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DER LUZERNER UNTERGRUND 1850-1920 - Terminus Textkorrektur

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LUZERN, FRÜHLING 1994<br />

<strong>DER</strong> <strong>LUZERNER</strong> <strong>UNTERGRUND</strong> <strong>1850</strong>-<strong>1920</strong><br />

ASPEKTE DES WANDELS EINES UNTERSCHICHTQUARTIERS<br />

ANDREAS VON MOOS LIZENTIATSARBEIT BEI<br />

MAIHOFMATTE 13 PROF. DR. B. FRITZSCHE<br />

6006 LUZERN HISTORISCHES SEMINAR<br />

<strong>DER</strong> UNIVERSITÄT ZÜRICH<br />

1


INHALTSVERZEICHNIS<br />

Einleitung 4<br />

Teil I: Struktureller Wandel 6<br />

1. Bevölkerungsentwicklung und -struktur <strong>1850</strong>-<strong>1920</strong> 6<br />

2. Siedlungsgeschichtlicher Abriss 11<br />

3. Wohnverhältnisse 14<br />

4. Wandel der Erwerbsstruktur 20<br />

4.1. Die Entwicklung der Wirtschaftssektoren 20<br />

4.2. Dienstleistungsstruktur und selbständige Erwerbstätigkeit 27<br />

Exkurs 1: Zur Verschärfung der Klassenlage am Beispiel der Aufzüge- und<br />

Maschinenfabrik Schindler und der Gewerkschaftsbewegung 30<br />

5. Veränderung der sozialen Schichtung 38<br />

5.1. Die Steuerregister als Quellen 38<br />

5.2. Soziale Segregation im städtischen Rahmen 40<br />

5.3. Quartierinterne Disparitäten 43<br />

Teil II: Politische und soziokulturelle Implikationen des<br />

gesellschaftlichen Wandels seit der Jahrhundertwende 52<br />

6. Politische Veränderungen 52<br />

6.1. Wandel der Parteienlandschaft und der politischen Agitation 52<br />

6.2. Sozialstruktur der Luzerner SP 58<br />

6.3. Politischer Kurs der Luzerner SP 60<br />

6.4. Radikale Strömungen in der Arbeiterbewegung<br />

62<br />

6.5. Stimmverhalten 69<br />

7. Der Untergrund im Spannungsfeld von Religion<br />

und Arbeiterbewegung 71<br />

7.1. Seelsorge als soziales Ordnungsinstrument 71<br />

7.2. Laizistisch-städtische Alltagskultur versus<br />

katholischer Antimodernismus 74<br />

7.3. Die Haltung der freien Arbeiterbewegung zu<br />

Religionsunterricht und Kirche 78<br />

8. Strukturelle Diskriminierung des Untergrunds<br />

im Bildungsbereich 81<br />

2


9. Vereinswesen 83<br />

9.1. Strukturmerkmale 83<br />

9.2. Der Quartierverein Bernstrasse: Guter Quartiergeist<br />

oder Interessenlobby? 85<br />

Exkurs 2: Katholische Konkurrenzorganisationen<br />

im Kampf mit der freien Arbeiterbewegung 89<br />

Schlusswort 97<br />

Abkürzungsverzeichnis 99<br />

Quellen- und Literaturverzeichnis 100<br />

Verzeichnis der Tabellen, Grafiken, Karten,<br />

Abbildungen und Anhänge 107<br />

Personenregister 110<br />

3


EINLEITUNG<br />

In der vorliegenden Arbeit skizziere ich Aspekte des Wandels des Luzerner<br />

Untergrundquartiers in einer Zeit beschleunigten gesellschaftlichen Umbruchs (<strong>1850</strong>-<strong>1920</strong>).<br />

Auf das Thema stiess ich nicht unvermittelt. Zu Beginn befasste ich mich mit dem politischen<br />

Kurs der Luzerner Arbeiterbewegung im Umfeld des Landes-Generalstreiks. Als sich aber die<br />

Quellenlage als zu wenig kohärent herausstellte (v.a. im Bereich SP), erweiterte ich die<br />

Thematik: Eine Milieuschilderung unter Einbezug der katholischen Organisationen mit<br />

spezieller Affinität zur Arbeiterschaft schwebte mir vor. Im Zeitungsarchiv der Luzerner<br />

Zentralbibliothek stiess ich auf das Thema Kirchenbau im Untergrundquartier. Da<br />

verschiedene Aspekte aus dem Bereich Arbeiterbewegung ebenfalls einen spezifischen Bezug<br />

zum Untergrund aufwiesen, drängte sich schliesslich eine vertiefte Beschäftigung mit dem<br />

Quartier auf. Dessen Entwicklung zum Unterschicht- und Arbeiterquartier und Aspekte<br />

struktureller Chancenungleichheit rückten dabei mehr und mehr ins Zentrum der<br />

Fragestellung. Das neue Erkenntnisinteresse erforderte einen zeitlichen Rückgriff bis in die<br />

Mitte des 19. Jh.<br />

Verdichtung der Städte zu Ballungsräumen, soziale Umschichtungen und Konflikte säumten<br />

den industriellen Modernisierungsschub in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die<br />

Komplexität der im städtischen Raum wirkenden Mechanismen hat im Verlaufe des 20. Jh.,<br />

ausgehend von der sozialökologischen "Chicago School of Sociology", eine Vielzahl<br />

städtegeschichtlicher Forschungsansätze hervorgebracht. Fruchtbarer gemeinsamer Nenner ist<br />

der Grundgedanke der Sozialökologie, gewachsene Raumstrukturen als Ergebnis sozialer<br />

Prozesse zu beschreiben, d.h. das soziale Gefälle als räumliche Distanz zu thematisieren.<br />

Die Ausprägung einer schichtenspezifischen Sozialgeographie im 19. Jh. folgte Gunst- und<br />

Ungunstlagen. 1 Diese Regel trifft auch für das in ausgesprochener Schattenlage, auf dem<br />

schmalen Landstreifen zwischen Reuss und Gütschwald, am nordwestlichen Stadtausgang<br />

gelegene Quartier Untergrund zu. Als verfassungsrechtlich diskriminierte Hintersässen-<br />

Vorstadt war das Gebiet zwar bereits in vorindustrieller Zeit gewissermassen sozialräumlich<br />

ausgegrenzt. Die sich in der 2. Hälfte des 19. Jh. - also nach der formalrechtlichen<br />

Gleichstellung - in den grösseren Schweizer Städten ausprägende schichtenspezifische<br />

Sozialgeographie zeichnete aber insofern eine neue Qualität aus, als sie Marktmechanismen<br />

subtilen Prozesscharakters gehorchte. Soziale Segregation, d.h. die Entstehung<br />

schichtenspezifischer Lebensräume mit funktioneller Standortspezialisierung und<br />

Bevölkerungsgruppen mit gemeinsamen Merkmalen, wird nicht geplant, sondern unterliegt<br />

sozioökonomischen Mechanismen. 2 H. Brunner und W. Schüpbach haben in ihren<br />

Dissertationen Aspekte der negativ geprägten sozialökologischen Position des Untergrunds<br />

1 Fritzsche (1985), S. 161.<br />

2 Fritzsche (1985), S. 157.<br />

4


eleuchtet. Brunner bestätigt für Luzern die These, dass sich die soziale Segregation um die<br />

Jahrhundertwende zuspitzte. 3<br />

Im ersten Teil der Arbeit bespreche ich nach einem Abriss der demographischen und<br />

siedlungsgeschichtlichen Entwicklung des Untergrundquartiers den Wandel seiner<br />

Erwerbsstruktur. Ich untersuche die Veränderung der Wirtschaftssektoren, der<br />

Dienstleistungsstruktur und der selbständigen Erwerbstätigkeit. Anhand der Expansion des<br />

bedeutendsten Fabrikbetriebs im Untergrund, der Aufzüge- und Maschinenfabrik Schindler,<br />

und der Anfang 20. Jh. aufkommenden Gewerkschaftsbewegung skizziere ich die soziale<br />

Polarisierung in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jh. Anschliessend analysiere ich die<br />

soziale Schichtung im Untergrund auf Grundlage von Einkommen, Vermögen und Hausbesitz<br />

in Kombination mit der Erwerbstätigkeit. In allen Kapiteln interessierte mich auch die soziale<br />

Homogenität des Quartierraums, der sich in folgende - auch kulturräumlich erfahrene -<br />

Teilräume gliedern lässt: Innere Baselstrasse, Mittlere Baselstrasse, Untere Baselstrasse,<br />

Bernstrasse und Sentimatte (siehe Karten in Anhang 61 und 62).<br />

Im zweiten Teil stehen die politischen und soziokulturellen Auswirkungen des strukturellen<br />

Wandels auf die Lebenswelt der Quartierbevölkerung im Zentrum: auf Politik<br />

(Parteienkonstellation, entstehende Arbeiterbewegung), Seelsorge und Volksreligiosität,<br />

Vereins- und Schulwesen. Werthaltungen von Akteuren und Interessengruppen fliessen so mit<br />

ein, das Quartiermilieu erhält Kontur. Exkurs 2 über katholische (Konkurrenz-<br />

)Organisationen zur freien Arbeiterbewegung weist im Sinn einer Milieuschilderung<br />

indirekten Quartierbezug auf.<br />

Zentrale Quellen für den ersten Teil waren Volkszählungen, Adressbücher,<br />

Branchenverzeichnisse sowie die städtischen Steuerregister. Quartierspezifisches<br />

Datenmaterial ist für Luzern äusserst spärlich vorhanden. Bereits die exakte Erfassung der<br />

Bevölkerungszahl eines Quartiers über Jahrzehnte hinweg bietet aufgrund unterschiedlicher<br />

Zähleinheiten (Problem der sich überlappenden Quartiereinteilungen) Schwierigkeiten.<br />

Lediglich die ab 1891 vorliegenden städtischen Steuerregister erlauben eine diachrone,<br />

kleinräumig-vergleichende Auswertung. Ein eigentliches Sozialprofil kann für den<br />

Untergrund mangels sozialstatistischer Quellen nicht entworfen werden. 4<br />

Der zweite Teil stützt sich auf Quellen aus den verschiedensten Archiven. Ich fand einige<br />

wenige schriftliche Zeugnisse der unterprivilegierten Arbeiterbevölkerung des Untergrunds.<br />

Interessante Einblicke in das Quartierleben verdanke ich den Gesprächen mit Jacob Scherrer<br />

(Jahrgang 1907), der als Jugendlicher und Erwachsener an der Basel- und Bernstrasse lebte.<br />

Verwiesen sei noch auf die vom Quartierverein "Wächter am Gütsch" (Baselstrasse)<br />

herausgegebene Quartiergeschichte "Vom Gütsch zur Reuss": Sie zeichnet ein pittoreskes,<br />

3 Brunner (1981), S. 17-35. Schüpbach (1983).<br />

4 Ein quartierspezifisches Sozialprofil Oltens findet sich bei Nützi (1991), S. 81ff. Für Zürich bei Fritzsche<br />

(1981), S. 94ff. und 109-113. Ders. (1985), S. 167-168.<br />

5


anekdotenreiches Quartierportrait, das sich allerdings weitgehend auf die sesshafte<br />

Quartierbevölkerung beschränkt und strukturelle Dimensionen ausser acht lässt.<br />

6


TEIL I: STRUKTURELLER WANDEL<br />

1. Bevölkerungsentwicklung und -struktur <strong>1850</strong>-<strong>1920</strong><br />

Von <strong>1850</strong> bis 1913 vervierfachte sich die Einwohnerzahl Luzerns (<strong>1850</strong>: 10'068 E; 1913:<br />

42'260 E). Die Stadt verzeichnete das stärkste Bevölkerungswachstum aller Gemeinden im<br />

Kanton. Eine ähnliche demographische Entwicklung mit ununterbrochenem Wachstum<br />

wiesen lediglich noch die Agglomerationsgemeinden Kriens, Emmen, Littau sowie Sursee<br />

auf. 5 Zwischen 1890 und 1910 war die Verstädterung besonders massiv: 1888 lebten 15% der<br />

Kantonsbevölkerung in der Stadt, 1910 bereits 23,5%. 1910-<strong>1920</strong> schwächte sich der<br />

Ballungsprozess ab (<strong>1920</strong>: 24,8%; zur städtischen Bevölkerungsentwicklung <strong>1850</strong>-1941 siehe<br />

Anhang 1 und 2).<br />

Anders als für den Kanton bestimmten über weite Strecken die Wanderungen das städtische<br />

Bevölkerungswachstum. 1886-1900 betrug der Wanderungsgewinn 8'934, 1901-1915 noch<br />

5'865 Personen. Seit 1890 war aber auch der Anteil des Geburtenüberschusses an der<br />

Bevölkerungszunahme der Stadt massiv angestiegen und übertraf 1910-1915 den<br />

Wanderungsgewinn sogar. 6 Danach waren die Wanderungen wieder der massgebliche<br />

demographische Faktor. 7 Das höchste Wanderungsvolumen verzeichneten die Jahre 1912 (je<br />

fast 11'500 Zu- und Wegzüge) und <strong>1920</strong> (Zuzug von fast 6'000 Schweizern und<br />

Schweizerinnen, 14'000 Ausländern, Wegzug von knapp über 13'000 Ausländern und über<br />

6'000 Schweizern und Schweizerinnen). 8<br />

Im Zuge des demographischen Wachstumsschubes der Jahrhundertwende veränderte der<br />

Stadtrat dreimal innerhalb von 20 Jahren die städtische Bezirkseinteilung (1890, 1907 und<br />

1910; siehe Seite 7). Angesichts der Bevölkerungsverdichtung drängten sich kleinräumigere<br />

administrative Einheiten auf, wobei die Bezirksgrenzen nicht willkürlich gezogen wurden; so<br />

entsprach z.B. die Grenze zwischen den Bezirken Basel-/Bernstrasse und Gütsch/Gibraltar in<br />

der Quartiereinteilung von 1910 der Grenze zwischen Innerer und Mittlerer Baselstrasse.<br />

5 Gubler (1952), S. 143.<br />

6 Schüpbach (1983), S. 22 und 277.<br />

7 Wyler (1921), S. 52.<br />

8 Trüeb (1992), S. 45 und 48. Schüpbach (1983), S. 86.<br />

7


Tab. 1: Städtische Quartiereinteilungen 1833-1910<br />

1833 1890 1907 1910<br />

I Hof I Hof I Hof I Wesemlin/Halde<br />

II Weggisgasse II Zürichstrasse II Zürichstrasse II Hof/Wey<br />

III Kapellgasse III See III See III Hertensteinstrasse<br />

IV Kornmarkt IV Kapellgasse IV Kapellgasse IV Zürichstrasse/Maihof<br />

V Mühlegasse V Mühlegasse V Mühlegasse V Altstadt<br />

VI Kleinstadt VI Kleinstadt VI Kleinstadt VI Bramberg/St. Karli<br />

VII Obergrund VII Moos VII,1 Moos VII Basel-/Bernstrasse<br />

VIII Untergrund VIII Obergrund VII,2 Moos VIII Gütsch/Gibraltar<br />

IX Bruch VII,3 Moos IX Säli/Bruchmatt<br />

X Untergrund VIII,1 Obergrund X Kleinstadt/Hirschengraben<br />

VIII,2 Obergrund XI Hirschmatt<br />

IX Bruch XII Neustadt<br />

X Untergrund XIII Reckenbühl/Obergrund<br />

XIV Allmend/Kleinmatt<br />

XV Bahnhof/Bundesstrasse<br />

XVI Sternmatt/Tribschen<br />

Quellen: Brunner (1981), S. 17. Adressbücher.<br />

In der Quartiereinteilung von 1833 umschliessen grossflächige, locker besiedelte und zum<br />

Teil agrarisch genutzte Vorstadtbezirke (Hof, Obergrund, Untergrund) den dicht überbauten<br />

Stadtkern. In den Aussenbezirken wohnten bereits mehr Leute als in den zentralen<br />

Stadtbezirken. Der Untergrund umfasste das Bruchquartier im Süden, die St.-Jakobs-Vorstadt<br />

zwischen dem Basler Tor und dem Sentitor (1833 abgebrochen) sowie den nördlichen<br />

Abschnitt der für den Fernverkehr bedeutsamen Baselstrasse bis zur Stadtgrenze (siehe<br />

Stadtplan 1840 in Anhang 57). Mit 2'618 Einwohnern bzw. 22,4% der städtischen<br />

Einwohnerschaft war er 1860 der bevölkerungsreichste Stadtbezirk. 1877 hatten das<br />

aufstrebende Fremdenquartier Hof (4'033 E) und der Obergrund (3'625 E) den Untergrund<br />

(3'249 E) überholt. 9<br />

Die Quartiereinteilung von 1890 grenzte den Untergrund auf das Gebiet nördlich des<br />

Kasernenplatzes, wo die Baselstrasse beginnt, ein. Dieser Abgrenzung entspricht die heutige<br />

Wahrnehmung der Quartiergrenze mit dem Kasernenplatz als markante städtebauliche Zäsur.<br />

Die Einwohnerzahl des mit 1833 vergleichbaren Gebietes - also neu die Bezirke Untergrund<br />

und Bruch zusammen - wuchs 1877-1890 nur um knapp 400 auf 3'643 Einwohner (Bruch<br />

1890: 1'521 E, Untergrund: 2'122 E), was nur noch 17,5% der Stadtbevölkerung entsprach. 10<br />

Bis 1880 hatte die Mehrheit der Luzerner Bevölkerung in der Grossstadt (Stadtteil rechts der<br />

Reuss) gewohnt. Gegen die Jahrhundertwende eröffneten sich durch die Trockenlegung des<br />

9 Schüpbach (1983), S. 66.<br />

10 Vber. StR. 1899, S. 53.<br />

8


sumpfigen Riedlandes zwischen Obergrund und Seeufer sowie durch die Abdrehung des<br />

Bahnhofs, die das Terrain auf der Hirschmatte für die Überbauung freimachte,<br />

Expansionsmöglichkeiten im Süden der Stadt. Die Bevölkerungszahl der Grossstadt wuchs<br />

1860-1890 um 72% (von 6'297 E auf 10'844 E), wobei sich das Wachstum auch auf die<br />

Altstadt, deren Bausubstanz aufgestockt wurde, erstreckte. Die Bevölkerung des linksufrigen<br />

Stadtgebiets ohne die Quartiere Bruch und Untergrund wuchs 1860-1890 mit 129% fast<br />

doppelt so stark (1860: 2'759 E; 1890: 6'319 E). Das schwache Bevölkerungswachstum des<br />

Untergrunds in dieser Zeit war somit für das linke Ufer untypisch. 1880-1910 übertraf die<br />

demographische Wachstumsrate der linken Stadtseite jene der rechten mehrfach. 1910-<strong>1920</strong><br />

stieg in einer Phase reduzierten Wachstums die Bevölkerungszahl auf dem rechten Ufer<br />

erstmals seit 50 Jahren wieder stärker als auf dem linken (siehe Anhang 3).<br />

Die Randbezirke verzeichneten im Wachstumsschub der 90er Jahre bis zum Ersten Weltkrieg<br />

höhere demographische Zuwachsraten als die zentralen Stadtteile: die Bezirke See, Kleinstadt<br />

und Zürichstrasse 20%-30%, das Altstadtquartier Kapellgasse unter 20%, das Gebiet<br />

Untergrund/Bruch sowie das Hofquartier 50%, das Moosquartier fast 100% und der<br />

Obergrund über 100%. 11 1900-1910 entsprach das Wachstum des Untergrunds mit 30% dem<br />

städtischen Durchschnitt. 1900 wohnten etwas mehr als 3'000 Personen im Untergrund, 1910<br />

knapp 4'000 (10% der städtischen Einwohnerschaft). Diese verteilten sich im wesentlichen<br />

auf die Bernstrasse (ca. 40%) und die Baselstrasse (56,5%); nur wenige wohnten auf der<br />

Reussinsel und an der Sagenmattstrasse (zusammen 3,5%). 12<br />

Das Gebiet Untergrund/Bruch war das einzige Stadtgebiet, in dem <strong>1920</strong> weniger Leute<br />

wohnten als 1910 (Rückgang der mit 1910 vergleichbaren Bezirke Bruch und Untergrund von<br />

7'387 E auf 6'738 E). Dieser zur gesamtstädtischen Entwicklung gegenläufige Trend setzte<br />

aber erst gegen Ende des Ersten Weltkrieges ein. 1917-<strong>1920</strong> sank die Bevölkerungszahl des<br />

linken Stadtteils um über 1'000 Personen auf knapp 28'000 E. Der Untergrund war vermutlich<br />

vom hohen demographischen Kriegsgewinn von 3'000 Personen 1917 - üblich war seit der<br />

Jahrhundertwende eine jährliche Zunahme der Stadtbevölkerung zwischen 600 E und 1'600 E<br />

- stark tangiert worden, so dass 1917/1918 wesentlich mehr Leute im Quartier gelebt haben<br />

dürften als <strong>1920</strong>.<br />

1860 waren sieben von zehn Einwohnern des Untergrunds Zuzüger von der Luzerner<br />

Landschaft; jeder neunte stammte aus einem anderen Kanton und nur jeder 25. aus dem<br />

Ausland (gesamtstädtisch jeder 20.). 13 Der Stadtbürgeranteil lag 1860 mit 13,4% bzw. 350<br />

Personen etwas unter dem städtischen Mittel. Die Stadtbürger wohnten in der St.-Jakobs-<br />

Vorstadt und im Bruchgebiet, nördlich des ehemaligen Sentitors waren v.a. Handwerker mit<br />

beschränkten Bürgerrechten ansässig. Gesamtstädtisch sank der Stadtbürgeranteil von 19,1%<br />

11 Schüpbach (1983), S. 108-109. Vber. StR. 1899, S. 53.<br />

12 Die Zahlen beruhen auf einer Hochrechnung der Anzahl Steuerzahler pro Strasse.<br />

13 Schüpbach (1983), S. 94.<br />

9


im Jahr <strong>1850</strong> auf 6,1% 1910. 14 Im Untergrund lag er 1890 (Bezirk X/1890) bei 3,1% bzw. 100<br />

Personen, im Bruch (Bezirk IX/1890) bei 6,5%.<br />

1910 wohnten immer noch überdurchschnittlich viele Leute aus der Luzerner Landschaft im<br />

Untergrund: Das Verhältnis Ortsbürger/Kantonsbürger/Bürger anderer Kantone lag bei<br />

1/32/15, gesamtstädtisch bei 1/7,4/5,7. Den höchsten Ortsbürgeranteil wies das Hofquartier<br />

auf (Verhältnis 1/3/3). Man muss also davon ausgehen, dass ländliche Mentalität den<br />

Erfahrungshorizont der Bevölkerung des Untergrunds bis ins 20. Jh. stark prägte.<br />

Auch der Anteil Protestanten war im Untergrund nur halb so hoch wie im Hof (Hof 1910:<br />

25%; <strong>1920</strong>: 20%). 1910-<strong>1920</strong> verminderte sich die Zahl der Protestanten im Untergrund und<br />

Bruch zusammen um 250, obwohl in der gleichen Zeitspanne ca. 1'800 protestantische<br />

Glaubensangehörige - eine wirtschaftlich dynamische Gruppe - nach Luzern zogen. Sie hatten<br />

einen Anteil von knapp zwei Fünfteln am städtischen Bevölkerungswachstum 1910-<strong>1920</strong>.<br />

Drei Fünftel der Ausländer im Kanton Luzern wohnten im Durchschnitt in der Stadt (zur<br />

Ausländerzahl in der Schweiz, im Kanton Luzern und in der Stadt siehe Anhang 5 und 6).<br />

1880 beherbergte das Gebiet Untergrund/Bruch erst 150 Fremde. In den 90er Jahren setzte ein<br />

massiver Zuzug von Ausländern ein. 1900 lebten allein im Untergrund 600 Fremde, meist<br />

Italiener. 1902 wiesen Untergrund und Bruch zusammen einen Ausländeranteil von knapp<br />

20% auf. 15 1902-1910 erhöhte sich die Zahl der Ausländer von 1'000 auf 1'700. Der<br />

Löwenanteil davon (1'306 Personen) konzentrierte sich an der Basel- und Bernstrasse (im<br />

Bezirk X/1907). 16 1910-<strong>1920</strong> sank die Ausländerzahl im Gebiet Untergrund, Gütsch,<br />

Gibraltar (Bezirke VII und VIII/1910) um 531, was einem Anteil von 42% am<br />

gesamtstädtischen Rückgang entsprach. Im Kernbereich des Untergrunds von der Mittleren<br />

Baselstrasse an nordwärts (Bezirk VII/1910: Basel- und Bernstrasse) wohnten <strong>1920</strong> 3'053<br />

Schweizer und 815 Ausländer, doppelt so viele wie im Gebiet Gütsch/Gibraltar (Bezirk<br />

VIII/1910). An der Bern- und Baselstrasse war 1910 jeder dritte Bewohner ein Fremder (und<br />

zwei von drei Italiener), <strong>1920</strong> noch jeder fünfte. War die Ausländerdichte im Untergrund<br />

gesamtstädtisch 1910 noch mit Abstand am höchsten, übertraf sie <strong>1920</strong> nur noch knapp jene<br />

des Hofquartiers, in welches nach dem Krieg wieder vermehrt ausländisches Hotelpersonal<br />

strömte. Die Wirtschaftskrise Anfang 20er Jahre führte zu einer Rückbildung der<br />

Italienerkolonie im Untergrund. Mitte 1921 wohnten noch 468 Italiener an der Bern- und<br />

Baselstrasse (zur Bevölkerungsstruktur der Quartiere 1910 und <strong>1920</strong> siehe Anhang 4). 17<br />

14 Schüpbach (1983), S. 108-109.<br />

15 GDV, Bd. 7, S. 161.<br />

16 Schüpbach (1983), S. 108-109.<br />

17 Mappe K3F (SAL).<br />

10


2. Siedlungsgeschichtlicher Abriss<br />

Bereits im Mittelalter war im Westen Luzerns, ausserhalb des alten Mauergürtels, eine<br />

Vorstadt entstanden, die sogenannte St.-Jakobs-Vorstadt. Das dort gelegene Siechenhaus zu<br />

St. Jakob - St. Jakob war der Schutzpatron der Pilger -, das als Herberge für durchreisende<br />

Pilger diente, gab ihr den Namen. Die Stadtumwallung wurde erweitert und durch Tore<br />

abgeschlossen (1297 Basler Tor, Ende der 50er Jahre des 19. Jh. beim Kasernenneubau<br />

abgebrochen, sowie Sentitor). So wuchs die Vorstadt zwischen einem innern und einem<br />

äussern Mauergürtel heran (siehe Martini-Plan Anhang 58). Die Bezeichnung "Niederer<br />

Grund" für die Hintersässen-Vorstadt ist schon im 15. Jh. bezeugt. Bis 1840 war der<br />

Scharfrichter auf der unbebauten Sentimatte an der Reuss ansässig, was dem Quartier einen<br />

etwas unheimlichen Charakter verlieh. 1856 brannte das Scharfrichterhaus nieder, worauf die<br />

Sentimatte verkauft wurde. Mit der Entfestigung des linken Ufers in den 50er und v.a. in der<br />

ersten Hälfte der 60er Jahre des 19. Jh. verschwanden die Grenzmarken unterschiedlichen<br />

Rechts. Mit dem Ausgreifen der Bebauung entlang des schmalen Landstreifens nach Norden<br />

verstärkte sich die topographische Isolierung des Untergrunds.<br />

Bereits 1840 säumten Häuser die Baselstrasse entlang der Flanke des Gütschwaldes - eine<br />

ausgesprochene Ungunstlage, ohne Sonnenbescheinung im Dezember und Januar - bis zum<br />

Kreuzstutz. 18 Bis 1890 wurden an der Baselstrasse 51 Neubauten erstellt. Die Bebauung<br />

verdichtete sich, Siedlungslücken wurden aufgefüllt. Im Gegensatz zu den gleichzeitig<br />

entstehenden Wohnquartieren Bruch, Zürichstrasse und Halde wurde im Untergrund bis 1890<br />

aber kaum neues Siedlungsgebiet erschlossen (siehe Anhang 59: neue Siedlungsgebiete 1890<br />

und Anhang 60: Neubauten an der Baselstrasse 1838-1890). Neben alte, kleingewerblichen<br />

Zwecken dienende Biedermeier-Häuschen aus der Regenerationszeit kamen neue<br />

Vorstadthäuser - z.T. Doppelwohnhäuser - zu stehen. 19 Die Durchmischung alter und neuer<br />

Bausubstanz schuf ein uneinheitliches, von Werkstattanbauten und Häusern unterschiedlicher<br />

