Reiches.Desiderio musste umsteigen, er<br />
überprüfte den Anschluss; der erste Zug in Richtung Wien fuhr erst um 3Uhr vierzig in der<br />
Früh. Er fragte, ob dieser Zug auch in Znaim anhalten würde und da die Antwort positiv<br />
war, blieb in nichts anderes übrig als geduldig zu warten. Er sah, dass auf einem anderen<br />
Bahnsteig für die durchfahrenden Truppen Essen verteilt wurde, so stellte er sich an und<br />
bekam ein Stück Brot und eine Goulaschsuppe.Auf einer Bank sitzend nahm er die<br />
Mahlzeit zu sich. Die Soldaten waren Böhmen, er grüßte sie, rückte in eine Ecke und<br />
schloss die Augen. Er versuchte sich die Begegnung mit Maria vorzustellen, ihre<br />
Überraschung ihn wiederzusehen, seine Freude, die Kinder umarmen zu können.<br />
Endlich war er wieder im Zug und nach einigen Stunden fuhr er durch Mähren, zuerst<br />
Olmütz, Brünn und dann, kurz nach Mittag Znaim. Vom Zug ausgestiegen begab er sich<br />
fast laufend zum Bahnhosausgang und im spärlichen Deutsch, das er gelernt hatte, fragte<br />
er einen dort stehenden Gendarmen nach den Weg nach Urbau. Dieser zeigete ihm die<br />
Richtung an und lachend teilte er ihm mit, dass es 10 Kilometer seien , in Richtung Wien<br />
nach der Brücke über dei Taiaz. Unetr der hochstehenden Sonne machte sich Desiderio<br />
auf den Weg und bewunderte die fruchtbaren Felder, wo Korn, Kartoffel und Reben<br />
angebaut waren, aber aich Sonnenblumen und Mohn, die es im Trentino nicht gab.<br />
Nach etwa einer halben Stunde kam er zu einer Kreuzung, wo ein Schild nach Wien<br />
zeigte, das andere nach Urbau. Er schlug die angezeigte Richtung ein und als er an einer<br />
Reihe am Hang stehender, kleiner Häuser vorbeikam. Glaubte er schon angekommen zu<br />
sein; zu seiner Enttäuschung waren die Häuschen abgeschlossen und ohne Fenster<br />
( später entdeckte er, dass es Lagerhäuschen waren, die auch als Keller dienten. Er ging<br />
witer und nach einigen hundert Meter tauchte endlich das Dorf auf. Unter der Junisonne<br />
war er schweissnass geworden, er wollte nicht rasten,er verspürte überhaupt keine<br />
Müdigkeit; der Wunsch, die Lieben wiederzusehen, hatte ihm Flügel an die Füsse gesetzt.<br />
Als er das Gemeindehaus erblickte, begab er sich sofort dorthin.<br />
An der Einganstür begegnete er dem Gendarmen Joseph, den er fragte, wo er die Familie<br />
Bonvecchio finden könne.Für den Gendarm war ein angenehmes Zusammentreffen, da er<br />
gerade an Maria Teresa dachte, diese junge Frau aus dem Trentino, deren einfache und<br />
sanfte Schönheit ihn so beeindruckt hatte. Josep machte dem Soldaten ein Zeichen , er<br />
möge warten, ging ins Amtszimmer zurück, sprach mit dem Vorgesetzten , kam wieder<br />
heraus und sagte: „ Komm, komm. Kommen Sie mit mir!“ Und gemeinsam gigen sie los.<br />
Der Gendarm fragte Desiderio, ob er der Bruder von Frau Maria sei. Nein, meinte dieser,<br />
er sei der Ehemann. Da erstrahlten Josephs Augen und er drückte dem Kaiserjäger die<br />
Hand: er sei ein Freund von Maria Teresa. Für Desiderio war es sofort klar, dass seine<br />
Tochter einen Bewunderer gewonnen hatte.Nach zehn Minuten kamen sie vor das kleinen<br />
Haus, der Gendarm kopfte an, aber nimand öffnete; offensichtlich waren alle auf dem Feld<br />
zur Arbeit. Joseph erklärte Desiderio die Lage, fragte ihn , ob er schon gegessen hätte und<br />
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als Desiderio verneinte, nahm er ihn unter dem Arm und führte ihn zum Gasthaus, wo sie<br />
sich an einen Tisch setzten und Joseph Würstel und Kartoffel sowie zwei riesiggroße Bier<br />
bestellte.<br />
Desiderio aß mit Appetit und verfolgte mit seinen geringen Deutschkenntnissen die<br />
Ausführungen des jungen Mannes. Er hatte verstanden , dass dieser in seine Tochter<br />
verliebt war und das machte ihm Freude. Desiderio wollte die Rechnung bezahlen , aber<br />
Joseph wehrte entschieden ab, bedauerte, dass er sich verabschieden müsse, aber die<br />
Pflicht rufe ihn. Es wurde Abend, als Desiderio wieder zum kleinen Haus ging; die Tür war<br />
noch immer verschlossen. Da erinnerte er sich, dass seine Maria den Schlüssel<br />
gewöhnlich auf den Turrahmen legte, damit er ihn finden könne.<br />
Er strich mit der Hand über den Rahmen und spürte den Schlüssel. Seine Frau Maria<br />
hatte also nicht Gewohnheit geändert und auch hier , in diesen neuen, unbekannten<br />
Ländern wartete sie auf ihn. Er schloss die Tür auf und trat ein. Das Zimmer war<br />
schmucklos, aber sauber und ordentlich; neben dem Ofen stand eine Bank und weiter zur<br />
Wand das einzige große Bett. Er stellte seinen Rucksack auf die Bank und sah sich um; er<br />
hörte plötzlich Schritte, die sich näherten, während die Strahlen der untergehenden<br />
Sonne durchs Fenster fielen. Als er die Stimmen von Maria und seiner Tochter hörte, war<br />
es wie ein Schlag im Herzen. „ Mutter“ meinte die Tochter „ du hast die Tür nicht<br />
abgesperrt!“<br />
Beim Anblick dieses Soldaten, der da im Zimmer stand, erstarrte MariaTeresa, aber nur<br />
für einen Augenblick, dann erkannte sie ihn gleichzeitig mit ihrer Mutter : „Desiderio!“und<br />
„Vater“ erklang es wie aus eienm Mund. Beide umarmten ihn.<br />
Trotzdem es sie in ein fremdes Land verschlagen hatte, löste die Umarmung, die nach so<br />
langer Trennung und all den Schicksalsschlägen möglich geworden war, ein tiefes<br />
Glücksgefühl aus.Viel hatten sie sich jetzt zu erzählen. Sie saßen gerade am Tisch und<br />
waren in ein lebhaftes Gespräch verwickelt, als Giuseppe an der Tür erschien.Dem<br />
Jungen schlug das Herz höher wie er seinen Vater unter der Uniform wiedererkannte. und<br />
dasselbe geschah mit Desiderio. Dieser stand auf und ging mit ausgebreiteten Armen<br />
dem Sohn entgegen; Giuseppe lief fast und beide umarmten sich innigstund weinten.<br />
„ Endlich sind wir wieder beisammen , Vater „ schluchzte Giuseppe. Und Desiderio sagte<br />
anerkennend und beruhigend, dass er ihn kaum wiedererkannt hätte, so sei er<br />
gewachsen.<br />
Glücklich erzählte Giuseppe von seiner Arbeit auf dem Hof, jetztwar er der Mann im Haus,<br />
er verdiente auch ein paar Kronen neben den Naturalien, die er vom Besitzer bekam.. Er<br />
lerne Deutsch, ließ er den Vater wissen und könne auch schon einige Worte Tschechisch.<br />
Plötzlich entfuhr es Maria voller Besorgnis :“ Mein armer Mann, wir reden und reden, und<br />
du stirbst vor Hunger! “ „ Sei unbesorgt“ antwortete darauf Desiderio „ ich erst mit einem<br />
sympathischen, jungen Mann im Gasthaus gegessen; er sagt, er kennen euch gut,<br />
besonders Maria Teresa.“ Das Mädchen errötete leicht und wirkte etwas verlegen. „ Was<br />
meinst du mein Kind, findest du ihn nett? “ bohrte Desiderio weiter. „ Wen ? Joseph ?<br />
„ meinte seine Tochter „ Doch , er ist ein guter Junge und ich glaube, dass ich ihm gefalle;<br />
ich bin froh, dass du ihm begegnet bist.“<br />
Es war nun Nacht geworden und nach dem einfachen, aber bekömmlichen Abendessen<br />
blieb nichts andres übrig als zu Bett zu gehen. Giuseppe schlief in einer Ecke auf einem<br />
Strohsack, den er sich mit zwei zusammengenähten Leintüchern gemacht hatte; die<br />
beiden Frauen schliefen auf dem Ehebett.Desiderio legte sich also auf die rechte Seite<br />
des großen Bettes , seine Frau lag in der Mitte und Maria Teresa lag links. Endlich hatten<br />
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sie wieder zusammengefunden. Obwohl todmüde löste die Umarmung mit seiner Frau in<br />
Desiderio eine tiefe Leidenschaft aus und er liebte sie; dabei geschah alles so<br />
rücksichtsvoll, dass die Tochter, die anscheinend schon eingeschlafen war, nichts merken<br />
sollte.<br />
Am nächsten Tag versuchte Desiderio, eine Hose von Giuseppe anzuziehen, aber die war<br />
ihm viel zu kurz; so bliben ihm nur die Hosen seiner Uniform.<br />
Nach dem Frühstück stellte Desiderio fest, dass das Haus dringende<br />
Instandhaltungsarbeiten benötigte, dass es Holz und Werkzeug brauchte, um die Betten<br />
zu trennen und den einzigen Raum zu unterteilen.Er fragte, ob sie etwas Geld hätten und<br />
wo man das erforderliche Material finden könne. Maria versicherte ihn, dass sie eine<br />
Unterstützung bekämen und sie auch noch einen kleinen Betrag vom Verkauf der Tiere<br />
mitgebracht habe. Giuseppe meinte, dass sie auf dem Hof Holz, Werkzeug und auch<br />
einen Wagen für den Transport finden könnten und Desiderio ihn also zum Hof begleiten<br />
solle. Gesagt, getan.Während sich die beiden Frauen darum kümmerten, den Stoff und<br />
den ganzen Zubehör zu finden, um mit Stroh gefüllte Matrazen herzustellen, begaben<br />
sich die Männer zum Hof.<br />
Herr Schneider war froh, Giuseppe’s Vater, der ein treuer Untertan des Kaiserreches war,<br />
kennenzulernen und bot dem Soldaten sofort das Holz an, wobei er Giuseppe aufforderte,<br />
den Wagen zu nehmen und dem Vater zu helfen. Was die Bezahlung betraf, würde er<br />
den Betrag vom Verdienst abziehen, den Giuseppe bekam. Desiderio lehnte entschieden<br />
ab und wollte gleich bezahlen. Schließlich einigten sich die beiden Männer, Desiderio<br />
bezahlte einen kleinen Teilbetrag und der Rest sollte mit dem Verdienst von Giuseppe<br />
verrechnet werden. Alles endete mit einem Händeschlag und einem Glas guten Weines.<br />
Dabei merkte Herr Schneider, dass Desiderio die Uniformhosen anhatte; er rief seine<br />
Frau und tuschelte kurz mit ihr. Während Vater und Sohn das Holz aufluden, kam die<br />
Frau mit einem Paket Männerkleider und bat Desiderio , es anzunehmen, denn es enthalte<br />
nur Arbeitskleider, und ihr Mann wünsche, dass er sich nicht die Hosen der<br />
Kaiserjägeruniform beschädige. Sie dankten und kehrten zufrieden nach Hause zurück.<br />
In den folgenden Tagen abeiteten alle vier eifrig daran, das Haus in Ordnung zu bringen.<br />
Häufig kam der junge Gendarm Joseph zu Besuch, der immer auch versuchte, sich<br />
nützlich zu machen. Sie zimmerten zwei Bettstätten, die von den Frauen mit Matraze ,<br />
Leintüchern und Decken ausgestattet wurden. Sie zogen Zwischenwände mit drei<br />
Türöffnungen ein und unterteilten so den einzigen Raum in eine größere Küche und drei<br />
kleinere Räume, die als Schlafzimmer dienen sollten.Ein Fenster war neben der<br />
Eingangstür und gab der Küche Licht; das andere war im Ehezimmer. Mit dem<br />
übriggebliebenen Holz fertigte Desiderio einige Winkelkonsolen und Wandgestelle an. Am<br />
Abend des vierten Tages war das Meisterwerk abgeschlossen. In der traulichen<br />
Abgeschiedenheit ihres Zimmers feierten Desiderio und Maria in jener Nacht ihre<br />
Begegnung; endlich konnten sie ihre neu und mit jugendhafter Kraft gefühlte Leidenschaft<br />
frei erleben.<br />
Die Tagen flogen dahin; am Vortag seiner Abreise lud Desiderio den jungen Gendarm<br />
zum Abendessen ein.Er wollte ihm für die Hilfe danken und ihm auch seine Familie<br />
anvertrauen, da er, der Vater, seinen Urlaub nun beendete; Joseph strahlte vor Glück und<br />
dankte. Pünktlich erschien am Abend der Gendarm in seiner elegantesten Uniform;<br />
erhatte eine Flasche Rotwein und zwei Blumensträusse mitgebracht.Die Flasche stellte er<br />
auf den Tisch und dei Blumen überrechte er den Frauen.Teresa wies ihm den ihr<br />
gegenüberliegenden Tischplatz zu und zusammen mit ihrer Mutter servierte sie das<br />
Abendessen, das aus einem Brathuhn mit Polenta und Kartoffeln bestand. Das Maismehl<br />
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stellte einen echte Seltenheit dar, in Znaim war keines aufzutreiben. Für dieses Essen<br />
hatte sie das letzte aus dem Trentino mitgenommene verwendet.Joseph kostete neugierig<br />
die gelbfarbene, kuchenförmige Speise, die er zum ersten Male sah,die ihm aber<br />
schmeckte und lobte die Köchin.<br />
Nach dem Essen wandte sich Joseph an Desidrio und bat ihn, ob er mit seiner Tochter<br />
Maria Teresa Umgang haben dürfe. Desiderio schaute Joseph ernsthaft in die Augen und<br />
fragte dann Teresa: „Teresa, bist du einverstanden? Willst du dich mit diesem jungen<br />
Mann treffen?“ Teresa wurde hochrot und nickt. Darauf sagte der Vater zu Joseph: „Wenn<br />
du mir versprichst, dass du sie achten und schützen und nichts gegen ihren Willen<br />
unternehmen wirst, gebe ich dir meine Erlaubnis und ihr könnt euch verloben.“ „ Ich gebe<br />
Euch mein Ehrenwort als Mann und als Gendarm des Kaisers.“ antwortete dieser, stramm<br />
die Habtachtstellung einnehmend. Maria Teresa war glücklich. Stürmisch umarmte sie<br />
ihren Vater, wortlos gab sie Joseph die Hand und schaute ihn liebevoll an. Die Zeit<br />
verflog, es kam der Abschied. Jpseph gab Desiderio die Hand, dieser umarmte ihn und<br />
trug ihm das Du an, da sie doch beide Soldaten des Kaisers wären. Und nochmals bat er<br />
ihn, in seiner Abwesenheit auf seine Familie zu schauen. „ Ich danke dir!“ sagte der junge<br />
Mann sichtbar gerührt „ Hab eine gute Reise und komm bald wieder zurück.“ Teresa<br />
begleitete Joseph vor die Tür, dort küssten sie sich auf dem Mund. Es war ihr erster Kuss.<br />
Sie verabschiedeten sich und Teresa kam Sstrahlend ins Haus zurück. In jener Nacht<br />
liebten sich Maria und Desiderio mit verzweifelter Innigkeit als ob es das letzte Mal wäre.<br />
Als sie aufwachten strahlte die Sonne schon durch das Fenster.Es war Zeit, sich für die<br />
Abfahrt vorzubereiten. Desiderio zog sich die Uniform an und dann gingen sie in die<br />
Küche, wo Teresa mittlerweile das Früstück vorbereite hatte. Das Mädchen steckte ein<br />
Stück Kuchen und einige Früchte in den Rucjsack des Vaters. Betrübt machten sie sich<br />
auf den Weg nach Znaim. Langsam näherten sie sich dem Bahnhof und dort setzten sie<br />
sich auf eine Bank. Desiderio versuchte sie zu trösten und überspielte die Traurigkeit, die<br />
ihn erfasst hatte:“ Maria, schone dich und pass auf diese beiden da auf!“ sagte er und<br />
zeigte dabei auf seine Tochter. „ Pass auf, dass sie nichts anstellen“ fuhr erfort. „ Ich hoffe,<br />
euch wieder besuchen zu können.“ „ Denk nicht an uns! “ sagten die Zurückbleibenden<br />
fast im Chor. „Lass dich nicht töten, wir wollen dich unversehrt zurückhaben, wir brauchen<br />
dich! “ Da fuhr der Zug ein. Eine letzte Umarmung, der Abschied, ein Pfiff und der Zug<br />
entschwand in einer Wolke von Rauch und Dampf.<br />
Bild S.35: Ansicht von Lemberg (Livov), Hauptstadt Galiziens-1915 (Archiv der Bibliothek<br />
von Povo)<br />
Bild S. 37: Znaim ( Südmähren). Verschiedene Ansichten- 1915(Archiv der Bibliothek von<br />
Povo)<br />
Bild S.41 : Ansichtskarte von Znaim mit der Abbildung der Gurken, eine Spezialität des<br />
Gebietes-1915(Archiv der Bibliothek von Povo)<br />
Bild S. 42: Die Familie Tomasi aus Povo nach Kleinthayaz (Znaim) ausgesiedelt – 1915<br />
( Archiv des Bezirkes Povo )<br />
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ACHTES KAPITEL<br />
Die zwei Frauen hatten mittlerweile eine neue Arbeit gefunden, die sie zu Hause<br />
verrichten konnten. Vor dem Haus im Schatten sitzend flickten sie Jutesäcke für die<br />
Kartoffelernte. Es war eine anstrengende und auch langweilige Arbeit, denn es lagen<br />
Berge solcher Säcke vor Ihnen. Am Abend waren ihre Hände steif und schmerzten. Aber<br />
sie machte es gerne, auch wegen des kleinen Zuverdienstes. Da sie gut nähen konnten,<br />
brachte man ihnen auch Kleider zu flicken oder abzuändern. Je wohlhabender die Frauen<br />
waren , um so mehr Unterröcke trugen sie. Eine ihrer Kundinnen trug am Sonntag sogar<br />
zwölf solcher Unterröcke. Giuseppe arbeitete weiterhin auf demgroßen Bauernhof. Dort<br />
striegelte er die vom Besitzer sehr geliebten Pferde, jedes mindestens eine<br />
Dreiviertelstunde lang. Herr Schneider überprüfte dann die Arbeit. In jenen Tagen war ein<br />
Fohlen geboren. Es konnte noch kaum stehen. Gewöhnlich wurden sie verkauft, aber<br />
diesmal hatten sie beschlossen, es zu behalten und aufzuziehen. Es waren Zugpferde,<br />
aber Giuseppe gefiel es, auf ihnen im Galopp und staubaufwirbelnd durch jene endlosen<br />
Ebenen zu reiten.<br />
Ein weitere Aufgabe war das Grasmähen und das Einbringen des Heues. Im Vergleich<br />
zum Trentino wurde hier ein längeres Sensenblatt verwendet und es fehlte auch der<br />
hintere Griff.Giuseppe arbeitete mit einem Böhmen namens Jiri, der ihm das Handwerk<br />
beigebracht hatte. Sie unterhielten sich in einem seltsamen Kauderwelsch aus Italienisch,<br />
Deutsch und Tschechisch.<br />
Der Hof der Schneiders produzierte hauptsächlich Korn ( 300 Zentner), Gerste (auch 300<br />
Zentner), Kartoffel und Mais, aber diesen nur als Futtermittel; es gab also kein<br />
Polentamehlund das war ein großes Problem für die Leute aus dem Trentino. Es gab auch<br />
viele , niedriggehaltene Reben; manchmal waren sie auch im Spalier aufgezogen; sie<br />
wurden meisten auf kleinen Hügeln angebaut. Der Wein wurde in seltsamen Kellern<br />
aufbewahrt: An der Oberfläche waren es kleine Häuser mit einem breiten Eingangstor,<br />
durch das man in einen engen Innenraum gelangte, von wo eine Stiege aus Stein oder<br />
aus Erde gestampft,fünfzehn Meter in die Tiefe führte. In einem oder mehreren<br />
unterirdischen Räumen standen dann die Fässer für Rot- und Weisswein. Diese Keller<br />
lagen etwas ausserhalb des Dorfes, längs des Hügelhanges angereiht. Es gab auch<br />
Kirsch- Nuss- und Zwetschgenbäume; es wuchsen auch einzelne Apfel- und<br />
Birnenbäume. Giuseppe ging es am Hof gut, es gab reichlich und gut zu essen und jede<br />
Woche brachte er Lebensmittelvorräte für seine Familie mit nach Hause.<br />
Wie in allen Häusern des Dorfes gab es auch auf dem Hof Schweine, Gänse und Hühner.<br />
Die Sau gebar jedes Jahr zwischen sechs und zwölf Ferkel; wenn es zwölf waren, wurde<br />
jeden Monat eines geschlachtet; waren es sechs, nur eins alle zwei Monate. Auf jedem<br />
Hof war ein kleiner Teich für die Gänse und ein Ziehbrunnen. In den Feldern lebten<br />
zahlreiche Wildhasen, aber auch Füchse, die zum Schutz der Hasen oft geschossen<br />
wurden.<br />
Im Herbst lief die Hasenjagd ab: Die Jäger bilden einen zuerst weiten Kreis, der langsam<br />
enger wird und so werden die Hasen zu hunderten eingekesselt. Achtzig Prozent der<br />
gejagten Hasen war für die Regierung bestimmt, die sie dann den Soldaten an der Front<br />
schickte. Der Rest wurde unter den beteiligten Jägern verteilt. Es wurden auch<br />
Zuckerrüben als Viehfutter angebaut. Der Erdboden war dunkel, sehr fruchtbar und ohne<br />
Steine. Oft holte Giuseppe mit Ross und Wagen die geernteten Produkte von den Feldern<br />
ab. Herr Schneider hatte zwei Kinder: Karoline, ein vierzehnjähriges , blondes und<br />
hübsches Mädchen, mit einem ovalen Gesicht, roten Wangen und einem für ihr Alter gut<br />
entwickelten Körper, das immer wohlgelaunt und geistreich war, und Albert, ein<br />
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zwölfjähriger, nicht sehr großer etwas dicklicher Junge. Beide waren gerne in Giuseppes<br />
Gesellschaft.<br />
Eines Nachmittags hatte er „ Fuchs“, ein schwarzes, stolzes und feuriges dreijähriges<br />
Pferd vor den Wagen gespannt und wollte gerade losfahren, als er seinen Namen rufen<br />
hörte sowie die Aufforderung zu warten. Es waren Karoline und Albert, die mitfahren<br />
wollten und Giuseppe hieß sie aufsteigen. Ein Ruck mit den Zügeln und los wie der Wind<br />
längs des staubigen Weges. Gewöhnlich war Giuseppe barfuß und bei dieser Erde ohen<br />
Steine hatte er keine Probleme. Sie spürten den Wind in den Haaren und Karoline hielt<br />
sich am Arm von Giuseppe fest, lachte und war glücklich.Sie hatte eine besondere<br />
Zuneigung zu ihm. „ Giuseppe, gefällt es dir hier bei uns in Urbau? “ fragte sie.“ Ja.<br />
„ antwortete er. “ Es geht mir hier gut und auch du gefällst mir, du bist wunderschön.“ Sie<br />
waren am Zuckerrohrfeld angelangt und Giuseppe war abgestiegen, um das Zauntor zu<br />
öffnen. Während er das Tor auftat, wurde das Pferd durch irgendetwas aufgeschreckt und<br />
rannte, den Wagen mit den vor Angst schreienden Kindern mitziehend, wiehernd los.<br />
Giuseppe verlor nicht den Mut. Er lief so schnell er konnte quer durchs Feld, um den<br />
Wagen, der dem längs des Feldrandes verlaufenden Weg gefolgt war, abzufangen. Nach<br />
einem wilden Lauf gelang es ihm die Zügel zu ergreifen und mit aller Kraft anziehend<br />
konnte er Pferd und Wagen anhalten. Die beiden zu Tode erschrockenen Kinder waren<br />
gerettet. Weinend umarmte ihn Karoline und machte ihn so zum Helden. Giuseppe<br />
befürchtete, dass er zum Hof zurückgekehrt eine Schelte bekommen würde, weil er die<br />
Kinder einer solchen Gefahr ausgesetzt hatte. Aber nachdem er die Erzählung sei ner<br />
Kinder angehört hatte, ging Herr Otto zu Giuseppe , klopfte ihm auf die Schulter und<br />
meinte: „ Gut hast du das gemacht. Du bist sehr mutig gewesen. Ich danke dir, das du<br />
meine Kinder gerettet hast. Jetzt bist du für mich wie ein Sohn, mein Haus ist dein Haus,<br />
du kannst alles haben.“ Gerührt dankte Giuseppe und entschuldigte sich für seine<br />
Unvorsichtigkeit. Auch meinte er, hätte er sich keine Belohnung verdient, es reiche ihm,<br />
die Freundschaft der Familie Schneider bewahrt zu haben. Am Abend, bevor er nach<br />
Hause zurückkehrte, steckte ihm Herr Otto einige Banknoten in die Tasche. Giuseppe<br />
wollte ablehnen, aber aus dem Blick des Besitzers verstand er, dass er ihn dadurch<br />
beleidigen würde. „Morgen“ sagte dieser „ begibst du dich nach Znaim und kaufst mir eine<br />
Dose Schnupftabak. Mit dem Rest kannst du dir kaufen ,was du willst.“ Giuseppe dankte<br />
und ging nach Hause, wo er den Frauen alles erzählte mit Ausnahme der gefährlicheren<br />
Abschnitte. Auch verschwieg er das Trikgeld, zweihundert Kronen, für ihn ein riesiger<br />
Betrag.<br />
Am nächsten Tag machte sich Giuseppe auf den Weg in die Stadt und nach einer Stunde<br />
tauchte Znaim vor ihm auf, die Kirchen, die Paläste und alles überragend der Stadtturm<br />
mit dem dunkelgrünen Spitzdach. In die Stadt gelangt stand er vor großen Gebäuden, vor<br />
Geschäften und Bierhäusern, er hielt sein Sümmchen in der Hand und ging alle Geschäfte<br />
ab; er wollte seiner Mutter und Teresa, aber auch Karolina und Albert ein Geschenk<br />
kaufen. Aber zuallererst musste er für den Gutsbesitzer den Schnupftabak kaufen.<br />
Im Tabakladen gab es wunderschöne Broschen, Giuseppe wählte zwei aus ,eine für seine<br />
Schweser und eine für Karoline, und kaufte sie. Längs der Strasse zum Hauptplatz<br />
entdeckte er ein großes Kleidungsgeschäft, er ging hinein und kaufte einen sehr schönen<br />
schwarzen Schal , der seiner Mutter ganz sicher gefallen hätte. Er steckte alles in den<br />
Rucksack und begab sich alsdann auf den großen rechteckigen , mit runden Flußsteinen<br />
gepflasterten Platz, in dessen Mitte ein großer Brunnen stand , der von einer, mit<br />
anderen kleineren Figuren umgebenen Marienstatue überragt wurde.Es war der<br />
Hauptplatz von Znaim, einer alten Stadt aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts. Im<br />
Mittelalter war Znaim auch Königssitz gewesen und jahrhundertelang war es Bollwerk der<br />
Christenheit gegen die Türken. Der Platz war steil angelegt, auf der unteren<br />
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,tieferliegenden Seite wurden auf Marktbänken Lebensmittel, Gemüse und besonders<br />
Obst verkauft, aber auch Käse und im weiter unten vorbeifließenden Fluss gefangene<br />
Fische. Er ging an der rechten Seite den Platz hinauf und kam zu einem Uhrengeschäft.<br />