Geschosshöhe geprägtes, lebendiges Strassenbild. 1897 bestanden im Untergrund 12 Häuser<br />

nur aus Erdgeschoss und Dachräumen. Umgekehrt fehlten die im Stadtzentrum verbreiteten<br />

fünf- und sechsstöckigen Bauten. 20<br />

Die St.-Jakobs-Vorstadt erfuhr im Zuge des liberalen Umschwungs 1832<br />

(Regenerationsregime) gegen die Jahrhundertmitte eine Aufwertung als Wohnstandort.<br />

Einflussreiche liberale Politiker wählten sie als Domizil - ob diese Wahl eine politische Geste<br />

beinhaltete, muss offen bleiben - und liessen sich klassizistische Häuser erbauen. 1861<br />

wohnten dort zwei Regierungsräte, ein Grossrat, zwei Kleinstadträte, vier Grossstadträte und<br />

ein Oberrichter. Das Gebiet Kasernenplatz bot zu einer Zeit, in der die Überbauung der<br />

sonnigen Südhänge mit Villen wegen fehlender Druckwasserversorgung noch nicht eingesetzt<br />

hatte, durchaus Standortvorteile: Zentralität und gewisse Distanz zur dicht überbauten<br />

18 Martin (1951), S. 29.<br />

19 Meyer (1978), S. 421.<br />

20 Pietzcker (1898), S. 63.<br />

11


Altstadt zugleich, Nähe zur für den Handelsverkehr wichtigen Baselstrasse und zur Reuss. Bis<br />

1890 trat im Zuge der Bestückung der St.-Jakobs-Vorstadt mit negativen Landmarken<br />

(Schlachthaus, Strafanstalt, Kaserne, siehe Anhang 60) eine Minderung ihres sozialen<br />

Gepräges ein.<br />

Der Bau des Trassees der Centralbahn 1859-1864 schnitt das 200 Meter schmale Terrain des<br />

Untergrunds der Länge nach entzwei. Hinter der Sentikirche fuhren die Züge in den<br />

Gütschtunnel ein. Im Bereich Mittlere und Untere Baselstrasse und in der Sentimatte stieg die<br />

Emissionsbelastung stark. Da die Direktion der Centralbahn dem Untergrund standhaft eine<br />

Haltestelle verwehrte, blieb eine Aufwertung des Quartiers als Geschäftsstandort aus.<br />

1890 bot Luzern aus der Vogelperspektive noch ein spinnenförmiges Siedlungsbild. Die<br />

Bebauung hatte entlang den Verkehrsachsen ausgegriffen und das dazwischenliegende<br />

Weidland weitgehend unberührt gelassen. Erst zwischen 1890 und <strong>1920</strong> erfasste die<br />

Überbauung die Freiflächen zwischen den Quartieren des linken Ufers. Im Untergrund<br />

wurden in dieser Zeit drei neue Siedlungsräume erschlossen: die Bernstrasse, die Untere<br />

Baselstrasse (vom Kreuzstutz nordwärts bis zur Gemeindegrenze) sowie die Sentimatte (zum<br />

Vergleich des Siedlungsbildes im Untergrund 1890 und 1923 siehe Karten in Anhang 61 und<br />

62).<br />

Mit dem Baugesetz von 1864 und der Bauordnung von 1867 griff der Luzerner Stadtrat<br />

erstmals regulierend in die städtebauliche Entwicklung ein. Spekulationen um den<br />

Bahnhofsstandort hatten in den 60er Jahren die Bauspekulation angeheizt. Die neuen<br />

gesetzlichen Bestimmungen erstreckten sich allerdings nur auf den sogenannten<br />

Stadtbaubezirk. Dieser wurde zwar sukzessive erweitert; die Überbauung der ganzen<br />

Bernstrasse, die erst 1906 in den Stadtbaubezirk integriert wurde, vollzog sich aber ausserhalb<br />

der Bestimmungen des Baugesetzes. 21 In den 90er Jahren, dieser Zeit "etwas üppig<br />

gewordener Bauspekulation", wie die Gesellschaft für Handel und Industrie die Situation auf<br />

dem Immobilienmarkt charakterisierte, entstanden an der Unteren Baselstrasse und an der<br />

Bernstrasse Mietskasernen, in denen sozial Unterprivilegierte, z.T. Italiener, eine Bleibe<br />

fanden. Die Besitzer dieser Häuser wohnten nicht im Quartier. 22 Über zehn Häuser an der<br />

oberen Bernstrasse und an der Unteren Baselstrasse besass allein Leopold Lehmann (siehe<br />

Kap. 5.). 23 Die Bezeichnungen "Oberitalien" für die obere Bernstrasse, "Klein-Chicago" für<br />

die Baselstrasse tauchten damals im populären Sprachgebrauch auf.<br />

In der Sentimatte herrschten monopolartige Besitzverhältnisse. Baumeister Xaver Meyer,<br />

liberales Mitglied des Grossen und zeitweilig des Engern Stadtrates, war seit Mitte 19. Jh.<br />

Alleinbesitzer. Die Reussfähre konnte 1863 nur mit seiner Erlaubnis realisiert werden. In den<br />

60er Jahren begann Meyer mit dem Bau der ersten Doppelwohnhäuser. 24 1890 verfügten vier<br />

Personen über Grundbesitz in der Sentimatte, u.a. Fabrikant Robert Schindler. Zwischen 1890<br />

21 Festschrift des schweizerischen Ingenieur- und Architektenvereins 1893, S. 68-69.<br />

22 Jb. der Gesellschaft für Handel und Industrie in Luzern, 1907, S. 38.<br />

23 Schüpbach (1983), S. 173ff.<br />

24 "Vom Gütsch zur Reuss", S. 72-75.<br />

12


und 1910 entwickelte sich das Gebiet zum Gewerbe-, Industrie- und Wohnareal. Einige<br />

stattliche, freistehende Häuser mit Umschwung hoben sich von den Fabrikbauten und<br />

Mietskasernen ab. Als 1894 das Eisenbahntrassee im Untergrund auf einen vier Meter hohen<br />

Damm verlegt wurde, damit die Züge in den neuen, höher gelegenen Gütschtunnel einfahren<br />

konnten, verschwand die Sentimatte, von der Baselstrasse aus gesehen, hinter einer Mauer.<br />

Der Niveauübergang der Eisenbahn bei der Sentikirche wich einer Überführung.<br />

Geschlossene Barrieren hatten den innerstädtischen Verkehr bis zu diesem Zeitpunkt während<br />

mehrerer Stunden am Tag blockiert (siehe Anhang 49 und 68). Die räumliche Isolierung der<br />

Sentimatte beschnitt den sozialen Austausch mit den übrigen Quartiergebieten. Der<br />

Sozialisations- und Erlebnisraum verengte sich zusehends auf die einzelnen Strassen; die<br />

räumliche Trennung förderte quartierinterne Rivalitätsrituale, z.B. in Form von<br />

Jugendschlachten. Nach mündlicher Auskunft pflegten "Sentimättler" und "Baselsträssler" um<br />

<strong>1920</strong> wenig Kontakt miteinander.<br />

Auch bei der Linienführung des Trams drohte dem Untergrund Ende 19. Jh. Benachteiligung.<br />

Der ursprünglich für die Strecke Bahnhof-Untergrund vorgesehene Zickzackkurs via<br />

Hirschmattstrasse wurde schliesslich zugunsten der direkten Linienführung durch die<br />

Bahnhofstrasse fallengelassen.<br />

Ab den 90er Jahren bis zum Ersten Weltkrieg herrschte in der Stadt ein Bauboom. 1890-1900<br />

wurden mehr Häuser erstellt als in den 30 Jahren zuvor. V.a. im Hirschmatt- und<br />

Neustadtquartier sezte nach dem Neubau des Bahnhofs 1894-96 und der definitiven<br />

Geleisführung der Eisenbahn die Überbauung im grossen Stil ein. Im Ersten Weltkrieg brach<br />

der Bauboom zusammen: 1910-<strong>1920</strong> wurden total 268 Wohnhäuser gebaut, die meisten<br />

davon auf dem linken Ufer und vor 1915; während des Krieges kamen noch ganze 41<br />

Wohnungen dazu. 25 Um 1910 unterschieden sich die beiden Stadtteile in städtebaulicher<br />

Hinsicht bereits stark: Während das linke Ufer Mehrfamilienblöcke prägten, dominierten auf<br />

dem rechten Ein- bis Vierfamilienhäuser. 26 Ein Vergleich der Anzahl Häuser im Untergrund<br />

in den Jahren 1910 und <strong>1920</strong> zeigt, dass dort kaum gebaut wurde (Bruch und Untergrund<br />

wiesen 1910 zusammen 334 Wohnhäuser auf, die entsprechenden Bezirke Basel-/Bernstrasse<br />

und Gütsch/Gibraltar <strong>1920</strong> zusammen 326). Der Baubestand überalterte zusehends im<br />

Vergleich mit jenem der neuen Wohnviertel (zur Häuserzahl in den Quartieren 1890 siehe<br />

Anhang 7).<br />

An den repräsentativen Architekturströmungen der Belle Epoque, die evokative<br />

Jugendstilarchitektur und eine etwas barocke Interpretation verschiedener Neo-Stile<br />

kennzeichnete, partizipierte der Untergrund mit Ausnahme weniger Bauten in der Sentimatte<br />

und an der Inneren Baselstrasse (Haus zum Baslertor und Geschäftshaus Bielmann, siehe<br />

Anhang 67) nicht. Während in den neuen Quartieren Hirschmatt und Neustadt Jugendstil-<br />

Mehrfamilienhäuser mit Erkern, Balkonen und Türmchen zu hauf in die Höhe schossen,<br />

25 Huber (1986), S. 86 und 258.<br />

26 Martin (1951), S. 114.<br />

13


wurden an der Basel- und Bernstrasse allenfalls funktionale Mietskasernen erstellt. 27 Zwei<br />

heute unter Denkmalschutz stehende klassizistische Bauten, die Sentikirche (1817-19) und<br />

das Waisenhaus (1811), waren bereits Anfang 19. Jh. in der St.-Jakobs-Vorstadt entstanden.<br />

3. Wohnverhältnisse<br />

Negative sozialstatistische Werte kennzeichnen die Wohnqualität im Untergrund für die<br />

gesamte Periode <strong>1850</strong>-<strong>1920</strong>. Charakteristisch für die Wohnverhältnisse waren<br />

überproportionale Behausungsziffer und Wohndichte. Bereits 1860 wies der Untergrund,<br />

etwas untypisch für ein Aussenquartier, mit 18.6 Personen pro Wohnhaus die höchste<br />

Behausungsziffer auf. Bis 1910 stieg sie auf 25,1 Personen, nach dem Moosquartier mit 25,4<br />

noch der zweithöchste städtische Wert (tiefste Behausungsziffer im Hofquartier mit 10<br />

Personen). <strong>1920</strong> lag der Bezirk Bern-/Baselstrasse mit 23,7 in der Rangliste der Stadtbezirke<br />

auf Rang vier, hinter den neuen Wohnquartieren im Süden der Stadt mit ihren hohen<br />

Mietshäusern. 28 Die Wohndichte im Untergrund sank von 1860 (mit 1,35 Personen höchster<br />

städtischer Wert) bis 1897 geringfügig.<br />

Bezirk Haushaltungen<br />

pro Haus<br />

Tab. 2: Wohnstrukturen 1897<br />

Quelle: Pietzcker (1898), S. 45/46. Zu den Wohnstrukturen 1910 und <strong>1920</strong> siehe Anhang 9.<br />

Mit 25% Wohnungen bis und mit zwei Zimmern verfügte der Untergrund über den höchsten<br />

Anteil kleiner Wohnungen. Für 65 Wohnungen errechnete Hermann Pietzcker, der Leiter der<br />

Wohnungsenquête von 1897, die völlig unzureichende Raumgrösse pro Person bis und mit<br />

27 Pietzcker (1898), S. 42-43.<br />

28 EVZ (Gemeindezusammenzüge).<br />

Bewohner<br />

pro Haus<br />

Räume<br />

pro Haus<br />

Wohndichte<br />

Hof 2.2 10.6 17.5 0.6<br />

Zürichstrasse 4.4 22.5 21.5 1.04<br />

See 4.0 19.5 22.8 0.85<br />

Kapellgasse 2.8 13.8 14.8 0.93<br />

Mühlegasse 3.0 14.2 17.9 0.79<br />

Kleinstadt 3.2 15.8 19 0.83<br />

Moos 4.7 25.3 25.9 0.98<br />

Obergrund 3.4 16.8 17.5 0.96<br />

Bruch 3.5 16.1 17.4 0.92<br />

Untergrund 3.6 20.1 16.5 1.22<br />

14


5m2 (ganze Stadt 187, im Hof keine). In 58 Wohnungen Luzerns mussten sich die Bewohner<br />

mit weniger als 5m3 Schlafraum pro Person begnügen; 16 davon befanden sich im<br />

Untergrund (bei 10m3 Schlafraum gesamtstädtisch 472, im Untergrund 101 Wohnungen). 29<br />

In vielen Unterkünften des Untergrunds herrschten auch schlechtere Lichtverhältnisse als in<br />

den anderen Quartieren: In einem Viertel der Wohnungen verfügten die Zimmer lediglich<br />

über ein Fenster (im Hof nur 4%). Zudem befand sich jeder achte Haushalt in Dachräumen, so<br />

viele wie in keinem anderen Quartier. An der Bernstrasse entdeckte Pietzckers Equipe derart<br />

überbelegte Wohnungen, dass pro Person gerade noch 2,9 m2 Wohnfläche übrigblieb. Auch<br />

bei weiteren Indikatoren schlechter Wohnqualität wies der Untergrund Spitzenwerte auf.<br />

Tab. 3: Wohnungsnachteile nach Bezirken 1897<br />

Bezirk Anzahl Anzahl Anzahl vernachlässigt feuchte kein WC<br />

Häuser Wohnungen Räume e Räume Räume im<br />

Haushalt<br />

Hof 88 199 1'540 41 21 22<br />

Zürichstrasse 145 644 3'118 67 263 212<br />

See 141 565 3'234 111 54 154<br />

Kapellgasse 149 412 2'200 187 23 146<br />

Mühlegasse 164 498 2'925 86 72 45<br />

Kleinstadt 121 389 2'304 82 26 128<br />

Moos 118 560 3'056 46 128 38<br />

Obergrund 163 555 2'848 138 62 173<br />

Bruch 78 277 1'358 76 55 101<br />

Untergrund 148 539 2'453 345 356 215<br />

Quelle: Pietzcker (1898), S. 150.<br />

Da sich im Untergrund überproportional viele Unterkünfte tiefer Preisklassen konzentrierten,<br />

übte er eine Magnetfunktion auf die meist unterschichtigen, oft alleinstehenden und somit<br />

kleine, preisgünstige Wohnungen nachfragenden Zuzüger aus.<br />

Tab. 4: Wohnungen in den Stadtbezirken 1897 bis und mit Jahreszins<br />

von 500 Franken (in % aller Wohnungen)<br />

Hof Zürich- See KapellMühle- Klein Moos Ober- Bruch Unterstrassegassegasse<br />

-<br />

stadt<br />

grund grund<br />

23 68.6 46.7 60.2 47.4 38 43.4 68.6 68.2 84.6<br />

29 Pietzcker (1898), S. 84-92 und 107-113.<br />

15


Quelle: Pietzcker (1898), S. 160. Absolute Zahlen in den einzelnen Preisklassen siehe Anhang<br />

10.<br />

Auch die ortsansässige Bevölkerung trug zur Ausprägung wohnräumlicher Segregation bei.<br />

Unter dem in den 90er Jahren entstehenden Missverhältnis zwischen den Löhnen und den<br />

steigenden Lebenshaltungskosten litt vor allem die Arbeiterschaft. Während z.B. die Arbeiter-<br />

Nominallöhne bei der Firma Bell 1875-1907 um ca. 32% anstiegen, wuchsen die Gehälter<br />

von Angestellten, kantonalen und städtischen Beamten im gleichen Zeitraum um das<br />

doppelte. 30 Einfache Arbeiter, deren Haushaltsbudgets um die Jahrhundertwende dem Druck<br />

steigender Wohnungsmieten ausgesetzt waren, konnten sich die neuen und teureren<br />

Wohnungen in der Neustadt und im Hirschmattgebiet gar nicht leisten. 31<br />

Obwohl die städtische Bevölkerungszahl <strong>1920</strong> um über 1'000 Personen sank, dauerte die seit<br />

1917/1918 herrschende akute Wohnungsnot unvermindert an. Trotzdem waren die Haushalte<br />

im Untergrund <strong>1920</strong> mit durchschnittlich 5,1 Personen sogar etwas kleiner als 1910 (4,9<br />

Personen). Im November 1919 wurden in der ganzen Stadt 20 Zwei- bis Vierzimmer-<br />

Wohnungen angeboten und 99 nachgefragt. Eine städtische Erhebung zählte im Januar 1921<br />

im Untergrund nur vier leerstehende Wohnungen. Am meisten Wohnungen und<br />

Einfamilienhäuser wurden im Hofquartier zur Miete angeboten (26, davon 14 Villen). 32 Die<br />

grütlianische "Luzerner Volksstimme" forderte die Erstellung einer detaillierten<br />

Wohnungsstatistik wie 1910. Ihren Berechnungen zufolge bestand <strong>1920</strong> ein Mangel von 720<br />

Wohnungen (9'500 Wohnungen bei 10'220 Haushaltungen). 33 Die Stadtregierung stellte nach<br />

dem Krieg Notwohnungen zur Verfügung, 1919 für 45, <strong>1920</strong> bereits für 85 Familien, im<br />

Untergrund an der Baselstrasse im ehemaligen Sentispital und an der Sagenmattstrasse. 34<br />

Die Luzerner Mietpreise stiegen 1913-<strong>1920</strong> trotz der geschilderten Situation auf dem<br />

Wohnungsmarkt im Vergleich mit anderen grösseren Schweizer Städten weniger stark an. Die<br />

Preise für Zwei- bis Vierzimmer-Wohnungen entwickelten sich auf der Basis von 100<br />

Indexpunkten im Jahr 1913 bis <strong>1920</strong> wie folgt: in Zürich auf 132, in Solothurn auf 115, in<br />

Olten auf 137, in Luzern auf 115 (siehe auch Anhang 8). 35<br />

<strong>1920</strong> lehnte das (männliche) Stimmvolk eine sozialdemokratische Initiative zur Förderung<br />

des kommunalen Wohnungsbaus im Verhältnis 2:1 ab. Die massive Gegenpropaganda hatte<br />

die Vorlage ideologisch aufgeladen; das christlichsoziale "Zentralschweizerische Volksblatt"<br />

schrieb: "Die Stadt Luzern soll nicht das Versuchsfeld millionenverschlingender sozialistischkommunistischer<br />

Experimente werden. Wir sind grundsätzlich gegen die Kommunalisierung<br />

30 Brunner (1981), S. 217-218.<br />

31 Schmid, in: LNN 5.5.1973.<br />

32 Mappe K3F (SAL).<br />

33 VS 5.11.1921.<br />

34 Vber. StR. 1919/<strong>1920</strong>, S. 33ff.<br />

35 Eine Differenzierung der Mietpreise nach Quartieren ist aufgrund der gedruckten Wohnungsenquête <strong>1920</strong><br />

leider nicht möglich.<br />

16


auf diesem Gebiet." 36 Städtischer Sozialwohnungsbau existierte in Luzern nicht. Dafür<br />

lancierte der Stadtrat 1919 aus "volkswirtschaftlichen" und "ethischen" Motiven ein<br />

karitatives Projekt im Untergrund. Er kaufte ein Grundstück in der Sagenmatt und gab es der<br />

Quartierbevölkerung parzellenweise als Pflanzland ab. 37 Ein anderes "sozial" motiviertes<br />

städtisches Projekt war Ende 19. Jh. gescheitert. Mit der Erstellung eines neuen<br />

Schlachthauses in der unteren Sentimatte hatte der Stadtrat im Untergrund ein Beispiel<br />

mustergültigen Bauens geben wollen. 38 Der Aufforderung des um eine Verbesserung des<br />

Renommees der Strasse besorgten Quartiervereins Bernstrasse 1916, Liegenschaften an der<br />

Bernstrasse zu erwerben und Beamte einzumieten, kam der Stadtrat nicht nach. 39<br />

Vom genossenschaftlichen Wohnungsbau profitierte der Untergrund verhältnismässig spät<br />

und nur am Rande. Die ersten Luzerner Genossenschaften stützten sich auf standesbewusste,<br />

gut organisierte Berufsgruppen. Die 1891 gegründete "Genossenschaft für billige<br />

Wohnungen" plante Wohnungen für Beamte der Gotthardbahn. Zwei Drittel der 264<br />

Mitglieder der Eisenbahner-Baugenossenschaft (EBL) waren 1910 SBB-Beamte, und in den<br />

Wohnungen der 1924 gegründeten Allgemeinen Baugenossenschaft Luzern (ABL) lebten<br />

1929 bei total 297 Mietern ganze acht Fabrikarbeiter. Erst 1928-1930, nachdem im<br />

Moosquartier bereits 248 Wohnungen vermietet waren, baute die ABL für minderbemittelte<br />

Arbeiter 33 bescheidene Unterkünfte auf Sagenmatt und 16 an der Bernstrasse. Die Stadt<br />

unterstützte den genossenschaftlichen Wohnungsbau in geringem Mass erst ab Mitte der 20er<br />

Jahre. 40<br />

1891 wohnten noch drei Viertel aller Eigentümer eines Hauses an der Baselstrasse (total 82<br />

Häuser) in ihrem Besitztum. Ihr Anteil an den Steuerpflichtigen der Strasse betrug 16,2%,<br />

was etwa dem städtischen Durchschnitt mit 17,3% entsprach (tiefster Anteil im Moosquartier<br />

mit weniger als 10%). 1897 lebte im Untergrund in jedem siebten Haus der Eigentümer allein,<br />

in knapp der Hälfte der Häuser waren die Mieter unter sich, und in 37,8% wohnten Mieter<br />

und Eigentümer unter einem Dach. 41 Mit der Verschlechterung des Sozialprestiges des<br />

Quartiers und der sinkenden Lebensqualität zogen aber seit den 90er Jahren mehr und mehr<br />

an der Baselstrasse wohnhafte Hausbesitzer weg: Von 59 im Jahr 1890 sank ihre Zahl auf 35<br />

1910 (<strong>1920</strong>: 34). Tendenziell bedeutete dies eine Verminderung der sozialen Kontrolle im<br />

Wohnbereich. Ein anderes Instrument der Vermittlung kleinbürgerlichen Lebensstils, der<br />

philanthropische Wohnungsbau mit seinen restriktiven Hausordnungen (z.B. Verbot von<br />

Schlafgängern), fehlte im Untergrund gänzlich. 42 Einschneidenden disziplinarischen Einfluss<br />

auf das Sozialverhalten bis hinein in die häusliche Privatsphäre übte hingegen der<br />

Quartierverein Bernstrasse aus (siehe Kap. 9.2.).<br />

36 ZVB 8/28.2.<strong>1920</strong>.<br />

37 B.u.A. StR. 6.12.1919.<br />

38 B.u.A. StR. vom 19.1.1898.<br />

39 Prot. Quartierverein Bernstrasse 30.8.1916.<br />

40 Kopp (1950), S. 424. 50 Jahre Allgemeine Baugenossenschaft Luzern.<br />

41 Pietzcker (1898), S. 54 und 61.<br />

42 Fritzsche (1986), S. 63-64.<br />

17


1897 hielten in Luzern fast die Hälfte aller Haushalte Untermieter. Im Untergrund lag der<br />

Anteil Schlafgänger an der Quartierbevölkerung mit 22,8% am höchsten. Im Unterschied zu<br />

den anderen Quartieren lebten im Untergrund gleich mehrere Schlafgänger im selben<br />

Haushalt. Die Beherbergung von Schlafgängern geschah oft aus finanzieller Not und war<br />

insofern ein schichtspezifisches Phänomen. Im Meisterhaushalt in Untermiete wohnende<br />

Gewerbegehilfen waren im Untergrund selten; Dienstboten gab es praktisch keine. 43<br />

Tab. 5: Haushaltsstrukturen 1897<br />

Haushalte Anteil Anteil Dienstboten Anzahl<br />

mit Schlafgänger Gewerbe- in % der Untermieter<br />

Untermieter an gehilfen an Quartier- pro Haushalt<br />

n in % aller Untermietern Untermieter bevölkerung mit<br />

Haushalte<br />

n<br />

Untermieter<br />

Hof 22.1 80.8 19.2 19.2 1.6<br />

Zürichstrasse 44.4 86.5 13.5 3 2.5<br />

See 50.4 69.8 30.2 8.4 2.3<br />

Kapellgasse 45.4 63.8 36.2 9.1 2.3<br />

Mühlegasse 61 74.4 25.6 10 1.2<br />

Kleinstadt 38.8 72 28 10.5 2.6<br />

Moos 55.4 90.7 9.3 4.5 2.2<br />

Obergrund 45.4 84.3 15.7 5.1 2.1<br />

Bruch 39 67.1 32.9 5.3 2.1<br />

Untergrund 49.5 87.7 12.3 2.5 2.9<br />

Quelle: Pietzcker (1898), S. 61. Schüpbach (1983), S. 111.<br />

Im Vergleich zu heute zog die Bevölkerung um die Jahrhundertwende viel öfter um, wobei<br />

das Volumen der Wohnungswechsel in Unterschichtquartieren in der Regel höher war als in<br />

Oberschichtquartieren. Dass sich Umzüge in der 2. Hälfte des 19. Jh. zu mehr als 50%<br />

innerhalb eines jeweiligen Stadtviertels vollzogen, wurde z.B. für einige kleine deutsche<br />

Städte (u.a. Göttingen) nachgewiesen. 44 Dies trifft auch auf den Untergrund zu. Gemäss<br />

mündlicher Auskunft kamen Umzüge in Oberschichtquartiere wie etwa das Hofquartier kaum<br />

vor. 45 Um gesicherte Aussagen zur intraurbanen Mobilität machen zu können, müssten<br />

allerdings die städtischen Adressbücher ausgewertet werden, was einen enormen<br />

Arbeitsaufwand beinhaltete.<br />

43 Schüpbach (1983), S. 111 und 150.<br />

44 Denecke (1987), S. 147. Fritzsche (1990), S. 215.<br />

45 Nach Auskunft von Jacob Scherrer.<br />

18


Das Umzugsvolumen war in den peripheren Quartieren Luzerns mit ihrem minderen sozialen<br />

Gepräge höher als im Stadtzentrum. Pietzcker ermittelte für den Untergrund mit 41,9% den<br />

höchsten Anteil innerhalb eines Jahres (1896/1897) gewechselter Wohnungen. Etwas mehr<br />

Wohnungen waren seit 1-10 Jahren vom gleichen Haushalt belegt, 13,2% seit über 10 Jahren.<br />

Wenn man sich vor Augen hält, dass in Luzern jährlich ein Drittel aller Haushalte umzog,<br />

wird deutlich, dass dem minoritären Bevölkerungsteil mit einer Langzeitsesshaftigkeit von<br />

mehr als 10 Jahren eine äusserst mobile Bevölkerungsmehrheit gegenüberstand, die im<br />

gleichen Zeitraum - theoretisch betrachtet, d.h. unter Ausschluss der Bevölkerungsfluktuation<br />

- drei- bis viermal die Wohnung wechselte. 46<br />

Die Auswertung der städtischen Steuerregister 1910 und <strong>1920</strong> hinsichtlich der Sesshaftigkeit<br />

von 10 Jahren und mehr im gleichen Haus (bei Pietzcker Wohnung) ergab eine Quote in der<br />

Grössenordnung Pietzckers: 109 der total 643 Steuerpflichtigen der Baselstrasse, Bernstrasse,<br />

Sagenmattstrasse und der Reussinsel wohnten <strong>1920</strong> noch an der gleichen Adresse; 128 lebten<br />

inzwischen in einer anderen Wohnung an der gleichen Strasse, und nur 39 hatten innerhalb<br />

des untersuchten Gebietes die Strasse gewechselt. Sesshaft im Quartier waren insgesamt<br />

etwas über ein Drittel der Steuerpflichtigen. Die Sesshaftigkeit im gleichen Haus war an der<br />

Bernstrasse (ein Drittel der Sesshaften) etwas höher als an der Baselstrasse. An der<br />

Bernstrasse wechselte bloss jeder vierte innerhalb des Quartiers Umziehende die Strasse, an<br />

der Baselstrasse jeder dritte. Pietzcker berechnete eine Langzeitsesshaftigkeit von über 20<br />

Jahren von 8,2% für die Periode 1877-1897. Der Vergleich der Steuerregister 1891 und 1910<br />

ergab einen Anteil deutlich unter 5%. Obwohl dieser Rückgang zum Teil auf den Auszug<br />

alteingesessener Hausbesitzer zurückzuführen ist, blieb der Anteil Hausbesitzer an der<br />

zwischen 1910 und <strong>1920</strong> sesshaften Quartierbevölkerung mit über einem Fünftel<br />

überdurchschnittlich. Die Vorstellungen der Hausbesitzer über die Gestaltung, den Charakter<br />

des öffentlichen Quartierraums prallte mit dem Sozialverhalten einer stark fluktuierenden,<br />

unterschichtigen Bevölkerung zusammen (siehe Kap. 9.2. Quartierverein Bernstrasse).<br />

Im Zusammenhang mit der hohen Bevölkerungsfluktuation steht auch, dass Wirtschaften im<br />

raschen Wechsel der Gesichter zu rituellen, Kontinuität vermittelnden Orientierungspunkten<br />

mit spezifischem Charakter wurden. Parteien, einzelne Berufsgruppen und die Italiener<br />

verfügten über Stammlokale.<br />

Die Quartiergeschichte "Vom Gütsch zur Reuss" bildet 40 "bedeutende Quartiereinwohner"<br />

ab, Geschäftsleute, Fabrikanten, Beamte, Politiker und Akademiker. Doch wohnten diese<br />

auch im Untergrund? Jene 35 Personen, die nach 1890 starben, habe ich in drei Stichjahren<br />

auf ihre Wohnadresse hin untersucht (1890, 1911, 1923). Die Maximalzahl von 73 möglichen<br />

positiven Identifikationen (= Adresse im Untergrund) wurde bei weitem nicht erreicht,<br />

sondern lediglich 33. Nur drei Personen wohnten an allen drei Stichjahren im Untergrund, u.a.<br />

der Sigrist der Sentikirche und Holzhändler Baptist Meyer, liberaler Grossstadtrat seit 1895<br />

und zusätzlich Grossrat seit 1903, von der Quartiergeschichte "Vom Gütsch zur Reuss" als<br />

46 Schüpbach (1983), S. 151.<br />

19


allseits beliebter Quartiervater und einer "der wenigen, die beidseits der Reuss Sitz und<br />

Stimme haben" charakterisiert. Meyer baute für sich 1896 ein stattliches Wohnhaus, das erste<br />

Haus an der Dammstrasse überhaupt. 47<br />

4. Wandel der Erwerbsstruktur<br />

4.1. Die Entwicklung der Wirtschaftssektoren<br />

Mit einem Anteil von 45,2% des gewerblich-industriellen Sektors an den Erwerbstätigen war<br />

Luzern 1888 die am schwächsten industrialisierte Stadt der Schweiz. 48 Im<br />

Dienstleistungssektor dagegen hielt sie die Spitzenposition. 49 Bis <strong>1920</strong> veränderten sich die<br />

Anteile der Wirtschaftssektoren nur wenig: der 2. Sektor verzeichnete zwischen 1888 und<br />

<strong>1920</strong> einen leichten Rückgang von 45,2% auf 42%, der 3. Sektor blieb in Front mit 55,8%<br />

<strong>1920</strong> (siehe Anhang 11 und 13). 50<br />

Das Baugewerbe, innerhalb des 2. Sektors mit über einem Viertel der Beschäftigten die<br />

stärkste Branche, sowie die Fremdenindustrie trieben die wirtschaftliche Entwicklung<br />

Luzerns voran. 51 Einerseits hatte das Wirtschaftswachstum in der 2. Hälfte des 19. Jh. zu<br />

einer Aufwertung von Handwerk und Gewerbe als Zulieferindustrie für die boomende<br />

Fremdenindustrie geführt, andererseits wurde das traditionelle Kleingewerbe zusehends von<br />

der Fabrikindustrie verdrängt. 52 Der Konjunkturaufschwung der 90er Jahre brachte eine Blüte<br />

des Detailhandels mit industriell gefertigter Konfektionsware mit sich. 53 Kleinhandwerker<br />

und Gewerbetreibende verloren zum Teil ihre Existenzgrundlage. So sank beispielsweise die<br />

Zahl der Schneidermeister 1886-1894 von 96 auf 71, jene der Schreinermeister, welche die<br />

Industrialisierung im Hochbau in Bedrängnis brachte, von 79 auf 54. 54 Ruinierte<br />

Kleinhandwerker und unterprivilegierte Taglöhner fanden zum Teil ein neues Auskommen als<br />

(Bau-)Arbeiter, städtische Arbeiter oder im Hotelfach.<br />

Der Zugriff auf die Erwerbsstruktur des Untergrunds Mitte 19. Jh. ist über den sogenannten<br />

Wachtgeldrodel von 1849 möglich, ein Verzeichnis, das die Steuerpflichtigen in drei<br />

Steuerklassen einteilte. Aus den darin enthaltenen Berufsangaben ist ersichtlich, dass der<br />

nördliche Teil des Untergrunds damals hauptsächlich von Kleinhandwerkern und<br />

Gewerbetreibenden besiedelt war. Auch die meisten der insgesamt 15% Taglöhner an den<br />

Steuerpflichtigen lebten dort. Im südlichen Teil - in der St.-Jakobs-Vorstadt und im<br />

47 "Vom Gütsch zur Reuss", S. 77.<br />

48 Huber (1986), S. 113.<br />

49 Schelbert (1985), S. 15.<br />

50 Huber (1986), S. 111.<br />

51 Schelbert (1985), S. 19.<br />

52 Dubler (1983), S. 57-58 und 142-143.<br />

53 Dubler (1983), S. 147-148 und 165.<br />

54 Brunner (1976), S. 124.<br />

20


Bruchgebiet - zeichnete die Berufsstruktur eine stärkere Durchmischung aus. Neben<br />

Gewerbetreibenden lebten dort Beamte, Rentner, Akademiker, Künstler und Händler.<br />

1891, 42 Jahre später, hatte sich die Erwerbsstruktur im nördlichen Abschnitt des<br />

Untergrunds, also an der Baselstrasse, etwas aufgefächert. Kleinhandwerk und Gewerbe<br />

dominierten nicht mehr im gleichen Mass wie 1849.<br />

Tab. 6: Erwerbsstruktur an der Basel- und Bernstrasse 1891 (%)<br />

Handwerk, Gewerbe, Fabrikarbeit 51<br />

Verkehr 7.8<br />

Fabrikanten, Baumeister, Händler 14.7<br />

Liberale Berufe, Beamte 6.4<br />

Private, Rentner 6.6<br />

Militär, Strafhausaufseher 4<br />

Angestellte 9.5<br />

Quelle: Steuerregister 1891. Gliederung nach einzelnen Berufen in Anhang 16.<br />

Das breit gefächerte Spektrum der Berufsarten innerhalb des 2. Sektors wird aus der<br />

folgenden Tabelle ersichtlich.<br />

Tab. 7: Die Berufsarten des 2. Sektors an der Bern- und Baselstrasse 1891<br />

Schreiner 23 Steinhauer 8<br />

Taglöhner 18 Diamantschleifer 7<br />

Schneider 15 Schriftsetzer 7<br />

Bauamtsarbeiter 15 Mechaniker 6<br />

Orgelschreiner 14 Gipser 5<br />

Schmiede 11 Arbeiter 5<br />

Maurer 10 Schlosser, Sattler 4<br />

Magaziner 10 Heizer 4<br />

Zeughausarbeiter 9 Uhrmacher 3<br />

Schuster 9 Übrige 33<br />

Zimmermänner 8 Total 224<br />

Quelle: Steuerregister 1891. Ohne Fabrikanten und Bauunternehmer.<br />

Die Palette der Berufsarten war effektiv noch reichhaltiger, als in der Tabelle zum Ausdruck<br />

kommt. Die "Schreiner" arbeiteten zum Teil als hochqualifizierte Altarbauer. Auch<br />

21


Kunststeine, Öfen, Glocken und Aufzüge (Schindler) wurden im Untergrund hergestellt.<br />

Qualifizierte Arbeit leisteten um 1900 zum Teil auch Ausländer, etwa in den Branchen<br />

Bierbrauerei, Orgel-, Altarbau und Buchdruckerei. Im industriell rückständigen Kanton<br />

Luzern herrschte latenter Mangel an qualifizierten Arbeitskräften. 55 Die meisten<br />

ausländischen Arbeiter, italienische Saisonniers, verrichteten aber niedrige Dienste, z.B. beim<br />

Bau des Gütschtunnels, des Eisenbahndamms, im Steinbruch an der Baselstrasse, als<br />

Pflasterbuben, Handlanger, Maurer und Fabrikarbeiter. Einzelne Italiener führten<br />

Wirtschaften - die bekannteste war jene des Steinbruchbesitzers Bacilieri an der Baselstrasse -<br />

und Arbeiterküchen (sogenannte Cucinen). Der Grossteil der italienischen Saisonniers<br />

arbeitete nur vorübergehend in Luzern, so auch Benito Mussolini, der vor dem Weltkrieg auf<br />

der Baustelle der Dietschibergbahn (Hofquartier) im Einsatz gewesen war. 56 Nur einer<br />

schmalen Spitze italienischer Zuzüger gelang es, sich beruflich in Luzern zu etablieren.<br />

Kaderleute aus dem Baugewerbe gründeten in den 20er Jahren die ersten italienischen<br />

Baufirmen in Luzern.<br />

Die Erwerbsstruktur an der Bernstrasse beschränkte sich ausschliesslicher als an der<br />

Baselstrasse auf unselbständige Lohnarbeit im 2. Sektor. Die total 42 Steuerpflichtigen von<br />

1891 arbeiteten zu vier Fünfteln in vorwiegend subalternen Funktionen im 2. Sektor. Einzig<br />

die Sentimatte wies 1891 eine markant andere Erwerbsstruktur auf als die übrigen Gebiete im<br />

Untergrund. Sie wurde noch vorwiegend von Fabrikanten, Baumeistern, Rentnern und<br />

mittelständischen Angestellten bewohnt; Lohnarbeiter waren eher selten.<br />

Der Vergleich der Erwerbsstruktur an der Bern- und Baselstrasse mit der gesamtstädtischen<br />

ergibt deutliche Segregationsbefunde. Nur drei Bahnangestellte bzw. -beamte und 13<br />

Bahnarbeiter wohnten 1891 an der Basel- oder Bernstrasse, weniger als 4% des städtischen<br />

Bahnpersonals. Auch fast keine städtischen Angestellte und Beamte lebten an der Bern- und<br />

Baselstrasse. Da die in den Steuerregistern enthaltenen Berufsangaben meist keinen<br />

Aufschluss über den Arbeitgeber geben, habe ich für das Jahr 1910 die im Anhang des<br />

Verwaltungsberichtes des Stadtrates verzeichneten 301 städtischen Angestellten und Beamten<br />

auf ihre Wohnadresse hin ausgewertet. Resultat: Nur vier wohnten an der Basel- oder<br />

Bernstrasse. Deren Bewohner partizipierten also an den neuen mittelständischen<br />

Erwerbsmöglichkeiten, die sich seit der 2. Hälfte des 19. Jh. im Zuge des Ausbaus der<br />

staatlichen Verwaltung vermehrt boten, kaum. Sogar städtische Arbeiter waren im<br />

Untergrund untervertreten: Das Steuerregister von 1891 weist 15 Bauamtsarbeiter, bezüglich<br />

Einkommen und Sozialprestige eine unterprivilegierte Kategorie städtischen Personals, aus.<br />

Zwischen 1891 und 1910 verdoppelte sich die Zahl der Bauamtsarbeiter im Untergrund zwar<br />

auf 30, die Untervertretung im gesamtstädtischen Vergleich blieb aber bestehen (8,5% aller<br />

Bauamtsarbeiter Luzerns). Ausländer konnten in Luzern gemäss städtischer Arbeitsordnung<br />

nicht zu ständigen Arbeitern ernannt werden, eine Regelung, die neben Luzern nur noch in<br />

55 Jäger (1979), S. 132.<br />

56 "Vom Gütsch zur Reuss", S. 102.<br />

22


Lausanne und Herisau in Kraft war. 57 Zudem untersagte die Arbeitsordnung - ebenfalls ein<br />

Luzerner Sonderfall - ausdrücklich Streikhandlungen: "Kollektive Arbeitseinstellung ohne<br />

Einhaltung der Kündigungsfrist berechtigt den Stadtrat, alle am Ausstand Beteiligten sofort<br />

und ohne Entschädigung zu entlassen." 58 Dass die Gewerkschaftssektion der<br />

Gemeindearbeiter Ende 1918 nur 39 Mitglieder zählte, kann in diesem Zusammenhang<br />

gesehen werden. 59 In liberalen Berufen Tätige und Beamte generell wohnten 1910 weniger im<br />

Untergrund als noch 1891. Der Handelssektor (unter 15%) und der Verkehrssektor blieben<br />

ebenfalls unter dem städtischen Durchschnitt. Schliesslich stagnierte auch der Anteil Rentner<br />

(Private), in Luzern eine sehr vermögliche Kategorie, im Untergrund unter 5% (zum<br />

Vergleich der städtischen Erwerbsstruktur mit jener an der Basel- und Bernstrasse und jener<br />

im Hofquartier 1910 vgl. Anhang 13, 17 und 18).<br />

Um 1890 prägten noch gewerbliche Zwergbetriebe den Untergrund. Zwischen 1890 und 1910<br />

verschob sich die Berufsstruktur innerhalb des 2. Sektors an der Basel- und Bernstrasse<br />

massiv. Die Bandbreite der gewerblich-industriellen Berufe verengte sich. Das Steuerregister<br />

1910 verzeichnet 96 "Hilfsarbeiter" und "Taglöhner" sowie 41 "Arbeiter" und<br />

"Arbeiterinnen" (zusammen knapp ein Viertel aller Zensiten). Die meisten von ihnen<br />

arbeiteten 1910 in Fabrikbetrieben. Das bedeutete für eine wachsende Zahl von<br />

Lohnabhängigen eine Angleichung der Arbeitsbedingungen, eine wichtige Voraussetzung, die<br />

individuelle soziale Situation als Klassenlage zu begreifen. Der effektive Anteil von<br />

Fabrikarbeitern an den Erwerbstätigen muss geschätzt werden. Da "Giesser", "Schlosser" etc.<br />

ihr Auskommen ebenfalls vornehmlich in Industriebetrieben fanden, dürfte der Anteil<br />

Fabrikarbeiter 1910 einiges über 25% gelegen haben, zumal zusätzlich ein Teil der nicht im<br />

Steuerregister ausgewiesenen italienischen Saisonniers in Fabriken tätig war.<br />

Der Wandel vom Kleingewerbe- und Handwerkerviertel zum Arbeiterquartier vollzog sich<br />

ausgerechnet im konjunkturellen Wachstumsschub der Belle Epoque. Auf den Untergrund<br />

fielen in diesem Prozess v.a. die Schlagschatten der gesellschaftlichen Modernisierung, etwa<br />

in Form der Verstärkung seines Unterschichtcharakters (siehe Kap. 5.).<br />

Die Dominanz des 2. Sektors und spezifisch der Fabrikarbeit akzentuierte sich, gefördert<br />

durch den kriegsindustriellen Boom, 1910-<strong>1920</strong> an der Bern- und Baselstrasse weiter. An der<br />

Bernstrasse arbeiteten <strong>1920</strong> 80% der Beschäftigten in Industrie und Gewerbe, geringfügig<br />

mehr als an der Baselstrasse. Da das Steuerregister von <strong>1920</strong> auch die Jahresaufenthalter<br />

verzeichnet, widerspiegelt es die Erwerbsstruktur getreuer als das Steuerregister von 1910.<br />

<strong>1920</strong> lebten an der Baselstrasse und Bernstrasse 393 HilfsarbeiterInnen, Taglöhner und<br />

(Fabrik-)ArbeiterInnen (43,5% der Steuerpflichtigen). Die 73 Frauen unter ihnen stellten<br />

wohl nurmehr einen kleinen Teil der gegen Kriegsende in den Fabriken beschäftigten<br />

Arbeiterinnen dar. 295 Personen sind im Steuerregister <strong>1920</strong> mit einem spezifischen<br />

57 Guggenbühl (<strong>1920</strong>), S. 41.<br />

58 Guggenbühl (<strong>1920</strong>), S. 237.<br />

59 Guggenbühl (<strong>1920</strong>), S. 227.<br />

23


handwerklich-gewerblichen Beruf aufgeführt. Von diesen leisteten schätzungsweise 40%-<br />

50% Fabrikarbeit. Die sich zementierende, einseitige Erwerbsstruktur im Untergrund bestand<br />

auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch (siehe Anhang 19: Sozialstruktur 1944).<br />

Ein Vergleich der 1910-<strong>1920</strong> im Untergrund sesshaften Steuerpflichtigen erlaubt beschränkte<br />

Aussagen zur beruflichen Mobilität. Die 237 identischen Personen in den Steuerregistern<br />

1910 und <strong>1920</strong> wiesen eine hohe Permanenz der Berufstätigkeit auf. Von den 70 sesshaften<br />

Fabrik- und Hilfsarbeitern, Taglöhnern, Bauamts- und Bahnarbeitern waren <strong>1920</strong> noch 57 in<br />

einem dieser Berufe tätig. Die restlichen 13 wechselten in einen anderen Beruf des 2. Sektors.<br />

Von den 83 Erwerbstätigen, die 1910 mit einem spezifischen handwerklich-gewerblichen<br />

Beruf verzeichnet sind, übten <strong>1920</strong> noch 55 die gleiche Beschäftigung aus. Die restlichen<br />

arbeiteten neu zu einem Drittel als Hilfs- oder Fabrikarbeiter, von den übrigen wiesen vier<br />

neu den Meistertitel auf. Die restlichen 67 sesshaften Steuerpflichtigen blieben ihrem Beruf<br />

ebenfalls grossteils verhaftet (u.a. 23 Händler/Kaufleute, fünf Wirte, sechs Private, acht<br />

Tram-, Bahn- und Schiffahrtsangestellte). Berufliche Statusverbesserungen kamen selten vor.<br />

Die soziale Mobilität im Quartier war gering. Für die Zuzüger, die vorwiegend prestigearme<br />

und schlechtbezahlte Lohnarbeit verrichteten, gilt dies umso mehr. Die sozialräumliche<br />

Segregation dürfte den beruflichen Aufstieg zusätzlich gehemmt haben. Für das Münchner<br />

Westend stellt Bleek fest: "Die vorherrschende Berufskarriere von Angehörigen der<br />

Unterschicht bestand im Verharren auf der vorgegebenen Position im Schichtgefüge." 60<br />

Auch auffällige materielle Statusverbesserungen sind bei den Bewohnern des<br />

Untergrundquartiers kaum zu verzeichnen. Zwei Ausnahmen bestätigen die Regel: Das<br />

Vermögen des Bankabwarts Alois Fischer verzehnfachte sich 1891-1902 von 1'000 auf<br />

10'000 Franken, stieg bis 1908 weiter auf 26'700 Franken an, worauf es sich bis <strong>1920</strong><br />

nochmals verdoppelte. Fürsprech Allgäuer-Haas, einer der reichsten Quartierbewohner<br />

überhaupt, verdoppelte sein Vermögen 1902-1908 beinahe (von 77'500 Franken auf 145'000<br />

Franken).<br />

1860 gehörte Luzern zu den am schwächsten industrialisierten Kantonen der Schweiz. In der<br />

Stadt Luzern fanden nur gerade 200, kantonal 500 Arbeiter und Arbeiterinnen ihr<br />

Auskommen in Fabriken. 61 Ab den 70er Jahren des 19. Jh. beschleunigte sich der<br />

Ablösungsprozess des gewerblichen Verlagssystems und des Handwerks durch<br />

Industriebetriebe. 1907 betrug die Zahl der Beschäftigten in Fabriken des Kantons Luzern<br />

bereits 7'175 (zur Anzahl Fabrikarbeiter siehe Anhang 12 und 14). 62 Die räumlichen<br />

Schwerpunkte der Fabrikindustrie lagen in den grösseren Ortschaften der Region Luzern, v.a.<br />

Emmen und Kriens. Von den Anfang 1918 dem Fabrikgesetz unterstellten 216 Betrieben<br />

entfielen auf die einzelnen Ämter: Luzern-Stadt 42,6% (92 Betriebe), Luzern-Land 13,9%,<br />

Hochdorf 13,4%, Sursee 13,4%, Willisau 10,2% und Entlebuch 6,5%. 63 Die städtische<br />

60 Bleek (1991), S. 219.<br />

61 Huber (1986), S. 26. Jäger (1986), S. 62.<br />

62 Jäger (1986), S. 62.<br />

63 Staatsverwaltungsbericht 1918/19, S. 152.<br />

24


Industriestruktur kennzeichnete eine hohe Zahl kleiner Betriebe. In der bedeutendsten<br />

Industriegemeinde (Emmen) befanden sich viel weniger, dafür umso grössere Betriebe als in<br />

Luzern.<br />

Die stadtluzernischen Behörden hatten der Fabrikindustrialisierung im 19. Jh. wenig<br />

Beachtung geschenkt: Ein kantonales Fabrikgesetz kam - im Gegensatz zu anderen Kantonen<br />

in den 50er und 60er Jahren - nicht zustande. 64 Mit Rücksicht auf die Attraktivität des<br />

Touristenplatzes Luzern betrieb die Stadtregierung eine zurückhaltende<br />

Industrieförderungspolitik und überliess die Ansiedlung mittlerer und grosser Fabrikbetriebe<br />

lieber den Agglomerationsgemeinden. Trotzdem verneunfachte sich die industriell genutzte<br />

Stadtfläche von 1880 bis <strong>1920</strong>. 65<br />

Die Wiege der städtischen Fabrikindustrie war die Reussinsel am nördlichen Zipfel des<br />

Untergrunds, wo sich Kleinindustrie, die Diamantschleiferei Drexler, die mechanischen<br />

Werkstätten Schindler und von Moos angesiedelt hatten. 1870 bestanden in der Stadt 17<br />

Fabriketablissemente. Im Untergrund dominierten Metall- und Maschinenindustrie und<br />

Buchdruckerei. 1888 beschäftigten die grössten Betriebe im Untergrund - die<br />

Diamantschleiferei Drexler (46 Arbeiter), die Buchdruckerei Keller (46 Arbeiter, "Luzerner<br />

Tagblatt"), die Maschinen- und Aufzügefabrik Schindler (14 Arbeiter) sowie Orgelbauer Goll<br />

(19 Arbeiter) - zusammen 125 Arbeiter. 66 Die von Moosschen Eisenwerke und Schindler<br />

hatten ihre Produktion zu diesem Zeitpunkt aus Platzgründen bereits grossteils von der<br />

Reussinsel ausgelagert, von Moos in die Emmenweid, wo ein Bahnanschluss zur Verfügung<br />

stand, Schindler in die Sentimatte. 1894 beschäftigte von Moos in der Schraubenfabrik auf<br />

der Reussinsel noch 35 Männer, 10 Buben und 11 Frauen. 67 10 Jahre später waren für von<br />

Moos insgesamt bereits 480 Arbeiter tätig, allerdings fast alle in der Emmenweid. 1904<br />

produzierten in der Stadt 62 Fabrikbetriebe mit 2'405 Beschäftigten (davon 306 Frauen). Über<br />

100 Beschäftigte zählten nur vier Betriebe: eine Wäscherei im St.-Karli-Quartier, Schindler,<br />

die Buchdruckerei Keller und die Nähmaschinenfabrik im Obergrund.<br />

64 Jäger (1986), S. 77.<br />

65 Martin (1951), S. 137.<br />

66 Brunner (1976), Anhang XV.<br />

67 150 Jahre von Moos, S. 18-19.<br />

25


Tab. 8: Fabrikbetriebe im Untergrund 1904<br />

Arbeiterzahl Pferdestärken<br />

Schindler 128 20<br />

Buchdruckerei Keller 105 14<br />

Buchdruckerei Schill 28 4<br />

Orgelbau Goll 37 8<br />

Altarbau Eigenmann<br />

(Bernstrasse)<br />

16<br />

12<br />

Schreinerei Gauhl-Wirz 7 4<br />

Total 321 62<br />

Quelle: Jb. der Gesellschaft für Handel und Industrie in Luzern 1904, S. 24/25.<br />

Knapp 20% der fabrikindustriellen Arbeitsplätze Luzerns lagen 1904 im Untergrund, in<br />

absoluten Zahlen fast dreimal mehr als 1888. Für städtische Verhältnisse konzentrierten sich<br />

im Untergrund grosse Betriebe. Im Vergleich mit Emmen, wo von Moos 1904 bereits mit<br />

1'550 Pferdestärken produzierte, kam in der Stadt aber generell viel weniger Maschinenkraft<br />

zum Einsatz.<br />

Viele in Fabriken des Untergrunds Beschäftigte wohnten auch im Quartier, wie indirekt aus<br />

den Berufsangaben in den Steuerregistern und der Tatsache, dass es in Luzern nur wenige<br />

Wegpendler gab, geschlossen werden kann. 1910 pendelten nur 504 der insgesamt 17'119<br />

Beschäftigten der Stadt Luzern weg (2,9%), 1'164 pendelten zu (6,8%). 68<br />

Die Luzerner Kantonsregierung handhabte den Vollzug des eidgenössischen Fabrikgesetzes<br />

im 19. Jh. sehr lasch. 69 Das blieb bis in den Ersten Weltkrieg hinein so. Der<br />

Konjunktureinbruch bei Kriegsausbruch in den traditionellen Luzerner Leitsektoren<br />

Fremdenindustrie und Baugewerbe veranlasste den Luzerner Stadtrat zu Verhandlungen mit<br />

der Gesellschaft für Handel und Industrie über die Einführung neuer Industrien. Konkrete<br />

Ergebnisse blieben aus; die Gesellschaft für Handel und Industrie zeigte sich vom<br />

Geschäftsgang durchaus befriedigt. Die Erwerbstätigkeit verlagerte sich auch ohne<br />

flankierende staatliche Massnahmen zusehends in die Fabriken. Bei von Moos z.B. stieg die<br />

Zahl der Arbeiter und Arbeiterinnen von 391 im Jahr 1914 auf 722 im letzten Kriegsjahr.<br />

Frauen ersetzten die Aktivdienst leistenden Männer. Im Herbst 1917 erreichte die<br />

Frauenarbeit in den Fabriken ihren Höhepunkt. Besonders die Metallbranche verzeichnete<br />

laut eidgenössischem Fabrikinspektor eine "gewaltige Zunahme" an Frauenarbeit. Der<br />

Fabrikinspektor schätzte den Anteil von Frauen und Mädchen in der Metallindustrie auf ca.<br />

68 Schweizerische Statistische Mitteilungen, 1/1919: Wohn- und Arbeitsort, S. 42-43.<br />

69 Jäger (1979), S. 196ff.<br />

26


ein Drittel aller in der Branche Beschäftigten. 70 Viele Frauen arbeiteten an Maschinen für die<br />

Munitionsproduktion. Nach Kriegsende verharrte ein Teil der Frauen in den Fabriken, was<br />

sich im Steuerregister <strong>1920</strong> widerspiegelt (<strong>1920</strong>: 171, mehrheitlich ledige Frauen; zum<br />

Vergleich: 1891: 40 Frauen im Steuerregister, 1910: 69). Ab 1915 schnellte die Zahl der<br />

Ausnahmebewilligungen für Überzeit-, Nacht- und Sonntagsarbeit in die Höhe (siehe Anhang<br />

20). Entsprechend erhöhte sich die Zahl der Fabrikunfälle und erreichte 1917 den Rekordwert<br />

von 1'153. Der Fabrikinspektor rügte die Luzerner Regierung wegen Versäumnissen,<br />

insbesondere ungenügenden Kontrollen, beim Vollzug des Bundesratsbeschlusses vom<br />

30. April 1917, der die Arbeitszeit in den Fabriken neu geregelt und die kantonalen<br />

Kompetenzen eingeschränkt hatte: "So kam es, dass wir namentlich im Kanton Luzern bis in<br />

den Sommer und Herbst 1918 hinein noch Fabriken mit ganz ungesetzlicher Arbeitszeit<br />

trafen, an der sie bis dahin niemand gestört hatte." Dass die Behörden 1918 und 1919 nur<br />

zwei Strafen wegen Verletzung des Fabrikgesetzes ausfällten, deutete für den Fabrikinspektor<br />

darauf hin, dass in Luzern Gesetzesübertretungen zu mild geahndet wurden. 71 Die Luzerner<br />