Schon immer hatte er sich eine Uhr gewünscht, aber weiss Gott, wieviel eine solche Uhr<br />
kostete, dachte er bei sich, aber fragen kostete ja nichts, machte er sich Mut und trat ins<br />
Geschäft. Ein hagerer Mann mit Brille begüßte ihn und zeigte ihm einige, nicht besonders<br />
kostbare Taschenuhren. Er hatte den Jungen schon eingeordnet und seine Kaufkraft<br />
bewertet. Giuseppe war von einer silberfarbenen Uhr angezogen, die , wenn der Deckel<br />
aufgeklappt war, wie eine Spieldose erklang. Er fragte nach dem Preis, hundertzehn<br />
Kronen, das war zu teuer! Das Sümmchen war stark geschwunden. Erleerte seine<br />
Taschen auf den Verkaufstisch. Er hatte noch ganze siebenundneunzig Kronen. Er<br />
betrachtete enttäuscht die Uhr, entschuldigte sich und sammelte sein Geld, um zu gehen.<br />
Da fragte der Mann: „ Wieviel Kronen hast du?“ „Nur mehr 97.“ antwortete Giuseppe: „Den<br />
Rest habe ich für meine Mutter, meine Schwester und für meine Freunde ausgegeben.“<br />
Woher kommst du?“ fragte der Mann weiter:“Ich höre, dass du weder Deutscher, noch<br />
Tscheche bist.“ Giuseppe erzählte also, dass er aus dem Trentino, aus dem Welschtirol<br />
käme und jetzt auf dem Gutshof der Familie Schneider in Urbau arbeite. Da bot ihm der<br />
Kaufmann die Uhr zum Preis von 95 Kronen an.Aber dafür musste Giuseppe einen<br />
Botendienst machen und eine kostbare Tischuhr bei einem bestimmten Villenhaus<br />
abgeben.Da er den Gutsherrn, bei dem Giuseppe arbeite, gut kenne, würde er ihm<br />
vertrauen.<br />
Giuseppe war einverstanden, nahm das Paket und seine erste Uhr bestaunend begab er<br />
sich zur Villa; er war barfuß und er stellte sich schon vor, was seine Mutter sagen würde:<br />
„ Warum hast du dir nicht ein Paar Schuhe gekauft, die du wohl nötiger hast als eine Uhr?<br />
“Mittlerweile war er an die Gittertür der großen Gutsvilla angelangt, händigte einem Diener<br />
das Paket aus und brach nach Urbach auf.<br />
Zu Hause angelangt grüßte er Mutter und Schwester, die gerade beim Mittagessen waren;<br />
diese waren sehr überrascht, dass er um diese Tageszeit auftauchte, aber als sie<br />
erfuhren, dass er in Znaim einen Auftrag zu erfüllen hatten, beruhigten sie sich und<br />
deckten auch für ihn. Nach dem Essen rief er sie zu sich und erzählte ausführlicher vom<br />
Vorfall mit dem Pferdewagen und den Kindern und vom Trinkgeld, das er bekommen<br />
hatte.Darauf zog er den Schal hervor und reichte ihn Maria: „ Der ist für dich, Mutter! Du<br />
wirst ihn brauchen, sobald der Sommer vorbei sein wird.“ Teresa fand die Brosche, die ihr<br />
Giuseppe gekauft hatte, sehr schön. Sie dankte und umarmte ihn herzlichst. Die Mutter,<br />
die den Schal mit der Hand angefühlt hatte und beim Geldausgeben sehr umsichtig war<br />
meinte, dass es sich um einen guten Wollschal handle und dass er sicher nicht billig<br />
gewesen war.<br />
„ Ich danke dir für deine Aufmerksamkeit und was hast du denn für dich gekauft, ich hoffe<br />
wohl ein Paar Schuhe?“ sagte sie zu Giuseppe, der zur Antwort gab:“ Ich war mir sicher,<br />
dass du genau auf das gekommen wärest, aber ich habe mir etwas ganz anderes<br />
gekauft!“ Dabei zog er die Uhr heraus und zeigte der Mutter. Diese brummelte kurz, gab<br />
ihm aber dann einen Kuss. Mutter und Schwester waren stolz auf sein mutiges Verhalten.<br />
Da bekundete Giuseppe, dass er ein wenig besorgt sei, weil er für Albert kein Geschenk<br />
gekauft hätte. Teresa aber meinte , sie hätte eine Lösung dafür. Sie ging in ihr Zimmer und<br />
kam mit einer kleinen Holzstatue zurück, die sie in den lrtzten Tagen mit Hilfe von Josef<br />
geschnitzt hatte.<br />
Darauf ging Giuseppe schnurstracks zum Gutshof und als er die Kinder antraf, gab er<br />
ihnen die Geschenke. Beide waren sehr zufrieden, aber Karoline war besonders erfreut.<br />
27
Sie umarmte ihn und küsste ihn liebevoll auf den Wangen. Es war Hochsommer, aber<br />
auch schon Zeit, an den Winter zu denken; so gingen alle drei, wenn sie frei waren, in den<br />
Wald längs des Flusses, um Holz zu sammenln, das sie dann an der Hintermauer des<br />
Hauses aufstockten.<br />
Von Desiderio hatten sie mehrere Briefe bekommen und sie hatten ihm auch oft<br />
geschrieben. In den Briefen erzählte er von den Greueln des Krieges, von den Kämpfen;<br />
gottseidank war er aufgrund eines Alters – er war fünfundvierzig - nicht direkt in diese<br />
Schlachten hineingeraten. Er war im Nachschubdienst eingesetzt.Er leistete im<br />
Verpflegungsmagazin in Lemberg Dienst, von wo die Truppen versorgt wurden, die<br />
häufige Inkursionen in das Feindgebiet machten, um so der russischen Gegenoffensive<br />
zu widerstehen. Wehmütig erinnerte sich Desiderio an die schönen Stunden, die er mit<br />
seiner Frau und seinen Kindern in Urbach verbracht hatte. Sie wiederzusehen war sein<br />
einziger Sinn.<br />
Im letzten Brief hatte ihm Maria auch die Grüße des Gendarms Joseph geschickt. Dieser<br />
stamme aus einer Wiener Familie und., so schrieb sie weiter, käme nun immer häufiger zu<br />
Besuch und Maria Teresa sei immer verliebter. Immer sehnsüchtiger warte sie auf ihn und<br />
wenn er erschiene, liefe sie ihm strahlend entgegen. Im Brief erzahlte sie davon , wie<br />
Teresa immer schöner wurde, wie sie ihr Aussehen pflegte, wenngleich sie keine schönen<br />
Kleider und noch Schmuck hatte, dass sich die beiden am Sonntag bei der Messfeier<br />
treffen, dass sie am Nachmittag zusammen an Dorffesten tanzten oder Hand in Hand<br />
längs der Feldwege oder in der Stadt, falls die kleine Kalesche der Gendarmerie verfügbar<br />
war, spazieren gingen.<br />
Diese Briefe halfen Desiderio am Leben in Urbach teilzunehmen, steigerten aber auch<br />
seine Sehnsucht.<br />
Maria Teresa sprach mittlerweile ganz gut Deutsch, dank auch des unterhaltsamen<br />
Unterrichtes, den ihr Joseph erteilte, der seinerseits von ihr Italienisch lernte.<br />
An einem Sonntagnachmittag im August fuhren Joseph und Maria Teresa mit der<br />
Kalesche der Taia entlang und kamen so in ein kleines ,waldiges Tal; an einer einsamen<br />
Stelle hielten sie an, um zum Fluss hinabzusteigen, der dort eine Biegung machte und<br />
einen See gebildet hatte mit einem engen Sandstrand. Mit dem Vorwand ihr das<br />
Schwimmen beizubringen, hatte Joseph Teresa überzeugt , im Fluss zu baden. Für<br />
Teresa war es eine völlig neue Erfahrung, denn nie zuvor war sie in einen Fluss oder<br />
einen See getaucht.<br />
Zum Sandstrand gekommen zog sich Joseph bis auf die Unterhose aus und sprang ins<br />
Wasser.Dabei spornte er Teresa an, das Gleiche zu tun. Verlegen zog diese das hellblaue<br />
Sonntagskleid aus, unter dem sie nur einen Unterrock trug, drehte sich zum Wald ab und<br />
schnürte das Mieder auf, zog es aus ohne den Unterrock abzulegen und legte es auf das<br />
Kleid. Dann zog sie die Schuhe und die weissen Strümpfe aus ( damals trugen die Frauen<br />
keine Unterhosen) und näherte sich zögernd dem Wasser. „Wann entschließt du dich<br />
endlich? „ fragte Joseph sich umwendend und war ganz sprachlos beim Anblick ihrer<br />
Schönheit. Er nahm sie bei der Hand und gemeinsam stiegen sie ins Wasser. „ Bist du<br />
wahnsinnig, es ja eiskalt!“ schrie sie. Sie solle nicht so erschrocken tun, meinte Joseph<br />
und spritze mit der Hand Wasser auf sie. „ Du willst Krieg!“ sagte Teresa und spritzte ihn<br />
ihrerseits an. Lachend tauchten sie beide ins Wasser. Joseph versuchte die Erregung, die<br />
ihn erfasst hatte, als er unter dem durch die Nässe fast durchsichtig gewordenen<br />
Unterrock den wunderschönen Busen von Teresa erblickt hatte, unterm Wasser zu<br />
verstecken. Um sie über Wasser zu halten , stützte er sie mit der Hand auf der<br />
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Magengegend und zeigte ihr dabei die Grundbewegungen des Schwimmens. Teresa<br />
lachte fröhlich und schlug mit Armen und Beinen um sich.<br />
Nach einer Weile stiegen sie aus dem Wasser und legten sich auf der Wiese hinter dem<br />
Sandstrand in die Sonne.Teresa versuchte mit wenig Erfolg, den Unterrock auszuwringen.<br />
„ Wie soll ich denn so ganz nass nach Hause gehen?“ sagte Teresa. „ Kein Problem !“<br />
meinte Joseph, zog die Unterhose aus und legte sie zum Trocknen auf einen Strauch in<br />
die Sonne. Gleichzeitig forderte er Teresa auf, es ihm nachzumachen.Das Mädchen hatte<br />
noch nie einen nackten Mann gesehen und drehte sich verlegen und errötend ab.Joseph<br />
näherte sich ihr von hinten, küsste sie auf den Hals, ergriff sachte die Träger des<br />
Unterrockes und ließ ihn langsam auf den Boden rutschen.<br />
Mit einer keuschen Geste der Hände und Arme versuchte Teresa die Brust und die<br />
Schamgegend zu verhüllen. Joseph hob das nasse Kleidungsstück auf und legte es auf<br />
den Strauch in die Sonne. Sein Vorgehen bekräftigte mit der Aussage: „ So, in Kürze wird<br />
er Trocken sein ! „<br />
Teresa hatte sich niedergesetzt und die langen Haare dienten ihr als Schleier. „Sie ist<br />
wunderschön!“ dachte Joseph und setzte sich neben sie aufs Gras. In der Wärme der<br />
Sonne erwachte wieder die Sinneslust, er streichelte ihre Brüste, dann küsste er sie.“<br />
Liebste “ sagte er und „amore mio“ flüsterte sie. Die Leidenschaft durchfloss sie, sie<br />
vergaßen die Versprechungen, die sie den Eltern gegeben hatten, verschwunden waren<br />
auch die Ermahnungen des Priesters und die gesellschaftlichen Vorschriften. Sie liebten<br />
sich lange, wie Adam und Eva im Paradies, glücklich jung und verliebt zu sein.<br />
Bild S. 44: Die Familie des Eliseo Pontalti aus Villazzano nach Hödnitz ( Znaim )<br />
ausgesiedelt – 1915 (Archiv des Bezirkes Povo )<br />
Bild S. 45: Alter Stich von Znaim ( Archiv Aldo Giongo)<br />
Bild S.48: Familie Grisenti nach Joslowitz ausgesiedelt. Die Familie (mit Ausnahme von<br />
Giuseppina) ist 1918 durch die Explosion eines Sprengkörpers in ihrem Haus in Gabbiolo<br />
auf tragische Weise ums Leben gekommen( Archiv des Bezirkes Povo)<br />
29
NEUNTES KAPITEL<br />
Es war Herbst geworden,die Bäume hatten ihre Blätter gefärbt und begannen sie fallen zu<br />
lassen. Auch die Schule hatte wieder angefangen und der Lehrer kam jeden Morgen mit<br />
einer von einem schwarzen Pferd gezogenen Kalesche aus Znaim. Er war groß und hatte<br />
Schnurrbart und Bart. Er war als sehr streng bekannt. Es war seine Gepflogenheit, die<br />
Schüler quer über die Schulbank zu legen, ihnen anzuordnen, die Hosen runterzuziehen<br />
und sie dann mit einem dünnen, biegsamen Stock hart zu schlagen. Einmal hatten die<br />
Söhne von Anna zwei Kürbisse vom Feld gestohlen, um damit zu spielen.Sie wurden vom<br />
Lehrer entdeckt und peitschte sie vor der Ganzen Klasse. Da es ihm nachher in den Sinn<br />
gekommen war, die beiden Schüler könnten die Kürbisse aus Hunger gestohlen haben,<br />
bekam er Gewissensbisse und am Abend erschien er bei ihnen zu Hause mit einem Korb<br />
voller Lebensmittel.<br />
Eines Tages verbreitete sich die Nachricht, dass am folgenden Sonntag eine Delegation<br />
aus dem Trentino ins Dorf kommen würde, die der Baron De Mersi von Villazzano anführe.<br />
Am vorgesehenen Sonntag warteten sie nach dem Gottesdienst auf dem Dorfplatz. Nach<br />
ungefähr zehn Minuten sahen in der Ferne eine schöne, dunkelfarbene Kutsche<br />
auftauchen. Die Kutsche näherte sich und der Baron De Mersi stieg mit zwei elegant<br />
gekleideten Frauen aus. Der baron und die beiden Frauen schüttelten allen Aussiedlern<br />
die Hand, während zwei Diener Kleidungspakete abluden und sie den anwesenden<br />
Familien aushändigten. Ausser der Familie Bonvecchio lebten zwei weitere Familien aus<br />
Povo im Dorf und, in einem entlegeneren Gebiet, auch zwei Familien aus Villazzano.<br />
Maria und ihre Angehörigen trafen sich häufig mit Anna Bertotti aus Gabbiolo und ihren<br />
elf Kindern, von denen das größte im Alter von Giuseppe und das jüngste gerade zur Welt<br />
gekommen war. Auch diese Familie wohnte in einem einzigen großen Raum, wie auch die<br />
Bonvecchio vor der Umgestaltung durch Desiderio. Sie beschlossen, das ihnen<br />
zustehende Paket Anna zu überlassen. In einer nahegelegenen Fraktion lebte noch eine<br />
Familie Bonvecchio aus Oltrecastello, mit der sie aber überhaupt nicht verwndt waren. Die<br />
Frau hieß Fortunata und die beiden Kinder Giuseppina und Luigi. Sie wohnten in einem<br />
kleinen Haus nahe dem Gutshof, dessen Besitzer Tallafus hießen. Die Gutsherren waren<br />
ein Ehepaar in mittlerem Alter, sie hatten drei Kinder und hatten Fortunata und ihre<br />
Kinder sehr gastfreundlich aufgenommen; sie wurden behandelt als ob sie<br />
Fanilienmitglieder wären.<br />
Don Emilio, der Priester aus Povo, der im Pfarrgebäude von Znaim wohnte, kam ab und<br />
zu vorbei, um Worte des Trostes zu sprechen und Nachrichten aus dem Trentino zu<br />
bringen. Aber der Weg durch alle Dörfer der Bezirkshauptmannschaft von Znaim war sehr<br />
lang und der Priester verfügte über kein Transportmittel. Deshalb konnte er wirklich nur<br />
alle zwei , drei Monate vorbeikommen um die Sonntagsmesse zu lesen.An den anderen<br />
Tagen hatten sie nur die Wahl, eine in der Kirche des Ortes deutsch gesprochene Messe<br />
zu besuchen.<br />
Es kam die Zeit der Weinlese, ein wirkliches Volksfest. Bei den unterschiedlichen<br />
Tätigkeiten waren alle beschäftigt. Auch Maria und Teresa arbeiteten den ganzen Tag<br />
zusammen mit anderen Landsleuten aus dem Trentino, mit Tschechen und Deutschen.<br />
Neben der Traubenlese war den Frauen und Jugendlichen auch die Kelterung<br />
vorbehalten. In großen Fässern stampften sie mit nackten Beinen die Trauben, die von<br />
den Männern hieingeworfen wurden. Dieselben Männer trugen dann den<br />
herausfließenden Most in die ebenerdigen Kellerräume und füllten damit die dort<br />
stehenden Fässer. Nach der Gärung wurde der Wein in kleinere Fässer umgefüllt, die in<br />
den tiefergelegenen, nur über die im Tufstein gehauene Treppe erreichbaren,<br />
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unterirdischen Räumen standen. Darauf folgte die Kartoffelernte: endlose Felder, lange<br />
Zeilen von Kartoffeln, die eingesammelt , die in Jutesäcke umgeschüttet, auf die Wagen<br />
geladen und eingelagert werden mussten. Der Lohn bestand aus dem Wintervorrat<br />
ausgezeichneter Kartoffel, aber er war hart verdient. Am Abend waren sie völlig erschöpft<br />
und zerschlagen.<br />
Der erste Schnee überraschte die Drei, als sie einen holzbeladenen Wagen nach Hause<br />
führten; Wagen und Ross hatte Giuseppe beim Gutshof Schneider ausgeliehen. Nachdem<br />
das Holz aufgestockt war, kehrte Giuseppe zum Gut zurück.Während er der<br />
schneebedeckten Strasse entlangtrottete, kam in ihm die Erinnerung an Oltrecastello und<br />
an den verschneiten Chegul auf; er wurde vom Heimweh erfasst, aber der Gedanke, dass<br />
die schöne und immer gut gelaunte Karoline auf ihn wartete, vertrieb sofort die traurige<br />
Stimmung und mit einem Ruck dr Zügel beschleunigte er den Gang, um schneller zu<br />
Karoline zu kommen.<br />
Der hereinbrechende Winter verlangsamte alle Tätigkeiten der Menschen, in der<br />
Landwirtschaft, wo die Erde unter dem Schnee ruhte, aber auch im Kriegsgeschehen, das<br />
auf Positionskämpfe und einzelne Scharmützel beschränkt blieb.In seinen Briefen schrieb<br />
Desiderio, dass er eigentlich recht beruhigt sei, er würde seine Arbeit im Magazin<br />
weitermachen und hätte auch mit einigen Bürgern von Lemberg Freundschaft<br />
geschlossen; in der Stadt seien auch viele Trentiner, die von den Schlachtfeldern<br />
zurückgekehrt waren. Oft besuche er seinem Freund Trevisan die befreundeten<br />
Landsleute, die verlatzt im Lazarett lagen und gemeinsam würden sie über den<br />
schrecklichen Krieg reden, den sie zu kämpften ohne eigentlich zu wissen warum. Unter<br />
den Verwundeten hätte er auch einen gewissen Paolo Furlani aus Villazzano getroffen,<br />
der an einer Hand verletzt war; diese Art von Verletzung kam bei unseren Soldaten sehr<br />
häufg vor, so dass der nicht immer unbegründete Verdacht der Selbstverstümmelung<br />
aufgekommen war. Die österreich-ungarischen Soldaten italienischer Sprache bei den<br />
Offizieren sehr unbeliebt und wurden fast wie Kriegsgefangene behandelt. Dazu hatte<br />
Paolo ein bedeutungsvolles Ereignis erzählt: „ Es war der Befehl gekommen, aus dem<br />
Graben zu springen und aufgestecktem Bajonett anzugreifen; ich versuchte, in die<br />
hinteren Reihen zu kommen, um den sofortigen Zusammenstoß zu vermeiden. Da tauchte<br />
hinter mir plötzlich ein österreichischer Leutnant auf, der mir den Tod androhte und mich<br />
einen italienischen Verräter schimpfte; ich war sicher, dass er schießen würde; ich sah die<br />
Pistole vor meinen Augen mit dem Schuss im Lauf, es war schrecklich. Zu meinem Glück<br />
musste er nach vorne rücken, um andere widersüenstige Soldaten anzuspornen. Tage<br />
später habe ich ihn wieder so zehn Meter vor mir gesehen wie er auf einen kameraden<br />
aus Triest schießen wollte und, aber bitte sag es ja nicht weiter, habe ich einfach mit dem<br />
Gewehr auf ihn schießen müssen. Ich weiss nicht, ob ich ihn verletzt oder getötet habe,<br />
eins ist aber sicher, gesehen habe ich ihn nicht mehr.“<br />
Sie hatten auch Mädchen des Ortes kennengelernt, die in ihren kurzen Röcken sehr<br />
anziehend und trotz des quälenden Hungers immer guter Laune waren. Wenn es möglich<br />
war, brachten Desiderio und Paolo ihnen immer etwas aus dem Magazin mit und die<br />
Mädchen luden sie dann nach Hause ein, wo sie mit ihren Familien Bekanntschaft<br />
machten. Anlässlich eines solchen Besuches hatten sie ein für sie bestürzendes Erlebnis.<br />
Nach einer gedrängten Unterredung aller Familienmitglieder, wurden sie von den beiden<br />
Mädchen, die sie längs der eiskalten Strasse nach Hause begleitet hatten, und von deren<br />
Eltern aufgefordert, aufzustehen und ihnen in ein kleines Holzhaus zu folgen. Dort<br />
eingetreten befanden sie sich in einem kleinen, ziemlich warmen Raum; der Vater schloss<br />
die tür und unter den ertaunten Blicken von Desiderio und Paolo begann die ganze<br />
Familie sich auszuziehen. Mit Gesten wurden die beiden aufgefordert, das Gleiche zu tun;<br />
sich verwundert anschauend legten sie zögerlich und verlegen die Kleider ab. Die drei<br />
31
Frauen waren schon in den Nebenraum gegangen, während der Vater darauf wartete,<br />
dass auch sie nackt waren und öffnete dann die Tür und sie traten in einen sehr warmen,<br />
fast heissen Raum ein, wo in der Mitte ein großer Ofen stand. Im Raum waren Sitzbänke<br />
im Halbkreis aufgestellt, auf dem Ofen lagen Steinplatten und eines der Mädchen schöpfte<br />
mit einer Kelle Wasser aus einem Kübel und goss es auf die Steinplatten, was zur Bildung<br />
einer heissen Dampfwolke führte. Das einzige Licht warfen die im Ofen lodernden<br />
Flammen, aber was die Soldaten sehen konnten, war wirklich aufregend.<br />
In Urbach ging Giuseppe seiner Arbeit nach, aber er hatte jetzt wesentlich mehr Freizeit<br />
und konnte sich mit den anderen Jungen des Dorfes auf dem Schnee unterhalten. Eines<br />
Tages wäre er beinahe im eiskalten Wasser eines Teiches ertrunken. Er spielte mit den<br />
anderen auf der vereisten Oberfläche, als er plötzlich einbrach; die jungen des Ortes eilten<br />
ihm sofort zu Hilfe; sie zogen ihn aus demWasser und brachten ihn schleunigst ins<br />
nächste Haus, damit er sich neben dem Feuer trocknen konnte.<br />
Maria stattete Anna, die um einige Jahre älter war, häufig Besuch ab und ging ihr bei der<br />
Betreuung der zahlreichen Kinderschaft zur Hand; dabei redeten sie über ihren Kummer<br />
und ihr Herzeleid, über ihre Männer im Krieg und oft gingen sie in die Kirche , um für sie<br />
zu beten, die in diese eiskalten galizischen Ebenen voller Gefahren geschickt worden<br />
waren.<br />
Einmal im Monat kam das Beihilfegeld; es wurde meistens am Sonntag nach der Messe<br />
ausgeteilt. Jeden Sonntag versammelte ein öffentlicher Ausrufer die Bevölkerung vor dem<br />
Gemeindeamt, wo der Kommandant der Gendarmerie die Frontberichte verlas und die<br />
Namen der Verletzten und Gefallenen. Anna war eine gute Schneiderin; sie arbeitete für<br />
die Menschen des Ortes aber auch für das Heer. Mit ihren Töchtern strickte sie Socken für<br />
die Soldaten; auch Maria und Teresa boten sich an, Socken zu stricken. Sie setzten sich<br />
im Halbkreis vor das Feuer und während sie von ihren Problemen erzählten, strickten sie<br />
fleißig.<br />
Für Weihnachten hatte Don Emilio ein Treffen aller im Gebiet von Znaim lebenden<br />
Aussiedler mit einem vom Trientner Bischof gesandten Priester angekündigt. Sicher hätten<br />
sie weitere Pakete erhalten, die von Hilfsorganisationen geschickt wurden , um die Leiden<br />
des Exils zu lindern. Das Treffen wurde in der Jesuitenkirche von Znaim, einer alten<br />
gotischen Kirche in der Oberstadt, veranstaltet . Zur Vorbereitung des Weihnachtsfestes<br />
trafen sie sich mit Landsleuten aus den nahen Fraktionen. Sie beschlossen eine Krippe<br />
aufzustellen und teilten sich die Aufgaben: Figuren schnitzen, Figuren einkleiden, die<br />
Hütte bauen. In der Stadt lebten auch Protestanten und Gläubige der orthodoxen Kirche.<br />
Das war für die Menschen aus dem Trentino völlig neu, denn sie waren nur die katholische<br />
Religion gewohnt.<br />
Es kam der Weihnachtstag, frühzeitig begaben sie sich in die Stadt. Das Hochamt war um<br />
zehn; Maria und ihre Kinder begegneten vielen Familien aus Povo. Sie umarmten sich und<br />
weinten vor Freude, dass sie sich nach so langer Zeit wiedersehen konnten. Sie trafen<br />
auch ihren Kaplan Don Cavalieri und den Kaplan von Villazzano Don Dante Bonapace. Es<br />
begann die Messe. Endlich ein Priester, der Italienisch sprach! In der Muttersprache<br />
schien Gott näher zu sein. Bei der Predigt überbrachte der Priester die Grüße und den<br />
Segen des Bischofs von Trient: „ Euer Bischof ist im Gebet immer bei euch Und bei euren<br />
Angehörigen , die in fernen Ländern kämpfen. Er wünscht euch ein gesegnetes<br />
Weinachten und das baldige Ende der Strafe, die Gott der Menschheit gesandt hat.“ Die<br />
Kirche hatte den Krieg nicht verurteilt; Papst Benedikt XV hatte in seiner Enzyklika den<br />
Krieg als Strafe erklärt, die Gott für die eingetretene Säkularisierung des Staates und für<br />
die Verbreitung der sozialdemokratischen und liberalen Ideen geschickt hatte. Der<br />
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christliche Pazifismus war sehr zweideutig: einerseits wurde die christliche Nächstenliebe<br />
gepriesen, andrerseits wurden der Patriottismus und die Pflicht, gegen die Feinde des<br />
Kaisers zu kämpfen, verherrlicht.Dabei wurde jeder Christ mit der Schuld beladen, durch<br />
seine Sünden gegen Gott und den Staat den Krieg ausgelöst zu haben.<br />
In seinem Schreiben hatte der Papst vier Ursachen ermittelt: die mangelnde<br />
Nächstenliebe unter den Menschen, die Verachtung der Obrigkeit, den Klassenhass und<br />
der Gedanke,dass auf dieser Welt das einzige Ziel, die Suche des Glückes nach dem<br />
Tode sei, d.h. der Eintritt in den Himmel. Wiedereinmal war die Botschaft Christi verdreht<br />
worden und die Menschen wurden angespornt Ihresgleichen zu töten oder sich als<br />
Schlachtvieh für den Kaiser niedermetzeln zu lassen. Der Krieg ging leider weiter. Drei<br />
Reiche , Österreich-Ungarn, Deutschland und Russland hatten ihre Völker in den Tod auf<br />
den Schlachtfeldern geschickt. Dann waren Italien und Frankreich und fast der Rest der<br />