Regierung wertete ihre Bewilligungspraxis für Überzeitarbeit, die weitgehend der<br />

Kriegsmaterialproduktion zugute kam, selber als "fast ein wenig zu liberal", rechtfertigte sie<br />

aber mit dem Hinweis auf die soziale Not. 72 Ein Gesuch der Luzerner Arbeiterunion, die<br />

Betriebe mit Überzeitbewilligungen im Kantonsblatt zu publizieren, lehnte sie ab. 73<br />

4.2. Dienstleistungsstruktur und selbständige Erwerbstätigkeit<br />

Die in den Luzerner Adressbüchern enthaltenen Branchenverzeichnisse erlauben eine<br />

approximative Bestimmung der Selbständigenquote. Das Branchenverzeichnis von 1870<br />

weist für die ganze Stadt etwas über 900 Gewerbetreibende aus, wovon 99 auf den<br />

Untergrund entfallen (gemäss Quartiereinteilung von 1833). Diese stellten 3% der<br />

Quartierbevölkerung dar und waren in 51 Sparten tätig.<br />

Das Branchenverzeichnis von 1890 listet allein für das wesentlich kleinere Gebiet Basel- und<br />

Bernstrasse 223 selbständig Erwerbstätige auf. Subtrahiert man die nicht als selbständig (d.h.<br />

ohne eigenes Geschäft) einzuschätzenden 20 Aushelferinnen, 21 Wäscherinnen, zehn<br />

Weissnäherinnen, 22 Damenschneiderinnen, sieben Glätterinnen und Strickerinnen,<br />

verbleiben 143 (davon allein an der Baselstrasse 139). Das sind 6,7% der<br />

Quartierbevölkerung (36% der Steuerpflichtigen an der Baselstrasse), also wesentlich mehr<br />

als 1870. Zusätzlich zu den via Steuerregister eruierten selbständigen Händlern und<br />

Fabrikanten müssen, um die Zahl von 143 zu erreichen, ein Drittel der als Handwerker und<br />

Gewerbetreibende aufgeführten Zensiten selbständig gewesen sein. Das bedeutet, dass<br />

70 Eidgenössischer Fabrikinspektorenbericht 1916/17, S. 154.<br />

71 Eidgenössischer Fabrikinspektorenbericht 1918/19.<br />

72 Staatsverwaltungsbericht 1916/17, S. 116.<br />

73 CD 8.1.1917.<br />

27


eispielsweise von 15 Schneidern fünf effektiv Schneidermeister und zehn Gesellen und<br />

Hilfskräfte waren.<br />

Mindestens 20% der selbständigen Handwerker, Gewerbetreibenden und Ladenbesitzer von<br />

1870 führten auch 1890 noch einen Betrieb an der Baselstrasse, meistens in derselben<br />

Branche. Tatsächlich dürften es sogar mehr gewesen sein, denn die Zahlen für 1870<br />

schliessen das spätere Bruchquartier mit ein.<br />

Der gesellschaftliche Umbruch der Jahrhundertwende bewirkte einen Rückgang der<br />

selbständig Erwerbstätigen bis <strong>1920</strong>. Besonders der Handwerkerstand unterlag einer<br />

qualitativen und quantitativen Ausdünnung. Das Branchenverzeichnis von 1921 rubriziert<br />

nurmehr 118 Selbständige an der Bern- und Baselstrasse (Baselstrasse: 83; Bernstrasse: 25),<br />

wovon nur noch fünf Glätterinnen und Wäscherinnen. Während die Zahl der<br />

Lebensmittelläden und Wirtschaften im Untergrund 1890-<strong>1920</strong> beträchtlich anstieg, waren<br />

die mit einem Gewerbebetrieb gekoppelten Sparten (z.B. Schuhmacher) rückläufig (siehe<br />

Tab. 9).<br />

Der Vergleich der Branchenverzeichnisse 1890 und 1921 ergibt nur noch acht sichere<br />

Identifikationen (zur Branchenstruktur im Untergrund 1870-1921 siehe Anhang 15).<br />

1870 fehlten folgende Berufsgruppen bzw. Geschäfte (gesamtstädtisch 150 Nennungen) im<br />

Untergrund: Ärzte, Apotheken, Weinhändler, Weisswarenhandlungen, Zimmermeister,<br />

Kunstmaler, Charcuterien, Cigarren- und Tabakwaren, Hebammen, Südfrüchtehandlungen,<br />

Quincaillerien und Photographen. Hingegen existierten bereits zehn Spezereien und sechs<br />

Wein-, Bier- und Speisewirtschaften.<br />

Für 1890 und 1921 habe ich eine detaillierte Auszählung für das Gebiet nördlich des<br />

Kasernenplatzes vorgenommen. Neu gab es 1890 im Quartier einen Arzt, ein<br />

Delikatessengeschäft sowie Tabak- und Spirituosegeschäfte. Auf den Alltagsbedarf<br />

ausgerichtete Lebensmittel- und Kleiderläden beherbergte der Untergrund<br />

überdurchschnittlich viele. Luxusprodukte wie Corallen oder Elfenbeinwaren, welche im<br />

Fremdenquartier Hof feilgeboten wurden, fehlten, ebenso Konfektionsgeschäfte und Bazare.<br />

In der Dichte an Wirtschaften übertraf der Untergrund alle anderen Quartiere. Neben den<br />

offiziellen bestanden auch illegal Alkohol ausschenkende Winkelwirtschaften, was den<br />

städtischen Wirteverein 1891 zu einer Reklamation an den Regierungsrat veranlasste.<br />

28


Tab. 9: Dienstleistungsdichte 1890-1921 (Auswahl)<br />

Durchschnittlicher steuerbarer<br />

Jahreserwerb gesamtstädtisch<br />

1910<br />

Anzahl Geschäfte<br />

1890<br />

29<br />

Anzahl Geschäfte<br />

1921<br />

U L R U L R<br />

Apotheken, Drogerien, Optiker 5'614 - 3 10 1 13 14<br />

Ärzte/Zahnärzte 6'990 1 14 20 1 37 36<br />

Advokaten 5'607 2 12 10 2 14 19<br />

Banken 56'169 - 6 8 - 13 9<br />

Buchhandlungen 5'583 - - 4 - 4 9<br />

Metzgereien, Bäckereien, Konditoreien,<br />

Butterhandlungen und Sennereien<br />

Obst- und Gemüsehandlungen,<br />

Spirituosenhandlungen, Cigarren- und<br />

Tabakgeschäfte, Delikatessgeschäfte<br />

3'228<br />

2'160<br />

Schuhmacher/Schuhhandlungen 2'134 11 38 60 9 41 45<br />

Bonneterien 2'822 4 12 17 2 20 17<br />

Kurzwaren, Mercerien, Quincaillerien 2'805 8 29 37 3 28 15<br />

Wirtschaften 2'425 14 59 76 23 92 83<br />

Total 68 279 411 84 496 410<br />

U: Untergrund L: linkes Ufer (inklusiv Untergrund) R: rechtes Ufer<br />

Quellen: Berufsregister Stadt Luzern 1909-1914. Branchenverzeichnisse der Stadt Luzern.<br />

Definition Untergrund: ab Kasernenplatz, beim Beginn der Baselstrasse, nordwärts.<br />

Doppel- und Mehrfachnennungen wurden eliminiert. Bei den Ärzten und Advokaten wurden<br />

nur die praktizierenden erfasst. Bei den Advokaten beziehen sich die Zahlen für 1921 auf die<br />

Advokaturbüros, sind also nicht direkt mit jenen für 1890 vergleichbar. Der Rückgang der<br />

Detailhandelsgeschäfte im Bereich Kleidung erklärt sich mit dem gegen 1900 einsetzenden<br />

Warenhausboom.<br />

Beim durchschnittlichen Jahreserwerb 1910 konnten Spirituosehandlungen und<br />

Kurzwarengeschäfte nicht einbezogen werden.<br />

9<br />

19<br />

43<br />

63<br />

60<br />

109<br />

13<br />

30<br />

79<br />

155<br />

56<br />

107


Für geschäftliche Standortentscheide stehen generell Zentralität und repräsentative Lage im<br />

Vordergrund, wobei deren Bedeutung je nach Branche variiert. 74 Dass angesichts der für<br />

Ärzte besonders wichtigen Wohnstandortorientierung75 der Patienten noch <strong>1920</strong> nur ein Arzt<br />

im Untergrund wohnte, überrascht. Dass viele unterprivilegierte Quartierbewohner auf den<br />

Armenarzt angewiesen waren, reicht als Erklärung nicht aus.<br />

An der Tertialisierung hatte der Untergrund nur einseitigen Anteil. Banken und<br />

Versicherungen, in Luzern eh schwach vertreten, fehlten gänzlich. Ausschliesslich<br />

geschäftlich genutzte Gebäude zählte der Untergrund 1897 nur fünf, am wenigsten von allen<br />

Quartieren (am meisten die Kleinstadt mit 24). 76 Zwei traditionell in der St.-Jakobs-Vorstadt<br />

verwurzelte Geschäfte entwickelten sich um die Jahrhundertwende zu bedeutenden<br />

Handelshäusern: die Spezerei Hochstrasser (1852 gegründet) und die Eisenhandlung<br />

Bielmann. Schlossermeister Leonz Bielmann hatte 1829 eine Nagelhandlung gegründet,<br />

produzierte Glocken und betrieb Eisenwarenhandel. 77 Seine Erben visualisierten den<br />

geschäftlichen Erfolg: Zum 75jährigen Jubiläum 1904 errichteten sie ein Wohn- und<br />

Geschäftshaus mit 800 Quadratmetern Verkaufsfläche und 40 Wohnungen. 100 Angestellte<br />

arbeiteten auf acht Etagen. Der präziöse, mit Turmhauben, verzierten Erkern, Reliefs und<br />

Fenstergiebeln ausgestattete Jugendstilbau erregte öffentlichen Anstoss, weil die Pilaster in<br />

Form nackter Figuren geschaffen waren. 78 Die Aufrichte-Feier bot Anlass zu folgendem<br />

Reim: "Das neue Haus ist aufgericht - Und hat von allen Seiten Licht - Ein schöner Bau, so<br />

gross und weit - Und praktisch nach der neuen Zeit - Verzögerung gab es beim Beginn -<br />

Wegen Streik der Tschinggen im Tessin - Die Steine kamen lang nicht an - Weil dorten<br />

schaffte nicht ein Mann." 79 1912/13 baute Hochstrasser das Haus zum Baslertor, das in<br />

seinem heroisch-trutzigen Stil an eine Burg erinnerte (erstes Luzerner Betonhaus, siehe<br />

Anhang 67). 80<br />

Die Analyse der Dienstleistungsstruktur macht evident, dass der Untergrund im Zuge der<br />

städtischen Nutzungsdifferenzierung an der Entwicklung des linken Ufers um die<br />

Jahrhundertwende zum Dienstleistungs- und Gewerbezentrum - das rechte Ufer verstärkte<br />

seinen Charakter als Fremdenverkehrs-, Laden- und gehobene Wohnzone - kaum<br />

partizipierte. Er blieb einer autarken, auf Subsistenzbedürfnisse ausgerichteten<br />

Dienstleistungsstruktur verhaftet. Prestige- und renditearme Nutzungsarten dominierten. Die<br />

tiefen Mietpreise für Geschäftslokale förderten die funktionelle Differenzierung. Nach<br />

74 Heineberg (1987), S. 295.<br />

75 Für Münster und Dortmund nachgewiesen in: Heineberg (1987), S. 267-302.<br />

76 Pietzcker (1898), S. 60.<br />

77 100 Jahre Bielmann.<br />

78 LT 23.10.1970.<br />

79 Graphiksammlung (Zentralbibliothek Luzern).<br />

80 LT 21.6.1975.<br />

30


Pietzcker betrug der Mietwert eines Geschäftslokals im Untergrund Ende 19. Jh. 825 Franken,<br />

im Hof das doppelte, in der Grossstadt durchschnittlich 1'130 Franken. 81<br />

Träger wirtschaftlicher Macht wohnten kaum im Untergrund. Von den 162 Verwaltungsräten<br />

der 68 im Adressbuch von 1911 verzeichneten Aktiengesellschaften, Bankinstitute und<br />

Sparkassen lebte einzig Fürsprech Allgäuer-Haas im Quartier. Er gehörte dem Verwaltungsrat<br />

der Finanzgesellschaft für Hochdorfer Industrien an.<br />

Exkurs 1: Zur Verschärfung der Klassenlage am Beispiel der Aufzüge- und<br />

Maschinenfabrik Schindler und der Gewerkschaftsbewegung<br />

Robert Schindler (<strong>1850</strong>-<strong>1920</strong>) betrieb seit 1874 eine mechanische Werkstätte auf der<br />

Reussinsel zur Produktion von Dampfmaschinen, Schiffsmotoren sowie Hotel- und<br />

Wäschereieinrichtungen. 1883 verlegte er den Betrieb aus Platzgründen in die Sentimatt. Die<br />

Fertigung des ersten Aufzugs Ende der 80er Jahre leitete die Expansion zum international<br />

renommierten Unternehmen ein. 82 1904 beschäftigte Schindler bereits 124 Arbeiter und vier<br />

Arbeiterinnen (1988 erst 15 Arbeiter). 83<br />

Robert Schindler pflegte eine gewisse Quartierbindung. Er bewohnte ein Haus inmitten seines<br />

Betriebes, ehe er als Rentner in eine Villa im Hofquartier umzog (vor 1910). 84 Als<br />

Vorstandsmitglied des Quartiervereins "Wächter am Gütsch" (Baselstrasse) hielt er 1899 die<br />

Festrede zur Eröffnung der Tramlinie im Untergrund; zudem gehörte er der St.-Jakobs-<br />

Gesellschaft an, einem ursprünglich in der St.-Jakobs-Vorstadt beheimateten<br />

Geselligkeitsverein, der sich Ende 19. Jh. zum vornehmen liberalen Herrenclub entwickelt<br />

hatte (siehe Kap. 9.1.). Schliesslich amtierte Schindler als liberales Mitglied des Grossen<br />

Stadtrates, in den er 1899 mit den meisten Stimmen aller Kandidaten des Wahlkreises<br />

Bruch/Untergrund gewählt wurde. 85<br />

Die spärlichen Quellen zur Firmengeschichte zeichnen das Bild eines paternalistisch<br />

geführten Familienbetriebs: "Durch regelmässige Zuwendungen und Gratifikationen wusste<br />

er dieses (Schindler das Personal, d.V.) arbeitsfreudig zu halten." 86 Das Zitat enthüllt, wie zu<br />

zeigen sein wird, den strategischen Kern der Arbeiterpolitik Schindlers, wie sie sich mit der<br />

Expansion des Unternehmens im Zuge des soziopolitischen Wandels der Jahrhundertwende<br />

ausprägte.<br />

1901 übernahm Alfred Schindler (1873-1937), der Neffe Roberts, die Leitung der Firma. Der<br />

schnelle Ausbau des Unternehmens und die Verschärfung der sozialen Gegensätze im ersten<br />

Jahrzehnt des 20. Jh. stellten neuartige Anforderungen an die Betriebsführung.<br />

81 Pietzcker (1898), S. 55, 77-78.<br />

82 Gründung einer Tochtergesellschaft in Berlin 1906, Fabrikanlagen in Amerika und Russland. Letztere gingen<br />

in der Revolutionszeit verloren (Nekrolog Alfred Schindler, in: LT 16.10.1937).<br />

83 Jb. der Gesellschaft für Handel und Industrie in Luzern, 1904, S. 25. Brunner (1976), Anhang XV.<br />

84 Adressbücher der Stadt Luzern.<br />

85 "Vom Gütsch zur Reuss", S. 35.<br />

86 Nekrolog Alfred Schindler, in: LT 16.10.1937.<br />

31


Mit der Gründung der Arbeiterunion 1901 als gemeinsames Forum der sozialdemokratischen<br />

Partei und des Gewerkschaftsbundes und eines Arbeitersekretariats 1905 schuf sich die<br />

Luzerner Arbeiterbewegung Koordinationsgefässe. 87 Die Fachvereine als Vertretung jeweils<br />

einer Berufsgruppe wurden zu Sektionen zusammengefasst. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jh.<br />

nahm der Anteil der Arbeiterunion angeschlossener Gewerkschafter rapid zu (1901: 700 von<br />

ca. 2'000 Gewerkschaftsmitgliedern; 1907: 2'150 von ca. 3'000; siehe Anhang 47). Die<br />

Luzerner Fabrikarbeiter und -arbeiterinnen begannen sich parallel zum Wachstum der<br />

Industriebetriebe um die Jahrhundertwende gewerkschaftlich zu organisieren. Im Gegensatz<br />

zu den handwerklich-gewerblichen Berufsgruppen erreichten die Industriegewerkschaften erst<br />

relativ spät eine gewisse Stärke, weil die Fabrikindustrialisierung in Luzern mit provinzieller<br />

Verspätung eingesetzt hatte und generell eher schwach war. Dies hatte sozialpolitische<br />

Konsequenzen: So konnte z.B. der 10-Stunden-Tag in der Metallbranche und bei Schindler in<br />

Luzern erst 1907 durchgesetzt werden. 88<br />

Die lokalen Führer der Arbeiterbewegung beurteilten das Klassenbewusstsein der Luzerner<br />

Fabrikarbeiterschaft als mangelhaft. Der "Centralschweizerische Demokrat" diagnostizierte<br />

kleinbürgerliche und ländliche Anschauungen in der Denkweise der Fabrikarbeiterschaft<br />

erster Generation. 89 Arbeitersekretär Gottlieb Graf beanstandete, viele Mitglieder betrachteten<br />

die Gewerkschaften lediglich als Lohnerhöhungsinstrument bei guter Konjunktur, liessen sie<br />

aber in Krisenzeiten, wenn es gälte, Abwehrkämpfe zu führen, im Stich. 90<br />

Die hohe Fluktuation der Fabrikbelegschaften und deren Unerfahrenheit mit Fabrikarbeit<br />

hemmten die Ausbildung eines Klassenbewusstseins. Der überwiegende Teil der 1925 in die<br />

Viscose eintretenden Arbeiter und Arbeiterinnen z.B. hatte vorher nicht in einem<br />

Fabrikbetrieb gearbeitet. Zwei Drittel von ihnen traten vor Ablauf von drei Jahren wieder aus<br />

der Fabrik aus. 91 Die Mitgliederfluktuation der Metallarbeitersektion Luzern z.B. lag 1916 bei<br />

50% ihres Gesamtbestandes; 1917 übertrafen die Abgänge sogar den Mitgliederbestand von<br />

Anfang Jahr, wurden allerdings durch Neuzugänge mehr als wettgemacht (418 Abgänge, 612<br />

Zugänge). 92 Diese strukturelle Instabilität war einer kontinuierlichen Gewerkschaftspolitik<br />

abträglich.<br />

Die längerfristige Mitgliederentwicklung der Metallarbeitergewerkschaften lässt aber<br />

durchaus Fortschritte des Organisationsgedankens erkennen. Die Sektionen von Luzern und<br />

Emmenbrücke wiesen nach rasantem Zuwachs Anfang 20. Jh. 1907 zusammen 377<br />

Mitglieder auf. Der Beginn des Ersten Weltkriegs bewirkte einen Mitgliedereinbruch (1915<br />

noch 269). Gegen Kriegsende erfolgte ein sprunghafter Anstieg: Mit 1'126 Mitgliedern<br />

(Luzern 470, Kriens 238, Emmenbrücke 418) waren Anfang 1918 im Vergleich zum höchsten<br />

87 Schmid (1974), S. 50.<br />

88 "10 Jahre Gewerkschaftsarbeit Luzern-Emmenbrücke", S. 3-4.<br />

89 CD 12.1.1917.<br />

90 Jb. des sozialdemokratischen Arbeitersekretariats 1921, S. 4.<br />

91 Troxler (1992), S. 13 und 18.<br />

92 Jb. des SMUV.<br />

32


Wert der Vorkriegszeit bereits dreimal mehr Metallarbeiter organisiert. Die Wirtschaftskrise<br />

Anfang der 20er Jahre zog in Luzern die Metallbranche am stärksten in Mitleidenschaft.<br />

Ganze Werkstätten standen still. Ab 1921 fiel die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder massiv.<br />

Die Mitgliederkurve der meisten Luzerner Gewerkschaften verläuft analog. Eine Ausnahme<br />

war der 1895 von Josef Albisser gegründete Luzerner Eisenbahnarbeiterverein, der sich durch<br />

hohe Stabilität seines Mitgliederbestandes auszeichnete, was einer planmässigen,<br />

kontinuierlichen Vereinspolitik förderlich war (1907: 500 Mitglieder; 1914: 400; <strong>1920</strong>: 400;<br />

1924: 400). 93 Nicht zufällig galt das im Vergleich zur Fabrikarbeiterschaft auch sesshaftere<br />

Eisenbahnpersonal als "Rückgrat" der Luzerner Arbeiterbewegung.<br />

Der Organisationsgrad der Fabrikarbeiterschaft stieg 1906-1917 zwar von ca. 20% auf 40%<br />

an, blieb damit aber noch weit hinter den bestorganisierten handwerklich-gewerblichen<br />

Branchen zurück (Organisationsgrad 1906: Steinhauer 100%, Zimmerleute 95%, Spengler<br />

90%, Holzarbeiter 85%, Schneider 60-70%, Typographen 60%). 94<br />

Im ersten Jahrzehnt des 20. Jh. häuften sich die Arbeitskämpfe (Spitzenjahre 1906 mit sieben<br />

und 1907 mit 12 Streiks, siehe Anhang 51). Am meisten gestreikt wurde im Baugewerbe<br />

(41mal), in der Bekleidungs- und Ausrüstungsindustrie kam es zu 15 Streiks, im<br />

Verkehrssektor nur zu einem. 95 Der Grossteil der Ausstände fand in den gewerkschaftlich gut<br />

organisierten handwerklichen Branchen statt. Die Streikbeteiligung unterlag starken<br />

Schwankungen: bei den fünf Streiks der Zimmerleute 1906-1914 lag sie zwischen 10% und<br />

82%, in den vier Streiks der Schuhmacher überstieg sie nie 25% der Beschäftigten. 96 Die<br />

Gesellschaft für Handel und Industrie und der Gewerbeverein reagierten mit der Ausarbeitung<br />

von Streikreglementen und internen Umstrukturierungen, um die Gewerkschaften effizienter<br />

bekämpfen zu können. 1916-1925 fanden im Vergleich zu den Spitzenjahren der<br />

Vorkriegszeit weniger, dafür grössere Ausstände statt.<br />

Erstmals wurden Anfang 20. Jh. auch Fabriken bestreikt. Zwei Streikwellen lassen sich<br />

erkennen: die erste 1902-1910 mit sieben, die zweite 1916-<strong>1920</strong> mit fünf Streiks. In der<br />

zweiten Streikwelle dominierten Angriffsstreiks. 97 In der Wirtschaftskrise Anfang der 20er<br />

Jahre streikten die Fabrikarbeiter nicht mehr.<br />

1886 hatten 67 Arbeiter und Arbeiterinnen des Eisenwerks Emmenweid (von Moos) unter<br />

Anführung ihres Direktors am Festspiel des 500-Jahr-Jubiläums der Schlacht bei Sempach<br />

teilgenommen. In Kriegstracht des 14. Jahrhunderts gekleidet, stellten sie den Tross und die<br />

Nachhut des eidgenössischen Heeres dar. Dies war der erste "Betriebsausflug" bei von Moos<br />

überhaupt. 98 Ausbau und Anonymisierung der Fabrikbetriebe veränderten das Betriebsklima<br />

um die Jahrhundertwende. 1905 und 1906 fanden bei von Moos die ersten Ausstände statt.<br />

93 Huber (1986), S. 111.<br />

94 2. Jb. des sozialdemokratischen Arbeitersekretariats Luzern 1906, S. 8. Schmid (1974), S. 54.<br />

95 Anzahl Streiks nach Berufsgruppen: Steinhauer 9, Zimmerleute 8, Schneider 7, Maler und Tapezierer 5,<br />

Schuhmacher und Schreiner je 4 (Hirter, 1988, S. 527ff.).<br />

96 Die Streikbeteiligung nach Hirter (1988) wurde korreliert mit der Beschäftigtenzahl der jeweiligen Berufsart.<br />

97 Streiks in Fabrikbetrieben fanden in den Jahren 1902, 1904, 1905, 1906, 1907, 1908 und 1910 statt.<br />

98 150 Jahre von Moos, S. 12.<br />

33


1906 und 1907 wurde die neben Schindler in der Sentimatte gelegene mechanische<br />

Werkstätte Ehrenberg zweimal bestreikt (1906: 6 Tage/20 Beteiligte; 1907: 12 Tage/10<br />

Beteiligte). 99 Schindler konnte im November 1906 durch die Annulierung einer Kündigung<br />

im letzten Moment einen Streik abwenden. 100 Im gleichen Jahr begann er mit dem Bau einer<br />

Wohnsiedlung für seine Arbeiter im Rönnimoos an der oberen Bernstrasse. Bis 1909 waren<br />

54 Familien in die nach griechischen Göttern benannten, im Schweizerhausstil gebauten<br />

Häuschen eingezogen. 101 Zusätzlich vermietete Schindler in der Sentimatte Wohnungen an<br />

seine Belegschaft, die somit mehrheitlich in fabrikeigenen Wohnungen untergebracht war. 102<br />

Bei Kriegsausbruch beschäftigte Schindler 155 Arbeiter in der Sentimatt und 50 in der<br />

Giesserei in Emmenbrücke. Mit der Umstellung der Produktion auf Kriegswirtschaft rückte<br />

Schindler zum bedeutendsten Luzerner Hersteller von Granathülsen und Munition für die<br />

Schweizer Armee auf. Schon bald erwiesen sich die Fabrikationsgebäude in der Sentimatt als<br />

zu eng, so dass Schindler 1916/1917 acht angrenzende Liegenschaften aufkaufte. In der<br />

zweiten Kriegshälfte herrschte in der Metallbranche sporadisch ausgezeichnete Konjunktur,<br />

indirekt ablesbar etwa am städtischen Wanderungsgewinn von fast 3'000 Personen 1917 und<br />

am Anstieg des städtischen Erwerbssteuerkapitals 1916-18 um 45%. 103 Die Kriegskonjunktur<br />

schürte die Konkurrenz zwischen den industriellen Arbeitgebern. So versuchte die Viscose-<br />

Direktion ihre Arbeiterschaft von Übertritten zu Schindler abzuhalten, indem sie vor einem<br />

Zusammenbrechen der hohen Schindler-Löhne nach dem Abflauen der Kriegskonjunktur<br />

warnte. 104 Tatsächlich führten von der Auftragslage abhängige, kurzfristige<br />

Konjunkturschwankungen mitunter zu massiven Entlassungen, etwa im August 1918, als<br />

Schindler der 200köpfigen Spendmühle-Belegschaft im Obergrund, wo auch Munition<br />

hergestellt wurde, kündigte. 105 Sporadisch zählte die Schindler-Belegschaft gegen Kriegsende<br />

um die 1'000 Personen, darunter viele Frauen. 106<br />

Die soziale Unrast schürte die Kolportage von Gerüchten in Quartier und Presse. Der<br />

"Centralschweizerische Demokrat" veröffentlichte 1918 einen "Offenen Brief an den<br />

Munitionsfabrikanten A. Schindler", in dem ein entlassener Schindler-Arbeiter seinen<br />

ehemaligen Chef des illegalen Exports von Aluminium und in Granathülsen eingemachter<br />

Butter beschuldigte. Schindler reagierte mit einem scharfen Dementi. 107<br />

99 Hirter (1988), S. 1554 und 1560. 1908 verlegte Ehrenberg nach einem Brand seinen Betireb an die<br />

Bernstrasse, wo er auch wohnte.<br />

100 2. Jb. des sozialdemokratischen Arbeitersekretariats Luzern 1906, S. 8-9.<br />

101 Mündliche Auskunft von Dr. Rutzki, Archivbetreuer bei Schindler.<br />

102 Mündliche Auskunft von Jacob Scherrer.<br />

103 Vber. StR. 1917/1918, S. 58.<br />

104 Viscose-Post, 4/1956, S. 92. Auch Bern wies dank florierender Maschinenindustrie demographische<br />

Kriegsgewinne aus; andere Städte, etwa St. Gallen, erlitten Bevölkerungsverluste.<br />

105 Schelbert (1985), S. 30.<br />

106 Schelbert (1985), S. 36.<br />

107 CD 6.5.1918 und 11.5.1918. Auch Jacob Scherrer erinnert sich, das Gerücht habe im Quartier zirkuliert, dass<br />

Schindler in Granathülsen Butter ausser Landes schmuggelte.<br />

34


Seit 1917 hatten sich Lohnbewegungen und Streiks auch bei Schindler gehäuft (siehe Anhang<br />

50 und 52). Sozialistisches Gedankengut gewann in der Arbeiterschaft an Popularität. Bei der<br />

Wahl einer Fabrikkommission 1918 erhielt die freie Gewerkschaft viermal so viele Stimmen<br />

wie die freisinnigen und christlichsozialen Kandidaten zusammen. Die christlichsoziale<br />

Konkurrenz zu den freien Gewerkschaften war in der Metallbranche schwächer als in der<br />

Textilbranche. Der alteingesessene Arbeiterstamm stellte bei Kriegsende nurmehr die<br />

Minderheit der Belegschaft. Während Lohnbewegungen für die Gewerkschaft meist<br />

erfolgreich verliefen, blockte Schindler Begehren auf eine Verkürzung der Arbeitszeit<br />

konsequent ab. Am Beispiel von zwei Streiks 1918 und 1919 lässt sich zeigen, dass sich<br />

Schindlers Bemühungen, einen dem Betrieb verbundenen, kleinbürgerlichen Arbeiterstamm<br />

heranzubilden, für die betriebsinterne Konfliktregulierung auszahlten.<br />

1918 handelten der ASM (Arbeitgeberverband der schweizerischen Metall- und<br />

Maschinenindustrie) und der SMUV ein Abkommen aus, das die Einführung der 54-Stunden-<br />

Woche per 1. April festschrieb. Schindler, obwohl selber Verbandsmitglied, sträubte sich, das<br />

Abkommen im eigenen Betrieb voll umzusetzen. Er berief sich auf eine Vertragsklausel,<br />

wonach Betriebe mit bisheriger 58- und 59-Stunden-Woche lediglich zu einer<br />

Arbeitszeitreduktion auf 56 Stunden verpflichtet wurden. Allerdings hatte Schindler bislang<br />

57 Stunden arbeiten lassen. Neu offerierte er 55.5 Stunden bei freiem Samstagnachmittag.<br />

Die Funktionäre der SMUV-Zentrale in Bern wehrten sich vehement gegen eine Verletzung<br />

des Abkommens durch Schindler. Verbandssekretär Stähli empörte sich in einem Schreiben<br />

an den Luzerner Metallarbeitersekretär Zimmerli: "Wir wollen dem Schindler keine Ruhe<br />

lassen, denn es geht einfach nicht an, dass dieser grosse Protz dem Abkommen eine Nase<br />

drehen kann." 108 Mehrmals reiste Stähli zu Belegschaftsversammlungen nach Luzern, ohne<br />

Erfolg. Die Belegschaften in Emmenbrücke und in der Sentimatt fanden zu keiner<br />

gemeinsamen Strategie. Während die Arbeiterschaft in Emmenbrücke Kampfmassnahmen<br />

befürwortete, verhandelten altgediente Arbeiter von der Sentimatt ohne offizielles SMUV-<br />

Mandat mit Schindler - und einigten sich. Dieser gewährte eine Lohnerhöhung, blieb aber in<br />

der Arbeitszeitfrage hart. 109 Im "Metallarbeiter" liess Stähli seinem Zorn über das<br />

eigenmächtige Vorgehen der Arbeiter freien Lauf: "Bei dieser Firma hat der 'Kunsthonig', das<br />

heisst die 'Wohlfahrtseinrichtungen' von jeher eine grosse Rolle gespielt, durch welche die<br />

Arbeiterschaft korrumpiert wurde. ... Aus diesen Gründen konnte der Schindlersche Betrieb<br />

nie vollzählig organisiert werden." 110 "Mit diesen Leuten ist doch nun rein nichts<br />

anzufangen", zog er in einem Schreiben an Zimmerli die bittere Bilanz. 111 Einige ältere<br />

Luzerner Genossen traten wegen Stählis Artikel aus dem SMUV aus. Der Luzerner SMUV-<br />

Vorstand hatte sich, in Kenntnis der Stimmung bei den Schindler-Arbeitern, vergebens beim<br />

108 Schreiben Stählis an Zimmerli vom 11.5.1918 (SMUV-Archiv).<br />

109 "Metallarbeiter" 20.7.1918.<br />

110 "Metallarbeiter" 20.7.1918.<br />

111 Schreiben Stählis an Zimmerli vom 24.5.1918 (SMUV-Archiv).<br />

35


Zentralverband gegen eine Publikation von Stählis Artikelserie im "Metallarbeiter"<br />

eingesetzt. 112<br />

Die Aufsplitterung der Schindler-Belegschaft auf zwei Ortschaften und Betriebe hatte sich für<br />

die Gewerkschaft strategisch nachteilig ausgewirkt. Als Konsequenz daraus fusionierten Ende<br />

1918 die Metallarbeiter von Luzern und Emmenbrücke und schufen ein gemeinsames<br />

Platzsekretariat.<br />

1919 scheiterte ein von 45 Giessern in Emmenbrücke 79 Tage lang erbittert geführter Streik<br />

für eine Arbeitszeitreduktion auf 50 Stunden sowie eine Lohnerhöhung kläglich. Die<br />

Schindler-Belegschaft in der Sentimatt solidarisierte sich nicht mit ihren Betriebskollegen in<br />

Emmenbrücke, was den "Centralschweizerischen Demokraten" dazu veranlasste, von<br />

"abgerackerten" und in selbstverschuldeter "Sklaverei" gehaltenen Schindler-Arbeitern zu<br />

sprechen. 113 Einige Schindler-Arbeiter gründeten sogar eine christlichsoziale Gewerkschaft<br />

zum "Schutz vor rotem Terror". 114 Nach Aufhebung der Sperre über die Giesserei begann die<br />

Streikfront abzubröckeln. Schindler liess sich aber auch nach dem Rückzug der Streikposten<br />

auf keine Verhandlungen ein. 115 Die Giessergewerkschaft mit über 100 Mitgliedern brach<br />

schliesslich völlig zusammen und hinterliess in der lokalen SMUV-Kasse ein Finanzloch<br />

(Streikaufwendungen: 1918 etwas über 1'000 Franken, 1919 über 14'000 Franken). 116<br />

In der Wirtschaftskrise Anfang der 20er Jahre stand eine Verbesserung der Lohn- und<br />

Arbeitsbedingungen nicht zur Diskussion. Schindler blieb, weil er trotz grassierender<br />

Arbeitslosigkeit (<strong>1920</strong>: 535 Arbeitslose in der Stadt; 1921: 2'193117 ) ständig Überzeit-<br />

Arbeitsbewilligungen erhielt, in den Schlagzeilen der Arbeiterpresse. 1921 endete eine von<br />

der kommunistischen Partei Luzerns organisierte Kundgebung gegen die Arbeitslosigkeit mit<br />

einem Aufmarsch vor der Fabrik in der Sentimatt, worauf Schindler laut dem Luzerner<br />

Berichterstatter der kommunistischen "Neuen Ordnung" die Polizei anforderte. Der Artikel<br />

mündet in eine Breitseite gegen sozialdemokratische "Worthelden" und in die Propagierung<br />

eines unabhängigen Gewerkschaftskartells auf Grundlage der Betriebsräteorganisation. 118 Bei<br />

fortgesetzter Lektüre der in den kommunistischen Organen ("Kämpfer", "Neue Ordnung",<br />

"Neue Jugend") verstreuten Artikel einheimischer Kommunisten über Luzerner Ereignisse<br />

erhärtet sich der Eindruck, dass im Spannungsfeld utopischer Ideologieentwürfe und simplen<br />

Aktionismus' der Zorn der Ohnmacht durchscheint. Charakteristisch für die kommunistische<br />

Optik waren antithetische Überzeichnungen, etwa wenn der "Kämpfer" Schindlers Biographie<br />

112 Schreiben Stählis an den SMUV Luzern vom 22.5.1918. Die Artikel Stählis erschienen am 20.7.1918 und<br />

27.7.1918 im "Metallarbeiter".<br />

113 CD 25.6.1919.<br />

114 50 Jahre CMV (Christlicher Metallarbeiter-Verband) Luzern, S. 9.<br />

115 Schreiben Zimmerlis an den SMUV vom 30.9.1919 (SMUV-Archiv).<br />

116 "10 Jahre Gewerkschaftsarbeit Luzern-Emmenbrücke", S. 6. und 15. Schreiben Zimmerlis an den SMUV<br />

vom 30.10.1919 (SMUV-Archiv).<br />

117 Trüeb (1992), S. 38.<br />

118 "Neue Ordnung" 18/5.2.1921.<br />

36


als Werdegang vom "Sozialpolitiker", der früher noch mit den Arbeitern im Volkshaus<br />

diskutiert habe, zum "Fabrikprotz" skizziert. 119<br />

1924 titelte das "Zentralschweizerische Arbeiterblatt" 120 "Pascha-Wirtschaft", als eine<br />

Betriebsversammlung mit 150 Teilnehmern einwilligte, sechs Monate lang 52 Stunden zu<br />

arbeiten, falls keine Lohnreduktion erfolge. Damit war die inzwischen gesetzlich verankerte<br />

48-Stunden-Woche kampflos preisgegeben. 121 In einem Schreiben an den SMUV titulierte<br />

Zimmerli die Schindler-Belegschaft als "hinterwäldlerisch". 122 Auch 1925 konnte Schindler<br />

dank Ausnahmebewilligungen teilweise 52 Stunden arbeiten lassen. Da Schindler keine<br />

Lohnreduktionen vorgenommen und die Belegschaft seit April 1924 um 40 Mann auf 354<br />

aufgestockt habe, sei es verständlich, so Stähli, dass Schindler mit seiner "feigen Brut" keine<br />

Differenzen zu befürchten habe. 123<br />

Solidaritätshemmende Wirkung auf die Arbeiterschaft entfaltete auch ein ausgeklügeltes<br />

Akkordlohnsystem. Ein vom 7. Januar 1921 datierter Brief einer Luzerner "Arbeiterfrau und<br />

Mutter" an die SMUV-Zentrale, der sich über einen antiklerikalen Artikel im "Metallarbeiter"<br />

beschwert, illustriert dies.<br />

"... an Gehässigkeiten und Nörgeleien waren wir ja bald gewöhnt, aber unsere Geistlichkeit angreifen<br />

lassen wir nicht, wenn wir auch nur Arbeiterleute sind und beide dem Verdienst nachgehen. Sie schreiben<br />

unter anderem, unsere Geistlichen haben die Waffen gesegnet und vergessen dabei, dass diese Waffen<br />

auch von den Sozialisten gemacht wurden ... Zu Tausenden wurde Tag und Nacht gearbeitet und jeder<br />

Rappen, den einer mehr im Akkord verdiente, von dem anderen Genossen neidisch vergönnt - da sehen<br />

Sie - wenn zwei dasselbe tun. ... Wäre ich ein Mann und hätte die Bildung zum Artikel schreiben, würde<br />

ich es machen, aber bin nur ein Weib und wurde nicht dazu geschult, aber eines kann ich, meine Buben<br />

recht erziehen, dass es auch rechte Menschen gibt, keine Gottesleugner und keine Volksbeglücker der<br />

modernen Freiheit, die doch keine Freiheit ist, sondern: 'Willst Du nicht mein Bruder sein, schlag ich Dir<br />

den Schädel ein!' So ungefähr sieht es aus, solange sie in ihrem Sozialismus nicht untereinander<br />

auskommen können, 99 verschiedene Richtungen habt, dem andern jede Lohnerhöhung vergönnt...<br />

Kremation von dem 'Metallarbeiter' hat schon stattgefunden, dieser Artikel hat ihn umgebracht in unserer<br />

Familie und wo ich nur kann." 124<br />

Diese bitterböse Schilderung des Arbeitsalltags in der Metallindustrie kann ohne weiteres<br />

direkt auf Schindler gemünzt sein. Sie macht auch die Verklammerung sozialer Not und<br />

ideologischen Wildwuchses bei Kriegsende deutlich.<br />

Damals begann die liberale Partei, eigene Arbeiterorganisationen zu schaffen. Schindler war<br />

1918 massgeblich an der Gründung eines liberalen Arbeitersekretariats beteiligt (Eröffnung<br />

am 1. Juli 1918), das sich der "nationalen Pflicht" verschrieb, die "kleinen Leute" dem<br />

"Bazillus proletarius" zu entreissen. In den ersten 15 Monaten seiner Tätigkeit vermittelte der<br />

liberale Arbeitersekretär etwa 900 Arbeitsuchende an Luzerner Industriebetriebe. Eine<br />

119 Laut "Kämpfer" vom 21.8.1924 führte Schindler auch Listen mit der Parteibezeichnung seiner Belegschaft<br />

und stellte dieser die bürgerliche Presse gratis zu .<br />

120 So hiess die neu als Kopfblatt des Zürcher "Volksrechts" herausgegebene Luzerner Arbeiterzeitung ab<br />

Anfang 1921.<br />

121 AB 6.9.1924.<br />

122 Schreiben an den SMUV vom 9.8.1924 (SMUV-Archiv).<br />

123 SMUV an Zimmerli (9.9.1925).<br />

124 SMUV-Archiv Bern.<br />

37


gleichfalls 1918 im Schoss der liberalen Partei unter der Bezeichnung "Sozialpolitischer<br />

Volksbund" geschaffene Arbeitervereinigung soll 1921 383 Mitglieder gezählt haben. 125 Im<br />

allgemeinen blieben aber die freisinnigen Arbeiterorganisationen in der organisierten<br />

Arbeiterbewegung isoliert. Bei freien wie christlichsozialen Gewerkschaften war die<br />

Zusammenarbeit mit den wenigen liberalen Gewerkschaftssektionen (Landesverband freier<br />

Schweizer Arbeiter) verpönt, denn sie galten als Streikbrecherorganisationen. 126<br />

Fabrikgründer Robert Schindler hatte sich - wie eine nicht geringe Anzahl wirtschaftlicher<br />

Aufsteiger auch - ab den 90er Jahren zu Wohlstand emporgearbeitet. 1890-1902 hatte sich<br />

sein steuerbares Vermögen verzehnfacht (von 15'000 auf 150'000 Franken). Bis 1910<br />

verdoppelte es sich nochmals auf 300'000 Franken. Damit gehörte Robert Schindler aber nicht<br />

zum Kreis der 30 reichsten Luzerner, die alle über 500'000 Franken Vermögen<br />

versteuerten. 127 Die Vermögensentwicklung Alfred Schindlers hingegen im Jahrzehnt des<br />

Ersten Weltkriegs war völlig atypisch. Die Vermutung, dass er zu einer kleinen Gruppe von<br />

Produzenten gehörte, die massiv Kriegsgewinne einstrich, bestätigt seine in den städtischen<br />

Steuerregistern ausgewiesene Vermögensentwicklung. 1910-<strong>1920</strong> versiebenfachte sich sein<br />

steuerbares Vermögen (1902: 20'000 Franken, 1908: 30'000 Franken, 1910: 117'000 Franken;<br />

<strong>1920</strong>: 829'500 Franken). Zum Vergleich: Das gesamtstädtische Vermögenssteuerkapital<br />

wuchs 1910 bis <strong>1920</strong> lediglich um 32% (1900-1910 noch 60%); viele Besitzstände<br />

stagnierten (Verteilungsmuster städtischer Vermögen nach Grössenklassen 1899-<strong>1920</strong> siehe<br />

Anhang 23). An der Inneren Baselstrasse z.B. gingen die steuerbaren Vermögenswerte von<br />

über einer Million Franken 1910 auf knapp 384'000 Franken <strong>1920</strong> zurück. <strong>1920</strong> gehörte<br />

Schindler zu den sieben Reichsten im Hofquartier. Dort versteuerten 1910 20 Personen ein<br />

Vermögen über 300'000 Franken, <strong>1920</strong> waren es nur drei mehr. Die Summe ihrer Vermögen<br />

erhöhte sich nur unwesentlich. Die Zuwachsraten betrugen zwischen minus 8% (Schriftsteller<br />

Carl Spitteler) und plus 58%. 128<br />

Die sozialen Auswirkungen der Kriegsgüterproduktion - im wesentlichen unqualifizierte<br />

Arbeit - wurden vom liberalen Arbeitersekretär fast zehn Jahre nach Kriegsende sehr negativ<br />

bewertet.<br />

"Wir verspüren immer wieder die Folgen der Zeit der Munitionsindustrie, in der sozusagen niemand zu<br />

einem Berufe überging, sondern sich, vielfach durch die wirtschaftlichen Verhältnisse in den Familien<br />

gezwungen, diesen gutbezahlten Hilfsarbeiterstellen zuwendete und so zu alt wurde zur Erlernung eines<br />

Berufes. In sehr vielen Fällen hat die gutbezahlte Tätigkeit in der Munitionsfabrikation auch moralische<br />

Schädigungen hinterlassen, so dass sie (die unqualifizierten Arbeiter, d.V.) für eine Lehre ungeeignet<br />

wurden." 129<br />

125 Prot. des freisinnigen Parteikomitees der Stadt Luzern ab 1918 (SAL F.21.3.) 3. Tätigkeitsbericht des<br />

freisinnig-demokratischen Arbeitersekretariats. Leider wurde mir der Zugriff auf die Mitgliederliste des<br />

Sozialpolitischen Volksbundes vom liberalen Parteisekretariat verwehrt.<br />

126 LVB 8.2.1919 und 28.2.<strong>1920</strong>.<br />

127 Brunner (1981), S. 88. Städtische Steuerregister 1891, 1910 und <strong>1920</strong> sowie gedruckte Auszüge aus den<br />

Steuerregistern 1902 und 1908.<br />

128 Städtische Steuerregister 1910 und <strong>1920</strong>.<br />

129 Tätigkeitsbericht des liberalen Arbeitersekretariats Luzern 1926/27.<br />

38


5. Veränderung der sozialen Schichtung<br />

Die Quartiergeschichte "Vom Gütsch zur Reuss" vermerkt, dass sich im Untergrund<br />

"Herrschaftlichkeit" und "Armut" streiften. Diese Einschätzung lässt sich anhand der<br />

städtischen Steuerregister empirisch überprüfen. Sie erlauben eine Analyse der sozialen<br />

Homogenität des ganzen Quartiers und beliebig kleiner Teilräume sowie, mit gewissen<br />

Einschränkungen, einen Vergleich der Schichtung im Längsschnitt. Soziale Schichtung ist im<br />

folgenden im engen Sinn als Verteilung von Einkommen, Vermögen und Hausbesitz zu<br />

verstehen. Aspekte sozialer Mobilität und von Sozialprestige werden nicht berücksichtigt. 130<br />

5.1. Die Steuerregister als Quellen<br />

Städtische Steuerregister liegen ab 1891 vor. In ihnen sind Einkommen, Vermögen sowie<br />

Grund- und Hausbesitz (Kataster) der Steuerpflichtigen (sogenannte Zensiten) erfasst.<br />

Aussagen zur sozialen Schichtung für die Zeit vor 1891 erlaubt der Wachtgeldrodel von 1849,<br />

ein Steuerverzeichnis, das - ohne Geldbeträge auszuweisen - die Zensiten in drei<br />

Steuerklassen einteilt. Grundlage der Analyse der sozialen Schichtung bilden folgende<br />

Datenbestände.<br />

Tab. 10: Die Steuerpflichtigen im Untergrund 1849-<strong>1920</strong><br />

Jahr Strasse/Gebiet Anzahl davon mit davon mit davon mit<br />

Zensiten total Erwerb Vermögen Kataster<br />

1849 Bezirk VIII/1833 509<br />

1891 Baselstrasse 365 335 119 59<br />

Bernstrasse 41 36 8 10<br />

Sentimatt 37 27 21 4<br />

Reussinsel 20 18 3 -<br />

1910 Baselstrasse 389 356 102 35<br />

Bernstrasse<br />

Sentimatt<br />

231 217 38 24<br />

Sentimattstrasse<br />

Dammstrasse<br />

150 139 32 11<br />

Reussinsel 10 9 3 -<br />

Sagenmattstrasse 13 11 2 1<br />

<strong>1920</strong> Baselstrasse 538 510 80 35<br />

Bernstrasse 399 385 37 29<br />

Reussinsel 11 11 - -<br />

130 "Vom Gütsch zur Reuss", S. 74.<br />

39


Sagenmattstrasse 31 31 2 1<br />

Bei allen Steuerpflichtigen handelt es sich um natürliche Personen. Im Anhang liegt ein<br />

kompletter Ausdruck der Steuerregister des Untergrundquartiers für die Jahre 1891, 1910 und<br />

<strong>1920</strong> vor (Anhang 51-53). Er weicht von der Originalquelle insofern ab, als ich die<br />

Einkommensbeträge rückkapitalisiert habe. Um auf das Totalsteuerkapital aus Einkommen,<br />

Vermögen und Hausbesitz einen einheitlichen Steuersatz anwenden zu können, hat die<br />

Steuerbehörde im Originalregister 1891 die Einkommen mit dem Faktor 6,6, in den<br />

Steuerregistern 1910 und <strong>1920</strong> noch mit 6,0 multipliziert. Die Katasterwerte stellen einen<br />

Fünftel der Katasterschatzung dar. In allen Kategorien sind die nach jeweiligem Steuergesetz<br />

gültigen Existenzminima bereits abgezogen. Zu einer leichten Verzerrung bei der Auswertung<br />

führt, dass diese Abzüge für die Taxationen 1891, 1910 und <strong>1920</strong> differierten. Sie wurden im<br />

Verlauf dieser 30 Jahre zusehends liberaler ausgestaltet. Über das steuerfreie<br />

Existenzminimum hinaus fand 1910 und <strong>1920</strong> zusätzlich eine gestaffelte Degression in den<br />

unteren Einkommensklassen Anwendung (zu den exakten Beträgen der Existenzminima siehe<br />

Anhang 21).<br />

Das Steuerregister von 1891 verzeichnet noch keine Italiener. 1910 tauchen einige wenige<br />

italienische (zum Teil wohl tessinische) Namen auf. <strong>1920</strong>, als neu auch Jahresaufenthalter in<br />

das Steuerregister aufgetragen wurden, steigt die Zahl der Italiener merklich an: An der<br />

Bernstrasse war jetzt jeder fünfte Zensit italienischer Herkunft (84 Zensiten), an der<br />

Baselstrasse jeder siebte (76 Zensiten). Die Saisonniers entrichteten eine Monatssteuer. Sie<br />

erscheinen nicht in den Steuerregistern. Könnten sie in die Auswertung einbezogen werden,<br />

würde sich die soziale Kluft zwischen dem Untergrund und den übrigen Quartieren noch<br />

vergrössern.<br />

Zur Deckung ihres steigenden Finanzbedarfs bezog die Stadt Luzern seit den 60er Jahren des<br />

19. Jh. regelmässig Steuern. Die Eigenheit des Luzerner Steuersystems bestand darin, dass die<br />

Katastersteuer als Ersatz für den von der Einkommenssteuer befreiten landwirtschaftlichen<br />

Erwerb fungierte. In der Stadt führte dies zu einer Doppelbesteuerung von Grundbesitz und<br />

Gebäuden (Vermögenssteuer und Katastersteuer). 131 In den ersten beiden Jahrzehnten des<br />

20. Jh. rutschten der städtische und der kantonale Finanzhaushalt tief in die roten Zahlen. Das<br />

städtische Defizit betrug 1914 über 1 Mio. Franken. Die jährlichen Ausgaben pro Einwohner<br />

waren 1900-1916 von 53 Franken auf 102 Franken angestiegen. 132 Der Kanton - 1914 noch<br />

mit einem Staatsvermögen von 13 Mio. Franken - erwirtschaftete bis Ende <strong>1920</strong> ein Defizit<br />

von 1,8 Mio. Franken. 133 Eine Revision des Steuergesetzes von 1892 drängte sich auf. 1919<br />

131 Rölli (<strong>1920</strong>), S. 16-18.<br />

132 Huber (1986), S. 106-108.<br />

133 Zur Wahrung ihrer absoluten Mehrheit im Kanton betrieb die konservative Partei eine traditionell auf die<br />

Bauern ausgerichtete Politik. Die kantonalen Ausgaben für die Volkswirtschaft flossen 1913-1925 zu 96% in die<br />

Landwirtschaft. Als <strong>1920</strong> die Maul- und Klauenseuche ausbrach, zahlte der Kanton über 3,5 Mio. Fr. als<br />

Entschädigung für totes Vieh an die Bauern, neunmal so viel wie die jährlichen Ausgaben für die<br />

40


verabschiedete der Regierungsrat eine zeitlich befristete Steuergesetznovelle mit wesentlich<br />

höheren Steuersätzen. Da nach dem Krieg auch das Bruttosteuerkapital stark anstieg (siehe<br />

Anhang 25), verdreifachte sich der Steuerertrag. Bisher hatte Luzern zu den Gemeinden mit<br />

den tiefsten Steuersätzen gehört. Die Revision glich die Vermögensbelastung an den<br />

schweizerischen Durchschnitt an. Beim Einkommen gehörte Luzern <strong>1920</strong> neu sogar zu den<br />

Gemeinden mit der stärksten Besteuerung. Als einzige städtische Gemeinde verzeichnete<br />

Luzern eine Zunahme der Steuerbelastung von über 100% bei Einkommen über 20'000<br />

Franken. Bei Einkommen bis 5'000 Franken sank der Steuersatz um 15,4%. 134 Die neuen<br />

Bestimmungen fanden für die Taxation <strong>1920</strong> erstmals Anwendung. 135<br />

5.2. Soziale Segregation im städtischen Rahmen<br />

Der Wachtgeldrodel von 1849 weist für den Untergrund 370 Personen in der Steuerklasse 1<br />

("Unterschicht"), 86 in der Steuerklasse 2 ("Mittelschicht") und 53 in Steuerklasse 3<br />

("Oberschicht") aus. Nach Brunners Schichtungskriterien136 ergibt sich für den Untergrund in<br />

den Jahren 1849 und 1891 ein stabiler - und gesamtstädtisch der höchste - Unterschichtanteil.<br />

Tab. 11: Soziale Schichtung im Untergrund 1849 und 1891 (in % der Zensiten)<br />

1849 1891<br />

U M O U M O<br />

Hof 57.4 23.7 18.9 Hof 48 35 17<br />

Weggisgasse 64.3 22 13.7 Zürichstrasse 68 27 5<br />

Kornmarkt 32.9 30.7 36.4 See 54 36 10<br />

Kapellgasse 63.4 21.4 15.2 Kapellgasse 53 34 13<br />

Mühlegasse 38.7 27.5 33.8 Mühlegasse 47 38 15<br />

Kleinstadt 45.4 24.3 30.3 Kleinstadt 47 37 16<br />

Obergrund 63.2 24.3 12.5 Moos 66 26 8<br />

Untergrund 72.7 16.9 10.4 Obergrund 62 30 8<br />

Bruch 58 33 9<br />

Untergrund 72 24 4<br />

Quelle: Brunner (1981), S. 20 und 30. U: Unterschicht<br />

M: Mittelschicht<br />

O: Oberschicht<br />

Volkswirtschaft. Der konservative Dominanz auf der Landschaft entsprach eine bauernfreundliche<br />

Finanzpolitik. Eine vergleichbare Industrie- und Wirtschaftsförderungspolitik bestand nicht.<br />

134 Schweizerische Statistische Mitteilungen, Heft 1/1921: Die Erwerbs- und Vermögenssteuern in 41<br />

Gemeinden, S. 10.<br />

135 Steuergesetznovelle vom 28.7.1919, in: Kantonsblatt 33/15.8.1919.<br />

136 Siehe Brunner (1981), S. 17.<br />

41


Brunners Definition von Schichtkriterien bietet den Vorteil, dass Schichten überhaupt<br />

gebildet werden können. Andererseits kommt es an den Schichtgrenzen zu willkürlichen<br />

Verzerrungen. So gehört bei Brunner z.B. Stadtrat Roman Scherer 1891 mit einem Vermögen<br />

von 45'000 Franken, einem Katasterbetrag von 6'000 Franken und einem Jahreseinkommen<br />

von 750 Franken der Oberschicht an, während der im gleichen Haus wohnende<br />

Oberstleutnant H. von Reding mit 30'000 Franken Vermögen und 2'250 Franken Einkommen<br />

in die Mittelschicht fällt.<br />

Der rechte Stadtteil war erheblich reicher als der linke. Sein Steuerkapital übertraf trotz<br />

geringerer Bevölkerungszahl jenes des linken Ufers in allen Kategorien bei weitem<br />