Welt gefolgt.<br />
Es begann das Jahr 1916. Giuseppe feierte seinen 16. Geburtstag. Die Mutter und seine<br />
Schwester hatten ihm eine wunderschöne Torte zubereitet, an die Getränke hatte Joseph<br />
gedacht und einen ausgezeichneten Weisswein mitgebracht. Er gehörte mittlerweile zur<br />
Familie und war immer stärker in Teresa verliebt, die diese Liebe voll erwiderte. Nach den<br />
Küssen und den Glückwünschen der Angehörigen sagte Joseph: „ Lieber Giuseppe, ich<br />
weiss , dass für dich und für euch alle, es ein trauriger Jahresanfang ist, aber was mich<br />
betrifft, so lasst es mich sagen, ist es der schönste in meinem ganzen Leben; ich bin sogar<br />
dem Krieg und dem Kaiser dankbar, dass ich dadurch Teresa getroffen habe .“ Darauf<br />
sagte Maria:“ Wir haben Gott zu danken, dass wir in diesem Unheil den Menschen von<br />
Urbau und dir begegnet sind und dass du uns deine Freundschaft angeboten hast.“ Dann<br />
wandte sie sich an die beiden Verlobten: „ Bestimmte Dinge aber dürfen nur nach der<br />
Hochzeit geschehen!“ Maria Teresa errötete verlegen und wechslte Gesprächsthema,<br />
indem sie das Glas auf Giuseppe erhob. „ Ich danke allen!“ sagte Giuseppe, schnitt die<br />
Torte an und verteilte die Stücke an die Anwesenden. Nachdem sie die Torte gegessen<br />
hatte, meinte Joseph: „Wir männer müssen euch jetzt allein lassen, wir gehen ins<br />
Wirtshaus .“ Giuseppe war einverstanden und so gingen sie, die Gespräche fortsetzend<br />
ins Dorfzentrum und bestellten sich im Wirtshaus ein riesiges Bier. Der Abend verging<br />
zwischen Trinksprüchen und Glückwünschen der anwesenden Gäste.<br />
Am 21. Jänner kam die schreckliche Nachricht, dass der Mann von Fortunata, eine Frau<br />
aus ihrem Heimatdorf, die hier in enem nahegelegen Dorf ausgesiedelt war, im Kampf<br />
gefallen war.Alle drei beschlossen ,sie zu besuchen. Auf dem Weg zu ihr sprachen sie von<br />
diesem tragischen Tod und hofften im Innersten, dass Desiderio nicht dasselbe geschehe.<br />
Vom Schmerz gebrochen saß Fortunata mit ihren Kindern in der Küche der Tallafuss. Sie<br />
umarmten alle weinend und versuchten, sie zu trösten.Schluchzend sagte Fortunata:<br />
„ Maria, jetzt bin ich allein, wie wird’s weitergehen, wie werde ich meine Kinder aufziehen<br />
können?“ „ Wir können nur auf Gottes Vorsehung setzen, aber wir werden es schaffen, du<br />
kannst mit unserer Hilfe rechnen.“ antwortete Maria. Darauf sagte Fortunata: „ Ich werde<br />
beten, liebe Maria, dass dir und deinen Kindern dieser Schmerz erspart bleibt!“ Die<br />
Familie, die sie aufgenommen hatte, verhielt sich in bewunderungswürdiger Weise und<br />
stellte sich noch stärker auf die Seite dieser unglücklichen Flüchtlinge. Die Familie<br />
Tallafuss konnte das mitfühlen , denn zwei ihre Söhne kämpften an der russischen Front.<br />
Bild S. 51: Die Familie Marchel nach Urbau ausgesiedelt- 1916 ( Archiv des Bezirkes<br />
Povo )<br />
Bild S.54: Ansichten von Znaim- 1915 ( Archiv der Bilbliothek von Povo )<br />
33
ZEHNTES KAPITEL<br />
Der Winter hatte keine große Neuigkeiten gebracht. Erst gegen Ende Februar sah man<br />
bei anbrechenden Abend einen Kaiserjäger durch den dicht fallenden Neuschnee in<br />
Richtung des Hauses der Familie Bonvecchio stampfen. Aus der Ferne kamen ihm drei<br />
Menschen entgegen. Dem Soldaten, der niemand anderer als Desiderio war, schlug das<br />
Herz schneller.<br />
Das sind Maria und meine Kinder, sagte er zu sich und mit neuer Kraft beschleunigte er<br />
seinen Schritt. Auch die drei Menschen, die ihm entgegen gingen sptachen gerade über<br />
ihn. So meinte Maria, ob das nicht der Vater wäre, der in ihrer Richtung käme. Auch<br />
Giuseppe glaubte den Vater zu erkennen. Da lief Teresa schon dem Mann entgegen und<br />
rief „Vater, Vater!“ „Teresa, liebste Tochter!“ erklang es von der anderen Seite. Desiderio<br />
und Teresa umarmten sich, dann kamen Maria und Giuseppe; alle waren zutiefst gerührt<br />
und sagten kein Wort.Warme Tränen flossen über die Wangen der Frauen. „ Wohin geht<br />
ihr denn um diese Zeit? Wollt ihr mich allein lassen? “ sagte Desiderio. Sie wollten gerade<br />
zu Anna Bertotti gehen, antwortete Maria, aber sie würden sofort umkehren, denn sie<br />
hätten sich viel zu erzählen und übrigens sei er ja ganz nass und müde.<br />
Erfreut ginden sie zurück zum Haus; Giuseppe zündete sofort das Feuer im Ofen an,<br />
Maria suchte trockene Kleider und Teresa goss dem Vater ein Glas Wein auf. Der Wein<br />
sei gut, meinte Desiderio, er hätte schon lange keinen mehr getrunken. Es sei auch der<br />
Wein, den Joseph zum Geburtstag von Giuseppe gebracht habe und den sie für ihn<br />
aufbewahrt hätten, berichtete Teresa. „Ach, Joseph der Gendarm! Wie geht´s mit euch?<br />
Gefällst du ihm immer noch?“ sagte da Desiderio. Sie hoffe schon, gab Teresa zur<br />
Antwort, aber eigentlich müsse er schon Joseph selbst fragen. Maria, die gerade Socken<br />
und Pullover brachte, fügte hinzu:“ Da brauchst du nicht zu zweifeln, Desiderio, sie sind<br />
immer beisammen, du müsstest ihr vielmehr sagen, vorsichtiger zu sein!“ „Was ist los mit<br />
dir Maria, bist du etwa eifersüchtig, sollte er deinetwegen kommen?“meinte Desiderio<br />
scherzhaft. „ Was sagst du da, du weißt doch, dass ich dir treu bin; wer weiß aber, was du<br />
mit den Frauen in Galizien treibst?“ gab Maria frech zurück. Er habe nie andere Frauen<br />
angeschaut ausser sie, beteuerte Desiderio. So lachten und scherzten sie, vergaßen alle<br />
Probleme und waren glücklich, wieder zusammen zu sein.<br />
Von Giuseppe wollte Desiderio, ob er nun Deutsch gelernt hätte und wie die Arbeit am<br />
Gutshof der Familie verlaufe.Giuseppe war froh, ihm sagen zu können, dass er jetzt gut<br />
Deutsch und sogar etwas Tschechisch spreche, dass auch Teresa , dank ihres<br />
persönlichen Lehrers, Deutsch spreche, nur die Mutter habe noch Schwierigkeiten, musste<br />
er feststellen. Auch die Arbeit bei den Schneiders sei angenehm. Herr Otto habe ihn gern<br />
und auch die Kinder. Er habe ihnen Speck, Schweinefleisch , Mehl und manchmal auch<br />
einen Geldschein zukommen lassen. Da sagte Maria: „Erzähl uns von dir, was im Krieg<br />
geschieht, von deinem Leben!“ Sofort wandelte sich Desiderio`s Ausdruck und ernst<br />
geworden begann er zu erzählen: „ Der Krieg ist zur Zeit wie im Winterschlaf, aber für den<br />
Frühling ist eine große Offensive in Vorbereitung. Wir wollen das Beste hoffen.Ich mache<br />
meinen Dienst in der Etappe und dürfte eigentlich keinen großen Gefahren ausgesetzt<br />
sein. Der Hauptmann mag mich; er achtet mich, weil ich der Vater einesHelden bin. Armer<br />
Francesco, er hilft mir vom Himmel herabals lebte er noch! Diesmal war die Reise besser,<br />
ich habe überall schnellen Anschluss gehabt. Leider habe ich nur fünf Tage Urlaub, aber<br />
ich darf mich nicht beklagen, ich komme nun schon zum zweiten Mal, während viele<br />
andere gefallen sind oder sich nie von der Front fortbewegen durften.“<br />
34
Maria war ganz betroffen: „Was , nur fünf Tage und einer ist schon zu Ende; mein armer<br />
lieber Mann, lass uns jetzt nicht daran denken, lass uns nehmen, was Gott uns schenkt!“<br />
Teresa verstand die Bedürfnisse der Verliebten, Vater und Mutter wollten allein sein.<br />
Giuseppe zublinzelnd sagte sie: „ Ich muss Anna benachrichtigen, dass wir die nächsten<br />
Tage nicht vorbeikommen können. Willst du mich begleiten,Giuseppe!“ Dieser hatte die<br />
Botschaft sofort verstanden und sagte zu. Sie zogen die Mäntel an und verabschiedeten<br />
sich mit einem zustimmenden Blick. Wortlos zogen sich Maria und Desiderio in ihr Zimmer<br />
zurück. Wie rasend zogen sie sich aus, warfen sich aufs Bett und liebten sich<br />
leidenschaftlich. Sie genossen in vollen Zügen voneinander und machten die Monate der<br />
Ferne wett.<br />
Als die zwei Geschwister einige Stunden später zurückkehrten, waren sie noch im Bett<br />
und auch das Feure war ausgegangen. Sich zurechtrichtend erschien Maria etwas<br />
verlegen in der Zimmertür:“Vater war sehr müde, ich habe ihn ins Bett gebracht, jetzt<br />
bereite ich das Abendessen zu.“ Teresa meinte aber: „ Sei unbesorgt Mutter, darum<br />
kümmern uns wir. Giuseppe zündet das Feuer an und ich koche. Geh zu Vater und leiste<br />
ihm Gesellschaft!“ „ Anna lässt euch grüßen und hat uns zu einem Besuch eingeladen.Sie<br />
möchte durch Vater etwas über ihren Mann erfahren!“berichtete Giuseppe.<br />
Am nächsten Tag schien die Sonne. Maria und Desiderio gingen ins Dorf. Giuseppe wollte<br />
den Gutsherrn, dass er einige Tage nicht zur Arbeit kommen würde und Teresabot sich an<br />
, Die Wäsche des Vaters sauberzumachen.Der erste Besuch im Dorf galt Joseph, der<br />
Desiderio freudig in der Antsstube empfing und ihm kräftig die Hand schüttelte. „Kommt“<br />
sagte Joseph auf Italienisch“ wir wollen den Besuch angemessen im Wirtshaus feiern.“<br />
Zur Verwunderung von Desiderio sprach Joseph recht gut Italienisch. Auf die Frage, wie er<br />
es gelernt hätte, antwortete Maria: „ Das weiss ich sehr gut. Er besucht eifrig ganz<br />
besondere Unterrichtsstunden, stimmt`s Joseph? “ Der junge Mann lachte von Herzen und<br />
mit ihm auch Desiderio.<br />
Im Wirtshaus vor einem Bier sitzend sprachen sie von den alltäglichen Dingen, als Maria<br />
sich entschuldigte und zum Laden ging irgendetwas einzukaufen. Da sagte Desiderio in<br />
einem strengen und ernsten Ton:“ Joseph, wie steht es mit dir und Teresa? Liebst zu sie<br />
wirklich oder ist es nur ein Abenteuer. Bevor ich wieder abfahre , muss ich es wissen.“<br />
„ Desiderio“ antwortete Joseph“ ich schätze Sie und ich betrachte Sie als meinen Freund<br />
und , wenn Gott will, als meinen zukünftigen Schwiegervater. Ich und Teresa lieben uns<br />
wahrhaftig, wir passen gut zueinander und wenn das Schicksal uns nicht trennt, werden<br />
wir heiraten.“ Desiderio beobachtete Josephs Blick und gewann die Überzeugung, dass<br />
er es ehrlich meinte und er ihm vertrauen könne. Da sagte er: „Schon voriges Mal hatte ich<br />
dich gebeten, mich mit „Du“ anzureden. Bin ich denn so alt?“ Joseph entschuldigte sich:“<br />
Du hast recht, es wird nicht mehr vorkommen; ich bin dir sehr dankbar für die<br />
Freundschaft und für das Vertauen , das du mir gewährst.“ Joseph war gerührt. Desiderio<br />
meinte abschließend, er solle sein Vertauen nie verraten und seiner Tochter kein Leid<br />
zufügen und in seiner Abwesenheit, vertraue er ihm seine ganze Familie an, er möge sie<br />
alle schützen. Er könne unbesorgt sein, war die Antwort Josephs. Die Familie von<br />
Desiderio könne auf ihn zählen als wäre sie seine eigene und was Maria Teresa angehe,<br />
so würde er niemals etwas tun, was nicht auch sie wünsche.<br />
Aus dieser letzten Bemerkung entnahm Desiderio, dass zwischen seiner Tochter und<br />
Joseph mehr geschehen war als eine nur freundschaftliche Beziehung vorsieht. Deshalb<br />
ermahnte er Joseph nocheinmal, nicht zu versuchen, die Anständigkeit und die Ehre<br />
seiner Tochter vor der Hochzeit zu verletzen. Joseph gab sein feierliches Versprechen.<br />
Als Maria zurückkam, verabschiedeten sie sich von Joseph und machten sich auf den<br />
Weg zu Anna. Sie wurden von ihr freudig empfangen und eingeladen, sich in ihrer<br />
35
ärmlichen Behausung einen Sitzplatz zu suchen. Da die Stühle nicht reichten, setzte man<br />
sich auch auf die Truhe. Anna goss ihnen eine Tasse Tee auf und bat Desiderio, ihr etwas<br />
von ihrem Mann Giovanni zu berichten. Desiderio erzählte, dass er ihren Mann in<br />
Lemberg getroffen hatte. Er war auf dem Weg nach Lublin im Norden. Es ging ihm gut.<br />
Desiderio versuchte sie zu beruhigen, obwohl er wusste, das dort die Hölle los war.<br />
Anna hatte ihrerseits Nachrichten aus dem Trentino erhalten. Im Krieg gegen Italien<br />
verlief die Front im Gebirge. Es wurde am Adamello und in den Hochebenen von Asiago<br />
und Lavarone gekämpft. Im Talboden hatten die italienischen Truppen am Marter von<br />
Roncegno Position eingenommen; dort war ihr Vormarsch aufgehalten worden.<br />
Caldonazzo hatte unter Beschuss gestanden; aber zur Zeit herscht Stillstand. Povo war<br />
noch unversehrt und die Festungen des Celva und des Cimirlo konnten den Angriffen<br />
Widerstand leisten.<br />
Vier Tage vergingen schnell und es kam die Stunde der Abreise. Desiderio äusserte den<br />
Wunsch, sich zu Hause von seiner Familie zu verabschieden und allein zum Bahnhof zu<br />
gehen, und er nicht davon abzubringen. Giuseppe gab nicht nach und erschien mit dem<br />
Schlitten des Herrn Schneider vor der Haustür. Der Abschied war herzzerreissend und<br />
schmerzvoll wie von der Vorahnung überschattet, dass sie sich lange Zeit nicht mehr<br />
wiedersehen würden. Umarmungen und Küsse und dann fort nach Znaim. Am Bahnhof<br />
noch eine Umarmung mit Giuseppe, ein Glückwunsch und dann die Fahrt in die eiskalte<br />
galizische Ebene mit einem Würgen im Hals . Hätte er sie je wiedergesehen?<br />
Bild S.56: Kaiserjägerin Kampfausrüstung- 1917 (Archiv der Bibliothek von Povo )<br />
Bild S. 59: Die russische Ebene ( Foto von Aldo Giongo )<br />
36
ELFTES KAPITEL<br />
Es kam der Frühling und mit ihm setzten auch die mörderischen Kriegshandlungen<br />
ein.Das Zarenreich bereitete die Offensive vor, die seine letzte sein sollte. Ein<br />
ununterbrochener, vom düsteren Kannonendonner begleiteter Hagel von Granaten ging<br />
auf die österreichischen Frontgraben nieder; unzählige Menschen starben. Es folgte der<br />
Angriff der kosakischen Kavallerie und dann der Infantrieregimenter, Die vordersten Linien<br />
brachen ein und es setzte ein planloser, überstürtzter Rückzug der österreichischen<br />
Truppen ein. Desiderio bekam den Befehl, was im Lager war auf Transportmittel zu laden<br />
und alles, was nicht transportiert werden konnte, sollte er zerstören. Aber die Lage<br />
verschlechterte sich unvorhergesehen; er war noch dabei Waffen und Lebensmittel zu<br />
sortiern, als er von Kosaken umzinget wurde, die bis zu den Zähnen bewaffnet waren.<br />
Das ist das Ende, dachte er, jetzt schießen sie und ich werde neben meinem Sohn<br />
Francesco begraben..<br />
ER warf die Waffe weg und erhob die Arme. Der Anführer schaute ihn an und fragte:“<br />
Talianski?“ „Da“ antwortete erschrocken Desiderio. Der Kosake fuhr auf Italienisch<br />
fort:“Los Bruder , es geht nach Russland. Für dich ist der Krieg zu Ende.“<br />
So marschierte Desiderio in einer Kolonne von Tausenden von Kameraden durch den<br />
Schlamm nach Russland. Jeder Schritt in diese Richtung entfernte ihn immer mehr von<br />
Maria und seinen Kindern. Wird er je zurückkommen? Und wann? Er tröstete sich,indem<br />
er feststellte , dass er noch lebte und dass er noch hoffen konnte, heil davon zu kommen.<br />
Die Strasse war gesäumt von Kreuzen und von verstümmelten Soldaten, die niemehr<br />
zurückkehren würden.<br />
Sie waren lange gegangen, er spürte seine Beine vor Müdigkeit nicht mehr, als die<br />
Kolonne anhielt. Die Nacht brach herein, es wurde eine fade Brühe ausgeteilt und zur<br />
Ruhe streckten sie sich alle zusammengedrängt auf den Boden aus. Die Kälte drang bis<br />
in den letzten Knochen.<br />
Im Morgengrauen ging es weiter, tagelang quer durch endlose Ebenen, die immer grüner<br />
wurden und wo schon die ersten Blumen wuchsen; nicht einmal die Zerstörungswut des<br />
Menschen kann den Frühling aufhalten. Von der Ukraine kamen sie nach Weissrussland,<br />
ein ganz flaches Gebiet: Es kam einem vor , auf dem Meer dahinzugehen, der Horizont<br />
erschien gebogen wie für die Schiffahrenden. Wiesen und Felder waren von Birken – und<br />
Kieferwäldern unterbrochen. Die Kiefern waren hoch und schlankgewachsen. Immer<br />
weiter und weiter, Schritt für Schritt, dem Nichts entgegen,; es kam einem vor<br />
stillzustehen, die Beine zu bewegen ohne auch einen Meter voranzukommen. Es war ein<br />
quälender Zustand, der einzige Wunsch war, dass die Sonne unterginge, um anhalten zu<br />
dürfen, um sich zur Ruhe auf den Erdboden werfen zu können trotz Kälte und<br />
Feuchtigkeit.<br />
Tag um Tag gehen, sich dahinschleppen, manchmal kamen sie an kleinen Dörfern mit<br />
armseligen , einstöckigen Holzhäusern vorbei, wo meistens alte Bauern, Frauen und<br />
Kinder lebten; Wagen und Pferde für die Feldarbeit standen längs der Strasse. Die Leute<br />
beobachteten neugierig dieses endlos Vorbeiziehen zerlumpter und erschöpfter Männer;<br />
sie näherten sich den Gefangenen ohne Hass und Groll und mit dem Wenigen, das sie<br />
besaßen, versuchten sie diesen leidenden und hungernden Menschen eine Linderung zu<br />
verschaffen. Endlich erreichten sie das Gefangenenlager Kirsanov: lange Reihen von<br />
37
Baracken mit Stacheldraht umzäunt. Ein Gefangener, kein Soldat mehr, was wird wohl<br />
geschehen?<br />
Mit dem Frühling war für die Bauern in Urbau auch die Arbeit gekommen. Giuseppe war<br />
auf dem Gutshof wieder voll im Einsatz. Die Felder mussten bestellt, die Reben<br />
geschnitten und die Wiesen gedüngt werden. Die beiden Frauen halfen bei der Feldarbeit<br />
und erhielten dafür Lebensmittel. So konnte Maria einen Großteil der Beihilfe einsparen;<br />
diese Ersparnisse sollten nach der Rückkehr in die Heimat hilfreich sein. Wenn sie ihrem<br />
Mann schrieb, steckte sie manchmal einen Geldschein in den Brief. Sie hatte gehört, dass<br />
die verlassenen Häuser von Soldaten geplündert wurden und sie wusste, dass der<br />
Wiederbeginn nich leicht sein würde.<br />
Sicher, Desiderio hätte arbeiten müssen; für ihn als Maurer wäre das nicht schwer<br />
gewesen, denn es waren ja viele Gebäude wieder aufzurichten. Maria dachte an ihren<br />
Mann, der nach dem Krieg wieder von vorne beginnen musste, glücklicherweise seien die<br />
Kinder schon groß und könnten mithelfen. Aber dann dachte sie, dass es jetzt einmal<br />
wichtig ist , dass er heil aus dem Krieg heimkehren konnte.<br />
Seit mehreren Monaten schon hatte sie von ihrem Mann keine Briefe mehr erhalten und<br />
Joseph hatte ihr erzählt, dass eine große russische Gegenoffensive im Gang war. Maria<br />
war sehr besorgt, wenngleich sie versuchte, es den Kindern nicht zu zeigen. Dazu kam<br />
noch, dass sie die Gewissheit hatte, nach dem letzten Besuch ihres Mannes schwanger<br />
geworden zu sein. Einige Zeit später am zweiten Sonntag des Juni nannte der öffentliche<br />
Ausrufer den Namen von Desiderio unter den vermissten Soldaten; wahrscheinlich war in<br />
russischer Gefangenschaft. Das war für alle ein harter Schlag, wenngleich die Hoffnung<br />
bestand, dass er irgendwo im weiten Russland noch am Leben war und vor weiteren<br />
Kämpfen sicher.<br />
Desiderio war erst einige Tage im Lager, als er zur Lagerkommandatur gerufen wurde. Mit<br />
Hilfe eines italienischen Übersetzers wurde er nach seinen Beruf im Zivilleben gefragt. Als<br />
der Kommandant erfuhr, das er Maurer war, zeigte er sich zufrieden und setzte seinen<br />
Namen in ein besonderes Verzeichnis. Am Tag darauf wurde er gerufen und mit weiteren<br />
fünf Gefangenen, zwei Böhmen und drei Ungarn, zur Villa eines Gutsbesitzers begleitet.<br />
Für das Wirtschaftsgebäude sollten sie einen neuen Stall mit Heustadel errichten.<br />
Nach langer Zeit konnte er wieder seinen eigentlichen Beruf ausüben. Durch den<br />
Übersetzer verlangte er das nötige Werkzeug wie Maurerkelle und Schaufel und das<br />
Baumaterial und natürlich auch Kalk für den Mörtel. Der russische Gutsbesitzer war ein<br />
Graf aus einem alteingessessenen Adelsgeschlecht; er war um die fünfzig,<br />
großgewachsen mit graumelierten Haaren; er war nach europäischer Art gekleidet und<br />
trug einen grauen Anzug und einen schwarzen Hut. Die Gräfin war in mittleren Jahren, ihr<br />
langes, blondes Haar war mit einem Seidenband gesammelt, sie trug ein weisses, weites<br />
und dekolletiertes Kleid.<br />
Am Gutshof lebten mehrere ältere Bauern, Frauen und sehr viele Kinder. Es fehlten die<br />
jüngeren kräftigen Männer, die an die Front geschickt worden waren. Er arbeitete gerne<br />
und die Bauern behandelten ihn gut. Das Essen war ausreichend und halbwegs gut. Am<br />
Abend mussten sie in das Lager zurückkehren und in den Baracken schlafen. Seine erste<br />
Sorge galt seinen Familienangehörigen; er wollte ihnen einen Brief schreiben, um sie über<br />
seine Lage zu unterrichten. Er hoffte diesen Brief auf die andere Seite der Front schicken<br />
zu können, was kein leichtes Unterfangen war.<br />
38
Die russische Gesellschaft war sehr rückständig: da waren die Großgrundbesitzer,<br />
meistens Adelige, und die Bauern, die als Sklaven behandelt und unterdrückt wurden; sie<br />
hatten keine Bürgerrechte. Das Volk ertrug diese Bedingumngen immer weniger und es<br />
kam häufig zu Aufständen, die im Blut unterdrückt wurden. Tod und Schmerz und die<br />
Zerstörungen des Krieges hatten die Bevölkerung völlig erschöpft und mittellos gemacht.<br />
Die österreich-ungarischen Gefangenen italienischer Sprache ( zum Teil auch der anderen<br />
unterdrückten Nationalitäten) waren bei den Russen beliebter als die deutscher Sprache,<br />
weil sie als Verbündete angesehen wurden und nicht wie die Deutschen als Auslöser des<br />
Krieges.<br />
Eines Tages wurden die italienischsprechenden Gefangenen plötzlich auf dem<br />
Aufstellplatz in Erwartung von irgendetwas festgehalten. Es kam dann eine italienische<br />
Militärdelegation, bestehend aus einem hohen Offizier, einem Leutnant und zwei<br />
Feldwebel. Alle aus dem Trentino und aus Triest stammenden Gefangenen wurden<br />
gefragt, ob sie bereit wären, für Italien zu optieren, und also nach Italien zurückzukehren,<br />
wobei es wahrscheinlich wäre, dass sie auf italienischer Seite gegen Österreich kämpfen<br />
müssten. Einige nahmen das Angebot an, aber der Großteil der Trentiner lehnte ab. Unter<br />
ihnen war auch Desiderio, der entschieden ablehnte: „Ich bin ein Tiroler italienischer<br />
Sprache und habe dem Kaiser Treue geschworen. Und da ist noch ein weiterer Grund.<br />
Meine Familie ist nach Mähren ausgesiedelt worden und könnte verfolgt werden, würde<br />
ich Österreich verraten. Ich bitte um euer Verständnis.“ Ihn entlassend sagten die<br />
Italiener:“ Wir können das verstehen und respektieren deine Entscheidung.“<br />
Die Treue zum Kaiser war fürwahr schon seit einiger Zeit ins Wanken geraten. Desiderio,<br />
der sich nie für die Politik interessiert hatte und ein friedliebender Mensch war, hatte sich<br />
schon in Lemberg die Frage gestellt, warum er, auch wenn du Russen senen Francesco<br />
getötet hatten, auf russische Soldaten schießen sollte. Aber vor allem stellte er sich die<br />
Frage, ob es gerecht war,indiesen verlassenen Gebieten unter den schlimmsten Qualen<br />
zu sterben. Er kam mit den Russen, zumindest mit den Menschen aus dem Volk gut aus;<br />
sie waren freundlich und freigebig und voller Sorge um die Männer, die jetzt an der Front<br />
ohne einen gültigen Grund gegen seine ehemaligen Kamersden kämpfen mussten.<br />
Sein Stolz erlaubte es ihm nicht, das anzuerkennen; er konnte nicht zugeben, dass er ein<br />
ganzes Leben lang an einen Monarchen geglaubt hatte, der jetzt sein Volk, Junge und<br />
Alte, Männer und Frauen und sogar Kinder ins Verderben schickte, nur um sein Reich zu<br />
bewahren, ein Reich, das aus Tod, Elend und Zerstörung bestand. Das alles war für<br />
einfache Menschen wie ihn schwer hinzunehmen; diese Männer und Frauen wollten nur in<br />
Frieden und in Würde leben.<br />
Giuseppe war immer traurig und schweigsam. Zuerst hatte ihn die Nachricht der<br />
Gefangenschaft seines Vaters beruhigt; er dachte besser gefangen als tot. Dann aber<br />
wurde er von einer von einer tiefen Bedrücktheit erfasst. Herr Schneider , seine Frau,seine<br />
Kinder , besonders Karoline, alle versuchten ihn zu trösten und ihm Mut zu machen, indem<br />
sie ihm erzählten, dass die Gefangenen der Russen gut behandelt werden und dass<br />
sicher bald ein Brief kommen werde.<br />
Karoline war immer sehr aufmerksam und gern in seiner Gesellschaft und manchmal<br />
gelang es ihr, ihm ein Lächeln zu entreissen. Auch die Mutter und seine Schwester lebten<br />
in qualvoller Sorge, besonders Maria, sie war schwanger, allein in einem fremden Land,<br />
ohne Nachrichten von ihrem geliebten Desiderio, der irgendwo in Gefangenschaft war.<br />
Teresa bedrängte immerfort Joseph, auf dass er sich bemühe, über seine Vorgesetzten<br />
und leitenden Ämter Nachrichten über ihren Vater zu bekommen.<br />
39
Der arme Gendarm hatte alle Behörden und möglichen Körperschaften aktiviert, aber<br />
ohne Erfolg. Er hatte nur in Erfahrung bringen können, dass Desiderio nicht unter den<br />
Gefallenen war und jemand ihn als Gefangenen der Kosaken gesehen hatte. Die<br />
österreichischen Armeen hatten leider eine verheerende Niederlage erlitten, sie hatten<br />
mehr als zwei Drittel ihrer Soldaten verloren und sich bis zur Festung Przemysl<br />
zurückgezogen . Dort waren sie dabei den Widerstand zu organisieren, um die Karpaten<br />
und das restliche Galizien zu verteidigen. In den Nachfolgenden Monaten , von Juni bis<br />
August, kamen 350.000 Soldaten in russische Gefangenschaft, unter diesen waren auch<br />
15.000 Trentiner; 10.000 Trentiner waren im Kampf gefallen. Auf der Front zu Italien war<br />
die Lage nicht besser. Unter unmenschlichen Bedingungen wurde auf dem Adamello und<br />
rund um die anderen Berge des Trentino gekämpft. Es waren alle verfügbaren Kräfte<br />
eingesetzt worden. In der Val Rendena wurden auch junge Frauen zum Transport des<br />
Materials auf die Höhen des Carè Alto eingesetzt. Diese Mädchen gingen über steile<br />
Pfade hinauf, beladen mit Brettern und anderem Material. Durch Granaten und Lavinen<br />
waren sie ständig in Lebensgefahr. Sie waren dürftig gekleidet, den Hunger mussten sie<br />
mit einer mitgebrachten Nuss oder Kastanie stillen. Als Entlohnung erhielten sie drei<br />
Kronen am Tag und zwei Brote in der Woche.<br />
Bild S. 60 :Das österreich-ungarische Kaiserreich um 1915 ( Stich aus der Zeitschrift<br />
„ Specchio“ )<br />
Bild S. 62 : Russisches Haus auf dem Lande ( Foto Aldo Giongo )<br />
Bild S. 64 : Stadt im Kaukasus – 1916 ( Archiv der Bibliothek von Povo )<br />
40
ZWÖLFTES KAPITEL<br />
Es war Sommer geworden.Die goldfarbenen Kornfelder wogten im Wind, Reben und<br />
Kartoffeln zeigten ihre Blüten. Es wurde Juli und in Urbach ging das Leben seine<br />
gewohnten Wege. Die Kinder hüteten die Gänse, auch die Schweine, die Kühe und die<br />
Pferde folgten ihrem geregelten Tagesablauf, während die unermessliche Tragödie<br />
dieses Krieges immer näher rückte. Das Herz von Maria schlug in bebender Sorge, noch<br />
war keine Nachricht aus Russland gekommen. Jeden Sonntag wartete sie mit Bangen auf<br />
die Bekanntmachungen des Ausrufers.Keine Nachricht.<br />
Es kam auch der letzte Sonntag des Juli. Wie immer zogen die Drei ihre besten Kleider<br />
an, gingen in die Kirche zur Messe und beteten zur Muttergottes, damit sie ihren Mann<br />
und Vater beschütze. Nach der Messe kam der Ausrufer. Der Gemeindebote näherte sich<br />
ihnen mit einem Lächeln. In der Hand hatte er ein gelbes Kuvert voller Stempel und<br />
durchgestrichener Stellen; sie waren in helle Aufregung geraten, denn der Bote wandte<br />
sich an sie: „ Frau Bonvecchio, der Brief ist für Sie!“<br />
Zitternd streckte Maria die Hand aus und nahm den Brief in Empfang. Sofort liefen sie zu<br />
einem Mäuerchen am Rande des Platzes. Die Kinder drängten die Mutter , den Umschlag<br />
zu öffnen. Vorsichtig brach sie den Umschlag auf, es war ein handgeschriebener Zettel<br />
darin, es war seine Schrift, endlich sein Name! „ Geliebte Frau, liebe Kinder! Ich befinde<br />
mich in Sibirien, aber es geht mir gut. Ich arbeite mit russischen Bauern, sie behandeln<br />
mich gut. Die Russen sind nicht so bös wie sie uns beschrieben wurden. Ich hoffe, euch<br />
geht es auch gut.....“ Im Brief erzählte er von den Mühen und Leiden der Gefangenschaft,<br />
von seiner gegenwärtigen Tätigkeit und vom Frühling, der gerade erst begonnen hatte.<br />
Giuseppe las das Datum, 12. Mai 1916. Drei Monate hatte der Brief gebraucht, um über<br />
die Front und durch die verschiedenen Verwaltungsstellen nach Urbau zu gelangen.<br />
Sie suchten Joseph, der sie glücklich umarmte und zur Feier ins Wirtshaus zu einem Bier<br />
einlud.Dort lachten und sangen sie und neue Hoffnung war geweckt, für sie und für das<br />
Kind,das unterwegs war. Dann machte Giuseppe den Vorschlag, gemeinsam zum Gutshof<br />
zu gehen und senem Arbeitgeber die gute Nachricht zu bringen. Sie waren alle<br />
einverstanden, denn – wie Mria meinte – war die Familie Schneider immer gut zu ihnen<br />
und zu Giuseppe gewesen. Sie bezahlten und machten sich gutgelaunt auf den Weg.<br />
Joseph nahm Teresa bei der Hand und sich liebevolle Worte zuflüsternd gingen sie Maria<br />
und Giuseppe hinten nach.<br />
Am Hof angelangt wurden sie von den Schneiders, Herrn Otto und seiner Frau Jitka, wie<br />
alte Freunde empfangen. Es kamen auch der kleine Albert und Karoline angerannt. Alle<br />
waren glücklich über die Botschaft. Albert wurde in den Keller geschickt, eine Flasche<br />
besonderen Weines zu holen: „Prosit“, „Salute“, „Auf den Sieg“, „Auf den Kaiser“.<br />
Es gab keinen Mangel an Trinksprüchen. Frau Jitka bestand, dass sie zum Mittagessen<br />
bleiben. So feierten sie fröhlich weiter. Nach dem Essen machte Karoline den Vorschlag,<br />
zusammen einen Spaziergang mit der Kutsche zumachen. Giuseppe fand den Vorschlag<br />
gut. Maria aber wehrte ab: „Fahrt doch ihr Jungen, für mich in meinem Zustand ist es wohl<br />
besser, wenn ich nach Hause gehe.“ Auch Herr Otto lehnte ab:“ Frau Maria wird uns noch<br />
ein Weilchen Gesellschaft leisten und dann begleiten wir sie nach Hause. Fahrt doch ihr<br />
Jungen, aber seid vorsichtig!“<br />
41
Albert war schon weggelaufen, um mit seinen gleichaltrigen Freunden zu spielen.<br />
Giuseppe spannte das Pferd vor die Kutsche, ließ Karoline an seiner Seite sitzen,<br />
während das andere Paar sich hinten hinsetzte. Sie fuhren los. „Wohin soll es gehen?“<br />
fragte Giuseppe. Joseph machte einen Vorschlag : „Fahren wir zum Fluss, zu unserem<br />
geheimen Platz, was meinst du Teresa? „Einverstanden“ sagte Teresa mit<br />
komplizenhaftem Blick. Dann meinte Giuseppe , solle doch Joseph fahren und setzte sich<br />
mit Karoline nach hinten.<br />
Joseph ergriff die Zügel und lenkte die Kutsche entschlossen in das Tal des Flusses<br />
Taiaz. Es war ein wundervolles und frisches Tal, das einen tiefen Einschnitt in der Ebene<br />
bildete und sich wie eine große, grüne Schlange dahinzog. An den Ort gelangt, wo ein<br />
Weg zum Fluss hinunter führte banden sie das Pferd ineiner schattigen Wiese fest und<br />
gingen zum kleinen Sandstrand, wo im vergangenen Sommer die Liebe zwischen Teresa<br />
und Joseph entflammt war. Giuseppe und Karoline staunten über die Schönheit des Ortes,<br />
ein kleiner, geheimer See, der kaum zu finden war, wenn er einem nicht schon bekannt<br />
ist.<br />
Die beiden Männer ziehen sofort Hemd und Hosen aus und laden die Mädchen ein, es<br />
ihnen nachzumachen.“ Wetten, dass ihr euch nicht getraut, euch freizumachen!“ rief<br />
Giuseppe lachend und herausfordernd. „Du Dummkopf“ warf Karoline ein „du bist es, der<br />
Angst hat sich auszuziehen!“ Gesagt, getan. Sie legte lachend das Kleid und den weissen<br />
Spitzenunterrock ab, stand da mit Mieder und weissen Strümpfen ohne Höschen, setzte<br />
sich mit dem Rücken zu ihnen gewandt auf einen Stein, zog die Strümpfe aus , nestelte<br />
mit den Händen auf dem Rücken am Korsett legte es ab und warf es auf die<br />
Kleider.Vollständig nackt löste sie die blonden Haare und einer Nymphe gleich tauchte sie<br />
lachend ins Wasser.<br />
Die anderen waren ganz verblüfft und wortlos ob solcher Keckheit und Schönheit.“ Na,<br />
was ist mit euch, muss es Nacht werden bis ihr euch freimacht, damit euch niemand<br />
sieht?“ rief Karoline. Bei dieser Herausforderung zog Giuseppe seine Unterhosen aus und<br />
sprang ins Wasser. Joseph half Teresa das Mieder aufzuschnüren und sich bei der Hand<br />
haltend – wie Adam und Eva im Paradies - springen auch sie in das klare , frische<br />
Wasser.<br />
Nachdem sie die Verlegenheit überwunden hatten, verbrachten die jungen Leute mehrere<br />
Stunden am Fluss. Sie spielten im Wasser, tauschten sich Liebkosungen, legten sich am<br />
Sandstrand in die Sonne. Sie erlebten das Glück ihrer Jugend, weitab von den<br />
schrecklichen Geschehnissen der Welt. Gegen Abend kehrten die beiden, jetzt noch<br />
enger verbundenen Paare mit der Kutsche wieder nach hause zurück. Sie schworen<br />
feierlich, dass dieses Erlebnis ihr Geheimnis geblieben wäre, undplanten weitere Besuche<br />
dieses Ortes. Giuseppe war sich nun ganz sicher, dass er nie und nimmer ohne dieses<br />
wunderschöne und liebenswürdige Mädchen würde leben können. Eine weitere<br />
Liebesbeziehung war inmitten dieses schrecklichen Krieges geboren, wieder zwei junge<br />
Menschen, die ein trariges Schicksal zusammengeführt hatte, wollten gemeinsam eine<br />
friedliche und glückliche Zukunft aufbauen.Die einzigen Betrübnisse war der Gedanke an<br />
seinen in Galizien begrabenen Bruder und an den in der russischen Steppe gefangenen<br />
Vater.<br />
Die Nachrichten von ihrem Mann ließen Maria beruhigter nach Hause gehen; sie hatte<br />
wieder Hoffnung geschöpft und im Stillen redete sie zum Kind , das sie im Leibe trug: „ In<br />
vier Monaten wirst du auf die Welt kommen und wenn alles gut geht, wirst du das Glück<br />
haben, deinen Vater kennenzulernen. Ich hoffe fest, dass mit Gottes Hilfe du nicht als<br />
Waise in diesem fremden Land geboren wirst.“<br />
42
Es verging der Sommer. Der Krieg tobte immer heftiger und die Folgen waren immer<br />
schrecklicher.<br />
Die Ausgesiedelten bekamen nur spärliche Nachrichten aus dem Trentino und noch<br />
weniger Nachrichten drangen bis zu den Gefangenen in die sibirische Steppe durch.<br />
In Urbau traf die Nachricht ein, dass am 16. Juli der ehemalige sozialdemokratische<br />
Abgeordnete im Wiener Parlament, Cesare Battisti vor Gericht gestellt und zum Tod durch<br />
den Strang verurteilt worden war.Er war nach Italien geflüchtet und hatte auf der Seite des<br />
italienischen Heeres gekämpft. In Vallarsa war er gefangen genommen und in Trient des<br />
Hochverrates angeklagt worden. Die österreichische Regierung hatte eine Postkarte<br />
drucken lassen, auf der ein lachender Henker einen Balken stützte, auf dem die Leiche<br />
des erhängten Cesare Battisti hing. Rundherum waren österreichische Soldaten und<br />
Zivilpersonen abgebildet, die befriedigt schauten. Damit sollte an alle, die einen Verrat<br />
des Kaiserreiches im Sinne hatten, eine eindringlich klare Mahnung ergehen.<br />
Diese Nachricht hatte die Ausgesiedelten erschauern lassen. Sie verstanden den Verrat<br />
nicht: ein Abgeordneter des Wiener Parlaments, der gegen sein Land kämpfte. Es waren<br />
einfache Menschen, die sich als Österreicher fühlten, obgleich sie einen italienischen<br />
Dialekt sprachen, der dem des Veneto ähnelte. Diese Menschen lebten in einem Gebiet,<br />
das dich an der italienischen Front lag; ihre Angehörigen trugen die österreichische<br />
Uniform und starben an der russischen Front fürden Kauser. Sie konnten nicht verstehen,<br />
warum das zuerst verbündete italienische Königsreich ihr Trentino angegriffen hatte und<br />
sie so gezwungen hatte, ihre Häuser zu verlassen und als Flüchtlinge fern von ihren<br />
Bergen zu leben. Maria, ihre Kinder und die Familie von Anna spürten, dass ein Wandel<br />
stattgefunden hatte und die Einwohner des Dorfes ihnen gegenüber ablehnend geworden<br />
waren. Sie hatten die allergrößten Schwierigkeiten zu erklären, dass sie mit der Position<br />
der Irredentisten, die sich auf Seite der Italiener geschlagen hatten, nicht einverstanden<br />
waren. Joseph hatte natürlich ihre Verteidigung aufgenommen und daran erinnert, dass<br />
ihre Männer für Österreich im Feld standen.<br />
Am 21. November traf vom nahegelegenen Wien die folgenschwere Nachricht ein, dass<br />
der alte Kaiser Franz Joseph gestorbrn war. Die Fahnen wurden auf Halbmast gesetzt und<br />
die Kirchen wurden zur Trauerfeier hergerichtet. Der junge Gendarm Joseph wurde nach<br />
Wien geordet, um an der offiziellen Begräbnisfeier teilzunehmen. Er blieb fünf Tage fort<br />
und kehrte mit den neuesten Nachrichten zurück. Der neue Kaiser sei der junge Karl. Die<br />
Menschen würden jetzt beten, dass der neue Kaiser dem Krieg ein Ende setzen könne.<br />
Auch in Urbau war bei seiner Rückkehr einiges vorgefallen. Maria hatte einen weiteren<br />
Brief von Desiderio bekommen, worin er schreibt, dass er ihren ersten Brief erhalten hätte<br />
und dass er froh wäre, wieder Vater zu werden, auch wenn es ihn schmerze, nicht dabei<br />
sein zu können. Giuseppe und Teresa sollten ihrer Mutter beistehen. Ihm ginge es gut und<br />
er grüße alle.<br />
Der Kaiser war set zwei Tagen tot, als Maria die Wehen bekam. Sie rief ihre beiden Kinder<br />
und teilte ihnen mit, dass das Geschwisterlein unterwegs war. Giuseppe kleidete sich<br />
rasch an und lief in Windeseile zum Haus der Hebamme; mittlerweile schickte sich Teresa<br />
an, Feuer zu machen, das Wasser zum Kochen aufzustellen und einen Tee<br />
vorzubereiten. Giuseppe lief in der nächtlichen Kälte längs der Strasse, die voller vereister<br />
Pfutzen war. Es hatte noch nicht richtig geschneit, aber der Schnee hatte sich schon<br />
angekündigt.<br />
Als er das Haus gefunden hatte, musste er öfters klopfen bis die Hebamme ihm<br />
aufschloss.Die Frau war um die Fünfzig, kräftig, mit einem rötlichen Gesicht und<br />
43
aschblonden Haaren, die unter der weissen Haube hervorschauten.“ Ich komme sofort!<br />
„ sagte sie auf das weisse Nachthemd zeigend „Die Zeit mich umzuziehen.“ Kurz darauf<br />
sind beide auf dem Weg zu Giuseppe´s Haus. Als die Sonne sich rot über die<br />
Novemberlandschaft erhob, erklang der erste Schrei im Zimmer. Ein neuer Bonvecchio<br />
war geboren worden, ein schreiender Junge.<br />
Einige Tage nach Joseph´s Rückkehr gingen alle festlich gekleidet zur Taufe in die<br />
Kirche. Die Taufpaten konnten nur Joseph und Karoline sein; sie waren sehr aufgeregt. In<br />
Erinnerung an ihren in Galizien gefallenen Sohn gab Maria dem Neugeborenen den<br />
Namen „Francesco“.Sie war sich sicher, dass ihr Ehemann damit einverstanden war.<br />
Dann feierten sie zuhause mit Anna und ihren Kindern.<br />
Am nächsten Tag schrieb Teresa ihrem fernen Vater einen Brief, in dem sie ihm von den<br />
Ereignissen berichtet.“ Hoffentlich bekommt er ihn, bevor Francesco zur Schule geht!“<br />
sagte sie halblaut vor sich hin.<br />
Bild S.67 : Dorf im Bezirk von Znaim- 1916 ( Archiv der Bibliothek von Povo )<br />
Bild S. 69 : Cesare Battisti im Jahre !911 ( Foto Brunner )<br />
Bild S. 70: Der Kaiser von Österreich und Ungarn Franz Joseph( Archiv der Bibliothek<br />
von Povo )<br />
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DREIZEHNTES KAPITEL<br />
Die Bauarbeiten am Gutshof und in der Villa waren schon seit längerer Zeit<br />
abgeschlossen, so dass Desiderio immer im Lager bleiben musste. Er bereitete sich<br />
darauf vor, einen schwierigen Winter als Gefangener im eiskalten Russland zu<br />
verbringen. Kirsanov war einen kleine, ländliche Stadt mit ungefähr zwölftausend<br />
Einwohner - mehr als die Hälfte davon waren Juden - im Verwaltungsbezirk Tambow an<br />
der linken Seite der Worona, ein in einen Nebenfluss des Dons mündender Fluss.<br />
Das politische Klima war aber angeheizt; im Lager kam es häufig zu Streitigkeiten unter<br />
den italienischen Gefangenen, zwischen jenen, die für das Königreich Italien Partei<br />
ergriffen, und jenen, die noch Österreich treu geblieben waren. Das russische Volk<br />
hingegen konnte die Unterdrückung durch die Adeligen und die Grundbesitzer nicht mehr<br />
ertragen. Immer häufiger kam es zu Aufständen, die von der Polizei im Blute<br />
niedergeschlagen wurden. Eine neue Ideologie verbreitete sich; ihre Grundpfeiler waren<br />
Freiheit, Gleichheit undMacht den Arbeitern; auch unter den Gefangenen fanden diese<br />
Ideen Anklang.<br />
Das Lager wurde häufig von italienischen Militärdelegationen besucht; diese versuchten<br />
die aus dem Trentino, aus Triest und aus Istrien Stammenden Gefangenen zu<br />
überzeugen, sich freiwillig beim italienischen zu stellen und gegen Österreich zu kämpfen.<br />
Es wurde ihnen Freiheit versprochen, Freiheit weiter gegen ihre ehemaligen<br />
Waffenkameraden zu kämpfen. Desiderio lehnte derartige Angebote entrüstet ab.<br />
Zwei Tage vor Weihnachten des Jahres 1916 erhielt Desiderio Post. Endlich Nachrichten<br />
von seiner Familie. Er entriss dem Feldwebel fast den Brief und rannte, den Brief wie<br />
einen kostbaren Besitz an die Brust drückend, zu seiner Baracke. Mit zitterneden Händen<br />
brach er den Brief auf und war sofort besorgt als er die Handschrift seiner Tochter<br />
erkannte; gierig las er : „ Lieber Vater, dir wurde noch ein Sohn geboren. Wir haben ihn<br />
Francesco getauft wie meinen armen Bruder, der bei Lemberg gefallen ist. Hoffentlich bist<br />
du damit einverstanden, der Mutter und auch uns geht es gut und das hoffen wir auch von<br />
dir. Ich bin immer noch in Joseph verliebt und er läßt dich herzlichst grüßen. Wenn du<br />
diesen Brief bekommst, wird es schon Weihnachten sein, das zweite Weihnachten im<br />
Krieg; wir wünschen dir alles Gute und wir beten, damit das das letzte Weihnachten im<br />
Krieg ist und wir beim nächsten alle in unserem geliebten Heimathaus in Oltrecastello<br />
wieder beisammen sind. Behüte dich. Die Mutter ist mit ihrer ganzen Liebe bei dir und wir<br />
Kinder auch.“<br />
„ Ich habe noch einen Sohn “ dachte Desiderio“ Francesco. Ja, es war recht, dass sie ihm<br />
diesen Namen gegeben haben. Der Sohn, den der Krieg mir entrissen hat, ist auf<br />
geheimnisvolle Weise wieder zu uns gekommen; ich hoffe, dass sich mein geliebter<br />
ältester Sohn im Himmel freut!“ Es war Weihnachten, das Jesukind soll auf die Welt<br />
kommen wie sein Sohn im kleinen Haus in Mähren. Wann wird er wohl seinen Sohn sehen<br />
können? Vielleicht nie. Der Gedanke, dass dieses Kind ohne Vater aufwachsen könnte,<br />
war ihm unerträglich. Er musste unter allen Umständen heimkehren. Nun hatte er einen<br />
weiteren Grund, gegen die Ungunst des Schicksals anzukämpfen. Er musste zurück, um<br />
Francesco kennenzulernen.<br />
Es war kalt, der Schnee meterhoh. Der russische Winter stand in all seiner Härte vor den<br />
Holzbaracken mit spaltenreichen Wänden. Desiderio biss die Zähne zusammen, er<br />
wusste, dass er durchhalten musste, dass er nicht erkranken durfte. Die Familie brauchte<br />
ihn und sie wartete in Mähren auf ihn, um gemeinsam nach Oltrecastello zurückzukehren.<br />
Er hatte tiefe Sehnsucht nach seinem Haus, seinem Dorf, dem einfachen und friedlichen<br />
Leben.<br />
45
Zu Weihnachte war Don Emilio nach Urbau gekommen und hatte den Besuch eies von<br />
Bischof gesandten Priesters angekündigt. Die Festmesse wurde im Dom von Znaim<br />
gehalten. Es war die zweite Weihnacht und wieder trafen sich die ausgesiedelten<br />
Flüchtlinge vor einem Priester, der in ihrer Muttersprache zelebrierte. Es war für alle eine<br />
große Freude, wenngleich von der Trauer um die vielen Gefallenen überschattet. Beim<br />
Hören der Muttersprache schien die Heimkehr näher zu sein. Gleich wie im Vorjahr trafen<br />
Maria und ihre Kinder nachbarn aus Oltrecastello und aus Povo. So tauschten sie die<br />
neusten Nachrichten aus und erzählten ihre Missgeschicke. Nach der Messe wurde der<br />
Priester mit tausenden Fragen über das Trentino und über den Krieg mit Italien bedrängt.<br />
Er versuchten zu antworten: „ Liebe Brüder und Schwestern, eure Häuser sin unversehrt,<br />
die Front hält stand, die Italiener haben Caldonazzo und die Vezzene-Berge nicht<br />
überschritten. Aber der Krieg wird fortgesetzt und wird immer schrecklicher.“<br />
Es beginnt das Jafr 1917. Giuseppe wird siebzehn und feiert mit dem kleinen Francesco<br />
Geburtstag. Der Vater war weit weg in Russland.. Eine bleierne Kuppel hatte sich über<br />
Europa gelegt. Hunderttausende Menschen waren im Krieg gestorben. Es war, als wäre<br />
der Weltuntergang befohlen worden.<br />
Im Lager kämpfte Desiderio gegen die entsetzliche Kälte und den grausamen Hunger; die<br />
Rationen waren nämlich immer kleiner und seltener geworden. Der März hatte gerade erst<br />
angefangen, als er eines Morgens von einen riesigen Durdheinabder von Schreien und<br />
Schüssen geweckt wurde. Er trat vor die Baracke, um sich zu vergewissern, was los war ;<br />
da sah er einen Soldaten mit einem Gewehr in der Hand vorbeilaufen. Er versuchte von<br />
diesem etwas zu erfahren: „ Die Revolution, die Revolution ist ausgebrochen. Zar Nikolaus<br />
II ist verhaftet worden!“ rief ihm dieser Soldat weiterlaufend zu. Die Revolution? Und was<br />
passiert jetzt mit den Gefangenen, fragte sich Desiderio.<br />
Im Lager gab es keine Offizieremehr, noch Unterführer; alle hatten sich die<br />
Rangabzeichen von der Uniform gerissen; es bestand völlge Verwirrung. Im Lager<br />
herrschte das Chaos. Wenige Tage später erschienen die neuen Kommandanten im Lager<br />
und auch Zivilpersonen mit roten Fahnen. In Moskau und Petersburg herrschten nun neue<br />
Machtverhältnisse. Das russische Heer war ohne Führung und es gab Kämpfen Zwischen<br />
„weissen“ und „roten“ Truppenteilen. Desiderio und die anderen Leidensgenossen hofften<br />
auf einen baldigen Frieden und auf ihre Freilassung, da ein Ausscheiden Russlands aus<br />
dem Krieg sehr wahrscheinlich war. Aber bis zu diesem Zeitpunkt war das nicht mehr als<br />
eine Hoffnung.<br />
Desiderio fühlte sich mit der Zeit von diesen neuen Ideen angezogen. Schluss mit der<br />
Ausbeutung des Volkes durch die Adeligen und die Kapitalisten, die Macht dem Volke,<br />
Gerechtigkeit für alle, Schluss mit den imperialistischen Kriegen, Proletarier aller Länder<br />
vereinigt euch gegen das Kapital, Abschaffung der Grenzen, kein Vaterland mehr, für das<br />
man im Interesse der Mächtigen sterben sollte. Vielleicht hatten die Russen ja recht: sein<br />
Kaiser und der Zar hatten ihren Völkern wegen ihrer Macht- und Eroberungssucht<br />
Schmerz und Tod gebracht. Auf beiden Seiten wurden die Menschen ohne Mitleid in den<br />
Tod geschickt, ihre Sorgen ausnützend haben sie ihre Volker ärmer als zuvor gemacht.<br />
Endlich wurde es Frühling! Der lange Winter war vorüber; mit der Schneeschmelze traten<br />
die Flüsse, die keine Uferdämme hatten, aus ihren Betten und überschwemmten die<br />
Felder und Wälder.Birken und Kiefern reckten sich aus dem Wasser. Allmählich<br />
trockneten die die Felder und das im Herbst gesäte Korn spross üppig hervor.<br />
Es kam der Sommer. Desiderio arbeitete gern mit den anderen Gefangenen auf den<br />
Feldern; es gab keine Gutsherren mehr, die Befehle gaben. Die Felder waren<br />