(aufgeschlüsselt für das Jahr 1900 in Anhang 24). Die zentralen Quartiere Altstadt und<br />

Kleinstadt sowie das Hofquartier wiesen einen höheren durchschnittlichen Wohlstand auf als<br />

die Aussenquartiere des linken Ufers.<br />

Nur knapp jeder dritte Zensit besass 1891 im Untergrund ein steuerbares Vermögen, im Hof<br />

dagegen waren es fast 60% der Steuerpflichtigen. Das durchschnittliche Totalsteuerkapital lag<br />

1891 im Hof fast dreimal höher als in den Quartieren Untergrund und Moos. 137 Bis 1910<br />

verschärfte sich die sozialräumliche Diskrepanz zwischen dem Stadtzentrum und den<br />

Arbeiter- und Angestelltenwohngebieten an der Peripherie noch. 138 1910 war das<br />

durchschnittliche Einkommen im Hofquartier 4,7mal höher als im Untergrund, das<br />

durchschnittliche Vermögen sogar 5,1mal. Bloss 2,8% aller städtischen<br />

Vermögenssteuerpflichtigen wohnten im Untergrund. Drei Viertel von ihnen - soviel wie<br />

nirgendwo sonst in der Stadt - verfügten über kleine Vermögen unter 10'000 Franken. 20%<br />

der Zensiten besassen 1910 im Hofquartier ein Haus, doppelt so viele wie im Untergrund. Der<br />

mittlere steuerbare Katasterwert im Hof übertraf jenen im Untergrund um das Zehnfache<br />

(berechnet auf alle Zensiten des Quartiers). 139 Auch steuerbare Einkommen über 2'000<br />

Franken gab es im Untergrund nur wenige (3,7% im Untergrund, 28,6% im Hof). In<br />

politischer Hinsicht ging die sozialräumliche Verdichtung von Armut und Reichtum in<br />

Luzern in der 2. Hälfte des 19. Jh. mit dem Aufstieg eines liberalen Besitzbürgertums einher,<br />

das die patrizische Oberschicht von den Schaltstellen der Macht verdrängte.<br />

Ein gedruckter Auszug aus dem städtischen Steuerregister von 1908 verzeichnet alle<br />

Zensiten, die ein Vermögen von 10'000 Franken und mehr und/oder ein Einkommen von<br />

2'500 Franken und mehr versteuerten. Zwar weisen die finanziellen Verhältnisse des damit<br />

erfassten oberen Schichtsegments eine hohe Bandbreite auf - von Millionären bis hin zu<br />

137 Brunner (1976), S. 45-46.<br />

138 Brunner (1981), S. 20.<br />

139 Steuerbüchlein der Sozialdemokratischen Partei der Stadt Luzern. Ein Vergleich mit dem ungedruckten<br />

Steuerregister zeigte identische Werte. Der Durchschnitt wurde anhand jener berechnet, die tatsächlich Beträge<br />

in den betreffenden Kategorien auswiesen. Wird der Durchschnitt auf alle Zensiten der jeweiligen Kategorie<br />

berechnet, wird die Diskrepanz beim Erwerb weniger ausgeprägt infolge der vielen Rentner im Hof (im Hof 183<br />

von 374 Zensiten; im Untergrund 48 von 624), beim Vermögen dafür grösser: im Hof versteuerten 67,5% ein<br />

Einkommen (Durchschnitt 1'935) und 69,7% ein Vermögen (Durchschnitt 49'549 Fr.). Im Untergrund<br />

versteuerten 1910 93,1% einen Erwerb (Durchschnitt bei 573 Fr.) und 22,3% ein Vermögen (Durchschnitt 3'109<br />

Fr.).<br />

42


Leuten am unteren Rand des Kriterienbereichs -, doch lässt sich so relativ einfach ein<br />

kleinräumiges Bild der sozialen Homogenität in den Quartieren entwerfen (siehe Karten in<br />

Anhang 63 und 64 sowie Anhang 28). Die soziale Durchmischung - so das Ergebnis - war in<br />

allen Quartieren relativ hoch. Die Altstadt beispielsweise prägte ein engmaschig<br />

differenziertes Mosaik heterogener Oberschichtanteile, das kleinräumig definierte Gunstlagen<br />

sichtbar macht: Besonders an den attraktivsten Wohnlagen mit Wasseranstoss und Aussicht<br />

auf Fluss und Berge konzentrierten sich reiche Anwohner. Die überraschend kleine<br />

Einkommensoberschicht des Hofquartiers erklärt sich mit den vielen dort ansässigen<br />

Rentnern, die kein Einkommen versteuerten. Die Baselstrasse war die einzige bedeutende<br />

Verkehrsader, wo weniger als 10% der Zensiten Vermögen über 10'000 Franken versteuerten.<br />

Beim Einkommen lagen auch die Zürich- und die Obergrundstrasse unter 10%. Im<br />

Untergrund wies einzig ein Strassenabschnitt in der Sentimatt über 10% Steuerpflichtige auf,<br />

die über 2'500 Franken Einkommen versteuerten.<br />

Die Streuung von Einkommen und Vermögen lässt sich mit Lorenzkurven aussagekräftig<br />

darstellen (siehe Lorenzkurven zur Einkommens- und Vermögensverteilung im Untergrund<br />

1891-<strong>1920</strong> sowie zur Vermögensverteilung in der Stadt <strong>1920</strong> in Anhang 26, 27, 29, 30-39).<br />

1910 war die Einkommensstreuung im Untergrund in den ersten acht Dezilen<br />

ungleichmässiger als 1891. 1910-<strong>1920</strong> fand kein weiterer Konzentrationsprozess statt. Die<br />

1891 und 1910 extrem ungleichmässige Vermögensverteilung im Untergrund schwächte sich<br />

1910-<strong>1920</strong> ab. Die Disparitäten bei der Streuung von Einkommen und Vermögen fielen im<br />

Untergrund, verglichen mit der ganzen Stadt, geringer aus. Dass die soziale Homogenität im<br />

Arbeiterquartier höher war als gesamtstädtisch, stimmt mit den Verhältnissen in Zürich, wo<br />

die Streuung um den Vermögensmittelwert in der Stadtgemeinde doppelt so hoch war wie in<br />

Aussersihl, grundsätzlich überein. 140<br />

Das Verteilungsmuster der Vermögensklassen blieb gesamtstädtisch 1900-<strong>1920</strong> stabil. 1910<br />

verfügten 56,9% der steuerpflichtigen Vermögensbesitzer über Vermögen bis und mit 10'000<br />

Franken, 27,2% zwischen 10'000 und 50'000 Franken (entsprechende Anteile <strong>1920</strong>: 51,3%<br />

und 30,1%; zur Grösse der Vermögens- und Einkommensklassen 1910 im Hof, im<br />

Untergrund und in der ganzen Stadt siehe Anhang 26 und 27).<br />

1887 besassen in Luzern 51 Personen Vermögen über 200'000 Franken, 1910 115 eines über<br />

250'000 Franken. 1910 besassen jene 48 Personen (weniger als 1% der<br />

Vermögenssteuerpflichtigen), deren Vermögen 500'000 Franken überstieg, 20,9% des<br />

gesamten Vermögenssteuerkapitals Luzerns. Keiner der dreissig vermöglichsten Luzerner<br />

wohnte 1910 im Untergrund. 141 1891 wiesen vier Personen an der Baselstrasse ein Vermögen<br />

über 50'000 Franken, drei über 100'000 Franken und einer über 500'000 Franken aus. Das<br />

entsprach einem Anteil von 2,2% der Zensiten an der Baselstrasse. In Aussersihl besassen<br />

140 Fritzsche (1985), S. 162-163.<br />

141 Brunner (1981), S. 87-88.<br />

43


1886 3,6% der Steuerpflichtigen ein Vermögen von über 50'000 Franken. 142 An der<br />

Bernstrasse verfügten 1891 nur gerade zwei Personen über mehr als 10'000 Franken<br />

Vermögen.<br />

In Basel gestaltete sich die Einkommensverteilung 1895 ungleichmässiger als in Luzern im<br />

Jahr 1904: Die 4,5% einkommenskräftigsten Steuerzahler verfügten über 50% des steuerbaren<br />

Einkommens, in Luzern über 36%. 143 Die einkommensstärksten 0,5% der Zensiten hatten in<br />

Basel einen Anteil von 22,1% am Gesamteinkommen (in Luzern die 1,5% Reichsten 21,1%).<br />

5.3. Quartierinterne Disparitäten<br />

Die Oberschicht im Untergrund setzte sich 1849 einerseits aus Politikern, hohen Beamten<br />

(Stadtarzt, Stadtschreiber, Amtsstatthalter, Gerichtsschreiber) und freiberuflichen<br />

Akademikern, andererseits aus Gewerbetreibenden, Händlern und Handwerkern zusammen.<br />

Eine erhebliche soziale Kluft trennte die St.-Jakobs-Vorstadt vom Gebiet nördlich des<br />

ehemaligen Sentitors: Die Oberschicht konzentrierte sich zu 81% in ihr. Drei Stadtpräsidenten<br />

wohnten in den 50er und 60er Jahren in der St.-Jakobs-Vorstadt. Die Mittelschicht verteilte<br />

sich je zur Hälfte auf den nördlichen und den südlichen Teil des Untergrunds. Die<br />

Unterschicht war zu zwei Dritteln nördlich des ehemaligen Sentitors ansässig. Die meisten<br />

Arbeiter und Taglöhner gehörten 1849 zur Unterschicht; von den übrigen Handwerkern und<br />

Gewerbetreibenden gehörte ca. jeder sechste der Mittelschicht an. Tendenziell verliefen die<br />

Schichtgrenzen zwar parallel zu den Erwerbsgruppen; doch Erwerbsgruppen ganz ohne<br />

Unterschichtige gab es nicht. Bei den Akademikern und Künstlern war das numerische<br />

Verhältnis von Unter- und Mittelschicht zur Oberschicht 1:1. 144<br />

Soziale Not war im Untergrund stärker verbreitet als in den anderen Quartieren. 1854<br />

gründete der in der St.-Jakobs-Vorstadt wohnhafte bischöfliche Kommissar Josef Winkler den<br />

Armenverein der Stadt Luzern. 1860 genossen 3,6% der Bevölkerung des<br />

Untergrundquartiers dessen Unterstützung. 145 Mitte der 60er Jahre ist aus der Presse die<br />

Existenz eines "Armenvereins aus dem Quartier Untergrund" bezeugt. Nähere Informationen<br />

über ihn fehlen. Der 1881 neu gegründete "Allgemeine freiwillige Armenverein" unterstützte<br />

1882 im Untergrund 6,5% der Bevölkerung (207 Personen), im Obergrund 5% und im<br />

Hofquartier 4,6%, in der Kleinstadt niemanden und im Quartier Kornmarkt nur zwei<br />

Personen. Aus dem Untergrund flossen dem Armenverein am wenigsten Mitgliederbeiträge<br />

zu: 1904 z.B. 187 Franken gegenüber 1'577 Franken aus dem Hofquartier. 146<br />

1891 wohnten keine ranghohen Politiker mehr in der St.-Jakobs-Vorstadt; auch die Zahl der<br />

Beamten und freiberuflichen Akademiker war zurückgegangen (noch 28). Die Unterschicht<br />

142 Fritzsche (1990), S. 199.<br />

143 Sarasin (1990), S. 128. Rölli (<strong>1920</strong>), S. 42 und 44.<br />

144 Brunner (1976), Anhang I-V. Brunner (1981), S. 20 und 227ff.<br />

145 Brunner (1981), S. 20, 204-206 und 227.<br />

146 Jb. des Allgemeinen freiwilligen Armenvereins 1882, S. 12-13.<br />

44


(nach Brunners Kriterien) bestand zu über 40% aus Handwerkern und Gewerbetreibenden,<br />

deutlich der höchste Anteil in der ganzen Stadt (im Quartier Moos 24,2%). 147<br />

Tab. 12: Schichtung und Beruf im Untergrund 1891<br />

Beruf Unterschicht Mittelschicht Oberschicht<br />

Anzahl Anteil (%) Anzahl Anteil (%) Anzahl Anteil (%)<br />

Handwerk/Gewerbe 137 41.4 25 22.1 7 36.8<br />

Handel 20 6 20 17.7 6 31.6<br />

Gastgewerbe 10 8.8<br />

Arbeiter, niedere<br />

Dienste<br />

111 33.5 5 4.4<br />

Angestellte/Beamte 22 6.7 28 24.8 1 5.3<br />

Akademiker 2 10.5<br />

Private 30 9.1 22 19.5 3 15.8<br />

Verschiedene 11 3.3 3 2.7<br />

Total 331 100 113 100 19 100<br />

Quelle: Brunner (1976), Anhänge XI-XIII.<br />

Im Untergrund bestanden räumliche Disparitäten der Ressourcenverteilung. Die Baselstrasse<br />

war kein einheitlicher Sozialraum. Die Verteilung des Steuerkapitals an den drei Abschnitten<br />

der Baselstrasse verdeutlicht dies.<br />

Innere<br />

Baselstrasse<br />

Mittlere<br />

Baselstrasse<br />

Untere<br />

Baselstrasse<br />

Tab. 13: Totalsteuerkapital an der Baselstrasse 1891-<strong>1920</strong> (in Franken)<br />

1891 1910 <strong>1920</strong><br />

K E V K E V K E V<br />

152'740<br />

206'380<br />

29'670<br />

147 Brunner (1976), Anhang XI.<br />

140'550<br />

180'675<br />

24'525<br />

1'680'000<br />

607'500<br />

164'000<br />

100'240<br />

235'120<br />

26'500<br />

72'730<br />

143'600<br />

43'350<br />

1'014'100<br />

570'800<br />

45'400<br />

84'960<br />

234'160<br />

39'800<br />

151'900<br />

517'300<br />

148'100<br />

45<br />

383'700<br />

563'000<br />

97'700


Tab. 14: Ressourcenverteilung an der Baselstrasse 1891-<strong>1920</strong> (Durchschnittswerte pro Zensit<br />

in Franken)<br />

Innere<br />

Bas<br />

Mittlere<br />

Bas<br />

Untere<br />

Bas<br />

1891 1910 <strong>1920</strong><br />

Z K E V Z K E V Z K E V<br />

94<br />

235<br />

35<br />

1'625<br />

878<br />

848<br />

1'495<br />

769<br />

700<br />

17'87<br />

2<br />

2'585<br />

4'686<br />

68<br />

232<br />

91<br />

1'474<br />

1'013<br />

291<br />

Quellen: Städtische Steuerregister.<br />

Z: Anzahl Zensiten<br />

K: Katasterwert (berechnet auf alle Zensiten)<br />

E: Einkommen (")<br />

V: Vermögen (")<br />

1'069<br />

619<br />

476<br />

14'91<br />

3<br />

2'460<br />

499<br />

73<br />

347<br />

119<br />

1'164<br />

675<br />

334<br />

2'081<br />

1'491<br />

1'244<br />

5'256<br />

1'622<br />

An der Inneren Baselstrasse schrumpfte die Anzahl Steuerpflichtiger zwischen 1891 und 1910<br />

um knapp ein Drittel. Das Totalsteuerkapital der Vermögens- und Katasterwerte verringerte<br />

sich entsprechend, das Einkommenssteuerkapital halbierte sich sogar. Ab den 90er Jahren,<br />

mit dem beschleunigten Wandel der Lebensverhältnisse und der Verschlechterung des<br />

Quartierrufs, verliessen v.a. Bewohner der Inneren Baselstrasse das Quartier. Die meisten von<br />

ihnen waren sozial besser situiert als die übrigen Strassenbewohner, wie die in allen<br />

Steuerkategorien aufscheinenden Disparitäten zwischen der Inneren Baselstrasse und den<br />

beiden anderen Strassenabschnitten zeigt. An der Unteren Baselstrasse erhöhte sich die Zahl<br />

der Zensiten 1891-1910 um 160%, an der Mittleren Baselstrasse stagnierte sie. 1910-<strong>1920</strong><br />

kam der Rückgang der Anzahl Steuerpflichtiger an der Inneren Baselstrasse zum Stillstand,<br />

an der Mittleren Baselstrasse stieg sie um 50%, am unteren Strassenabschnitt noch um 37%.<br />

Im Gegensatz zur Unteren Baselstrasse sank das durchschnittliche Vermögen an der Inneren<br />

Baselstrasse 1910-<strong>1920</strong>. Vor dem Bau von Mietskasernen in den 90er Jahren hatte das<br />

durchschnittliche Vermögen an der Unteren Baselstrasse jenes der Mittleren Baselstrasse<br />

noch übertroffen. Der tiefe Durchschnitt der Katasterbeträge an der Unteren Baselstrasse<br />

<strong>1920</strong> erklärt sich damit, dass die Eigentümer der Spekulationsbauten nicht im Quartier<br />

wohnten.<br />

821<br />

46


Tab. 15: Ressourcenverteilung in den übrigen Gebieten des Untergrunds 1891-<strong>1920</strong><br />

(Durchschnittswerte pro Zensit in Franken)<br />

1891 1910 <strong>1920</strong><br />

Z K E V Z K E V Z K E V<br />

Be 41 981 585 1'427 232 561 382 942 401 519 1'371 909<br />

SA 14 438 628 1'214 32 191 1'431 531<br />

RE 20 - 633 3'175 11 - 832 4'454 12 - 1'533 -<br />

S 37 1'530 1'629 13'38<br />

0<br />

150 1'417 746 3'970<br />

Quelle: Städtische Steuerregister.<br />

Be: Bernstrasse SA: Sagenmattstrasse RE: Reussinsel Z, K, E und V siehe oben.<br />

S: 1891: Sentimatt und Sentimattweg; 1910: Sentimatt, Sentimattstrasse und Dammstrasse,<br />

also der grösste Teil des neu besiedelten Gebietes in der Sentimatt.<br />

In den stark wachsenden Quartiergebieten Bernstrasse, Untere Baselstrasse und Sentimatte<br />

konzentrierten sich viele unterprivilegierte Lohnabhängige. In der sich ab den 90er Jahren<br />

zum Gewerbeviertel entwickelnden Sentimatte war der Wandel am ausgeprägtesten: Mit der<br />

forcierten Besiedlung ging eine Minderung ihres sozialen Gepräges einher. 1891 noch mit der<br />

Inneren Baselstrasse vergleichbar, fiel die Sentimatte bis 1910 auf das soziale Niveau der<br />

Mittleren Baselstrasse zurück. Die Bernstrasse wies 1891 die tiefsten Durchschnittsbeträge<br />

bei Einkommen und Vermögen im ganzen Quartier aus. Beim Einkommen lag sie noch 1910<br />

hinter der Unteren Baselstrasse, beim Vermögen hatte sie diese überholt.<br />

An der Baselstrasse besassen zum Teil auch Leute ohne eigenes Haus ein kleines Vermögen,<br />

an der Bernstrasse seltener. Die sozialen Disparitäten zwischen Bern- und Baselstrasse<br />

schwächten sich 1910-<strong>1920</strong> etwas ab. Dass die Hebung des sozialen Gepräges der Bernstrasse<br />

mit der repressiven Wohnungspolitik des Quartiervereins Bernstrasse (siehe Kap. 9.2.) in<br />

Zusammenhang steht, kann nur vermutet werden.<br />

Tab. 16: Einkommensstreuung an der Basel- und Bernstrasse 1910 und <strong>1920</strong> (in % der<br />

Zensiten)<br />

1910 <strong>1920</strong><br />

bis 500 Fr. 501-1'500 Fr. über 1'500 Fr. bis 1'000 Fr. 1'001-2'500 über 2'500 Fr.<br />

BAS BE BAS BE BAS BE BAS BE BAS BE BAS BE<br />

66 83.3 24.5 13.4 9.5 3.3 47 43.3 35.8 46.3 17.2 10.4<br />

BAS: Baselstrasse BE: Bernstrasse<br />

Quellen: Städtisches Steuerregister <strong>1920</strong>. Steuerbüchlein 1911. Dieses wurde von der SP<br />

herausgegeben, weil ihre Motionen im Grossen Stadtrat zur Publikation der Steuerregister zu<br />

keinen Ergebnissen geführt hatten. Das Steuerbüchlein umfasst alle städtischen Zensiten. Die<br />

ausgewiesenen Beträge stimmen mit jenen in der Originalquelle überein.<br />

47


Dass 80% der städtischen Zensiten gemäss Verwaltungsbericht des Stadtrates von 1905<br />

steuerbare Einkommen unter 2'000 Franken aufwiesen, veranlasste SP-Grossstadtrat Albisser<br />

zu einer Interpellation, weshalb die Beträge so tief seien. Der Finanzdirektor bestätigte die<br />

Richtigkeit der statistischen Tabellen. Die tiefen Beträge erklärte er damit, dass die<br />

Existenzminima bereits abgezogen seien. 148<br />

Im Ersten Weltkrieg stiegen die Lebenshaltungskosten massiv. Der gesamtschweizerische<br />

Preisindex für "Nahrung, Getränke, Heizung und Beleuchtung" erhöhte sich von 95,5<br />

Indexpunkten 1910 auf 233,2 <strong>1920</strong>. 149 Die grütlianische "Luzerner Volksstimme" berechnete,<br />

gestützt auf die einschlägigen statistischen Unterlagen, für eine fünfköpfige Luzerner<br />

Arbeiterfamilie für das Jahr 1914 Lebenshaltungskosten von 2'750 Franken, für <strong>1920</strong> mit<br />

5'521 Franken mehr als das doppelte (zu den einzelnen Ausgabenposten siehe Anhang 53).<br />

Trotzdem sank gemäss Steuerstatistik gesamtstädtisch der Anteil der Einkommensklasse bis<br />

2'000 Franken bloss von 77,5% auf 57,8% (siehe Anhang 22). Die Gruppe der<br />

einkommensschwächsten Steuerpflichtigen im Untergrund versteuerte 1891 525 Franken,<br />

1910 und <strong>1920</strong> sogar nur 200 Franken. Addiert man zu diesen niedrigen Beträgen die<br />

maximal möglichen Abzüge, erhält man Nettoeinkommen um die 1'000 Franken. Ein<br />

städtischer Arbeiter verdiente aber 1906 je nach Sparte 1'200-1'800 Franken, ein beim Kanton<br />

beschäftigter Kanzlist 1883 bereits 1'400-1'600 Franken, 1911 2'200-3'200 Franken und 1919<br />

3'500-4'500 Franken. Weitere Erklärungen für die tiefen Steuerbeträge sind etwa: 1. nicht<br />

ausgewiesene Nebenverdienste von Familienangehörigen; 2. Arbeitszeitverluste bzw. nur<br />

sporadische Erwerbstätigkeit v.a. bei Hilfsarbeitern (Maler und Tapezierer arbeiteten z.B. laut<br />

"Centralschweizerischem Demokrat" 1919 zum Teil weniger als 200 Tage150 ); 3. liberale,<br />

nicht dem Buchstaben des Gesetzes entsprechende Taxierung seitens der Steuerbehörde<br />

angesichts angespannter sozialer Verhältnisse (für <strong>1920</strong> liegen entsprechende Weisungen<br />

vor).<br />

148 Prot. des Grossen Stadtrats von Luzern 9/27.12.1905.<br />

149 Reallöhne (1982), Bd. Ergebnisse, S. 153.<br />

150 CD 13.8.1919.<br />

48


Tab. 17: Die unterste Einkommensschicht 1891 (525 Fr.), 1910 und <strong>1920</strong> (200 Fr.)<br />

Baselstrasse Bernstrasse<br />

absolut in % aller Zensiten absolut in % aller Zensiten<br />

1891 147 40.3 22 53.6<br />

1910 58 14.9 77 33.3<br />

<strong>1920</strong> 64 11.9 47 11.8<br />

Quellen: Städtische Steuerregister.<br />

Die unterste Einkommensschicht 1910 und <strong>1920</strong> lebte in bitterer sozialer Not, vergleichbar<br />

den Saisonniers, die Monatssteuern bezahlten und im ordentlichen Steuerregister nicht<br />

aufscheinen. Ihre soziale Randständigkeit war ausgeprägter als jene der untersten<br />

Einkommensschicht 1891. Die tendenzielle Angleichung der Arbeitsbedingungen in der<br />

Fabrikindustrie hatte keine homogenere unterste Einkommensschicht zur Folge. Im<br />

Gegenteil: Die finanziellen Verhältnisse im untersten Einkommenssegment waren 1891 sogar<br />

ausgeglichener.<br />

Die räumliche Verteilung der untersten Einkommensschicht bestätigt die sozialräumliche<br />

Trennung zwischen Innerer Baselstrasse einerseits und Mittlerer und Unterer Baselstrasse<br />

andererseits. Die Armut verdichtete sich mit zunehmender Distanz zum Zentrum: An der<br />

Inneren Baselstrasse wohnten 1891 20 Zensiten mit Kleinsteinkommen (21,3% aller Zensiten<br />

des Strassenabschnitts), an der Mittleren Baselstrasse 109 (46,4%) und an der Unteren<br />

Baselstrasse 18 (51,4%). <strong>1920</strong> waren die Kleinsteinkommen wie folgt über die Baselstrasse<br />

gestreut: Sieben an der Inneren, 36 an der Mittleren und 21 an der Unteren Baselstrasse.<br />

Tab. 18: Anteil von Taglöhnern und Hilfsarbeitern an der untersten Einkommensschicht (in %<br />

der Unterschicht der jeweiligen Strasse)<br />

1891 1910 <strong>1920</strong><br />

Baselstrasse Bernstrasse Baselstrasse Bernstrasse Baselstrasse Bernstrasse<br />

9 9 60 60 44 47<br />

Quellen: Städtische Steuerregister.<br />

1891 war die berufliche Streuung in der untersten Einkommensschicht innerhalb des 2.<br />

Sektors noch sehr breit. Die 147 unterschichtigen Zensiten an der Baselstrasse mit<br />

steuerbarem Einkommen von 525 Franken arbeiteten in nahezu 50 verschiedenen Berufen<br />

(die meist vertretenen Berufe siehe Anhang 40), wobei Handwerk und Kleingewerbe nicht<br />

mehr in dem Masse dominierten wie noch 1849. Zwischen Meistern und Gesellen bestanden<br />

49


zum Teil kaum noch Einkommensunterschiede. 151 1891-<strong>1920</strong> wurde das unterste<br />

Einkommenssegment beruflich homogener. Neben Hilfsarbeitern, welche die Mehrheit<br />

stellten, umfasste es 1910 fast ausschliesslich Berufstätige des 2. Sektors, zum Teil auch<br />

ledige Frauen, die als Glätterinnen, Schneiderinnen und Ladentöchter arbeiteten. <strong>1920</strong> stellten<br />

an der Bernstrasse Maurer und Gipser mit 23%, an der Baselstrasse Fabrikarbeiter mit 10%<br />

neben den Hilfsarbeitern und Taglöhnern die grösste unterschichtige Gruppe dar.<br />

Die fünfstöckige, von Leopold Lehmann in den 90er Jahren gebaute Mietshausreihe an der<br />

Unteren Baselstrasse (fünf Häuser: Nummern 91-99) beherbergte <strong>1920</strong> 80 Zensiten (15%<br />

aller Zensiten der Baselstrasse). Über die Hälfte von ihnen waren als Fabrik- oder<br />

Hilfsarbeiter tätig. Ein Drittel aller italienischen Steuerpflichtigen der Baselstrasse wohnte<br />

dort. Als einziger Bewohner verfügte ein Schreiner über ein kleines Vermögen von 2'000<br />

Franken. Das durchschnittliche Einkommen aller steuerpflichtigen Mieter belief sich auf<br />

1'220 Franken, jenes der 30 Hilfsarbeiter auf 1'050 Franken.<br />

Tab. 19: Einkommensstreuung bei den 30 Hilfsarbeitern in den Lehmann-Häusern <strong>1920</strong><br />

Quelle: Städtisches Steuerregister <strong>1920</strong>.<br />

So hohe Einkommensdifferenzen unter Hilfsarbeitern bestanden 1891 noch nicht, 1910 nur<br />

vereinzelt. Diese Disparitäten waren zum Teil eine Folge der konjunkturellen Schwankungen<br />

im Ersten Weltkrieg, welche einerseits sporadisch gute Verdienstchancen bargen, andererseits<br />

die Instabilität der individuellen Lebenssituation förderten. Auch im Münchner Westend<br />

zeigen Einkommensdaten hohe Schwankungen der jeweiligen im selben Beruf erzielten<br />