46
Gemeinbesitz und die Arbeit wurde unter der Leitung eines Mannschaftsführers<br />
abgewickelt. Manchmal überwachte ein Soldat mit einer roten Fasche die Tätigkeit. Diese<br />
Überwachung war nur scheinbar, denn zu fliehen lohnte es sich nicht. Wohin sollte einer<br />
gehen? Flihen, um in der Steppe umzukommen oder von einer der rivalisierenden<br />
Parteien erschossen zu werden?<br />
In Mähren ging das Leben seinen gewohnten Lauf, der nur durch die Nachrichten über<br />
die an der Front stehenden Soldaten unterbrochen wurde oder von den Berichten aus dem<br />
Trentino, welche die einzelnen ausgesiedelten Familien betrafen. In der ersten Juliwoche<br />
erlitten Anna und ihre Kinder einen harten Schicksalsschlag. Joseph hatte die<br />
unerfreuliche und traurige Aufgabe, ihr die Mitteilung des Militärkommandos zu<br />
zustellen: Giovanni, ihr Mann, war gefallen. Er war bei einem russischen Bombenangriff<br />
tödlich von einer Granate getroffen worden.<br />
Als Maria vom Unglück erfuhr, gab sie den kleinen Francesco Teresa in Obhut und lief so<br />
schnell sie konnte zum Haus von Anna, um ihr beizustehen.Was sie erlebte, schnürte ihr<br />
die Kehle: die Kinder weinten und Anna saß verlassen auf einem Stuhl mit verlorenem<br />
Blick und dem Schreiben in der Hand. „ Maria, ich danke dir, dass du gekommen bist, ich<br />
bin vertweifelt, wie soll ich jetzt weiterleben. Giovanni, mein armer Giovanni, hat mich<br />
allein gelassen, mit seinem Leben ist auch das meine zu Ende gegangen.“ Maria tröstete<br />
sie und versuchte ihr Mut zu machen, sie müsse für ihre Kinder leben, einige waren schon<br />
groß und wurden ihr helfen. Auch sie und ihre Familie würden sie, so gut sie könnten,<br />
unterstützen. Maria umarmte sie und dachte auch an ihren Mann, der zwar gefangen war,<br />
aber auch nicht mehr heimkehren konnte, und sie hatte ein erst sechs Monate altes Kind.<br />
Während sich die beiden Frauen verzweifelt , tröstend und hoffnungsgebend unterhielten,<br />
klopfte es an der Tür. Es war der gute Kaplan aus der Stadt. Er wollte Worte des Trostes<br />
und der Barmherzigkeit bringen. Maria nahm die Gelegenheit whr, um sich zu<br />
verabschieden und nach Hause zurückzukehren. Giuseppe ging seiner Arbeit am Gutshof<br />
der Schneiders nach und war glücklich in der Nähe seiner geliebten Karoline sein zu<br />
dürfen. Teresa hatte bei einem älteren, reichen Ehepaar Arbeit gefunden, das in einer Villa<br />
etwas ausserhalb des Dorfes lebte. Es war keine schwere Arbeit, sie musste ein wenig<br />
aufräumen und sie für eine´ge Stunden am Tag betreuen. Dafür bekam sie fünf Kronrn.<br />
Maria kümmerte sich natürlich um ihren Jüngsten und führte den Haushalt.<br />
Am Sonntag statteten sie Anna einen Besuch ab und, wenn es möglich war, nahmen die<br />
vier jungen Menschen, Teresa, Joseph, Giuseppe und Karoline die Kutsche und fuhren in<br />
die Stadt oder, wenn der Tag besonders warm war, zu ihrem geheimen Ort, wo sie sich<br />
unterhielten und im Taumel des Verliebtseins alle Sorgen vergaßen.<br />
Eines Sonntags fuhren sie wiedereinmal mit der Kutsche, Giuseppe mit Karoline vorne,<br />
Teresa und Joseph hinten, kamen sie auf die Orte ihrer Herkunft zu sprechen: Giuseppe<br />
und Teresa über ihre ferne Heimat und Joseph über Wien. Karoline, die schon immer in<br />
der Gegend von Urbau und Znaim gelebt hatte, hörte aufmerksam zu: Plötzlich unterbrach<br />
sie das Gespräch: „ Wollt ihr endlich aufhören von Orten zu reden, die ich nicht kenne!<br />
Jetzt sind wir im schönen Tal der Taiaz, ein wunderschöner Ort, wo ich glücklich bin. Da<br />
drüben liegt Znaim, eine wunderschöne Stadt. Lasst eure traurigen Erinnerungen!“ Dabei<br />
trieb sie die Pferde zu einem schnelleren Gang an. Giuseppe pflichtete ihr bei, gab den<br />
Pferden Zügel und meinte, sie sollten sich doch unterhalten, solange sie könnten.<br />
Sie gelangten zur Brücke über die Taiaz, sie überquerten sie und fuhren aufwärts in<br />
Richtung Stadtmitte. Links sah man in der Ferne einen große Kaserne die vormals eine<br />
Herrenvilla gewesen war. Sie erreichten das Krankenhaus, bogen dann nach links ab,<br />
47
fuhren am Theater vorbei und hielten zu Beginn des Stadtparkes an. Der Park war weit<br />
und unter den großen Bäumen waren viele kleine Wege angelegt, wo Familien mit den<br />
Kindern spazieren gingen und Verliebte Abgeschiedenheit suchten.<br />
Sie überließen Pferde und Kutsche dem Parkaufseher, der für ein paar Kronen gerne<br />
diesen Dienst leistete, und machten sich auf zur Stadtmitte. Bald befanden sie sich auf<br />
dem Hauptplatz. Es war ein seltsamer Platz, mit Flussteinen gepflastert und in einer<br />
schiefen Ebene angelegt. Am unteren Ende sah man ein Klostergebäude, weiter nach<br />
oben stand der eindrucksvoll hohe Stadtturm mit seinem besonderen Spitzdach. Nachdem<br />
sie den Platz überquert hatten, gelangten sie über eine kleine Steigung zum Dom. Hinter<br />
der im gotischen Stil erbauten , mächtigen Kathedrale erhob sich der Turm aus der<br />
Römerzeit und oben, steil über dem Fluss, das Schloss.<br />
Diese Stadtbesichtigung hatte sie zum Schwitzen gebracht. An einem Wirtshaus<br />
vorbeigehend fragte Joesph, ob ihnen nichts dazu einfalle.“ Wir sind durstig1“ riefen sie im<br />
Chor. Sie setzten sich also und bestellten sich ein Bier. Dann besuchten sie auch noch<br />
den Dom, wo grerade das sonntägliche Gebet stattfand. Teresa und Giuseppe beteten für<br />
ihren Vater. Als sie heimwärts fuhren, war es schon Abend.<br />
Bild S. 76: Alter Stich von Znaim- ( Archiv Aldo Giongo )<br />
48
VIERZEHNTES KAPITEL<br />
Russland wurde von der Revolution überrollt. Die führungslosen, zersetzten russischen<br />
Truppen wurden an der polnischen Front von den deutschen Armeen angegriffen. Die<br />
eingetretene Verwirrung ausnutzend drangen die Deutschen in Polen ein, zerstreuten die<br />
Russen , die schwerwiegendste Verluste erlitten. Im September waren die Russen zur<br />
Übergabe bereit. Die deutschen und österreichischen Truppen wurden an die italienische<br />
Front verlegt, während die aus Soldaten aus dem Trentino und aus Triest<br />
zusammengesetzten Einheiten als Besatzungstruppen in die Ukraine und nach Rumänien<br />
geschickt wurden. Am 3. März 1918 wurde der getrennte Frieden von Brest-Litowsk<br />
unterzeichnet. Den Gefangenen standen drei Möglichkeiten offen: als freie Männer bei den<br />
Russen bleiben und die revolutionären Bolschewiken unterstützen, eine lange Reise durch<br />
die Mongolei und China unternehmen oder von den Meereshäfen des Nordens, solange<br />
oder sobald diese eisfrei waren, losfahren, um nach Italien zu gelangen und gegen die<br />
Österreicher kämpfen, oder sich den Österreichern übergeben und von diesen an die<br />
Front oder als Besatzungstruppe in ferne Gebiete geschickt werden.Desiderio kam gut mit<br />
den Bolschewiken aus. Er hatte als Gleichberechtigter gemeinsam mit ihnen gearbeitet<br />
und war mit ihnen vertraut geworden. Er war nun ein freier Mann, denn er stand nicht<br />
mehr im Krieg mit Russland. Er hatte also daran gedacht, seine Familie zu erreichen,<br />
aber, obgleich er sich das innigst wünschte, war ihm klar, dass wenig Möglichkeiten<br />
bestanden. Aber was für eine Freiheit erwartete ihn? Kehrte er zu den Österreichern<br />
zurück, wäre er an irgendeine andere Front geschickt worden, da überall die Truppen<br />
aufgestockt werden mussten; würde er nach Italien ziehen, hätte er sich nicht nur von<br />
seiner Familie entfernt, er hätte sogar mit den Feinden Österreichs kämpfen müssen und<br />
das hätte zu Vergeltungsmaßnahmen gegen seine Familienangehörigen führen können,<br />
die als Flüchtlinge von der Unterstützung des Kaiserreiches das Leben fristeten.<br />
Er hatte keine Beweggründe mehr, den neuen österreichischen Kaiser zu verteidigen noch<br />
für das italienische Königreich Partei zu ergreifen. So beschloss er, bei seinen russischen<br />
Freunden zu bleiben, denn er war schließlich ein Mensch, der sein Leben im Frieden mit<br />
allen gestalten und für sich und seine Familie arbeiten wollte. Er schrieb seiner Familie,<br />
dass er vorläufig in Russland bliebe und nach Kriegsende, das von allen als kurz<br />
bevorstehend gehalten wurde, heimkehren würde.Er vertraute den Brief einem Bozner an,<br />
der sich für Österreich entschieden hatte, und bat ihn diesen Brief aufzugeben, sobald er<br />
das österreichisch-ungarische Gebiet erreicht hätte. Die Bolschewiken waren froh über<br />
diese Entscheidung und bestimmten ihn zum Vorabeiter einer zehnköpfigen Mannschaft.<br />
Er hatte den Auftrag für die Instandhaltung von Mauerwerk und Strassen zu sorgen; dafür<br />
bekam er reichlich zu essen und fünf Rubel am Tag.<br />
Maria erhielt den Brief. Sie und die Kinder waren sie mit dieser Entscheidung<br />
einverstanden. Am Ort, wo ihr Mann war, wähnte sie ihn in größerer Sicherheit als an<br />
irgendeiner neuen Front. Die drei Jahre Krieg hatten Österreich-Ungarn erschöpft. Die<br />
Truppenverluste konnten durch keinen Nachschub ersetzt werden und an mehreren Orten<br />
brach die Verteidigungsfront ein. Der Krieg wurde unter immer schmerzvolleren<br />
Einschränkungen trotzdem weitergeführt. Diese Kriegsanstrengungen verursachten im<br />
ganzen Reich Hunger und Elend.<br />
Wie jedes Jahr zu Weihnachten wurde auch diesmal der Gesandte des Bischofs erwartet.<br />
Die Lage hatte sich aber gewandelt. Die Beziehungen zu den Österreichern hatten sich<br />
verschlechtert; es fehlten Lebensmittel und an der Italienischen Front waren viele Soldaten<br />
gefallen. Unausweichlich fiel die Schuld für diese Entwicklung auf die<br />
italienischsprechenden Flüchtlinge aus dem Trentino, die dazu noch dem Konigreich<br />
Italien den Vorwand geliefert hatten, in den Krieg gegen Österreich einzutreten. Die<br />
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Begegnung mit dem Priester aus dem Trentino und die Weihnachtsmesse wurden auf den<br />
späten Nachmittag in eine kleine Kirche am Stadtrand verlegt. Die Lebensmittel-und<br />
Kleidungspakete wurden immer seltener, mit der Geldbeihilfe konnten immer weniger<br />
Produkte eingekauft werden, da die Preise in die Höhe gerückt waren. Während der<br />
Messe saß Maria mit dem kleinen Francesco, Teresa und Giuseppe in der linken<br />
Bankreihe. Da bemerkte sie auf der anderen Seite einen einen vornehmen Mann in<br />
Offiziersuniform, den sie zu kennen glaubte. Auch er drehte sich häufig nach ihr um und<br />
warf ihr eindringliche Blicke zu. Nach der Messe unterhielt sie sich gersde mit einigen<br />
Landsleuten, die sie seit dem letzten Weihnachten nicht mehr getroffen hatte, als sie in<br />
den Augenwinkeln sah, wie sich dieser Offizier ihr näherte. Da erkannte sie ihn. Es war<br />
der Graf Antonio, ein Abkömmling eines Trentiner Adelsgeschlechtes, der ihr vor vielen<br />
Jahren einmal den Hof gemacht hatte. Sie hatte ihn aus den Augen verloren, nachdem sie<br />
ihm ihre Liebe zu Desiderio geoffenbart hatte.<br />
Als sie sich wiedererkannten, umarmten sie sich schwungvoll. Giuseppeund Teresa, aber<br />
auch die anderen Anwesenden, schauten verwundert zu.<br />
Maria spürte, dass sie eine Erklärung schuldig war und stellte den neu<br />
Hinzugekommenen sofort den Anwesenden, aber besonders ihren Kindern vor:“ Das ist<br />
Graf Antonio aus Trient,ein alter Freund von mir.“ Und zu Antonio gewandt:“ Das sind<br />
meine drei Kinder, Francesco, Giuseppe und Maria Teresa!“ „ Freut mich, eure<br />
Bekanntschaft zu machen !“ antwortete dieser und küsste mit einer Verbeugung die Hand<br />
von Teresa. Die beiden größeren bekundeten, dass sie ihrerseits erfreut seien, während<br />
Francesco verduzt dreinschaute.<br />
Darauf gingen sie ins Wirtshaus, wo der Leutnant alle zum Abendessen einlud und<br />
erzählte, was ihm widerfahren war. Er wurde an der russischen Front verwundet und war<br />
dann nach Wien in ein Krankenhaus gebracht worden, wieder geheilt war er auf dem Weg<br />
in das Trentino, um irgendwo an der italienischen Front eingesetzt zu werden. Er hatte<br />
gehört, dass in Znaim eine Gemeinschaft seiner Landsleute lebte und so war er<br />
hergekommen, um mit ihnen Weihnachten zu verbringen. Maria erzählte von ihren und<br />
von Desiderio´s Wechselfällen und das Gespräch zwischen den beiden schien kein Ende<br />
zu finden.<br />
Teresa erinnerte ihre Mutter, dass sie mit Joseph eine Verabredung hatten, der sie vor<br />
dem Theater mit der Kutsche zur Heimfahrt abholen wollte.<br />
Antonio bat, sie möchten nicht schon so früh heimgehen; er und Maria hätten sich noch<br />
viel zu erzählen Sie möchten doch allein gehen und ihre Mutter noch ein wenig bleiben<br />
lassen, er würde sie dann mit der Kutsche nach Hause bringen.<br />
Zu Beginn lehnte Maria ab, ließ sich aber dann überzeugen zu bleiben und bat ihre Kinder,<br />
mittlerweile heimzugehen, sie würde später nachkommen.<br />
Nachdem die Kinder fortgegangen waren, ergriff Antonio Maria´s Hand und schaute sie<br />
bewundernd an: „ Ich habe dich schon immer begehrt, du warst die Frau meiner Träume!“<br />
„ Weiss Gott, wieviele Frauen du als adeliger Junggeselle gehabt hast ! „ meinte Maria<br />
abwehrend und fügte bekräftgend hinzu, dass sie verheiratet sei und ihrem Manne die<br />
Treue halte.<br />
Die flog dahin. Antonio hatte eine Flasche guten Weines bestellt und goss häufig die<br />
Gläser auf. Maria, die nur beim Essen Wein Trank, war lustig geworden und verspürte<br />
eine leichte Benebelung in ihrem Kopf, die Beine waren weich geworden und sie musste<br />
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sich bei ihrem adeligen Bewunderer anlehnen. Sie erreichten eine öffentliche Karosse und<br />
beim Einsteigen sagten sie dem Kutscher, wohin er sie bringen sollte.<br />
Kaum losgefahren umarmte sie der Graf leidenschaftlich, küsste sie mit Inbrunst und<br />
streichelte am ganzen Körper. Vielleicht war es der Wein, vielleicht war es das<br />
Wiedererwachen einer alten Anziehung oder einfach ein seit langem unbefriedigtes<br />
Liebesbedürfnis, Maria gab sich dem Grafen hin.<br />
Am nächsten Tag erwachte Maria in ihrem Bett mit einem schweren Kopf: Sie erinnerte<br />
sich ungenau an die nächtlichen Vorkommnisse, war aber voller Schuldgefühle, dass sie<br />
sich einem Manne hingegeben hatte, der ihre Schwäche derart ausgenutzt hatte. Sie<br />
beschloss, ihn nie wieder zu sehen und gegenüber allen den Vorfall geheim zu halten.<br />
Der zum Anlass des Weihnachtsfestes aus dem Trentino gekommene Priester berichtete,<br />
dass die Österreicher an der dortigen Front immer größere Mühe hatten, die Angriffe<br />
abzuwehren, wenngleich sich zur Zeit dei Frontline gegen Süden verschoben hatte, da die<br />
Österreicher bei Caporetto erfolgreich angegriffen hatten; der Zangengriff auf das<br />
Trentino war so schwächer geworden. Auch die Wiesen von Roncogno waren<br />
Kriegsschauplatz geworden: ein italienisches Flugzeug war über den Chegul hergeflogen<br />
und von zwei österreichischen Jagdflugzeugen, die vom Flugplatz von Cirè gestartet<br />
waren, abgefangen worden. Das italienische Flugzeug war an der Flanken vom Feuer der<br />
österreichischen Maschinengewehre getroffen worden und dann auf die Wiesen<br />
abgestürzt. Die Leute von Oltrecastello waren herbeigelaufen und in den brennenden<br />
Resten des Flugzeugs fanden sie drei Leichen.<br />
Maria und ihre Kinder beschlossen den 1. Jänner 1918, den Tag, an dem Giuseppe<br />
achtzehn wurde, mit Anna und deren Kinder zu verbringen, einerseits um ihnen<br />
Gesellschaft zu leisten und so etwas Trost zu bringen, andrerseits weil sie Joseph und<br />
Karoline, angesichts der zunehmenden Ablehnung gegenüber den "Italienern" , vor ihren<br />
Mitbürgern nicht in Verlegenheit bringen wollten.<br />
Für die Familie Bonvecchio hatte sich die Lage verschlechtert. Die Einwohner von Urbau<br />
betrachteten sie mit Argwohn, nachdem bekannt geworden war, dass Desiderio die<br />
Rückkehr nach Österreich abgelehnt hatte. Auch Joseph hatte die allergrößten<br />
Schwierigkeiten, seine Verlobte voe dem Misstrauen der Leute zu schützen. Selbst<br />
Giuseppe merkte eine gewisse Frostigkeit in den Beziehungen zu den Schneiders,<br />
wenngleich dank der Zuneigung , die Karoline zu ihm hatte, alles versucht wurde, keine<br />
offene Ablehnung zu zeigen. Im Laufe des Winters verbreitete sich die Nachricht, dass<br />
einige Flüchtlinge auf der Heimreise waren.Die ausgesiedelten Trentiner schöpften neue<br />
Hoffnung.<br />
Anfang März kam das Dekret zur Rückkehr von Anna und ihren Kindern. Maria, Teresa<br />
und Giuseppe halfen ihr das spärliche Hab und Gut zusammen zu packen. Giuseppe<br />
hatte den Wagen ausgeliehen, um sie zum Bahnhof zu bringen. Sich umarmend und<br />
weinend wurde Abschied genommen. Ohne ihren Giovanni kehrte Anna nach Povo in ihr<br />
Haus zurück. Was würde sie dort erwarten? Der einzige Trost war, dass dort ihre<br />
Verwandten und Freunde lebten. Bei den zwei verliebten Paaren verursachte die Aussicht<br />
einer Rückführung der ausgesiedelten Familien Angst und Bangigkeit. Würde die<br />
Trennung ihre Beziehung für immer beenden? Wäre wohl ein Wiedersehen möglich<br />
gewesen? Und wann?<br />
Die beiden Paare sprachen oft über das Eintreten einer solchen Möglichkeit. Mit ihren<br />
siebzehn Jahren war Karoline noch jung, aber auch Giusppe war nur ein Jahr älter.<br />
51
Joseph und Teresa hingegen wurden fünfundzwanzig und dachten schon ernsthaft an<br />
eine Heirat.Teresa fragte ihre Mutter um Rat.“ Mutter, ich bin verzweifelt. Joseph hat um<br />
meine Hand angehalten, weil er mich nicht verlieren will. Was soll ich ihm antworten?“<br />
Maria versuchte Klarheit zu gewinnen: „ Willst du ihn wirklich heiraten, Teresa, liebst du<br />
ihn? Oder war es nur ein Abenteuer, das leicht zu vergessen ist, wenn wir wieder in Trient<br />
sein werden?“ Teresa entgegnete aufgeregt:<br />
„ Was redest du da, Mutter, ich liebe ihn von gamzem Herzen, ich kann ohne ihn nicht<br />
mehr leben. Das Problem ist nur, dass ich auch nach Hause möchte. Auch wünschte ich<br />
mir, dass Vater hier wäre und mir senen Meinung sagen könnte!“<br />
Da sagte Giuseppe, der alles mitgehört hatte:“ Meines Erachtens ist Vater sicher<br />
einverstanden. Es ist besser, dass ihr heiratet. Fahr nach Wien und lerne seine Familie<br />
kennen und hör, was sie sagen; aber wenn ihr euch liebt und gut auskommt, verliert keine<br />
Zeit. Für mich und Karoline ist die Situation leider anders. Herr Schneider hat gemeint,<br />
dass wir noch ein paar Jahre warten können und wenn wir uns dann noch liebeb, können<br />
wir uns wiedersehen und heiraten.“ Durch die Zustimmung ihrer Familie sicher geworden<br />
lief sie zu ihrem Verlobten und eröffnete ihm, dass sie bereit sei, nach Wien zu fahren und<br />
seine Familie kennenzulernen und ihn zu heiraten. Joseph war sehr glücklich und sckickte<br />
am nächsten Tag ein Telegramm, in dem er seinen Besuch mit der Verlobten ankündigte.<br />
Es kam der angekündigte Sonntag. Teresa hatte ihr schönstes Kleid angezogen, ein<br />
blaues Kostüm, das sie sich selbst geschneidert hatte, und einen weissen Wollschal. Es<br />
war Mitte März und man konnte schon die ersten Anzeichen des Frühlings erkennen. Die<br />
Luft war wärmer geworden und an besonders günstig gelegenen Stellen kamen die ersten<br />
Blümlein hervor. Sie verabschiedete sich von der Familie und verließ das Haus mit einer<br />
Reisetasche aus Stoff. Darin hatte sie das Nachthemd und das Notwendigste verpackt,<br />
um eine Nacht ausser Haus zu verbringen. Vor der Tür wartete Joseph, der jetzt<br />
Zivilkleider trug. Beide stiegen in die Kalesche, die der Vorgesetzte von Joseph lenkte.Der<br />
ältere Gendarm brachte sie zum Znaimer Bahnhof. Sie dankten und stiegen in den Zug.<br />
Gegen elf kamen sie in Wien an. Dort wartete Joseph´s Vater auf sie. Joseph ging seinem<br />
Vater entgegen und sie umarmten sich. „ Endlich sehe ich dich wieder!“ sagte der Vater,<br />
ein älterer, nicht sehr großer, aber kräftiger Mann mit Ohrenbart und einem vornehmen<br />
Blick. Dann kamen die Vorstellungen. „ Es freut mich dich kennenzulernen. Ich habe viel<br />
von dir gehört.“ sagte der Vater, der sich mit seinem Namen, Fritz Huber, vorstellte. Dabei<br />
gab er Teresa die Hand und küsste sie mit etwas steifer Würde. Er war ein Postbeamter<br />
im Ruhestand.<br />
Teresa verneigte sich zum Gruß und zeigte ihr wunderschönes Lächeln. Zusammen<br />
erreichten sie den Ausgang und stiegen in eine kreischende Strassenbahn ein. Auf den<br />
Strassen fuhren auch Automobile, Kutschen ohne Pferde, die einen heillosen Lärm<br />
machten. Für Teresa war das etwas ganz Neues. Teresa erkundigte sich bei Joseph, ob<br />
das die Automobile seien, von denen er ihr erzählt hatte. Joseph bestätigte das und<br />
meinte, er würde sie mit einem solchen Auto zur Kirche fahren, wenn sie ihn heiraten<br />
würde. Teresa gab zurück, er solle nicht so voreilig sein. Nach einer halbstündigen Fahrt<br />
stiegen sie in einem alten, ziemlich vornehmen Stadtviertel aus, Sie traten in ein großes<br />
Wohngebäude ein, gingen zwei Stiegenrampen hoch und läuteten an der Türklingel. Die<br />
Tür ging auf und es erschien eine große, magere, grauhaarige elegant in schwarz<br />
gekleidete, Frau mit blauen Augen, die glücklich ihren Sohn umarmte. Als sie vorgestellt<br />
wurde, war Teresa ganz aufgeregt. Sie verneigte sich und küsste der Frau die Hand. Die<br />
Mutter von Joseph bat sie alle ins Haus. Das Mittagessen wäre bald bereit. Als die Mutter<br />
meinte , dass sie sicher müde seien, antwortete Teresa: „Überhaupt nicht , gnädige Frau,<br />
die Reise war sehr kurz!“ „Aber bitte sag doch Martha zu mir. Joseph hat uns viel von dir<br />
erzählt.“ meinte darauf die Mutter. Nach dem Essen setzten sich die beiden Männer in den<br />
52
Salon und Teresa bot sich an, beim Abräumen mitzuhelfen. Zwischen den beiden Frauen<br />
entstand sofort, wie selbstverständlich, eine gegenseitige Zuneigung.<br />
„Na, was sagst du, Teresa? Gefällt dir unsere Wohnung?“ fragte Martha. Teresa<br />
antwortete begeistert: „ Sie ist wunderschön, Frau Martha, ich habe noch nie eine so<br />
schöne Wohnung gesehen! Unser Haus in Trient ist recht einfach. Wir sind nicht reich, vor<br />
dem Krieg arbeitete mein Vater als Maurer.“ Da entgegnete Martha: „ Wir sin auch nicht<br />
reich, wir leben mit der Rente meines Mannes. Die Wohnung habe ich von meinem Vater<br />
geerbt. Sie ist sehr groß, so dass auch ihr hier bequem wohnen könnt.“ Für Teresa war<br />
das ein willkommenes Angebot. „ Ich bin Ihnen für diese Worte sehr dankbar“ sagte sie<br />
„ es tut mir zwar leid, nicht in meine Heimatstadt zurückzukehren, aber ich liebe Joseph zu<br />
sehr, ich kann ihn nicht verlassen und wenn er mich mag, werde ich immer bei ihm<br />
bleiben.“<br />
Die zwei Männer im Wohnzimmer hatten dasselbe Gesprächsthema. Der Vater meinte:<br />
„ Gut hast du´s angestellt. Du hast ein sehr schönes und sympathisches Mädchen<br />
getroffen. Meine Zustimmung zur Heirat hast du. Ich werde sie gern in unserem Haus<br />
aufnehmen, sobald du die Versetzung nach bekommen wirst.“Darauf erwiderte Joseph:<br />
„ Danke Vater, ich war sicher, dass sie dir gefallen würde. Ihr Vater ist Bauer und Maurer<br />
und ist dem Kaiser sehr treu. Seinen Kindern hat er Namen von österreichischen Kaisern<br />
und Kaiserinnen gegeben.“ Am Nachmittag machte das verlobte Paar einen Spaziergang<br />
durch das Stadtzentrum von Wien. Maria Teresa war von der Größe und Schönheit der<br />
Gebäude, der Strassen und Plätze überwältigt. Teresa kannte die kleine Stadt Trient und<br />
die einfachen Häuser von Povo, wo es aber auch schöne adelige Ansitze wie jene der<br />
Grafen Thun, der Saracini, der Pompeati und noch vieler anderer gab. Doch bald merkte<br />
sie, dass es auch in Wien arme Stadtviertel gab und dass Armut und Elend immer größer<br />
wurden.<br />
In die Wohnung von Joseph´s Eltern zurückgekehrt fand das gemeinsame Abendessen<br />
statt. Dann zogen sie sich in ihre Zimmer zurück. Für Teresa war das Gästezimmer<br />
vorbereitet worden, wo ein Bett mit einem besonders hohen Baldachin stand. Teresa kam<br />
sich vor wie eine Prinzessin. Gerade hatte sie sich die Haare gebürstet, das Nachthemd<br />
angezogen und sich auf das Zubettgehen eingestellt, da klopfte es schon leicht an ihrer<br />
Tür. Es war Joseph, der um Einlass bat. Teresa öffnete und ihn umarmend flüsterte sie:<br />
„ Liebster, ich war mir sicher, dass du mich in dieser Nacht nicht allein lassen würdest! Hat<br />
dich wohl niemand gesehen?“ Sie liebten sich leidenschaftlich bis ins Morgengrauen und<br />
genossen das Glück ihres Verliebtseins.<br />
Als Frau Martha an Teresa´s Zimmertür klopfte, war diese gerade erst eingeschlafen. Aber<br />
das Fühstück stand bereit. Sie sprang aus dem Bett und zog sich so schnell es ging an.<br />
Joseph saß ganz verschlafen in der Küche. Nach dem Frühstück verabschiedeten sie sich<br />
von den Eltern und zukünftigen Schwiegereltern und fuhren mit der Strassenbahn zum<br />
Bahnhof. Dort war ein großes Durcheinander von Soldaten und Offizieren, die von Zügen<br />
ausstiegen, und anderen , die einstiegen. Teresa spürte, dass die Abwesenheit ihres<br />
Vaters Desiderio bei der Hochzeit ihr großen Kummer bereitete und machte den<br />
Vorschlag, diese so lang wie möglich hinauszuzögern, in der Hoffnung, ihn vor der<br />
Rückkehr der Familie nach Trient, noch sehen zu können. Joseph war damit voll<br />
einverstanden.<br />
Sie erreichten Urbau am Nachmittag, nachdem in einem Wirtshaus von Znaim noch eine<br />
Kleinigkeit gegessen hatten. Joseph ging sofort in die Amtsstube und Teresa lief zur<br />
Mutter, um ihr zu berichten, was in Wien geschehen war und was sie alles erlebt hatte. Als<br />
Teresa aufgeregt ins Haus trat, war Maria gerade dabei, dem kleinen Francesco die<br />
Windeln zu wechseln. Teresa begann unaufhaltsam und mit überschießender<br />
53
Begeisterung von ihren Erlebnissen in Wien zu erzählen. Besonders eindringlich<br />
schilderte sie, die Begegnung mit den zukünftigen Schwiegereltern und deren Wunsch ihre<br />
Familie kennenzulernen.<br />
In der Landgemeinde Urbau ging das Leben seine gewohnten Wege. Da waren die Tiere<br />
zu versorgen und unter der stärker werdenden Frühjahrsonne begann man die Felder zu<br />
bebauen.Giuseppe verrichtete seine Arbeit, aber von den Kriegsschauplätzen kamen<br />
immer dramatischere Nachrichten. Das Reich war am Ende seiner Kräfte; die zahlreichen<br />
Feinde griffen von allen Fronten an.Viele umgesiedelte Flüchtlingen hatten die Rückkehr<br />
beantragt und hatten auch die Erlaubnis bekommen. Die Heimkehr war meistens<br />
schwieriger als die Umsiedelung.<br />
Anna hatte ihnen in einem Brief von ihrer abenteuerlichen Rückfahrt erzählt: „ Liebe Maria,<br />
endlich sind wir zu Hause angekommen, es war eine sehr aufregende Fahrt! In Wien<br />
mussten wir umsteigen, Wir haben den Koffer zum Bahnsteig gebracht und meine beiden<br />
Kleineren habe ich auf den Koffer gesetzt und mit den anderen bin ich auf die andere<br />
Seite des Bahnhofs zurückgegangen, um das restliche Gepäck zu holen.In diesem<br />
riesigen Bahnhof und in dem Gewühl von Menschen aller Art war es gar nicht leicht<br />
voranzukommen. Als wir dann zu unserem Bahnsteig zurückfanden, war zu unserer<br />
Verzweiflung der vorher dort wartende Zug und mit ihm auch der Koffer und die beiden<br />
Kinder verschwunden. Wir haben uns irgendwie durchgefragt und erfahren , dass der das<br />
Gleis frei machen musste.<br />
Ich habe mich mit den anderen Kindern auf eine Bank gesetzt, wir waren ganz<br />
durcheinander und wussten nicht mehr, was wir tun sollten. Wir besprachen gerade ganz<br />
niedergeschlagen die Lage, als die Muttergottes einen Blick auf uns geworfen hat und uns<br />
einen Schutzengel geschickt hat. Ein vorbeigehender Unteroffizier hielt an und wandte<br />
sich in unserem Dialekt an uns: „ Anna ma set ti? Cosa fat qua?“ (Bist du es, Anna? Was<br />
machst du hier? ) Es war Pietro Merz, der mit einem Militärtransport in Wien auf<br />
Durchreise war. Er war auf uns aufmerksam geworden, weil er den Trentiner Dialekt<br />
herausgehört hatte. Ihm haben wir unser Problem erläutert und so hat er uns dann zu<br />
einem Offizier begleitet. Pietro sprach gut Deutsch. Der Offizier überprüfte den Fahrplan<br />
und meinte dann, dass wir beruhigt sein könnten. Es ließe sich eine Lösung finden. Er<br />
fand für uns auf einem Militärzug Platz, drei Stunden vor unserem Zug in Trient<br />
ankommen sollte.<br />
In Trient haben wir auf den Umsiedlerzug gewartet. Als dieser endlich ankam, sind wir<br />
eingestiegen und haben zum Glück recht bald den Koffer und die Kinder gefunden, die<br />
eine Familie aus Villazzano in Obhut genommen hatte. Wir haben ihr von Herzen gedankt.<br />
Wir sind bis Povo mitgefahren und wurden dort wir mit einem Wagen abgeholt.<br />
Gottseidank ist alles gut ausgegangen.“<br />
Es war die Nachricht gekommen, dass in Mähren und in Böhmen vielfach Unruhen<br />
ausgebrochen waren, dass die Menchen das Kaiserreich satt hatten, dass die<br />
Jugendlichen versuchten, zu desertieren und sich auzulehenen, und die Unabhängigkeit<br />
von Österreich und das Ende des Krieges forderten. Auch in Znaim war es zu Tumulten<br />
gekommen und die zwei Gendarmen in Urbau waren in Alarm gesetzt worden. Der<br />
Sommer verging mit den Hochzeitsvorbreitungen für Teresa und der Betreuung des<br />
kleinen Francesco, der gut und kräftig aufwuchs. Giuseppe und Karoline verbrachten jede<br />
freie Minute zusammen. Sie versprachen sich ewige Liebe und planten, dass sie sich nach<br />
dem Krieg in Trient oder in Znaim oder an jeden anderen Ort in Europa wieder vereint<br />
hätten. An einigen Sonntagen waren sie auch mit Joseph und Teresa am geheimem Ort<br />
an der Taiaz gewesen.Maria fühlte sich immer einsamer und dachte oft mit etwas Wut an<br />
ihren Mann, wenn sie sich vorstellte, dass er nun sicher und unbehelligt in Russland war,<br />
54
während sie hier den Jüngsten aufzuziehen und an die Tochter zu denken hatte, die<br />
heiraten wolltw,Dazu kam auch noch die Betreuung von Giuseppe. Aber dann fühlte sie,<br />
dass es so besser war. So war Desiderio vom Krieg fern und in Sicherheit. Bald würden<br />
sie sich wiedersehen.<br />
Bild S.80 : Flugplatz von Cirè bei Pergine- 1917 ( Archiv der Bibliothek von Povo )<br />
Bild S.84 : Der Unteroffizier der Kaiserjäger Pietro Merz-1917 ( Archiv der Bibliothek von<br />
Povo )<br />
55
FÜNFZEHNTES KAPITEL<br />
Desiderio war damit beschäftigt, mit einer Mannschaft von ehemaligen Kriegsgefangenen<br />
eine Brücke über einen Bach zu bauen, um so den Einwohnern einer großen<br />
Landgemeinde zu ermöglichen, bequem die Stadt und die Eisenbahnstation zu erreichen,<br />
ohne durch den Bach zu waten, was auch nicht immer möglich war. Der Bau hatte sich<br />
schon mehrere Monate hingezogen und mit der Hilfe der dortigen Einwohner war er<br />
nunfast zu Ende geführt. Desiderio und seine Leute (nur drei kamen aus dem Trentino,<br />
zwei aus Ungarn und fünf waren Tschechen aus der Nähe von Brün, ungefähr sechzig<br />
Kilometer vom Ort seiner Familie ) waren sehr stolz auf ihr Werk. Sie hatten die Brücke<br />
ohne Hilfe von Ingenieuren und Planern gebaut.<br />
Desiderio war zwar ein guter Maurer, hatte aber noch nie eine Brücke gebaut, nicht<br />
gerade ein leichtes Unterfangen. Er hatte alles alleine organisieren müssen. Die Bauern<br />
hatten mit dem Ochsenwagen große Steine angeliefert. Geduldig hatten dann die<br />
ehemaligen Kriegsgefangenen mit Meisseln, die aus einem Bergwerk stammten, die<br />
Steine quadratisch zugehauen. Mit der Hilfe von Bauern, älterer Männer und besonders<br />
von Frauen wurden die Trockenziet ausnützend die Fundamente ausgehoben. Nicht<br />
aufzutreiebn war der Zement, um die Steine zu binden. Sie hatten aber nicht den Mut<br />
verloren: sie fanden Kalksteine und haben diese über ein Kochverfahren in Kalk<br />
umgewandelt. Desiderio hatte dieses Verfahren am Maranza-Hügel am Fuße des<br />
Marzolaberges in der sogenannten „calcara dei frati“ gesehen. Mit einer Mischung von<br />
nassem Kalk, Sand und Lehm hatten sie einen gut bindenden Mörtel für die zugehauenen<br />
Steine gefunden und errichteten damit die beiden Stützpfeiler der Brücke. Es musste nur<br />
noch das geeignete Holz aus den umliegenden Wäldern geschlagen werden.<br />
Sie schlossen das Birkenholz aus, da es zu weich und nur für Feinarbeiten geeignet war.<br />
Sie hatten dann kräftige, gerade hochgewachsene Kiefern ausgewählt. Diese mussten<br />
aber gegen die Einwirkungen der Feuchtigkeit geschützt werden. Sie woolten es mit dem<br />
Anbrennen versuchen, wie man es bei den Rebstützen machte; das war weder leicht ,<br />
noch wirksam. Eine junge Frau namens Sonja, die Deutsch sprach, wusste von einer<br />
Pfütze zu berichten, wo klebriges zähflüssiges Erdöl zutage kam. Sie begaben sich an<br />
den von Sonja angegebenen Ort , sammelten den Teer in Kübeln und bestrichen damit die<br />
von der Rinde befreiten Stämme. Dabei halfen Sonja und ihre Freundin Valenzina mit.<br />
Nach der unermüdlichen Arbeit mit den ehemaligen Gefangenen waren sie von Kopf bis<br />
Fuß beschmiert.<br />
Nachdem sie die Holzstämme verlegt, verbunden und mit Nägeln gefestigt hatten<br />
benützen sie das Birkenholz für die Feinarbeit. Mittlerweile war es kälter geworden und der<br />
Schnee hatte auch schon seine leisen Ankündigungen gegeben. Der Politkommissar lobte<br />
die Männer und teilte ihnen mit, dass das Dorf am nächsten Tag ein Fest für sie<br />
veranstalte, um ihnen zu danken. Desiderio dachte an Maria und seine Kinder; seit<br />
Monaten hatte er keine Nachrichten mehr von ihnen bekommen , es war der 2. November<br />
und der Krieg schien nie aufzuhören. Die Sehnsucht, sie alle in die Arme zu schließen,<br />
erschöpfte sich in der dumpfen Frage: Wann?<br />
Am nächsten Morgen weckte ihn ein heftiges Klopfen an der Barackentür. Zwei seiner<br />
Kameraden waren schon aufgestanden und auf Deutsch teilten sie ihm mit, dass drei<br />
Pferdewägen gekommen waren, um sie ins Dorf zu fahren. Eiligst machten sie sich<br />
zurecht und vor der Tür empfing sie ein herrlicher Morgen. Er hatte versucht aus den<br />
verbliebenen Kleidungsstücken, die besten anzuziehen, und den Rock zuknöpfend ging er<br />
zur Gruppe der wartenden Russen. Zu seiner Überraschung trat ihm ein schönes ,<br />
blondes Mädchen entgegen, das er nicht sofort wiedererkannte, aber dann fiel ihm die<br />
56
Frau ein, die hart mit ihnen am Bau der Brücke gearbeitet hatte. Das Mädchen gab ihm die<br />
Hand, küsste ihn dreimal auf den Wangen und sagte: „ Erinnerst du dich an mich ?“<br />
„ Sicher“ antwortete Desiderio „ du bist Sonja, das Mädchen, das die Erdölpfütze<br />
gefunden hat!“ Sonja erzählte ihm, dass sie die Dolmetscherin für die Feier sei. Sie<br />
stiegen auf die Wägen und fuhren Richtung Gomol, das Dorf, für das sie die Brücke<br />
gebaut hatten.Während der Fahrt lernte Desiderio die junge Frau die sich neben ihn<br />
gesetzt hatte, besser kennen. Eine Frau neben sich zu haben verursachte in Desiderio<br />
Gefühle, die er schon lange nicht mehr gehabt hatte. Er spürte Erregung und ein<br />
unglaubliches Glücksgefühl.<br />
Bei der Brücke warteten der politische Kommissar und der Bürgermeister von Gomol mit<br />
seinen Mitbürgern auf sie. Ein rotes Band versperrte die Brücke. Sie stiegen ab und<br />
näherten sich den Behörden. Der Bürgermeister hielt eine kurze Anrede, die von Sonja<br />
übersetzt wurde: „ Liebe Freunde und Genossen, ihr in unser Land geschickt worden, um<br />
Tod und Zerstörung zu bringen. Ihr habt hart gearbeitet, um mit dem Bau der Brücke<br />
Freude zu bringen. Diese Brücke erspart uns viele Mühen, diese Brücke bedeutet uns viel,<br />
denn sie wird für immer die Völker Europas vereinen. Diese Brücke wurde von einem<br />
großen Maurer, einem Sohn des Volkes, ohne Ingenieure und Planer, geschaffen. Sie wird<br />
von nun an „Brücke des Desiderio“ heissen.“<br />
Desiderio war so aufgeregt und verlegen wie es selten vorgekommen war; er musste vor<br />
all diesen Menschen das Wort ergreifen und das kostete ihm mehr Mühe als die Brücke zu<br />
bauen. „ Ich danke allen, aber es ist nicht nur mein Verdienst. Wir haben alle<br />
zusammengearbeitet, ich, meine Kameraden und ihr alle. Wir sollten diese Brücke deshalb<br />
„Brücke der Freundschaft“ oder „Brücke des Volkes“ heissen.“ Darauf näherte sich ihm<br />
ein herzlich lächelndes Mädchen, das ein rotes Kissen auf den Händen trug, auf dem mit<br />
goldfarbenen Zwirn Sichel und Hammer gestickt waren. Auf dem Kissen lag eine Schere.<br />
Desiderio ergrff diese mit zittriger Hand und schnitt das rote Band durch. Ein kleines Stück<br />
behielt er zur Erinnerung für sich. Unter Applaus wurden er und seine Kameraden auf den<br />
Wagen gesetzt und als Festzug bewegten sich alle dem Dorfe zu.<br />
Es gab ein großes Fest im Wirtshaus; es wurde getanzt, gegessen und ausgiebig<br />
getrunken. Gegen Abend nahm ihn Sonja bei der Hand und gemeinsam entwischten sie<br />
über die Stiege in das Obergeschoß. Dort wurde er in ein Zimmer geführt, wo das Feuer<br />
eines offenen Kamins eine angenhme und gemütliche Wärme verbreitete. Erregt und vom<br />
Alkohol enthemmt rissen sie fast die Kleider vom Leibe und liebten sich leidenschaftlich<br />
und verzweifelt bis in den frühen Morgen. Dann erst schliefen sie ein. Als Desiderio<br />
erwachte, sah er Sonja mit einem Frühstückstablett in der Hand mit Tee, Brot,<br />
Marmelade und Butter. Sie hatte einen traurigen Blick und hinter ihrem Gürtel steckte ein<br />
Zettel. „ Guten Morgen, meine Liebe! Was ist geschehen? Bist du böse auf mich? Warum<br />
schaust du so traurig?“ fragte Desiderio. „ Nein, ich bin nicht böse auf dich. Ich bringe eine<br />
Nachricht, die für dich schön, für mich aber traurig ist.“antwortete Sonja und reichte ihm<br />
den Zettel.<br />
Desiderio versuchte zu lesen; es war ein Telegramm in kyrillischer Schrift. Desiderio<br />
kannte einige Wörter und irgendwie verstand er Österreich, Krieg, Ende. Er sah sie<br />
fragend an und sie sagte: „ Ja, Desiderio, der Krieg ist aus. Üsterreich und Deutschland<br />
haben kapituliert, du kannst heimkehren zu deiner Familie.“<br />
Desiderio konnte es nicht glauben, der Krieg war aus, er konnte zurückfahren. Er umarmte<br />
das Mädchen und weinte vor Freude und entschudigte sichgleichzeitig für seinen<br />
Freudensausbruch. „ Du brauchst dich nicht um mich zu sorgen, ich wusste, dass du<br />
früher oder später wegfahren würdest. Ich werde dich nie vergessen, schreib mir , lass<br />
57
manchmal etwas von dir hören!“ erwiderte Sonja. Aus seinem tief aufgewühlten Herzen<br />
sagte Desiderio bekennend: „ Ich werde dich auch nie vergessen. Du bist das Schönste,<br />
das ich von diesem Krieg geschenkt bekommen habe.“ Zur Baracke zurückgekehrt traf er<br />
die Militärbehörden an, die allen den Passierschein und das Reiseprogramm<br />
aushändigten. Die Abfahrt war für den nächsten Tag in aller Frühe angesagt. Es
Desiderio wie zu sich selbst.Maria, die den kleinen auf dem Arm hatte und den ganzen<br />
Ablauf wie versteinert mitverfolgt hatte, konnte ihren eigenen Augen nicht glauben:<br />
Desiderio war heil aus dem Krieg heimgekehrt. Sie setzte das kind auf das Bett und ging<br />
ihrem Mann entgegen, der die Tochter losließ und sich mit offenen Armen ihr zuwandte. In<br />
der Umarmung löste sich die Last und die Bangigkeit des Wartens und festigte sich das<br />
Glück des Wiedersehens.<br />
Maria spürte wie ein Zittern ihrem Rücken entlang ging, während sie ihren Mann<br />
umarmte. Ewig lang hatte sie nicht mehr diese Gefühl erlebt. Nach all diesen<br />
Umarmungen holte Teresa den kleinen Francesco und brachte ihn zum Vater: „Vater, ich<br />
stelle dir deinen Sohn Francesco vor den du noch nie gesehen hast!“ Ängstlich und<br />
behutsam nahm Desiderio das nun zweieinhalbjährige Kind in den Arm, doch dieses brach<br />
beim Anblick dieses Unbekannten, der gar nicht vertrauenswürdig aussah, sofort in<br />
Weinen aus. „ Francesco, mein liebes Kind, weine nicht. Ich bin dein Vater. Du wirst Zeit<br />
haben, mich kennen und lieben zu lernen.“ sagte beschwichtigend Desiderio.Jetzt erst<br />
nahm er den Rucksack von den Schultern und legte den Mantel ab. Müde aber glücklich<br />
setzte er sich zu Tisch. Maria holte eine Flasche Wein , füllte drei Gläser und trank auf die<br />
Wiedervereinigung der Familie.Desiderio erkundigte sich nach dem Verbleib von<br />
Giuseppe. „ Er müsste jeden Augenblick kommen. Er ist zu Karoline gegangen; auch für<br />
die Schneiders stehen die Dinge nicht gut. Jetzt nach der Niederlage Österreichs wollen<br />
die Tschechen alle deutschstämmigen Einwohner verjagen..“ berichtete ihm Teresa. Für<br />
Desiderio war das der Anlass, nach Joseph und seinem Befinden zu fragen, und zu<br />
erfahren, ob dieser und Teresa noch so ineinander verliebt waren. „ Vater “, sagte Teresa „<br />
ich habe dir viel zu erzählen. Ich war in Wien bei Joseph´s Eltern. Sie mögen mich. Wir<br />
werden heiraten und nach Wien ziehen. Wir haben auf deine Rückkehr und deine<br />
Zustimmung gewartet, damit du mich zum Altar führen kannst.“ „ Es freut mich für dich und<br />
du hast meine Zustimmung. Es bricht mir das Herz, wenn ich daran denke, dass wir uns<br />
wieder trennen müssen “ sagte der Vater mit einem traurigen Unterton.<br />
Die Dunkelheit brach herein und die Kälte jenes Novembers begann spürbar zu werden,<br />
als Giuseppe in der Tür erschien. Er erkannte den bärtigen Mann, der am Tisch saß. Mit<br />
jagendem Herzen lief er zu ihm und ihn umarmend drückte er die große Freude über<br />
seine Heimkehr aus. „ Giuseppe, nun bist groß und erwachsen geworden“ stellte Desiderio<br />
anerkennend fest.<br />
Teresa bereitete das Abendessen vor: Gemüsesuppe, Kartoffeln und Käse. Nach dem<br />
Essen besprachen sie die Lage, ein echter Familienrat. Giuseppe erzählte von den letzten<br />
Ereignissen im Dorfe. Am 28. Oktober hatten die Vertreter von Böhmen, Mähren und der<br />
Slowakei die Verfassung der neuen Tschechischen Republik ausgerufen. Das hatte er am<br />
Gutshof in der lokalen Zeitung, dem „Znaimer Tagblatt“ gelesen. Die tschechische<br />
Bevölkerung lehnte sich auf gegen die österreichischen Behörden und Joseph hatte die<br />
größten Schwierigkeiten den Stand zu halten. Mit dem Durcheinander und der Unordnung,<br />
die nach der Niederlage der Zentralmächte eingetreten waren, hatte Österreich keinen<br />
Einfluss mehr. Es kamen keine Anweisungen mehr aus Wien. Die deutschen Familien<br />
bereiteten sich vor, das Land und ihren ganzen Besitz zu verlassen.<br />
Unter diesen befand sich auch die Familie Schneider, die schon alle Vorbereitungen<br />
getroffen hatte, nach Wien zu flüchten, wo sie eine eine Wohnung besaß. Die<br />
umgesiedelten Flüchtlinge begannen in ihre Länder zurückzukehren ohne zu wissen, was<br />
sie dort erwarten würde. Die Familie Bonvecchio beschloss, schlafen zu gehen und die<br />
Entscheidung auf den nächsten Tag zu verschieben. Maria wollte endlich allein mit<br />
Desiderio sein. Sie legte den Kleinen in die Wiege, wartete bis er eingeschlafen war und<br />
nach dem Gutenachtgruß zogen sich alle in ihre Zimmer zurück.<br />
59
Kaum war die Tür hinter ihm geschlossen umarmte leidenschaftlich seine Frau. Sie war<br />
noch schön und lange war es her von ihrer letzten Liebesbegegnung. „ Du bist<br />
wunderschön“ flüsterte Desiderio und küsste sie inbrünstig. „ Desiderio, Liebster, endlich<br />
bist du wieder bei mir! Ich habe es allein nicht mehr ausgehalten. Ich dachte, du hättest<br />
mich vergessen.“ sagte Maria hingebungsvoll. Desiderio wich einer Antwort aus, da in ihm<br />
plötzlich Schuldgefühle auftauchten. Die Liebesnacht mit Sonja hatte er nicht vergessen.<br />
Er beschloss, dieses Abenteuer am nächsten Tag Maria zu beichten. Jetzt war die Zeit<br />
gekommen, seine Frau zu lieben, die so lange auf ihn gewartet hatte. Er zog ihr die<br />
Kleider aus und von einer wilden Leidenschaft erfasst, die von der Sehnsucht genährt<br />
worden war, warfen sie sich aufs Bett ohne die Kälte der Jahreszeit zu verspüren.Sie<br />
liebten sich lange und schliefen eng umarmt ein.<br />
Bild S. 86 : Galizisches Dorf im Jahre 1916 (Archiv der Bibliothek von Povo )<br />
Bild S. 89 : Ein russisches Haus auf dem Lande ( Foto Aldo Giongo )<br />
60
SECHZEHNTES KAPITEL<br />
Es war der 7. November 1918. Nach dem Frühstück mit Kaffe, Milch und Brot begab sich<br />
die ganze Familie Bonvecchio zur Amtsstube der Gendarmerie, um etwas über ihre<br />
Zukunft zu erfahren. Gleichzeitig wollte Desiderio seinen zukünftigen Schwiegersohn<br />
treffen, den er seit seiner Gefangennahme nicht mehr gesehen hatte. Das Dorf lag in<br />
einem dichten Nebel eingehüllt und<br />
man vernahm erregte Stimmen und zorniges Schreien. Am Dorfplatz begegneten sie einer<br />
Schar bewaffneter Bürger, die am rechten Arm eine Binde mit den Farben der mährischen<br />
Fahne trugen.<br />
In der Nähe der Gendarmerie erblickten sie Joseph und seinen Kommandanten, die<br />
gerade Aktenbündel und anderes Amtsmaterial auf die Dienstkutsche aufluden. Sie<br />
gingen auf sie zu und riefen: „Joseph, Joseph, wir sind es !“ Er hatte unter den Stimmen<br />
´jene Teresa´s erkannt und drehte sich sofort um. Er war überrascht, Teresa und die<br />
anderen der Familie in Begleitung eines fremden Mannes zu sehen. Aber<br />
nähergekommen erkannte er den Mann sofort. „ Desiderio, mein Freund, endlich bist du<br />
zurückgekommen!“ sagte er und umarmte ihn. „Ja“ bestätigte Desiderio „ ich bin wieder<br />
bei euch, aber was ist denn hier los? Wohin wollt ihr mit diesen Akten und Kisten?“ „Ihr<br />
kommt zu einem schlechten Zeitpunkt, Mähren wird den Tschechen übergeben. Wir haben<br />
den Befehl bekommen, das Gebiet zu verlassen und nach Wien zurückzukehren. Ich muss<br />
die Kutsche fertig beladen. Ich hatte vor nach der Verabschiedung von meinem<br />
Vorgesetzten zu euch zu kommen. Wie ihr seht, trage ich schon Zivilkleider. Geht<br />
mittlerweile ins Wirtshaus und wartet dort auf mich, ich komme gleich nach.“<br />
Die Familie Bonvecchio ging also ins Wirtshaus. Mittlerweile beendeten die beiden<br />
Gendarmen die Räumung ihrer Amtsstube, verstauten die letzten Dinge in der Kutsche,<br />
darunter auch die Fahne der österreich-ungarischen Monarchie. Mit militärischem Gruß<br />
verabschiedeten sie sich von den dort zur Kontrolle eingesetzten mährischen Miliz und<br />
verließen endgültig den Posten. Joseph grüßte mit einem Händedruck den<br />
Kommandanten, dieser setzte sich auf die Kutsche und fuhr los. Allein vor der ehemaligen<br />
Amtsstube stehend ergriff Joseph den Reisesack und begab sich zum Wirtshaus.<br />
Sobald er ins Wirtshaus getreten war, schenkte der Wirt ein Bier auf und brachte es zum<br />
Tisch. Joseph gab Teresa einen zärtlichen Kuss auf den Mund, setzte sich und sagte:<br />