Einkommen. 152<br />

151 Brunner (1976), S. 94.<br />

152 Bleek (1991), S. 204.<br />

Einkommen Anzahl Einkommen Anzahl<br />

in Fr. Zensiten in Fr. Zensiten<br />

200 5 1'400 3<br />

300 4 1'700 1<br />

500 2 1'800 1<br />

600 1 1'900 1<br />

800 3 2'200 1<br />

900 1 2'500 2<br />

1'000 1 3'100 1<br />

1'100 1<br />

1'200 2<br />

50


Betrachten wir abschliessend die höchsten Einkommen und Vermögen noch etwas genauer.<br />

An der Baselstrasse sank - im Gegensatz zur Bernstrasse - die Anzahl Vermögen über 10'000<br />

Franken nach 1891. Die Anzahl Einkommen über 2'500 Franken stieg 1910 bis <strong>1920</strong> in allen<br />

Quartiergebieten massiv an, wobei dieser Zuwachs angesichts der starken Teuerung nicht sehr<br />

aussagekräftig ist.<br />

Anzahl Vermögen<br />

über 10'000 Franken<br />

In % der Zensiten<br />

der Strasse<br />

Anzahl Einkommen<br />

über 2'500 Franken<br />

In % der Zensiten<br />

der Strasse<br />

Tab. 20: Die höchsten Steuerposten 1891-<strong>1920</strong><br />

1891 1910 <strong>1920</strong><br />

Bas Be Se Re Bas Be Se/Da Re/Sa Bas Be Re/Sa<br />

44<br />

12<br />

15<br />

4.1<br />

2<br />

4.8<br />

1<br />

2.4<br />

Quellen: Städtische Steuerregister.<br />

9<br />

24.3<br />

9<br />

24.3<br />

Bas: Baselstrasse Be: Bernstrasse Se: Sentimatt<br />

Da: Dammstrasse Sa: Sagenmattstrasse Re: Reussinsel<br />

2<br />

10<br />

1<br />

5<br />

Die höchsten Vermögen und Einkommen verteilten sich 1891 auf Rentner, Händler,<br />

Ladeninhaber (viele Spezereihändler), Beamte, Fabrikanten und Gewerbetreibende. Ein<br />

Magaziner, ein Pflästerer und ein Taglöhner mit Vermögen über 10'000 Franken stellten eine<br />

Ausnahme dar. Auch freiberufliche Akademiker fehlten fast gänzlich.<br />

1910 gehörten 13 ledige oder verwitwete Rentnerinnen zur vermöglichen Schicht (23%). Die<br />

Besitzklasse der Rentner und Rentnerinnen war im Untergrund im städtischen Vergleich aber<br />

klar untervertreten. Die 850 RentnerInnen in Luzern verfügten 1910 über 45,1% des<br />

städtischen Vermögenssteuerkapitals. 153 Einzig ein Bauamtsarbeiter als Ausübender eines<br />

Berufs mit tiefem Sozialstatus besass 1910 ein Vermögen über 10'000 Franken.<br />

Die Anzahl Zensiten an der Baselstrasse, die ein Einkommen über 2'500 Franken und ein<br />

Vermögen über 10'000 Franken besassen, sank 1891-1902 um ein Drittel. 60% von ihnen<br />

hatten 1891 an der Inneren Baselstrasse gewohnt. Die Kumulation von hohem Einkommen,<br />

Vermögen und zum Teil auch Hausbesitz war die Regel. 25 der 59 im Jahr 1891 an der<br />

Baselstrasse wohnhaften Hausbesitzer gehörten zur oberen Einkommens- oder<br />

Vermögensschicht. Die Einkommens- und Vermögenssituation der Hausbesitzer an der<br />

Bernstrasse war etwas schlechter. An beiden Strassen verfügten v.a. Geschäftsinhaber, Wirte,<br />

Beamte etc. über Hausbesitz. Ein Taglöhner und ein Magaziner an der Baselstrasse 1891<br />

bildeten die Ausnahme. 1910 besassen 10 der 19 Zensiten an der Baselstrasse mit Einkommen<br />

153 Rölli (<strong>1920</strong>), S. 54ff.<br />

32<br />

8.2<br />

19<br />

4.9<br />

8<br />

3.5<br />

1<br />

0.5<br />

14<br />

9.3<br />

12<br />

8<br />

3<br />

13<br />

1<br />

4.3<br />

32<br />

5.9<br />

100<br />

18.6<br />

8<br />

2<br />

49<br />

12.3<br />

1<br />

2.4<br />

5<br />

11.9<br />

51


über 2'500 Franken ein Haus, 86% von ihnen wiesen ein Vermögen aus. Um die Mitte des<br />

19. Jh. hatten noch über die Hälfte der Häuser im Untergrund zum Teil unterschichtigen<br />

Handwerkern und Gewerbetreibenden gehört. 154 Gegen Ende des 19. Jh. besassen<br />

einkommens- und vermögensschwache Leute kaum mehr Häuser im Untergrund, obwohl der<br />

Hausbesitz in Luzern noch recht breit gestreut war: Die gesamtstädtisch 1'500 Häuser 1891<br />

verteilten sich auf 1'000 Eigentümer.<br />

Die reicheren Quartierbewohner waren sesshafter als die ärmeren. 1910 lebten im Untergrund<br />

(Baselstrasse, Bernstrasse, Reussinsel, Sagenmattstrasse) 89 Zensiten, die ein Einkommen<br />

über 2'500 Franken und/oder ein Vermögen über 10'000 Franken und/oder ein Haus besassen.<br />

39 von ihnen wohnten auch <strong>1920</strong> noch im Untergrund. Verdoppeln wir das Kriterium<br />

Einkommen für <strong>1920</strong> auf 5'000 Franken (Teuerung) und behalten die beiden anderen<br />

Kriterien bei, so erhalten wir für <strong>1920</strong> wiederum 89 Personen. Von diesen war die Hälfte<br />

bereits 1910 im Untergrund ansässig, die andere Hälfte zog in der Zwischenzeit zu. Drei<br />

Viertel jener, die 1910 bereits im Untergrund wohnten, gehörten damals schon zu den<br />

reichsten Quartierbewohnern.<br />

154 Brunner (1976), S. 47 und Anhang VII.<br />

52


TEIL II: POLITISCHE UND SOZIOKULTURELLE IMPLIKATIONEN DES<br />

GESELLSCHAFTLICHEN WANDELS SEIT <strong>DER</strong> JAHRHUN<strong>DER</strong>TWENDE<br />

6. Politische Veränderungen<br />

6.1. Wandel der Parteienlandschaft und der politischen Agitation<br />

Sein Status als ehemaliges Hintersässengebiet prädestinierte den Untergrund zur liberalen<br />

Hochburg. Die liberale Verfassung von 1831 hatte das städtische Patriziat in politischer<br />

Hinsicht endgültig entmachtet. Die Präsenz liberaler Politiker drückte der St.-Jakobs-Vorstadt<br />

ihren Stempel auf.<br />

Die politische Konstellation Luzerns prägte in der 2. Hälfte des 19. Jh. der Gegensatz<br />

zwischen der liberalen Regierungspartei (FdP bzw. in Luzern liberale Partei) und der<br />

konservativen Opposition. In den 90er Jahren griff mit der entstehenden Arbeiterbewegung<br />

eine dritte Kraft in die städtische Politik ein. In den durch eine Gründungswelle von<br />

Gewerkschaften, Meisterorganisationen und eine wachsende Zahl von Lohn- und<br />

Streikbewegungen geprägten 80er Jahren hatte sich in der liberalen Partei ein linker Flügel als<br />

Interessenvertreter der Lohnabhängigen mit den führenden Grütlianern Josef Albisser und<br />

Franz Josef End an der Spitze einerseits, ein Handwerker- und Gewerbeflügel andererseits<br />

herauskristallisiert. 155 Etappen der institutionellen Verselbständigung der Arbeiterbewegung<br />

markierten die Konstituierung des "Demokratischen Vereins" (1893), die Gründung einer<br />

eigenen Zeitung ("Demokrat") 1893 und schliesslich der "Demokratischen und<br />

Arbeiterpartei", der direkten Vorgängerin der SP. 156 Im ersten Jahrzehnt des 20. Jh. ergänzten<br />

die Arbeiterunion (1901) und das Arbeitersekretariat (1905) die Institutionen der<br />

Arbeiterbewegung, deren harter Kern das Verkehrspersonal war.<br />

In den Wahlen der 90er Jahre erzielten die Kandidaten der Arbeiterbewegung in den<br />

gewerblich geprägten Quartieren der linken Stadtseite Achtungserfolge. Bei den<br />

Grossratswahlen 1895 z.B. erhielten sie in den Quartieren Moos und Obergrund fast so viele<br />

Stimmen wie die liberalen Kandidaten (SP-Kandidaten: 45%-47%). Im Bruch und im<br />

Untergrund dominierten diese noch deutlicher (liberale Kandidaten: 54%-73%; SP-<br />

Kandidaten: 26%-40%). Allerdings kam das gute Resultat mit Schützenhilfe der<br />

konservativen Partei zustande, welche die Arbeitervertreter End und Albisser portiert hatte,<br />

um die Liberalen zu schwächen. Der "Demokrat" interpretierte das Wahlresultat als<br />

"gewaltigen" Protest gegen die "Ausschliesslichkeit des liberalen Herrenrings". 157<br />

155 Franz Josef End (<strong>1850</strong>-1927), Malermeister, Präsident des Grütlivereins, Grossrat und Grossstadtrat. Josef<br />

Albisser (1868-1943), Sohn eines liberalen Luzerner Lehrers, Advokat mit Anwaltsbüro in Luzern, das im<br />

Volksmund auch "Roter Vatikan" genannt wurde. Während Jahrzehnten beeinflusste Albisser die Politik der SP<br />

massgeblich. Grossrat und erster SP-Vertreter in der städtischen Exekutive 1915, Präsident des<br />

Eisenbahnerverbandes der Schweiz, der SPS 1902 und ab 1917 des Eidgenössischen Versicherungsgerichts.<br />

156 Meier (1983), S. 83ff. Albisser, Geschichte der Luzerner Arbeiterbewegung, in: AB 6.4.1927.<br />

157 Wahl- und Abstimmungsakten ab 1891 (SAL B 3.4/A1.1.).<br />

53


Die Stadtratswahlen 1899 lösten im Untergrund bei den Liberalen ein Gerangel um die<br />

Kandidatenaufstellung aus. Ein Aufruf von "Wählern des Quartiers Littauerstrasse und vielen<br />

Gewerbetreibenden" prangerte an, die Kandidaturen seien ungleichmässig auf die Quartiere<br />

verteilt. Infolge "zielbewusster Umtriebe weniger Übelwollender" sei der quartiereigene<br />

Kandidat, Baumeister Füllemann, aus der liberalen Liste gekippt worden, was angesichts der<br />

systematischen Diskriminierung des Quartiers, in welchem um die 100 Wähler wohnten, nicht<br />

toleriert werden könne. Ein unsigniertes Flugblatt ortete als Hauptschuldige die liberalen<br />

Kandidaten der Baselstrasse, Baptist Meyer und Mauritz Waller, und empfahl, sie von der<br />

Wahlliste zu streichen. 158<br />

Bis 1911 blieben die Liberalen in allen Stadtteilen stärkste Partei. Einzig im Hofquartier<br />

hatten sie in den Konservativen eine fast ebenbürtige Konkurrenz. Die SP erzielte bei den<br />

Grossratswahlen 1911 in vier von fünf Wahlkreisen des linken Ufers einen<br />

Parteistimmenanteil von 20%-25% - womit sie die Konservativen knapp überholte -, auf der<br />

rechten Stadtseite blieb sie unter 15%. Die Liberalen büssten lediglich im Obergrund ihre<br />

absolute Mehrheit knapp ein. Insgesamt verteilte sich die liberale Wählerschaft<br />

gleichmässiger über das Stadtgebiet als die sozialdemokratische mit Schwergewicht auf dem<br />

linken und die konservative auf dem rechten Ufer.<br />

Tab. 21: Bezirksspezifische Ergebnisse der Grossratswahlen vom 14.5.1911<br />

I II III IV V VI VII VIII Total<br />

Stimmbeteiligung 91.8 88.3 89.3 88.2 90.6 88.4 90.5 86.6 89.2<br />

Liberale 53.5 63.5 55.1 52.2 63.5 56.6 49.3 59.5 57<br />

Konservative 40.7 22.4 30.6 22.8 24.5 20.5 23.3 17.2 24.9<br />

Sozialisten 4.5 12.6 12.5 23.7 10.8 21.2 24.8 22.5 16.5<br />

Quelle: Protokolle der Verhandlungen der Einwohnergemeinde Luzern.<br />

Urnenkreise gemäss Stadtratsbeschluss vom 18.1.1911:<br />

Rechtes Ufer:<br />

Kreis I: Wesemlin, Halde, Hof, Wey<br />

Kreis II: Hertensteinstrasse, Zürichstrasse, Maihof<br />

Kreis III: Altstadt, Bramberg, St. Karli<br />

Linkes Ufer:<br />

Kreis IV: Basel-/Bernstrasse, Gütsch, Gibraltar<br />

KreisV: Säli, Bruchmatt, Kleinstadt, Hirschengraben<br />

Kreis VI: Hirschmatt, Neustadt<br />

Kreis VII: Reckenbühl, Obergrund, Allmend, Kleinmatt<br />

Kreis VIII: Bahnhof, Bundesstrasse, Sternmatt, Tribschen<br />

Nach dem Ersten Weltkrieg verbuchte die SP grosse Gewinne. Bei der ersten Proporzwahl für<br />

den Grossen Stadtrat 1919 verloren die Liberalen die absolute Mehrheit. Bisher hatten sie den<br />

Konservativen und Sozialdemokraten aufgrund einer Vereinbarung je zehn Sitze im<br />

60köpfigen Stadtparlament überlassen. 1919 votierten noch vier von zehn städtischen<br />

158 Wahl- und Abstimmungsakten ab 1891 (SAL B 3.4/A1.1.).<br />

54


Wählern liberal, drei sozialistisch, zwei konservativ; jeder zwölfte Wähler stimmte für die<br />

Grütlianer. Die Liberalen kamen auf 25 Sitze, die SP auf 19, der Grütliverein auf vier;<br />

Konservative und Christlichsoziale erzielten mit gemeinsamer Liste 12 Mandate (davon drei<br />

Christlichsoziale). 159 1923 errang auch die kommunistische Partei mit 86 Stimmen bzw. 1,1%<br />

Wähleranteil ein Mandat (quartierspezifische Resultate in Anhang 44).<br />

Die SP erreichte in den Wahlgängen 1919-1923 (je zweimal Grossrats-, Nationalrats- und<br />

Stadtratswahlen) einen durchschnittlichen Stimmenanteil von 32,6% auf dem linken und<br />

18,5% auf dem rechten Ufer; die Liberalen und die Konservativen erzielten im rechten<br />

Stadtteil mehr Stimmen (Liberale: 37,6% auf dem linken Ufer, 44% auf dem rechten Ufer;<br />

Konservative: 18,7% auf dem linken Ufer, 27,5% auf dem rechten). Auch kantonal<br />

verdoppelte die SP 1919 ihren Stimmenanteil: neu kam sie auf knapp 10% bzw. 12<br />

Grossratsmandate. Acht davon entfielen auf die Stadt, drei auf Kriens/Malters, eines auf<br />

Emmen. 1923 gewann die SP in der Stadt nochmals zwei Mandate dazu (quartierspezifische<br />

Ergebnisse in Anhang 42). 160 1922 wurde mit Josef Weibel161 der erste Luzerner<br />

Sozialdemokrat in den Nationalrat gewählt. Die Grütlianer grenzten sich nach dem Krieg als<br />

national gesinnte Sozialdemokraten gegen "Hypersozialisten" und "anarchistische Theorien"<br />

ab, was ihnen vier Grossratsmandate eintrug (Stimmenanteil in der Stadt 9%, kantonal<br />

2,5%). 162<br />

Die konservativen Wahlkämpfe der Nachkriegszeit bestimmte trotz teilweisen Einbezugs der<br />

Christlichsozialen die Losung "Rechtsanhalten". Die Christlichsozialen - von<br />

Rechtskonservativen auch despektierlich als "Weihwassersozialisten" oder "Sozialisten mit<br />

Rosenkranz" tituliert - erzielten mit ihrer ersten eigenen Liste bei den Nationalratswahlen<br />

1919 kantonal 5%, in der Stadt 8,1% der Stimmen. Auf nationaler Ebene zogen sie 1919<br />

erstmals in den Nationalrat ein (5 Mandate).<br />

Signifikante parteipolitische Unterschiede zeigt das Panaschierverhalten der Wähler.<br />

Während Liberale, Sozialdemokraten und Grütlianer bei den Nationalratswahlen 1922 in der<br />

Stadt unter einem Zusatzstimmen-Anteil von 5% blieben, verbuchten die Christlichsozialen<br />

20% und die Konservativen über 30% (siehe Anhang 43). Im Gegensatz zur linken<br />

Wählerschaft spielte in der konservativen "Grossfamilie" offensichtlich gegenseitige<br />

Solidarität. Die Wählerblöcke blieben ideologisch geschlossene politische Formationen mit<br />

hoher Parteidisziplin.<br />

Im Untergrund schnitten die Christlichsozialen trotz ihres sozialreformerischen Programms<br />

und der Tatsache, dass ein grosser Teil der Quartierbevölkerung aus der Luzerner Landschaft<br />

stammte, wo das katholische Milieu noch ungebrochen herrschte, schlechter ab als zum<br />

159 LVB 3.5.1919, 10.5.1919 und 17.5.1919.<br />

160 VS 19.5.1923.<br />

161 Josef Weibel (1879-1944), Präsident des Kreisvereins Obergrund, Grossrat ab 1915 (15 Jahre Präsident der<br />

sozialdemokratischen Grossratsfraktion), Nationalrat 1922-35, 1924 Wahl zum Amtsrichter, Präsident der<br />

Platzunion des Verkehrspersonals, des Volkshausvereins und der städtischen Partei wärend fünf Jahren,<br />

Administrator der Unionsdruckerei, Betreuer der Frauengruppe der SP.<br />

162 VS 29.4.1919 und 3.5.1919.<br />

55


Beispiel im Hofquartier (Parteistimmen-Anteil bei den Nationalratswahlen 1922 im Hof<br />

7,5%, im Untergrund 5,6%). Hingegen erzielten die Christlichsozialen 1919 im Untergrund<br />

von allen Parteien den höchsten Anteil Zusatzstimmen mit 43,2%. Das latent vorhandene<br />

religiöse Moment blieb für den Wahlentscheid von sekundärer Bedeutung.<br />

In einzelnen linksseitigen Stadtteilen rückte die SP nach dem Krieg sogar zur stärksten<br />

politischen Kraft auf. Zu SP-Hochburgen entwickelten sich das Untergrund- und das<br />

Bruchquartier sowie das Gebiet Bahnhof/Bundesstrasse/Sternmatt/Tribschen. Am<br />

schlechtesten schnitt die SP im Hof ab, wo sie nur knapp vor den Grütlianern lag.<br />

Tab. 22: Stimmenanteile im Urnenkreis Untergrund/Bruch bei den Stadtratswahlen 1919/1923<br />

Quelle: Protokolle der Einwohnergemeinde Luzern.<br />

Die in der Bevölkerung verbreitete soziale Not bewirkte 1919 eine massive Stärkung der SP<br />

im Untergrund. 1923 lagen SP und LP wieder gleich auf mit zusammen drei Viertel aller<br />

Stimmen. Die Untere Baselstrasse, der ärmste Strassenabschnitt also, galt als<br />

sozialdemokratisches Territorium, die Mittlere Baselstrasse war liberal und sozialistisch<br />

durchmischt, an der Inneren Baselstrasse dominierte die liberale Partei. Die Kommunisten<br />

erzielten im Urnenkreis Bruch/Untergrund mit 2,7% einen doppelt so hohen Stimmenanteil<br />

wie in den anderen Wahlkreisen. Eine gewisse Konzentration von Kommunisten bestand an<br />

der Bernstrasse und der Unteren Baselstrasse. 163<br />

Die Stärke der SP im Untergrund kontrastierte mit der Vertretung der Parteielite im Quartier.<br />

Tab. 23: Die Wohnquartiere der Grossstadträte nach Parteien 1911 und 1921<br />

1911 I II III IV V VI VII VIII IX X<br />

Liberale 9 3 5 - 2 2 6 9 2 2<br />

Konservative 2 - - 1 2 1 2 2 - -<br />

Sozialdemokraten - - - - - 2 7 1 - -<br />

Total 11 3 5 1 4 5 15 12 2 2<br />

1921 I II III IV V VI VII VIII IX X XI XII XIII XIV XV XVI<br />

Liberale 2 5 3 - - 1 2 - 6 - 1 1 2 1 - 1<br />

Konservative 1 - 1 - 2 1 - 2 2 - - 1 1 - 1 -<br />

Sozialdemokraten - 1 1 1 - 1 1 4 2 1 - 2 3 1 - 1<br />

Grütlianer - - - - 1 - - - 1 - - 1 1 - - -<br />

Total 3 6 5 1 3 3 3 6 11 1 1 5 7 2 1 2<br />

163 Mündliche Auskunft von Jacob Scherrer.<br />

1919 1923<br />

Konservative 18.4 18.1<br />

Liberale 32.2 36.5<br />

Sozialdemokraten 42.4 36.5<br />

Grütlianer 7 6.2<br />

Kommunisten - 2.7<br />

56


Quelle: Adressbücher; Brunner (1981), S. 75; Vber. StR. Für 1911 Quartiereinteilung von<br />

1907, für 1921 jene von 1910.<br />

Sieben der zehn SP-Grossstadträte wohnten 1911 im neuen Wohngebiet zwischen der<br />

Obergrundstrasse und dem Vierwaldstättersee. Im Untergrund lebte kein SP-Parlamentarier.<br />

Hingegen waren zwei liberale Grossstadträte an der Baselstrasse wohnhaft. Noch 1921<br />

konzentrierten sich die sozialdemokratischen Mitglieder der städtischen Legislative auf dem<br />

linken Ufer: 11 der 19 SP-Grossstadträte lebten 1921 in den Bezirken Gütsch/Gibraltar,<br />

Säli/Bruchmatt, Reckenbühl/Obergrund und Allmend/Kleinmatt. 164 Im Untergrund wohnte<br />

lediglich ein SP-Ratsmitglied, Samuel Bächtold, Inhaber einer Schreinerei an der Baselstrasse<br />

und Präsident der lokalen Bau- und Holzarbeitergewerkschaft. Gemäss einem Polizeirapport<br />

sympathisierte Bächtold mit dem Kommunismus. Die beiden 1921 im Untergrund ansässigen<br />

liberalen Grossstadträte waren der vermögliche Holzhändler Baptist Meyer und<br />

Spenglermeister Josef Geisshüsler. Insgesamt gestaltete sich die Verteilung der 60<br />

Grossstadträte auf die Quartiere <strong>1920</strong> etwas ausgeglichener als vor dem Krieg.<br />

Fabrik- und Hilfsarbeiter, eine im Untergrund stark vertretene Berufskategorie, gehörten dem<br />

Grossen Stadtrat, dessen Berufsstruktur nach dem Krieg etwas breiter geworden war, keine<br />

an. Der Verkehrssektor war <strong>1920</strong> im Rat stärker, die Hotellerie schwächer vertreten. 1910 bis<br />

<strong>1920</strong> wurden insgesamt 46 Sozialdemokraten (inklusive Grütlianer) in den Grossen Stadtrat<br />

gewählt: sechs Zug-/Lokführer, zwei Bahnbeamte, fünf Bahnangestellte, drei<br />

Schiffahrtsangestellte, zwei Postangestellte, zwei Wirte, vier Handwerkermeister, sieben<br />

Handwerker, sechs Angestellte bzw. Beamte, vier Advokaten und fünf Parteifunktionäre<br />

(Berufe aller Grossstadträte 1911 und <strong>1920</strong> siehe Anhang 41). 165<br />

Mehrere Faktoren bewirkten gegen Ende des 19. Jh., dass die parteipolitische Arbeit in den<br />

Quartieren an Bedeutung gewann. Das Aufkommen der SP als dritte ernstzunehmende<br />

politische Kraft in den 90er Jahren schürte die Rivalität zwischen den Parteien.<br />

Wahlbündnisse brachten eine neue Note in die Wahlkampftaktik. Der beschleunigte<br />

gesellschaftliche Wandel im Verbund mit dem demographischen Ballungsprozess führte zu<br />

politischer Verunsicherung und brachte neuartige Probleme mit sich. Die Ablösung der<br />

offenen Abstimmung an der Gemeindeversammlung durch das Urnenwahlverfahren 1893<br />

bedeutete einen Schritt Richtung Rationalisierung und Anonymisierung der politischen<br />

Kultur. Bis zu diesem Zeitpunkt waren die Stimmfähigen des Untergrunds bei wichtigen<br />

Vorlagen in Sammelformation, ausgerüstet mit Standarten und Trommeln, in die<br />

Jesuitenkirche zur Stimmabgabe gezogen. Das geheime Urnenwahlverfahren forcierte<br />

Praktiken wie Stimmkontrollen und Wahlschleppen. Die politische Agitation<br />

professionalisierte sich zusehends. 166<br />

164 Brunner (1981), S. 75. Vber. StR. Adressbücher der Stadt Luzern.<br />

165 Promptuar (SAL). Adressbücher.<br />

166 "Vom Gütsch zur Reuss", S. 50. Bussmann (1987), S. 22.<br />

57


Zusätzlich zu den bisherigen gesamtstädtischen sozialdemokratischen Organisationen<br />

(allgemeiner Arbeiter- und Arbeiterinnenverein, Grütliverein, sozialdemokratischer<br />

Abstinentenbund, tessinische und italienische Sozialisten Luzerns) entstanden ab 1905 in den<br />

Quartieren SP-Kreisvereine. Strassenchefs organisierten und überwachten die politische<br />

Agitation direkt an der Basis. Listen mit der Parteizugehörigkeit der Quartierbevölkerung<br />

standen ihnen zur Verfügung. Die Optimierung der politischen Arbeit in den Quartieren nahm<br />

in den SP-Kreisvereinssitzungen breiten Raum ein. Auch der im Vergleich mit Zürich oder<br />

Basel - allerdings Städte mit älterer SP-Tradition - schlechte Versammlungsbesuch bot<br />

ständig Anlass zu Diskussionen. Die Basis des Kreisvereins Moos äusserte sporadisch Unmut<br />

darüber, dass die SP-Behördenvertreter - die Parteielite also - selten an den<br />

Kreisvereinssitzungen teilnähmen.<br />

Die systematische propagandistische Bearbeitung des Stimmvolks veranschaulicht auch ein<br />

Dokument konservativer Provenienz. Die "vertraulichen" Direktiven an die Kreis- und<br />

Bezirkspräsidenten für die Wahlkampfvorbereitungen 1930 skizzieren die konservative<br />

Wahlkampfstrategie im Arbeiterquartier.<br />

"Bis 30. Juni 1930 müssen alle Zweifelhaften und zu Gewinnenden aufgesucht sein. Es darf bis dahin die<br />

Parteizugehörigkeit keines Stimmfähigen mehr unbekannt sein, soweit dies überhaupt möglich ist ... Die<br />

Grundlage der Organisation bildet die Zuteilung der Strassen an Strassenchefs wie bisher ... Bei der<br />

Arbeiterbevölkerung lassen sich namentlich noch Eroberungen machen. Hier sind hauptsächlich die<br />

Christlichsozialen zu verwenden. Je nach Situation können selbstverständlich auch Christlichsoziale als<br />

Strassenchefs funktionieren. Zur Hauptsache wird aber die ausschliessliche Verwendung derselben bei<br />

der Arbeiterbevölkerung vorteilhafter sein ... Bis zum 28. Februar sind von den Bezirkschefs den<br />

Kreispräsidenten und von diesen dem Parteisekretariat die Listen derjenigen einzugeben, welche bei der<br />

Wahl vom November 1929 nicht gestimmt haben. Bei jedem ist nach Möglichkeit der Grund anzugeben.<br />

Diese Parteiangehörigen sind besonders zu bearbeiten, aber in sehr taktvoller Weise." 167<br />

Politische Pressionen griffen allerdings in den Dörfern der Landschaft angesichts der<br />

Geschlossenheit des dörflichen Milieus tiefer in die individuelle Existenz ein als in der Stadt.<br />

Folgende Episode mag dies verdeutlichen: 1923 erschütterte ein Politskandal, der in den<br />

Schweizer Medien hohe Wellen aufwarf, die kleine Gemeinde Knutwil (905 Einwohner).<br />

1919 hatten die Liberalen erstmals die Gemeinderatswahlen knapp gewonnen. Für die Wahlen<br />

1923 setzten sich die Konservativen die Rückeroberung der absoluten Mehrheit zum Ziel.<br />