„ Das österreichische Kaiserreich ist untergegangen und damit ist wahrscheinlich auch<br />
meine Laufbahn bei der Gendarmerie zu Ende. Aber seid unbesorgt, ich werde sicher eine<br />
andere Arbeit finden. Aber nun zu euch!“ Er zog einen großen Umschlag aus der Tasche<br />
und entnahm einige Papiere: „ Das sind die Ermächtigungen für eure Heimreise, das hier<br />
sind die Zugfahrkarten; sie gelten für einen Personenzug. Sie sind ein Geschenk meines<br />
Vaters, der uns alle in Wien erwartet, wo, wenn ihr einverstanden seid, ich und Teresa<br />
heiraten werden.“ „ Danke, mein Freund, oder besser, mein Schwiegersohn, danke dafür,<br />
dass du uns immer geholfen hast. Wir sind glücklich, wenn ihr heiratet, trotzdem es uns<br />
leid tut, ohne Teresa in die Heimat zurückzukehren.“ Sagte mit großem Ernst Desiderio.<br />
Teresa war gerührt: „ Danke Vater, wir lieben uns sehr und seine Eltern sind wunderbare<br />
Menschen, und dann wird es nicht für immer sein. Ich verspreche, dass wir euch<br />
besuchen kommen, sobald sich die Lage wieder etwas normalisiert hat und es neue<br />
Grenzen zwischen Österreich und Italien geben wird.“<br />
Giuseppe hatte die ganze Zeit geschwiegen und dem kleinen Bruder zugeschaut, der mit<br />
seinem Hut spielte. Er dachte an Karoline, auch war auf der Abreise mit ihrer ganzen<br />
Familie. Sie mussten den Gutshof und die Felder verlassen, wo sie zusammen sehr<br />
61
glücklich gewesen waren. Desiderio merkte seinen Kummer und machte den Vorschlag,<br />
dass Joseph und Teresa sich auf die Reise vorbereiten und er und seine Frau mit den<br />
beiden Söhnen die Familie Scneider besuchen gehen, die er schon lange nicht mehr<br />
gesehen hatte.<br />
Das Familienoberhaupt grüßte den Wirt und Maria bei der Hand nehmend machten sie<br />
sich auf den Weg. Sie folgten dem Vorauseilenden Giuseppe der Strasse entlang die<br />
durch vereiste Felder zum Gutshof führte. Aus der Ferne sah man, dass auf dem Platz vor<br />
dem Gutshof Wagen und Menschen in Bewegung waren. Als sie dort ankamen, lief<br />
Karoline weinend Giuseppe entgegen, Herr Ott drückte Desiderio herzlich die Hand und<br />
bat sie ins Haus vor den offenen Kamin.<br />
Otto ließ sich von Desiderio die Geschichte seiner Gefangenschaft in Russland erzählen<br />
und dann berichtete er, was in der letzten Zeit seiner Familie und seinem Betrieb<br />
widerfahren war: „ Liebe Freunde, unser geliebtes Österreich gibt es nicht mehr. Ihr sed<br />
jetzt Italiener geworden und das Land , das ich geliebt und angebaut habe, gehört mir<br />
nicht mehr. Zusammen mit dem Vieh habe ich zu einem Spottpreis den Tschechen<br />
verkaufen müssen. Die Pferde habe ich gooseidank behalten können, die werde ich nach<br />
Wien mitnehmen.Ich habe gehört, dass Teresa in Wie bleiben wird. Wir werden sicher in<br />
Verbindung bleiben. Übrigens kann ich mir vorstellen, dass sich unsere zwei Verliebten<br />
sicher oft schreiben werden, stimmt´s Karoline?“<br />
Da meldete sich Karoline mit dem ungestümen Schwung ihres Alters:“ Vater, warum darf<br />
ich nicht mit Giuseppe wegfahren? Wir lieben uns und wollen uns nicht trennen.“<br />
„ Karoline,“ sagte ihr Vater „ lass es gut sein! Ich mag und schätze Giuseppe. Ihr seid aber<br />
zu jung und ihr wäret nicht imstande, selbständig weiterzumachen. Wir wissen selbst<br />
nicht, was uns erwartet und wie es weitergehen soll. Ich brauche dich, Karoline, und<br />
Desiderio braucht seinen ältesten Sohn, um neu anzufangen. Wenn die Dinge wieder<br />
klarer geordnet sein werden und ihr euch dann noch liebt, werden wir glücklich sein,<br />
unsere beiden Familien mit einer Heirat zu vereinen.“ „ Kinder, Otto hat recht“ pflichtete<br />
Desiderio bei „ ich und die Mutter können nicht auf unsere beiden größeren Kinder<br />
verzichten. In Povo werden wir hart arbeiten müssen, um unser Haus wieder aufzubauen<br />
und um ein geregeltes Leben einzurichten. Dann, das kann ich euch versichern, wird<br />
niemand glücklicher sein als wir, Karoline wie unsere Tochter aufnehmen zu können.“<br />
Wenngleich schweren Herzens schienen die beiden Jugendlichen einverstanden zu sein,<br />
sicherere Zeiten abzuwarten. Sofort tauschten sie sich ihre Adressen aus und schworen<br />
sich ewige Liebe.<br />
Der nächste Tag verging mit den Reisevorbereitungen; es wurde alles, was nützlich sein<br />
konnte und transportierbar war in Koffer, Säcke oder Bündel gepackt. Während der Nacht<br />
hatten Gruppen von nationalistischen Schwärmern die Fenster der Deutschen mit Steinen<br />
beworfen. Die Lage war sehr ernst geworden. Am tag darauf wurden mit Joesph und der<br />
Familie Schneider die letzten Absprachen für die Abreise getroffen.<br />
Es kam die letzte Nacht im kleinen Haus in Urbau, wo sie immmerhin drei Jahre verbracht<br />
hatten und wo Francesco geboren wurde. In der Nacht konnte keiner ein Auge zumachen<br />
und bei Tagesanbruch kündigte das Stampfen der Pferdehufe das Eintreffen der Kutsche<br />
an, mit der Albert, der Sohn von Herrn Otto, Giuseppe und Karoline sie abholen kamen.<br />
Das Gepäck wurde aufgeladen, ein letzter abschiednehmender Blick auf das Haus und<br />
alle zusammen fuhren zum Bahnhof von Znaim. Dort angekommen wurde das ganze<br />
Gepäck abgeladen. Sie verabschideten sich von Albert und Karoline, die zum Hof<br />
zurückfuhren, um dann zusammen mit den Eltern die Fahrt nach Wien anzugehen. Es<br />
wurde vereinbart, sich in Wien zu treffen.<br />
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Der Zug fuhr ein. Endlich alle gemeinsam auf der Heimfahrt. Sie waren nicht allei: ein<br />
Wirrwarr von Menschen bewegte sich in den Waggos, Flüchtlinge, Soldaten, alle bestrebt,<br />
in ihre ferne Heimat zurückzukehren. Der kleine Francesco war ganz aufgeregt, erhatte<br />
noch nie einen Zug gesehen. Er lachte und war fröhlich. Sie fanden zwei freie Sitzbänke<br />
und setzten sich nebeneinander.Aus dem Fenster schauten sie auf die Stadt, die langsam<br />
in die Ferne rückte, dann kam Eisenbrücke, die über das Tal der Taiaz führt. Immer<br />
kleiner wurden die Häuser und der Stadtturm bis sie verschwanden.<br />
Einige Stunden später, nachdem sie an einigen Vororten vorbeigefahren waren, tauchte<br />
Wien auf, die ehemalige Reichshauptstadt, eine alte und stolze Stadt, die sich der<br />
Niederlage noch nicht gebeugt hatte. Der Zug hielt kreischend an, sie stiegen aus, der<br />
Vater von Joseph und ein Kutscher warteten schon auf sie. Sie Standen am Ende des<br />
Bahnsteiges und winkten mit den Armen. Vater und Sohn umarmten sich. Mit einem<br />
herzlichen Händedruck begrüßten sich alle anderen. „ Endlich lernen wir uns kennen, Herr<br />
Bonvecchio, wir freuen uns, euch bei uns zu Besuch zu haben. Meine Frau erwartet uns<br />
zu Hause.“ „ Aber ich bitte Sie Herr Huber, ich bin Desiderio und das ist meine Frau<br />
Maria.“ „Danke, es macht mich glücklich. Auch für euch sind wir Fritz und Martha.“<br />
Nach den Vorstellungen gingen sie gemeinsam zur Kutsche, die Herr Fritz gemietet<br />
hatte. Es wurde das Gepäck aufgeladen und die Fahrt durch die alten Strassen von Wien<br />
begann. Auch in Wien herrschte Verwirrung und ein Durcheinander, das dieser Stadt<br />
nicht eigen war. Vor dem Gebäude angekommen, das Maria Teresa schon kannte, hielten<br />
sie an. Sie stiegen aus und ads ganze Gepäck wurde abgeladen und über die Stiegen<br />
hochgetragen. Oben erwartete sie Frau Martha; in der Diele umarmte sie ihren Sohn und<br />
seine Verlobte: „Jetzt, wo ihr endlich da seid, bin ich glücklich und nichts macht mir mehr<br />
Angst. Aber kommt herein und lasst euch mit den Koffern helfen!“ Desiderio, Maria und<br />
Giuseppe bewunderten ganz verzaubert die so elegant eingerichtete Wohnung, sie hatten<br />
selten etwas Ähnliches gesehen. Es war eine wirklich herrschaftliche Wohnung mit breiten<br />
Gängen , großen Räumen, einer getrennten Küche und vielen Schlafzimmern. Das ganze<br />
Haus in Urbau war nicht so groß wie diese Wohnung und das Gleiche galt wohl auch für<br />
ihr Haus in Oltrecastello.<br />
Auch Frau Martha wurden allen vorgestellt. Danach servierte diese mit der Hilfe der<br />
zukünftigen Schwiegertochter das Essen. Es gab eine schmackhafte Suppe, Würste mit<br />
Sauerkraut und dazu ein hervorragendes Bier. Nach dem Essen wurde über die Hochzeit<br />
gesprochen, die für nächsten Tag um elf Uhr in der katholischen, dem heiligen Stephan<br />
geweihten Kirche des Stadtviertels angesetzt war. Herr Fritz hatte alles schnellstens<br />
vorbereitet, denn am 11. November sollte ein italienischer Zug durch Wien fahren; mit<br />
altösterreichischer Beamtengenauigkeit hatte er auch schon die Fahrkarten bis<br />
Trient/Povo gelöst.<br />
Desiderio und Maria drängten lange, ihm das ausgelegte Geld zu erstatten, aber Fritz gab<br />
nicht nach und meinte, es sei ein Hochzeitsgeschenk. „ Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie<br />
froh ich und meine Frau Martha sind. Wir werden nicht mehr allein in dieser großen<br />
Wohnung sein. Unsere Kinder Joseph und Teresa und bald auch Enkelkinder werden uns<br />
Gesellschaft leisten.“ Lange unterhielten sie sich über die Ereignisse des Krieges und über<br />
ihre persönlichen Erfahrungen. Desiderio hatte beschlossen, ein kleines Geheimnis nie<br />
preiszugeben und den kurzen Liebestraum mit der sanften Sonja für immer in seinem<br />
Herzen verschlossen zu halten. Er wollte seiner Frau nicht das Leben mit einer Geschichte<br />
verbittern, die keine Nachwirkungen mehr haben würde.<br />
Am Abend dann im Bett, nachdem der kleine Francesco eingeschlafen war, schmiegte<br />
sich Maria mit Tränen in den Augen an Desiderio. „ Warum weinst du denn, Maria? Auch<br />
ich bin traurig, wenn ich daran denke, dass ich meine erst wiedergefundene Tochter<br />
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wieder vermissen muss. Aber es tröstet mich zu wissen, dass einen Mann hat, der sie<br />
liebt, liebenswerte Schwiegereltern und eine schöne Wohnung. Beruhige dich, vielleicht<br />
werden wir sie bald mit einem kleinen Enkel wiedersehen!“ sagte Desiderio und versuchte<br />
auch sich selbst Mut zu machen. Umarmt schliefen sie ein. Sehr früh am Morgen weckte<br />
Teresa ganz aufgeregt ihre Mutter, damit sie ihr beim Anziehen des Brautkleides helfe. Sie<br />
hatten selbst genäht. Es war ein schönes Kleid aus weissem, leichten Wollstoff, dazu ein<br />
Kopfschleier aus weisser Seide. Giuseppe kümmerte sich mittlerweile um seinen kleinen<br />
Bruder und der Bräutgam und sein Vater waren, wie es in der Tradition lag in die Kirche<br />
vorausgegangen. Anbetrachts der allgemeinen Lage und des Zeitdrucks waren weder<br />
Verwandte noch Freunde eingeladen worden. Die Teilnahme war auf die Brautzeugen und<br />
deren engsten Angehörigen und auf die eigenen Familienangehörigen beschränkt.<br />
Geführt von ihrem Vater machte sich Maria Teresa auf den Weg zur Kirche. Die in<br />
barocken Stil gehaltene Kirche war nicht besonders groß; es handelte sich aber um einen<br />
architektonisch wertvollen Bau. Als sie eintraten, begann die Orgel den Hochzeitsmarsch<br />
zu spielen. Joseph und sein Vater, beide in militärischer Haltung, warteten vorne am Altar.<br />
Joseph nahm die Hand der Braut und beide knieten aufgeregt vor dem Altar nieder. Auch<br />
die Familie Schneider war vollzählig in der Kirche erschienen. Herr Otto war der<br />
Brautzeuge von Teresa und Joseph´s Zeuge war sein ehemaliger Kommandant in Urbau.<br />
Messfeier und Trauung wurden vom Priester auf Deutsch abgehalten, aber zur<br />
Überraschung aller sprach er zu Beginn der Predigt einige Sütze auf Italienisch, die<br />
überstzt so lauteten. „ Möge diese Hochzeit Zeichen des Friedens zwischen dem<br />
deutschen und dem italienischen Volke sein.“<br />
Zu ersten Male wurde sich die Familie Bonvecchio bewusst, nicht mehr als den Deutschen<br />
zugehörig betrachtet zu werden, sondern als Angehörige eines anderen Staates zu gelten.<br />
Teresa war furchtbar aufgeregt, ihr Herz jagte, an ihrer Seite stand Joseph, ein<br />
wunderbarer Mann, der sie liebte; der einzige Schatten über ihr Glück war die abreise ihrer<br />
Familie. Sie tröstete sich mit der Vorstellung, dass der Krieg ja vorbei war und sie eines<br />
Tages mit ihrem Mann und den Kindern nach Oltrecastello zurückkehren würde. Auch<br />
Joseph war glücklich und war dem Schicksal dankbar, nach Urbau versetzt worden zu<br />
sein, denn dort hatte er dieses wunderbare Mädchen getroffen, das von weit her<br />
gekommen war, um ihn glücklich zu machen.<br />
Nach der Trauung war ein Mittagessen im Gasthaus angesagt, das Desiderio mit dem<br />
Geld für alle zahlen konnte, das Maria gespart hatte. Das Gasthaus war einfach, aber das<br />
Essen sehr gut. Fritz hatte es absichtlich ausgesucht, damit Desiderio nicht zuviel<br />
ausgeben musste und um ihn nicht zu demütigen. Nach dem Aperitif war im Menu eine<br />
Gulaschsuppe, Wienerschnitzel mit Kartoffel und abschließend eine große<br />
Schokoladetorte. Am waren sie bei der Familie Schneider eingeladen. In der Kutsche, die<br />
sie hinführte, war dem Brautpaar der Ehrenplatz vorgesehen. Während sie an diesem<br />
kalten Nachmittag durch die Strassen fuhren, erinnerte sich Desiderio, wie oft er sich in<br />
der Vergangenheit gewünscht hatte, in Wien, der Hauptstadt des Kaiserreiches,<br />
spazieren zu gehen. Jetzt war er da und ihm kam vor als wäre ein ganzes Jahrhundert<br />
vergangen, er hatte viele andere Orte gesehen und schmerzliche Erlebnisse gehabt, die<br />
ihm jede Bewunderung für Vaterländer und Kaiser genommen hatten. Nun wünschte er<br />
sich nur, sein Haus wiederzusehen und ein normales Leben zu führen.<br />
Das Haus der Schneiders lag etwas am Rande der Stadt; es war ein einfaches, aber<br />
würdevolles Haus mit einem Hof, einem Pferdestall und einer Stiege, die von aussen in<br />
das Obergeschoß und zu einer großen Terasse führte. Die Wohnung war ansehnlich und<br />
wegen des erst erfolgten Umzugs noch in Unordnung. Während sich die anderen<br />
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unterhielten, hatten Giuseppe und Karoline die Gelegenheit genutzt sich abzusetzen,<br />
indem sie vorgaben, einen Stadtrundgang zu machen. Karoline nahm Giuseppe bei der<br />
Hand und sich vorsichtig umschauend führte sie ihn in ihr Zimmer und schloss die Tür ab.<br />
Auf dem Bett sitzend umarmten und küssten sie sich. Giuseppe streichelte die von einem<br />
schweren blauen Wollkleid bedeckten Brüste und Beine von Karoline als diese sich<br />
plötzlich erhob und verkündete: „ Giuseppe, Liebster, morgen fährst du zurück und ich<br />
weiss nicht, wann ich dich wiedersehen werde. Gibst du mir dein Ehrenwort, dass du mich<br />
nie und nimmer vergessen wirst und dass du zu mir zurückkommst, sobald es möglich<br />
wird ?“ „ Karoline, du weißt doch, dass ich ohne dich nicht leben kann; ich verspreche dir,<br />
dass ich dich nie vergessen werde so wie ich dich immer geachtet habe, obwohl ich dich<br />
unendlich begehrte!“ „Ich glaube dir, Liebster! Es ist die Zeit gekommen, dir meine ganze<br />
Liebe zu schenken, ich begehre dich auch und werde immer auf dich warten!“ Darauf<br />
deckte sie die Bettdecke auf und meinte:“ Jetzt ziehen wir uns aus, wie wir es an unserem<br />
geheimen Ort am Fluss gemacht haben und dann schlüpfen wir unter die Decke, um uns<br />
vor der Kälte zu schützen!“ Karoline befreite sich schnell von den Kleidern und behielt nur<br />
die Strümpfe und den Strumpfgürtel an. Sie versteckte sich unter der Decke. Giuseppe<br />
machte es ihr nach. „Wie immer war ich schneller!“ sagte sie lachend und meinte, wie lang<br />
er denn noch bräuchte.<br />
Die beiden jungen Menschen schmiegten sich aneinander, um sich zu wärmen und dann<br />
liebten sie sich mit Leidenschaft und Inbrunst, ein Versprechen ewiger Liebe. Die<br />
Hochzeitsgesellschaft war indes beim Abschiednehmen angelangt. Man bat die<br />
Schneiders, Giuseppe mit der Strassenbahn nach Hause zu schicken, sobald die beiden<br />
Jugendlich aufgetaucht wären. Die Verabredung war für den nächsten Tag um sieben Uhr<br />
früh am Bahnhof, da sollte der Zug kommen, der sie ins Trentino zurückbringen würde.<br />
Maria Teresa und Joseph verbrachten die Nacht in glücklicher Liebesvereinigung; nur der<br />
Gedanke, dass die Familie der Braut bald abreisen würde, dass sie nicht wussten, was die<br />
Familie dort erwartete und wann sie sich wiedersehen würden, das machte sie besorgt.<br />
Auch Giuseppe, den Karoline nach Hause begleitet hatte, konnte nicht schlafen. Seine<br />
Gedanken kamen von Karoline nicht los, sie war ein ausserordentliches Geschöpf, sie<br />
hatte sich ihm ganz hingegeben, nie würde er sie vergessen, sie musste seine Braut sein<br />
und die Mutter seiner Kinder. Jetzt kehrte er nach Povo zurück und dort würde er eine<br />
Arbeit finden und die Wohnung vorbereiten; dann brauchte er nur zu ihr laufen und sie<br />
mit sich fortzunehmen.<br />
Auch Desiderio war wach; seine Gedanken kreisten um die Jahre, die er fern von Povo<br />
verbracht hatte, um die schrecklichen Geschehnisse, die er miterlebt hatte, aber sie<br />
erinnerten ihn auch an seine Freundschaften und an die schöne Sonja, die er nie mehr<br />
wiedersehen würde. Maria und Francesco waren die einzigen, die vom ereignisreichen<br />
Tag müde geworden, Schlaf gefunden hatten.<br />
Bei Tagesanbruch standen alle auf. Frau Martha hatte schon das Frühstück, aber auch<br />
einen Kuchen, Obst und eine Flasche Tee als Reiseproviant vorbereitet. Maria kleidete<br />
den kleinen Francesco. Nachdem sie zum Frühstück reichlich Marmelade, Butter, Brot und<br />
Milch zu sich genommen hatten, wurden sie mit einer Kutsche abgeholt. Joseph´s Eltern<br />
blieben zu Hause; sie umarmten die Heimfahrenden mit großer Herzlichkeit und<br />
wünschten zum Abschied ein Wiedersehen und Glück.<br />
Am Bahnhof begaben sie sich auf den vorgesehenen Bahnsteig, wo die Schneiders auf<br />
sie warteten.<br />
Giuseppe und Karoline umarmten sich und schauten sich wissend und lächelnd in die<br />
Augen. Um halb acht fuhr dann kreischend, quietschend und zischend der Zug ein. Auf<br />
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dem Zug wehte die italienische Fahne mit dem Wappen der Savoia. „ Da kommen die<br />
Sieger!“ sagte Herr Schneider und fügte hinzu: „ Jetzt übernehmen euch eure neuen<br />
Herren!“ Am Bahnsteig standen zahlreiche Flüchtlinge aus dem Trentino. Joseph steig<br />
schnell in den Zug, um der Familie Sitzplätze zu verschaffen. Der Zug kam nämlich aus<br />
Breslau, wo schon viele Flüchtlinge aus Nordmähren und aus Ungarn zugestiegen waren.<br />
Nachdem der Platz gefunden war, wurde das Gepäck durch das Fenster in den Waggon<br />
geladen und dann im Abteil, wo Holzbänke und Netze für das Gepäck vorhanden waren,<br />
verstaut. Händeschütteln, Umarmungen, Küsse und Versprechungen, sich zu schreiben<br />
und sich bald wiederzusehen,dann der schrille Pfiff, der Giuseppe und Karoline aus ihrer<br />
verzweifelten Umklammerung löst, schließlich setzt sich der Zug in Bewegung. Man winkt<br />
aus dem Fenster, die Reise ins Trentino hat begonnen.<br />
Als der Zug Wien verlassen hatte, kam eine aus einem Offizier und zwei Soldaten<br />
bestehende italienische Militärdelegation, welche die Papiere der Reisenden prüfte und<br />
die ehemaligen italienischsprechenden Flüchtlinge mit einem Häandedruck willkommen<br />
hieß. Dabei versprachen sie, dass während der Fahrt Getränke und Genussmittel verteilt<br />
würden. Die verschneite Ebene zog eintönig an den Fenstern vorbei, während im Zug die<br />
im Trentiner Dialekt geführten Gespräche zunahmen. Es trafen sich Landleute, die sich<br />
seit Kriegsbeginn nicht mehr gesehen hatten. Ein Stück jenes Landstreifens, der Trentino<br />
oder früher Welschtirol genannt wurde, war jetzt auf diesem Zug. Und es kam einem vor,<br />
schon zu Hause zu sein. Die Reise aber war noch lang; der Zug hielt häufig auf offener<br />
Strecke, um wichtigeren Transporten die Vorfahrt zu geben. Wie versprochen wurden<br />
dreimal am Tag Tee, Milch und Brot ausgeteilt; in größeren Bahnhöfen war es auch<br />
möglich, auszusteigen und Lebensmittel und Getränke zu kaufen.<br />
Nach vierundzwanzig Stunden erreichte der Zug Innsbruck. Der Bahnhof war von<br />
italienischen Soldaten bewacht. Überall wehte die italienische Nationalfahne. Als der Zug<br />
anhielt, stiegen Carabinieri ( italienische Gendarmen ) ein und kontrollierten die Papiere<br />
aller Reisenden. Die österreichischen Reisenden, die diesseits des Brenners ihren<br />
Wohnsitz hatten, mussten aussteigen.<br />
Da sagte Desiderio zu seinem Sohn Giuseppe:“ Siehst du, dass es schwierig gewesen<br />
wäre, Karoline nach Trient mitzunehmen; sie ist und bleibt Österreicherin.“ „ Du hattest<br />
recht. Es ist besser, wenn wir warten bis die Lage sich wieder geklärt hat, sie wird doch<br />
immer auf mich warten!“ gab Giuseppe zu. Maria zeigte auf die Berge und sagte zum<br />
kleinen Francesco, der diese Reise zum ersten Mal machte: „ Jenseits dieser Berge ist<br />
unser Haus; jetzt sind wir schon ganz in der Nähe.“ Der Aufenthalt in Innsbruck zog sich<br />
in die Länge. Gegen Mittag verteilte das Küchenpersonal des Militärs das Essen. Wer sich<br />
etwa auf eine „Pastasciutta“ gefreut hatte, wurde enttäuscht. Verteilt wurden Würste und<br />
Kraut, typisch deutsche Speisen.<br />
Dann setzte sich der Zug wieder in Bewegung. Langsam und schnaufend gewann er<br />
Höhe längs der schneebedeckten Berghänge bis er am Brenner, der voll von Soldaten und<br />
Militärfahrzeugen war, wieder kurz anhielt. Dann ging die Fahrt weiter, hinunter nach<br />
Franzensfeste, Brixen, Bozen, wo der Zug mitten in der Nacht vorbeifuhr, und bei<br />
Tagesanbruch tauchten der Bondone, der Doss Trento und die Umrisse des Chegul auf.<br />
Nach mehr als drei Jahren waren sie wieder am Bahnhof von Trient; sie mussten<br />
umsteigen, um in die Valsugana zu kommen; das war aber keine lange Reise mehr. Einige<br />
Zeit später erreichten sie Villazzano und dann tauchte der Bahnhof von Povo auf. Sie<br />
waren ausgestiegen und hatten auch ihr ganzes, nicht leicht zu transportierendes Gepäck<br />
abgeladen. Wie sollten sie jetzt nach Oltrecastello kommen? Während sie verzweifelt nach<br />
einer Lösung suchten, erblickte Maria einen von zwei Pferden gezogenen Wagen, der<br />
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nicht weit entfernt vor den niedergelassenen Schranken eines Bahnübergangs angehalten<br />
hatte. Sie befahl Giuseppe sofort zum Wagenlenker zu laufen, bevor die Schranken<br />
hochgezogen würden, und ihn zu fragen, ob er sie bis Povo führen könne.<br />
Giuseppe lief und erreichte den Wagen kurz bevor die Pferde loszogen. „ Verzeihung!“ Da<br />
hielt er inne. „ Aber seid ihr nicht Giovanni von Oltrecastello,…… wir sind gerade erst aus<br />
Mähren zurückgekommen und sind voller Gepäck, könntet Ihr uns nicht bis ins Dorf<br />
bringen?“ „ Gut, aber sag mir zuerst, wessen Sohn du bist und wo du wohnst!“ „ Ich bin<br />
Giuseppe, der Sohn von Desiderio Bonvecchio und Maria aus Oltrecastello.“ „ Was“<br />
meinte der alte Bauer „ Desiderio! Desiderio ist zurückgekehrt! Steig auf wir holen ihn! Und<br />
du bist Giuseppe, ich hätte dich nicht wiedererkannt. Ja, es ist viel Zeit vergangen, seit du<br />
mir damals die Kirschen gestohlen hast.“<br />
Giovanni umarmte Desiderio und Maria und half ihnen, die Koffer und die anderen<br />
Sachen aufzuladen, dann sprangen sie alle auf den Wagen und es ging los. Desiderio und<br />
Maria erkundigten sich nach dem Zustand ihres Hauses. „ Es steht noch. Ihr könnt<br />
beruhigt sein; ich glaube, es ist noch in gutem Zustand, obwohl die am Celva stationierten<br />
Soldaten euer Haus aufgesucht haben.“<br />
Während der zügig vorangehenden Fahrt wurde Desiderio neugierig. „ Giovanni, bist du<br />
im Krieg reich geworden? Wo hast du diese zwei schönen Reitpferde gekauft?“ „ Du fragst<br />
wohl zum Scherz so? Das sind Pferde, die irgendwo auf den Feldern zurückgelassen<br />
wurden; du brauchst sie nur einzufangen und nach Hause in den Stall zu führen, bevor die<br />
italienischen Soldaten kommen. Übrigens, wenn du magst, helf ich dir morgen, einige für<br />
dich einzufangen. Du kannst sie jetzt, wo du von vorne beginnen musst, gut gebrauchen.“<br />
Beim Hinauffahren erkannte die Familie Bonvecchio den Weg, der zu ihrem Haus führte.<br />
Aufgeregt betrachteten sie die Häuser inmitten der nachlässig bewirtschafteten Felder und<br />
die Umrisse des näherrückenden Chegul. Hie und da sah man Pferde, die nach einem<br />
schneefreien Fleckchen Gras suchten. Das österreichische Heer hatte alles seinem<br />
Schicksal überlassen und die Italiener hatten noch nicht die Kontrolle der Lage<br />
übernommen. Daraus war eine fast anarchistische Unordnung entstanden, die von den<br />
Trentinern als „ rebaltòn“ ( Umsturz) bezeichnet wurde.<br />
Als sie oben im Dorf ankamen, entdeckten sie, dass sie unter den ersten zurückgekehrten<br />
Familien waren. Die Leute, die sie auf der Strasse antrafen, grüßten sie und fragten sie<br />
aber gleichzeitig, ob sie etwas von ihren Angehörigen oder Freunden wüssten.<br />
Nachdem sie den Hang der „Valoni“ hinaufgefahren waren, konnten sie aus der Ferne<br />
Povo betrachten und dieser Anblick beeindruckte sie zutiefst. Der Wagen fuhr hinter dem<br />
Doss Sant Agata vorbei in Richtung Oltrecastello. Dann erschien die Kirche des Heiligen<br />
Pantaleo und schließlich waren sie am Dorfplatz.<br />
Sie stiegen ab, dankten und zu ihrem Erstaunen kam ihnen ein Mädchen entgegen, das<br />
sie sofort wiedererkannten: Giuseppina Bonvecchio, die in einem Dorf in der Nähe von<br />
Urbau wohnte. „ Seid ihr auch zurückgekommen !“ sagte das Mädchen, um ins<br />
Gespräch zu kommen. „ Wir sind seit drei Tagen hier. Unsere Herrschaften in Znaim<br />
waren sehr zuvorkommend. Denkt euch, sie haben uns zwei Ziegen geschenkt, die wir mit<br />
nach Hause gebracht haben.“ „ Das freut uns für euch! Bring deiner Mutter und Luigi<br />
unsere Grüße.“ sagte Desiderio kurz angebunden, denn er konnte es nicht mehr<br />
erwarten, sein Haus zu sehen und wieder in Besitz zu nehmen.<br />
Es waren nur noch wenige Schritte bis zum Haus und dann standen sie davor. Der<br />
schneebedeckte Vorplatz war voller Gestrüpp, die Haustür war aus den Angeln gehoben<br />
worden. Sie schoben die Tür ganz auf: Jetzt erschien ihnen das ganze Ausmaß der<br />
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Verheerung: Möbel und Böden waren beschädigt, überall haufenweise Schmutz. Sie<br />
brachten das Gepäck ins Haus und setzten sich auf die Bänke rund um den offenen<br />
Kamin. Desiderio und Giuseppe sammelten ein paar Holzscheite, Bretter, einen<br />
durchgesessenen Stuhl und machten Feuer. „ So „ sagte Desiderio und setzte sich mit<br />
seiner Familie zum Feuer, das kräftig zu brennen begonnen hatte „mit Gottes Hilfe haben<br />
wir es geschafft. Wir sind wieder zu Hause, und hier werden wir auch bleiben, das ist das<br />
einzig Wichtige. Jetzt versuchen wir uns einzurichten, um die Nacht zu verbringen. Morgen<br />
fangen wir von neuem an. Ein Stück unseres Lebens ist zu Ende; die Welt, die wir<br />
kannten, ist untergegangen. Wir aber leben und halten zusammen. Die Zukunft beginnt<br />
morgen.“<br />
ENDE<br />
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ABSCHLUSS<br />
Der Roman handelt von Erlebnissen von Flüchtigen in Mähren und Soldaten aus Trient in<br />
österreichischer Uniform und erzählt von ihnen und ihre Verwandten.<br />
Hier sind drei der bedeutungsvollsten Aussagen von Überlebenden mit positiven und<br />
negativen Erfahrungen und die von anderen Flüchtigen und Maehrer.<br />
Von 25. bis 28. Mai 1915 mussten alle Dörfer in unmittelbarer Gefahr geräumt werden. Die<br />
1600 Bewohner von Povo und Villazzano wurden in verschiedenen Zonen des Gebietes<br />
Znaim aufgeteilt.<br />
Anhand von Zeugenaussagen wissen wir, dass die Trentiner sich in die Lokalgesellschaft<br />
gut integrierten, obwohl die Meisten nur Deutsch oder Tschechisch sprachen. Sie wurden<br />
von der Bevölkerung wenigstens für die ersten zwei Jahre solidarisch und freundlich<br />
behandelt.<br />
Gegen Kriegsende verschlechterte sich die Situation, weil die Trentiner immer mehr als<br />
Italiener, d.h. wie Feinde, angesehen waren.<br />
Trentiner und Maehrer arbeiteten zusammen das Land für die Grundbesitzer. Sie<br />
tauschten ihre Arbeitskraft mit Nahrung, Kornen, Eier, usw. so konnten sie Geld sparen.<br />
Sie bekamen Staatunterstützung von der Regierung, bzw. ungefähr 90 Pfennig von<br />
Krönen am Tag pro Person( Maismehl kostete 50 Pfennig pro Kilo, Milch 24 Pfennig pro<br />
Liter, ein Ei 10 Pfennig) Viele Familien benutzten ihre Ersparnisse als sie wieder nach<br />
Italien fuhren.<br />
Die Zeugenaussagen wurden von Kindern und Jungen der Zeit erzählt. Sie stimmen mit<br />
denen ihre Eltern ueberein.<br />
GIUSEPPE PEGORETTI, DER SOGENANNTE“ COMPARISTA „ 1900 GEBOREN UND<br />
VOR EINIGEN JAHREN GESTORBEN. ER HATTE EIN TOLLES GEDÄCHTNIS UND<br />
SEINE BEZEUGUNG IST DIE HAUPTINSPIRATION DES BUCHES<br />
„ Es war Mai 1915 und ich war 15 Jahre alt. Im Wirtshaus „Doro“ in Oltrecastello(ein<br />
Ortsteil von Povo bei Trient) richteten die Stellvertreter der Stadtverwaltung den Leuten<br />
aus, dass es sehr viele Probleme bei der Ankunft der Italiener durch Valsorda, Valsugana<br />
und Cimirlo bestanden hätten. Das waren die drei Zugangswege um Trient von Venetien<br />
erreichen zu können. Die Familien ohne Lebensmittelvorräte hätten verhungern können,<br />
beziehungsweise die Familien deren Männer an der Front waren. Auf jeden Fall war Trient<br />
die Letzte Stadt, um die Feinde aufzuhalten.<br />
69
Ich musste mit meiner Mutter und meinen zwei jüngeren Schwestern wegfahren. In Trient<br />
stiegen wir auf dem Viehwagen ein. Bevor wir wegfuhren, pflückte ich Pfirsiche im Feld wo<br />
wir Halbpächter waren. Die Reise dauerte 3 Tage und im Zug waren eine Menge Leute<br />
aus allen Dörfern.<br />
Wir erreichten Znaimer Bahnhof um Mitternacht und vor dem Bahnhof warteten<br />
Pferdewagen auf uns. Wir fuhren ans Ufer der Flüsse “Taiaz “, dann nach Mustaiaz und<br />
Kalendorf. In diesen Dörfern wohnten bloß Deutsche, die sich mit den Tschechen nicht<br />
vermischen wollten( das habe ich natürlich später erfahren)<br />
Am folgenden Tag kam ein Gendarm und besorgte mir eine Arbeit auf einem Bauernhof.<br />
In der Zone wurden Häuser in deutschem Stil aufgebaut, weil die Deutschen die Zonen<br />
wegen dem Anschluss besiedelt hatten.<br />
Ich arbeitete auf der Farm, konnte aber am Anfang ich nichts verstehen. Das erste Wort,<br />
das der Farmer zu mir sagte, war“ Miskopel “, das heißt den Stall aufräumen und den<br />
Tiermist wegschmeißen. Da waren drei Pferde zehn Kühe, ein Stier, Schweine, Hühner<br />
und Gänse. Die Farmer haben mir beigebracht, wie man Pferde bürstet. Das musste ich<br />
jeden Tag machen und danach schaute sich der Farmer meine Arbeit an. Da war auch<br />
eine Stute und wenn sie ein Fohlen gebar, wurde er oft verkauft. Das waren Saumpferde<br />
aber ich liebte es sie ab und zu in der riesigen Ebene zu reiten. Ein Böhme hat mir auch<br />
beigebracht wie man die Wiese mit der Sichel abschneidet. Wir hatten eine Sichel ohne<br />
Hinterhandgriff (anstatt wie die in Italien. Ich habe den ganzen Sommer die Wiese<br />
abgeschnitten und sie in den Stall gebracht. ; ich erinnere mich an riesige Wiesen,<br />
meistens aus Saatluzerne.<br />
Auf dem Land pflanzte man vor allem Weizen, Kartoffeln, Mais und Runkelrübe als<br />
Viehfutter für Kühen und Heu und Hafer für Pferde an. Jede Familie hatte eine Sau und<br />
wenn sie wenigstens zwoelf Schweine gebar, wurde einer von denen am Ende des<br />
Monats umgebracht.<br />
Es waren viele Weinrebe, sie waren klein aber hatten große schwarze Trauben. Die Keller<br />
sind in den Hügeln eingegraben worden, deswegen musste man durch eine kleine Tür<br />
ungefähr 15 Meter unterkommen. Da waren viele Keller von verschiedenen Besitzern. Die<br />
Gewölbe waren aus Ziegel. Die Keller wurden dank der Finanzierung der Regierung<br />
aufgebaut.<br />
Auf dem Land schmeckte das Essen sehr gut und war reichlich. Ich durfte mit den<br />
Besitzern essen. Der Landwirtschaftbetrieb erzeugte 300 Doppelzentner Weizen und 300<br />
Doppelzentner Gerste. An dem Betrieb arbeiteten ein böhmisches Ehepaar ohne Kinder<br />
und sie waren arm gehalten.<br />
70
Ich erinnere mich an die Hasenjagd. Man umzingelte eine bestimmte Zone und drängte<br />
Hunderte Hase allmählich sich um. Die meisten Hasen wurden der Regierung für den<br />
Unterhalt der Soldaten an der Front gegeben. Man jagte Füchse auch, damit sie nicht alle<br />
Hasen aßen. Jedes Haus hatte viele Huener und Gänse und einen Pferch für Schweine.<br />
Es waren Teiche und in jedem Hof gab es eine Wasserpumpe. Alle hatten mich lieb; bald<br />
lernte ich Deutsch und ich konnte es gut reden. Ich schlief in der Farm und arbeitete sehr<br />
viel, so hatte ich keine Zeit, um was anderes zu unternehmen. Einmal ging ich nach Znaim<br />
und habe eine Uhr für mich gekauft. In der Stadt sprachen die Leute Italienisch auch. In<br />
meinem Betrieb war kein Landsmann, sie waren in Urbau (heutzutage Vrbovec).<br />
Deutsche wohnten mit Tscheche nicht und sie durften miteinander nicht heiraten.<br />
Die Kirche lag auf einem Hügel und der Gottesdienst wurde immer auf Deutsch<br />
abgehalten. Man sang immer die österreichische Hymne, das kann ich teils immer noch.<br />
Der Priester war evangelisch und hatte eine Frau und Kinder.<br />
Ich erinnere mich an unendliche Ebenen. Die Sonne ging direkt von dem Land auf und<br />
schaute wie eine riesige glühende Kugel aus.<br />
Einmal fuhr ich mit einem Wagen, um Rüben zu laden. Der Wagen wurde von einem<br />
dreijährigen Pferde gezogen. Ich war mit der Tochter und dem Sohn des Besitzers. Der<br />
Sohn war ein Jahr jünger als ich und wir waren alle drei barfuss, wie im Sommer. Das war<br />
kein Problem, weil das Land in Mähren schwarz, fruchtbar und ohne Steine ist. Als ich den<br />
Wagen mit den Rüben auflud, ist das Pferd scheu geworden und ist mit den anderen zwei<br />
weggelaufen. Ich habe ihm gefolgt, habe die Zügel gegriffen. Ich habe mit meiner ganzen<br />
Kraft gezogen und er ist gehalten. Als wir zur Farm zurückkamen, hat der Besitzer mir auf<br />
die Schulter geklopft und hat zu mir“ brav, brav „ gesagt. Er hat mich gelobt und hat mir<br />
bedanket, weil ich seine Kinder gerettet hatte.<br />
Meine drei Schwestern gingen zur Schule. Im Dezember 1916 hat meine Mutter eine<br />
andere Schwester zur Welt gebracht. Meine Familie bekam die Staatbeihilfe: Klamotten,<br />
Schuhe und manchmal auch was anderes.<br />
Ich blieb in Mähren nur ein Jahr, dann durfte ich nach Hause fahren. Der Rest der Familie<br />
kehrte das selbe Jahr zurück.<br />
Ich habe den Zug bis nach Wien genommen. Hier habe ich den Bus Nummer 5 bis<br />
genommen und am Hauptbahnhof bin ich auf einen Viehwagen eingestiegen. Da war auch<br />
eine Frau aus Villazzano( bei Trient) mit einem Kind. Es hat viel geweint und während der<br />
Reise ist er gestorben. Die Frau war verzweifelt, weil das nicht sein Kind war, sondern der<br />
Sohn seiner Schwester.<br />
Ich vermisste mein Gebirge. In Mähren waren auch nicht so viele Bäume, nur ein paar<br />
Nussbäume und Kirschbäume.<br />
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Österreicher glaubten, dass Italiener bald die Front an der Marzola überwunden hätten<br />
( Marzola ist ein Gebirge Ost von Trient) , so hätten die Soldaten Trient durch Povo<br />
erreichtet. Das geschah nicht, weil die Soldaten die Verteidigung nicht überstiegen. Als die<br />
Stadt außer Gefahr war, durften die Flüchtigen zurückkehren. Am Anfang( 1916) durften<br />
nur die Bauern zurueck.<br />
Ich erinnere mich sehr gut, als Cesare Battisti festgenommen wurde. Ich ging in die Stadt<br />
und sah ihn auf einen Wagen. Er fuhr durch die Stadt und die Leute ohrfeigte ihn und<br />
spuckte auf ihn. Die Trentiner stimmten mit den Österreichern überein, nur die reichen<br />
wollten zu Italien gehören. Ich erinnere mich an den Graf, der unser Hausbesitzer war.<br />
Weder er noch sein Sohn gingen in den Krieg, obwohl sein Sohn genau so alt war wie ich.<br />
Ich durfte nicht kämpfen, weil ich viel zu dünn und nur ein 1,63 Meter war. Die anderen<br />
Jungen fuhren zum Balkan, in Serbien und 1918 kam fast keiner zurück. Die Leute wollte<br />
nicht zu Italien gehören, weil es da mehr Armut war. Vor dem Krieg kamen Jungen und<br />
Mädchen sogar aus Belluno, um den Acker für ein bisschen Essen zu bestellen. Die<br />
Gendarmen sagten: “ Geht weg, jetzt beschäftigen wir uns mit dem „ dann haben sie ihn<br />
aufgehangt und Battisti schrie:“ Es lebe Italien! „ Der Gendarm hat ihn einen heftigen<br />
Stoss gegeben und hat gesagt:“ Hier ist Italien nicht „ man sagt, dass die Schnurr während<br />
Exekution sich brach aber das stimmt nicht. Ich glaube, sie war aus Stahl.<br />
In Povo gab es weder einen Bombenangriff noch Kampfhandlungen. Nur einmal flog ein<br />
Flugzeug vom Berg“ Chegul ( ein Berg über dem Dorf) „ aber es wurde sofort von zwei<br />
österreichischen Jagdflugzeugen aufgehalten. Sie haben es umgegeben und mit<br />
Maschinengewehrfeuer belegt. Das Flugzeug ist auf die Wiese unter Pass“<br />
Cimirlo„ gefallen und ist gebrannt. Ich habe den schwarzen Qualm aufgehen gesehen,<br />
deswegen bin ich barfuss hingelaufen. Ich habe das Flugzeug in Flammen stehen und drei<br />
Leichname noch am Stellwerk gesehen.<br />
GIUSEPPINA TONEZZER WITWE BROLL, 1905 IN VILLAZZANO (BEI TRIENT)<br />
GEBOREN<br />
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“Ich wurde mit meiner Familie nach Mähren wegen Unterhaltsmangel geschickt. Meine<br />
Familie bestand aus Vater, Mutter, 7 Sohne und 3 Schwestern aber 2 Brüder waren an der<br />
Front. Wir hatten eine gute Reise im angenehmen Wagen. Wir sind 3 Tage und 3 Nächte<br />
gereist. Im Zug haben wir Nahrung und Getränke bekommen, Würstel und Tee. Vom<br />
Znaimer Hauptbahnhof nach Grossolkovietz sind wir im Pferdewagen gefahren.<br />
Das Haus war niedrig und das Dach war aus Stroh. Es war nur ein Raum im Erdgeschoss.<br />
Das Bett war ein großer Tisch, der mit Stroh bedeckt war. Wir schliefen da alle zusammen.<br />
Die Küche bestand aus einem großen Loch am Dach und einem offenen Herd, der auch<br />
die einzige Erwärmung war. Auf jeden Fall hätten wir so was in der Art auch bei uns in<br />
Villazzano.<br />
Meine Geschwister und ich gingen zur Schule. Mein älterer Bruder und mein Vater<br />
arbeiteten als Maurer und reparierten Herde und anderes. Dafür bekamen sie<br />
Nahrungsmittel als Milcheimer, Speckstücke und viel anderes. Die Leute behandelten sie<br />
sehr gut, besonders mein Bruder, der nicht mehr nach Hause mitkommen wollte.<br />
In der schule lernten wir Deutsch und ich konnte es gut reden. Ich saß in der ersten Reihe.<br />
Der Lehrer war ein evangelischer Priester, der auch den Acker bestellte. Er war ziemlich<br />
streng aber recht. Er brachte ein Paar katholische Religionslehrer aus Bozen, weil er<br />
Italienisch lernen und ihnen Deutsch beibringen wollte.<br />
Im Januar 1916 wurde meine Mutter in einem Hotel 100 km entfernt aufgenommen, weil<br />
sie ein Kind zur Welt bringen sollte. Als eine andere Schwester geboren wurde, sagte<br />
mein Vater: “Noch eins und dann haben wir die 12 Aposteln. Meine ältere Schwester blieb<br />
mit meinen Eltern im Hotel. Um sich um das Kinz zu sorgen. Die Nachbarn haben uns<br />
viele Kinderkleider, Windeln usw. geschenkt und dann hat sie meine Mutter den Kindern<br />
seiner Schwester in Villazzano gegeben.<br />
Ich erinnere mich an riesige Mohnkultur. Unsere Hausbesitzer waren drei und keiner von<br />
ihnen war verheiratet. Sie waren ein Bruder und 2 Schwestern. Am Sonntag brachten sie<br />
uns Brötchen mit Mohrsamen darauf.<br />
Bei und war kein Landsmann aus Villazzano, obwohl andere Trentiner in der Zone waren.<br />
Ich erinnere an einen unangenehmen Zwischenfall, der meiner älteren Schwester<br />
passierte. Während sie meiner Mutter beim Brokkolikochen in der Küche half, ergoss sie<br />
den Topf auf sie. Sie hat sich den Arm verbrannt und als sie die Kleidung sich ausgezogen<br />
hat, kam ihre ganze Haut bis zu den Fingern los. Wir sind nach Znaim gefahren und haben<br />
eine Puppe gekauft, um sie zu trösten. Alle zwei Tage musste sie nach Proznaitz fahren,<br />
um den Öl gegen Verbrühung zu bekommen.<br />
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1918 durfte mein Vater im Frühling zurückkehren, durch das Zutun von seinem Bruder, der<br />
inzwischen der Buergermeister von Villazzano geworden war. Wir fuhren nach Hause im<br />
Herbst vor dem Kriegsende.<br />
In Italien war das Leben sehr streng. Wir verhungerten und haben Mähren nachtrauert. In<br />
Mähren hatten wir 5-6 Liter Milch pro 5 Tag und jetzt bloß eins. Wir hatten keine Klamotten<br />
und der Winter war an der Tür. Meine Mutter weinte sehr oft.<br />
VICENTINI LIDIA, 1905 IN POVO GEBOREN<br />
Ich bin mit meiner Mutter, meiner Schwester und meinem Bruder im März 1915<br />
abgefahren. Wir sind 3 Tage in einem Güterwagen gereist und es war sehr unangenehm.<br />
Vom Znaimer Hauptbahnhof sind wir nach Zulp gefahren. Ich erinnere mich an einen<br />
langen Platz, der von Häusern umgegeben war. In der Mittel war eine Senkung, in der<br />
immer Gänse waren. Am Ende des Platzes war die Strasse die zur Mühle brachte.<br />
Alle Häuser waren niedrig aber der Stock war erhöht. Das einzige Gebäude mit zwei<br />
Stockwerke war das Rathaus, in den durch zwei Stufen eintreten sollte. Ich erinnere mich,<br />
dass einmal meine Schwester zum Rathaus gegangen ist um nach Informationen zu<br />
fragen. Sie war die einzige, die Deutsch konnte. Sie hatte ein starkes Fieber und sie ist auf<br />
den Steinboden Ohnmacht gefallen.<br />
Wir hatten ein kleines Haus und die Nachbarn brachten uns etwas zu essen.<br />
Das erste Jahr ging gut. Meine Mutter reparierte Säcke aus Iute, um etwas zu verdienen.<br />
Da waren riesige Kartoffelacker.<br />
Im Haus war nur ein großer Raum mit 2 Fenstern und einem großen Bett. Ich erinnere<br />
mich, dass meine Mutter mich aufheben sollte, weil das Bett zu hoch war. In der Ecke war<br />
ein Ofen, so etwas wie die für die Röstkastanien.<br />
Im Winter gingen meine Schwester und ich trockenes Brennholz suchen. Einmal gab der<br />
Ackerbesitzer mainer Schwester einen Peitschenschlag und sie litt viel darunter. Am Ende<br />
der Strasse bei der Mühle lag die deutsche Schule. Ich besuchte sie für drei Monate, dann<br />
wollte ich nicht mehr hingehen. Der Lehrer hatte naehmlich einen Schuler mit der Peitsche<br />
so lange geschlagen, bis der Junge Wunden auf dem Hintern hatte. Und das hatte mich<br />
sehr erschreckt. Der Lehrer hatte einen langen Bart und eine Kette auf der Weste.<br />
Am Ende des Platzes war eine Kreuzung. Eine Strasse fuehrte nach Znaim und die<br />
andere nach Joslovitz und weiter vorne erreichte man den Fluss Taiaz. Der Fluss war groß<br />
und der Strom war nur in der Mitte. Nach der Mühle war ein Strand.<br />
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Einmal waren meine Schwester und ich am Fluss. Ein fünfjähriger Junge mit einem<br />
umgekehrten Hut ist zu uns gekommen. Er hat mich genommen und hat meinen Kopf<br />
unter das Wasser gehalten. Er hätte mich ertränkt, wenn meine Schwester mir nicht<br />
geholfen hätte.<br />
Mein Bruder Livio wurde 1900 geboren und arbeitete für das Rathaus als Gemeindediener<br />
für Flüchtige weil er Deutsch sprechen konnte. Die Flüchtigen mussten 10 Pfennig<br />
bezahlen, wenn mein Bruder sie aufnahm.<br />
Eine Frau aus Povo hat alle flüchtigen Frauen versammelt und sie sind zum<br />
Buergermeister gegangen. Sie hätten die 10 Pfennig nicht mehr bezahlt, wenn der Diener<br />
die Beihilfe immer noch bekommen hätte. Deswegen wurde die Beihilfe gekürzt und meine<br />
Mutter war sehr verzweifelt. Meine Mutter ging zu der Frau aus Povo und sagte :“ Du hast<br />
meinen Kindern das Brot aus der Mund weggenommen und das wirst du mir büßen<br />
müssen. Ich wünsche dir, dass du morsch wie ein Pilz stirbst! „ Nach vielen Jahren ist die<br />
Frau an Tuberkulose gestorben.<br />
Als wir endlich nach Italien zurückkehren durften, haben wir den Zug nach Wien<br />
genommen. Meine Schwester hatte noch ein hohes Fieber und wir waren an einem<br />
großen Bahnhof mit einer Menge Leute. Der Zug war weitentfernt am letzten Gleis. Wir<br />
gingen schnell aber meine Schwester konnte nicht laufen. Meine Mutter hat den Koffer in<br />
den Zug gebracht und liess mich darauf sitzen. Dann ist sie zurückgegangen, um meine<br />
Schwester zu holen. Aber der Zug ist inzwischen abgefahren und am Fenster konnte ich<br />
meine Mutter sehen, die sie sich immer mehr entfernte.<br />
Meine Mutter war verzweifelt. Ihr Sohn musste in Mähren bleiben. Ihre jüngere Tochter<br />
war ganz allein im Zug und sie war mit der anderen kranken Tochter am Bahnhof, wo<br />
keiner in der Stadt Italienisch verstand. Der Zufall half ihr. Ihr ging ein Unteroffizier vorbei,<br />
den sie kannte. Das war Pietro Merz, ihr Landsmann aus Povo. Sie erzählte ihm, was<br />
passiert war und er brachte sie zu einem Offizier, der sie beruhigte.<br />
Sie durften in einen Militärzug einsteigen, der auch in Trient hielt. Sie sind 3 Stunden<br />
später als ich abgefahren und sind 3 Stunden vor mir angekommen. Als ich zu Hause<br />
ankam, war meine Schwester schon im Bett. Ich erinnere mich, als ich am Bahnhof in<br />
Povo mit meinem Koffer ausgestiegen bin. Es war schon dunkel und ich war noch nicht 9<br />
Jahre alt. Eine junge und große Frau ist zu mir gekommen und später habe ich erfahren,<br />
dass sie eine Nichte meines Vaters war. Bei ihr war ein großer Mann, der weiße Haare<br />
hatte. Das war mein Vater, der mich nach so viel Zeit und so viele Abenteuer sofort<br />
umarmte.<br />
Übersetzung von Martina Bridi<br />
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Bild S. 94 : Propagandapostkarten 1915-1918<br />
Bild S. 97 : Der Stephansdom in Wien-1918 ( Archiv der Bibliothek von Povo )<br />
Bild S. 101 : Der Bahnhof von Trien zu Beginn des Vorigen Jahrhunderts (Archiv<br />
Arci/Paho)<br />
Bild S. 103 oben : Der Dorfplatz von Povo-1918(Archiv Arci/Paho)<br />
Bild S. 103 unten : Gemälde, das die Feier der Annexion des Trentino an Italien darstellt-<br />
1918 (Historisches Museum/Museum des Risorgimento Trient)<br />
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HAUPTPERSONEN<br />
DESIDERIO BONVECCHIO<br />
Maurer aus Oltrecastello bei Povo<br />
MARIA BONVECCHIO<br />
Ehefrau von Desiderio<br />
MARIA TERESA BONVECCHIO<br />
Tochter von Desiderio<br />
FRANCESCO BONVECCHIO<br />
Sohn von Desiderio<br />
GIUSEPPE BONVECCHIO<br />
Sohn von Desiderio<br />
JOSEPH HUBER<br />
Verlobter von MariaTeresa<br />
KAROLINE SCHNEIDER<br />
Verlobte von Giuseppe<br />
BIBLIOGRAPHIE<br />
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