Zwei Monate vor dem Wahlgang stieg die Zahl der Stimmberechtigten sprunghaft um über<br />

20% an. Binnen kurzer Zeit hatten 141 Zuzüger bzw. konservative Wahlknechte ihre<br />

Schriften auf der Gemeindekanzlei deponiert. 168 Die Liberalen versuchten zwar noch, mit<br />

eigenen Wahlknechten nachzuziehen; die Konservativen gewannen aber die Wahlen knapp.<br />

Der Luzerner Regierungsrat genehmigte die Wahlen, doch das Bundesgericht annulierte sie<br />

schliesslich aufgrund eines Rekurses der Liberalen. 169<br />

167 CVP-Archiv: PA 40/1815.<br />

168 VS 11/17.3.1923.<br />

169 Bundesgerichtsurteil vom 23.11.1923, in: Entscheidungen des Bundesgerichts 1923, Bd. 49, S. 416-439.<br />

58


Relikte dörflicher Kultur stellten im Untergrund die parteipolitisch gefärbten Wirtschaften<br />

dar: Der "Steinbruch" und die "Sentimatt" galten als liberal, die "Station Gütsch" als<br />

konservativ; der "Kreuzstutz" - Anfang 20. Jh. noch Stammlokal der Holzarbeiter und über<br />

das Quartier hinaus beliebter Treffpunkt - entwickelte sich zusehends zum Treffpunkt der<br />

Sozialisten. 1927 kaufte ihn die Volkshausgenossenschaft für die Genossen im Untergrund.<br />

Den Quartierbewohnern war bekannt, wer in ihrer näheren Umgebung wie stimmte.<br />

Gegebenenfalls wussten sich Wohnungsnachbarn unterschiedlicher Parteizugehörigkeit aus<br />

dem Wege zu gehen. 170<br />

6.2. Sozialstruktur der Luzerner SP<br />

Im Kanton Luzern konzentrierte sich die sozialdemokratische Basis weitgehend auf den<br />

städtischen Ballungsraum. Etwa vier Fünftel der kantonalen SP-Mitglieder wohnten Anfang<br />

20. Jh. in der Stadt und in den industriellen Agglomerationsgemeinden Emmen und Kriens.<br />

Die kleinen sozialdemokratischen Landsektionen waren von geringer Bedeutung und<br />

bestanden oft nur kurze Zeit.<br />

1902 bis 1913 stieg die Mitgliederzahl der Kantonalpartei um knapp 300 auf 1'120. 171 Nach<br />

vorübergehendem massivem Rückgang im Ersten Weltkrieg (noch 670 Mitglieder 1915)<br />

erreichte sie 1917 das Vorkriegsniveau wieder, worauf eine Mitgliederexplosion erfolgte: mit<br />

1'010 Mitgliedern Ende 1919 zählte die Stadtsektion fast doppelt so viele Mitglieder wie<br />

1917. Jeder 44. Stadtbewohner gehörte nun der SP an. 172 Die Nachkriegskrise schwächte - im<br />

Unterschied zu den meisten Gewerkschaften - die SP kaum. Der kantonale Mitgliederbestand<br />

stagnierte bei ca. 1'400.<br />

1919 wohnten 77,5% der städtischen SP-Mitglieder auf dem linken Ufer (Bevölkerungsanteil<br />

linkes Ufer: 62,6%). Stärkste Sektion war der Kreisverein Moos mit 329 Mitgliedern, gefolgt<br />

von den Kreisvereinen Obergrund mit 250 und Untergrund mit 203. Auf der rechten<br />

Stadtseite bestanden die Kreisvereine Zürichstrasse mit 151 und Altstadt mit 78<br />

Mitgliedern. 173 Der Untergrund wies die höchste Dichte an Parteimitgliedern auf.<br />

Tab. 24: Mitgliederdichte in den SP-Kreisvereinen 1919 (Anzahl Quartierbewohner pro SP-<br />

Mitglied)<br />

Untergrund Moos Obergrund Zürichstrasse Altstadt<br />

33 36 36 72 72<br />

170 Mündliche Auskunft von Jacob Scherrer.<br />

171 Gruner (1988), Bd. III, S. 48-49 und 296-97.<br />

172 CD 23.9.1919.<br />

173 CD 23.9.1919.<br />

Quellen: CD 23.9.1919. EVZ <strong>1920</strong>.<br />

59


Die Grütlianer hatten sich im Ersten Weltkrieg von der SP abgespalten. Diese verbot aber<br />

Doppelmitgliedschaften aus Rücksicht auf ihren gemässigten Flügel erst 1918. Den höchsten<br />

Bestand erreichten die Grütlianer 1919 mit 303 Mitgliedern (wovon ca. 100 in der Stadt, die<br />

übrigen grossteils in den Agglomerationsgemeinden). 1925 schloss sich der inzwischen<br />

dezimierte Grütliverein wieder der SP an.<br />

Mit dem Volkshaus am zentral gelegenen Pilatusplatz verfügte die Arbeiterbewegung seit<br />

1913 über ein eigenes Vereinslokal. Es war teilweise mit der Emission von Anteilscheinen zu<br />

20 Franken finanziert worden. Die Zahl der Genossenschafter des Volkshausvereins erhöhte<br />

sich von 130 vor dem Weltkrieg auf 298 im Jahr 1922.<br />

Angesichts der damals sehr hohen städtischen Bevölkerungsfluktuation - in Spitzenjahren bis<br />

zu einem Fünftel der Stadtbewohner - zeichnete sich die Mitgliederstruktur des<br />

Volkshausvereins durch hohe personelle Stabilität aus. Vier Fünftel der Genossenschafter von<br />

1911 gehörten dem Volkshausverein auch 1922 noch an. Die meisten wohnten an beiden<br />

Stichjahren in der Stadt. Die vier linksseitigen Stadtbezirke Säli/Bruchmatt, Neustadt,<br />

Allmend/Kleinmatt und Sternmatt/Tribschen beherbergten 1922 51% der Mitglieder<br />

(Bevölkerungsanteil: 25,7%). An der Basel- und Bernstrasse lag der Anteil mit 4,5%<br />

(Bevölkerungsanteil: 8,7%) gleich tief wie auf der rechten Stadtseite (siehe Anhang 48). 174<br />

Auffällig ist, dass nur wenige Fabrikarbeiter dem Verein angehörten: Metallarbeiter fehlten<br />

gänzlich, obwohl 1922 in Luzern und Emmenbrücke 672 gewerkschaftlich organisiert waren<br />

(27,3% aller Gewerkschafter). Schlecht verdienende (Hilfs-)Arbeiter und Taglöhner konnten<br />

sich eine Mitgliedschaft kaum leisten. Das nötige Kapital von 20 Franken entsprach 1910<br />

einem Wochenlohn eines Handlangers bei der Firma Bell in Kriens, 1921 noch knapp zwei<br />

Taglöhnen. 175 Die Sozialstruktur des Volkshausvereins ist somit für die SP nicht<br />

repräsentativ, sondern widerspiegelt den materiell besser situierten Teil der Parteibasis. Dies<br />

wird auch dadurch offenkundig, dass die im Verkehrssektor beschäftigten Genossenschafter<br />

zu 70% Bahnangestellte und nicht etwa Bahnarbeiter waren. Viele von ihnen bekleideten<br />

gehobene Stellungen wie Zug- oder Lokführer (1911 fast die Hälfte, 1922 noch 40%). Die<br />

Analyse der Einkommensverhältnisse bestätigt den mittelständischen Charakter der<br />

Trägerschaft des Volkshausvereins.<br />

Tab. 25: Durchschnittliches Einkommen der Mitglieder des Volkshausvereins, der<br />

Steuerpflichtigen des Untergrundquartiers sowie der Grossstadträte 1911 und <strong>1920</strong> (in Fr.)<br />

liberale konservative SP- Mitglieder Bewohner<br />

Grossstadträte Grossstadträte Grossstadträte Volkshausverein Untergrund<br />

1911 7'017 3'117 3'050 1'403 616<br />

<strong>1920</strong> 8'148176 8'109 3'732 2'724 1'017<br />

Quelle: Steuerbüchlein 1911. Steuerregister <strong>1920</strong>. Brunner (1981), S. 75.<br />

174 Jb. des Volkshausvereins 1921.<br />

175 Reallöhne (1982), S. 185.<br />

176 Ein Bankier war steuerfrei. Deshalb wurden die Durchschnitte auf 11 Mandate berechnet.<br />

60


Die hierarchische Staffelung der sozialen Gruppen mit der Quartierbevölkerung des<br />

Untergrunds am unteren Ende der Einkommensskala wird deutlich. Einschränkend ist zu<br />

bemerken, dass die Einkommensstreuung innerhalb der Stadtratsfraktionen hoch war: in der<br />

SP verfügte ein Ratsmitglied <strong>1920</strong> mit 18'000 Franken allein über ein Viertel des<br />

Einkommens aller sozialdemokratischen Grossstadträte.<br />

6.3. Politischer Kurs der Luzerner SP<br />

Pragmatismus bestimmte den politischen Kurs der Luzerner SP, obwohl sie sich mit der Wahl<br />

eines progressiven Parteivorstandes und der Abspaltung der Grütlianer im Ersten Weltkrieg<br />

etwas radikalisiert hatte. 177 Die Luzerner SP-Sektion nahm innerhalb der Landespartei im<br />

allgemeinen eine vermittelnde Haltung ein, was etwa bei der Debatte über die<br />

Landesverteidigung zum Ausdruck kam. Die Luzerner SP setzte das Thema erst auf<br />

wiederholtes Drängen der Jungsozialisten überhaupt auf die Traktandenliste und unterstützte<br />

schliesslich den gemässigten Oltner Kompromissantrag von Jacques Schmid, der auf eine<br />

Sistierung der parteiinternen Debatte bis nach dem Krieg abzielte. Am schweizerischen<br />

Parteitag vom 9./10. Juni 1917 setzte sich aber die Linke klar durch: die Landesverteidigung<br />

wurde mit 222:77 Stimmen abgelehnt. Ein Antrag des Luzerner Kreisvereins Zürichstrasse<br />

auf eine "Demokratisierung des Heeres" gelangte gar nicht zur Diskussion. 178<br />

Bot sich die Möglichkeit, übernahmen Luzerner Sozialdemokraten Behördenfunktionen.<br />

Parallel zu ihrem Wachstum im Jahrzehnt 1910 bis <strong>1920</strong> - und auch zur Radikalisierung im<br />

Ersten Weltkrieg - integrierte sich die SP stärker in das politische System. Vor 1910 war noch<br />

kein SP-Vertreter ins Präsidium des Stadtrates gelangt oder bloss zum<br />

Kommissionsreferenten gewählt worden. 1915 wurde dem Sozialdemokraten Josef Albisser<br />

im Zuge der Revision der Gemeindeordnung, die in einer Klausel eine angemessene<br />

Vertretung der Minderheiten festschrieb, das neugeschaffene Vormundschaftsdepartement<br />

übertragen. <strong>1920</strong>/21 amtierte mit Josef Steiner179 erstmals ein SP-Mann als Präsident des<br />

Grossen Stadtrates. Die Zusammenarbeit der Parteien im Rat bewertete er als "erspriesslich".<br />

Dass 1926 erstmals ein Sozialdemokrat zum Präsidenten einer Kommission des Grossen<br />

Stadtrates gewählt wurde, löste in rechtsbürgerlichen Kreisen (z.B. Jungkonservative) aber<br />

immer noch heftige Proteste aus. 180<br />

<strong>1920</strong> stimmte die SP mehrheitlich einer Aufstockung des städtischen Polizeikorps um 16<br />

Mann mit dem Argument zu, damit würden für eine Angestelltenkategorie bessere<br />

Arbeitsbedingungen geschaffen. Nur vereinzelt hatten sich Genossen, welche die Polizei als<br />

177 Schelbert (1985), S. 32ff.<br />

178 CD 5.2.1917, 20.4.1917, 23.4.1917 und 11.6.1917. Etter (1972), S. 30.<br />

179 Josef Steiner, auch Grossrat und Präsident der sozialdemokratischen Presseunion, praktizierender Katholik.<br />

180 AB 11.7.1921; VS 17.3.1923. L 8.2.1926.<br />

61


Instrument der herrschenden Klasse betrachteten, prinzipiell gegen die Vorlage<br />

ausgesprochen. 181<br />

1923, als ein neues Steuergesetz zur Abstimmung anstand, rang sich die SP schliesslich zur<br />

Stimmfreigabe durch, obwohl die Existenzminima-Quoten nach ihrer Meinung zu wenig<br />

sozial ausgestaltet waren. Josef Steiner argumentierte im Kreisverein Obergrund mit der<br />

staatspolitischen Verantwortung, die der SP seit einigen Jahren übertragen worden sei. 182<br />

Zwei Jahre nach der Abspaltung der Kommunisten brach die SP an internen<br />

Fraktionskämpfen und persönlichen Animositäten unter führenden Parteigenossen beinahe<br />

auseinander. Erstmals hatte die Beschwerdekommission der SPS schlichtend bei einer<br />

Lokalsektion einzugreifen, nachdem Gottlieb Graf, Luzerner Arbeitersekretär seit Anfang<br />

<strong>1920</strong>, Grossstadtrat Muheim wegen Diffamierung eingeklagt hatte. 183 Die Kontrahenten<br />

scharten ihre Anhängerschaft um sich. Die Konfliktlinie verlief zwischen der gemässigten<br />

sozialdemokratischen Fraktion des Grossen Stadtrates einerseits und Graf sowie einigen<br />

Gewerkschaftsführern andererseits. Der pragmatisch orientierte Flügel um die Grossstadtrats-<br />

Fraktion lehnte einen Lohnabbau beim städtischen Personal im Gegensatz zum progressiven<br />

Flügel um Arbeitersekretär Graf und die Gewerkschaften nicht prinzipiell ab. Muheim<br />

beschuldigte Graf des Missbrauchs seines Einflusses bei der Besetzung von<br />

Funktionärsposten und des Besuchs anrüchiger Wirtschaften. 184 Graf, seit Mitte 1921 selber<br />

Mitglied des Grossen Stadtrates, hatte den gemässigten politischen Kurs von Fürsprech Josef<br />

Steiner, dem Präsidenten der SP-Fraktion, im "Arbeiterblatt" heftig kritisiert. Graf hielt sich<br />

zugute, mit seinem moderat progressiven politischen Kurs ein Aufkommen der Kommunisten<br />

verhindert zu haben. 185 Diese titulierten ihn bisweilen ironisch als "Anhänger der 21/2 Internationale". Laut "Kämpfer" sympathisierte im parteiinternen Streit die Mehrheit der<br />

Luzerner Arbeiterschaft mit Graf. Die Anfang März 1924 unter Friedrich Heeb tagende<br />

Beschwerdekommission versuchte zwischen den Fraktionen auszugleichen. In seinem Bericht<br />

an die Geschäftsleitung der SPS empfahl Heeb eine bessere Betreuung der Luzerner Partei.<br />

Im übrigen skizzierte er ein wenig schmeichelhaftes, provinzielles Portrait der Luzerner SP.<br />

"Wohl das Schlimmste ist, dass beide Gruppen wirkliche oder nur eingebildete Sünden der andern<br />

Gruppe seit langem ungebührlich aufgebauscht, peinlich genau registriert und in ihrem Bekanntenkreis<br />

systematisch damit hausiert haben ... So entstand schliesslich eine Atmosphäre, die mit Explosivstoff und<br />

giftigen Gasen förmlich geladen war, in der jedes 'Gerücht' über eine neue Schlechtigkeit der einen bei<br />

den anderen unbedingten Glauben fand. Durch diese wenig männliche und noch weniger<br />

parteigenössische Kolportage wurde die gegenseitige Entfremdung und Feindschaft immer grösser ... Ist<br />

es nicht möglich, diesen Streit um persönliche und taktische Fragen endgültig aus der Welt zu schaffen,<br />

wozu vorläufig leider wenig Aussicht besteht, so muss damit gerechnet werden, dass die Partei in Luzern<br />

181 CD 30.9.<strong>1920</strong>. Die Ausgaben für das Polizeiwesen waren von 1917 bis 1919 um 70% gestiegen.<br />

182 Prot. des Kreisvereins Obergrund vom 18.1.1923.<br />

183 Akten der Beschwerdekommission der SPS (Sozialarchiv Zürich 1.220.3).<br />

184 Der Präsident des VHTL gab zu Protokoll, das Personal des Allgemeinen Konsumvereins sei schockiert<br />

gewesen, als ein SP-Vertreter in dessen Vorstand für eine Arbeitszeitverlängerung eingetreten sei.<br />

185 "Kämpfer" 9.5.1924.<br />

62


früher oder später auseinanderfällt, das Parteiblatt in Luzern zugrundegeht und auch die Arbeiterunion<br />

des Kantons Luzern schweren Erschütterungen ausgesetzt wird." 186<br />

6.4. Radikale Strömungen in der Arbeiterbewegung<br />

Die Quartiergeschichte "Vom Gütsch zur Reuss" beschreibt den Untergrund als<br />

Quartier, "... in welchem die Leidenschaft der Benachteiligten bei Gelegenheit irrational<br />

aufflackerte". 187 Dass radikale Ideen im Untergrund auf fruchtbareren Boden fielen als<br />

anderswo, war indes kein Zufall. Am Beispiel der italienischen Bauarbeiter, der Luzerner<br />

Soldatenorganisation und der 3. Internationale lässt sich die Affinität sozialer<br />

Unterprivilegierung und radikalen Protests illustrieren.<br />

Die italienischen Fremdarbeiter hausten in den 90er Jahren noch in Baracken an der oberen<br />

Bernstrasse, die im Volksmund den Übernamen "Oberitalien" trug. 1895 gründeten<br />

italienische Maurer und Handlanger eine Gewerkschaft, die "Bandiera dei Muratori". 1897<br />

kam es zum Streik: fast 500 der 600 Luzerner Bauarbeiter traten in den Ausstand. Der<br />

Luzerner Gewerkschaftsbund stand dem Ausstand skeptisch gegenüber, unterstützte ihn aber<br />

schliesslich. 188 Die einheimischen Maurer- und Handlangergewerkschaften hatten bisher<br />

kaum italienische Mitglieder rekrutieren können. Die italienischen Gewerkschaften sträubten<br />

sich auch gegen einen Beitritt zur 1901 gegründeten Luzerner Arbeiterunion. Der<br />

Jahresbericht des Luzerner Arbeitersekretariats 1906 hielt den italienischen Maurern und<br />

Handlangern vor, sie liessen sich zu direkten Aktionen verleiten und schwärmten "für alles<br />

andere mehr als für eine richtige Organisation". Auch mit dem zum Ersten Mai propagierten<br />

Slogan "disziplinierte planmässige Organisation" hatte die Arbeiterunion die Italiener im<br />

Visier. Die wohnräumliche Konzentration der Italiener im Untergrund dürfte deren spontananarchistisches<br />

Streikverhalten und eigenwillige Gewerkschaftspolitik gefördert haben.<br />

Schliesslich gelang aber die Gründung einer italienischen Sektion der Maurer und Handlanger<br />

innerhalb der Arbeiterunion. 189 Dass eine berechenbare Gewerkschaftspolitik mit<br />

Schwergewicht auf Tarifverhandlungen für die Luzerner Gewerkschaftsführer auch nach dem<br />

Landesstreik noch Priorität hatte, zeigt ein vom März <strong>1920</strong> datiertes Gesuch des<br />

Arbeitersekretärs an den Regierungsrat um höhere Subventionen für das sozialdemokratische<br />

Arbeitersekretariat. Dessen Funktion umschrieb er damit, "... wilde Streiks zu verhüten,<br />

indem es Lohnbewegungen und Unterhandlungen in geregelte Bahnen bringt". Das Gesuch<br />

wurde abgelehnt. Das sozialdemokratische Arbeitersekretariat erhielt weiterhin trotz stärkerer<br />

Inanspruchnahme durch die Arbeiterschaft den gleichen Betrag wie das liberale und das<br />

christlichsoziale Arbeitersekretariat (1'000 Franken). 190<br />

186 Akten der Beschwerdekommission der SPS (Sozialarchiv Zürich 1.220.3).<br />

187 "Vom Gütsch zur Reuss", S. 74.<br />

188 Schmid, in: LNN 12.5.1973.<br />

189 Jb. des sozialdemokratischen Arbeitersekretariats 1906, S. 15-16.<br />

190 STARL 4/7/C. (Arbeitersekretariate).<br />

63


Nicht nur das Streik- und Organisationsverhalten der Italiener war innerhalb der<br />

Arbeiterbewegung umstritten; oft wurden sie auch als Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt<br />

empfunden. In den Versammlungen des SP-Kreisvereins Moos beklagten einheimische<br />

Genossen verschiedentlich, hiesige (sozialdemokratische) Arbeiter würden durch Italiener<br />

oder Christlichsoziale ersetzt. 191<br />

Dass die Bauarbeiter radikaler waren als die übrigen Gewerkschaften - der "Kämpfer"<br />

bezeichnete sie als den revolutionärsten Teil der Arbeiterbewegung -, wird auch im<br />

Zusammenhang mit der Spaltung der Arbeiterbewegung nach dem Ersten Weltkrieg deutlich:<br />

Einzig die Bauarbeiter traten 1922 aus der Arbeiterunion aus, um gegen die Nichtaufnahme<br />

der kommunistischen Partei zu protestieren (1926 traten sie wieder bei). Die SP sicherte mit<br />

der Kaltstellung der Kommunisten ihren dominanten Einfluss in der Gewerkschaftsbewegung<br />

ab. Der "Kämpfer" beschuldigte die SP der "geistigen Knebelung" all jener, "die nicht zur<br />

alleinseligmachenden Politik der Sesselkleber schwören". 192<br />

Kommunistische und faschistische Veranstaltungen fanden meistens in Wirtschaften an der<br />

Baselstrasse statt. Laut Zeitungsberichten gehörten einer Anfang der 20er Jahre entstandenen<br />

faschistischen Gruppierung v.a. Geschäftsleute der Baselstrasse an. Auf faschistische<br />

Aktivitäten reagierten italienische Bauarbeiter bisweilen mit Protestveranstaltungen. Auch die<br />

Polizeirapporte aus der Zeit des Ersten Weltkriegs lokalisieren (italienische) Anarchisten oft<br />

im Untergrund.<br />

Mitte Februar 1918 fand unter der Leitung von Klemenz Ulrich193 die konstituierende Sitzung<br />

der Luzerner Soldatenorganisation statt. Ulrich hatte die Initiative dazu ergriffen, weil er<br />

unzufrieden war über das Ausbleiben konkreter Aktivitäten der SPS gegen das Militär in einer<br />

Situation sich ständig verschärfender Klassenspannung. 62 Personen erschienen zur<br />

Gründungsversammlung, 37 von ihnen wohnten in der Stadt, wovon wiederum 11 im<br />

Untergrund, also fast ein Drittel. Die überproportionale Vertretung des Untergrunds ist,<br />

ebenso wie die Berufe der Teilnehmer, aussagekräftig. Mit Ausnahme des linksradikalen<br />

Anwalts Ernst Oberholzer rekrutierten sich alle Anwesenden aus Fabrik- und<br />

Bauarbeiterkreisen. Die meisten waren gewerkschaftlich organisiert oder SP-Mitglieder. 194<br />

Die Luzerner Soldatenorganisation verabschiedete ein radikales Programm, das sich an der<br />

Zürcher Soldatenorganisation des Altkommunisten Jakob (Joggi) Herzog195 - ein politischer<br />

Gefährte Ulrichs - und an der Leninschen Konzeption der sowjetischen "Roten Garden" als<br />

bewaffneter Avantgarde und Schutztruppe des Proletariats orientierte. In einem<br />

191 Z.B. Prot. Kreisverein Moos 31.10.1913.<br />

192 "Kämpfer" 23.4.1926.<br />

193 Klemenz Ulrich (1897-1985), Arbeiterkind, als 12jähriger bereits erwerbstätig, im Ersten Weltkrieg<br />

Viscosearbeiter und Gewerkschaftsaktivist in Emmenbrücke, führende Figur bei der Gründung der<br />

Kommunistischen Partei Luzerns.<br />

194 Die Schilderung beruht auf den Militärjustizakten im Bundesarchiv (98/1688).<br />

195 Jakob Herzog (1892-1931), Rivale Münzenbergs, Gründer der radikalen Jugendgruppe "Forderung" (Jost,<br />

1973, S. 64 und 124ff.).<br />

64


Programmentwurf hielt Ulrich fest: "Sie (die Soldatenorganisation, d.V.) will keine<br />

Demokratisierung der Armee, sondern ihr Kampf soll ums Ganze gehen, Abschaffung<br />

jeglichen Militarismus." Vorderhand sollten die "Arbeitersoldaten" zur Verweigerung eines<br />

allfälligen Schiessbefehls bei Einsätzen gegen demonstrierende Arbeiter ermuntert werden.<br />

Mittels Armeebefehl verbot General Wille Anfang Juni jegliche Aktivitäten der radikalen<br />

Soldatenbünde in der Armee. Im September drängte Generalstabschef Sprecher auf eine<br />

Untersuchung der Luzerner Soldatenorganisation, worauf zunächst Ulrichs Wohnung<br />

durchsucht wurde. Der "Centralschweizerische Demokrat" bekundete verbale Solidarität mit<br />

Ulrich, indem er das "gewalttätige Vorgehen" gegen eine missliebige Gruppierung<br />

brandmarkte. 196 Konkrete Hilfe von der SP beim Aufbau seiner Organisation hatte Ulrich aber<br />

nicht erhalten. Seinem schriftlichen Gesuch an die Parteivorstände um Zustellung von<br />

Mitgliederlisten zwecks gezielter Anwerbung war einzig die Sektion Emmenbrücke<br />

nachgekommen. Anfang November machte General Wille Bundesrat Décoppet schriftlich auf<br />

die "wie Pilze aus dem Boden geschossenen" Soldatenbünde aufmerksam, wobei er die<br />

radikale Luzerner Gruppe im Unterschied zu den reformistischen Bünden als besonders<br />

gefährlich hervorhob. Das gesetzliche Instrumentarium zur Zerschlagung der radikalen<br />

Soldatenbünde lieferten die während des Landes-Generalstreiks erlassenen<br />

Ausnahmebestimmungen. 197 Als Anfang Dezember 1918 immer noch Flugblätter der<br />

Soldatenorganisation in Luzern kursierten, intervenierte der kantonale Polizeidirektor<br />

Heinrich Walther beim eidgenössischen Militärdepartement, die Untersuchung gegen Ulrich<br />

zu beschleunigen. Zehn Tage später wurde Ulrich verhaftet und zwei Monate in<br />

Untersuchungshaft im Luzerner Zentralgefängnis gehalten. Das Territorialgericht IV in Olten<br />

sprach ihn im Mai 1919 von der Anklage der Meuterei frei.<br />

Heinrich Walther drängte nach dem Landes-Generalstreik bei Generalstabschef Sprecher auf<br />

eine prompte Abgabe von Munition und Waffen zuhanden der Luzerner Bürgerwehren. Um<br />

möglichst schnell in Waffenbesitz zu gelangen, nahm er auch eine Verletzung von<br />

Bundesvorschriften in Kauf. 198<br />

"Schon heute dürfen wir behaupten, dass, wenn der Kampf von den heute Unzufriedenen<br />

wieder aufgenommen werden sollte, sich unsere Arbeiterschaft nicht mehr daran beteiligen<br />

würde", analysierte der Luzerner Metallarbeitersekretär Hans Zimmerli die resignative<br />

196 CD 21.9.1918.<br />

197 Etter (1972), S. 39. Gautschi (1988), S. 49, 78 und 83.<br />

198 Walther wörtlich:"Wir glauben auch, dass die Vorenthaltung von Waffen und Munition nicht zur Hebung<br />

des Geistes in den Bürgerwehren beiträgt und können uns auch ein wirksames Eingreifen der letztern, wenn sie<br />

ganz unbewaffnet sind, nicht wohl denken." Eine Abgabe zu Handen der Behörden erfolgte nach der<br />

Sanktionierung des Bürgerwehrreglements durch Kanton und Bund am 22. Mai 1919. Walther hatte zunächst<br />

eine Bewaffnung der Bürgerwehren unter Ausschluss des Rechtsweges angestrebt, indem er sich auf die Abgabe<br />

von Waffen an den Kanton Solothurn berief, dessen Bürgerwehrreglement ebenfalls nicht sanktioniert war. Die<br />

eidgenössische Kriegsmaterialverwaltung liess sich aber nicht darauf ein (Schreiben Walthers vom 8.4.1919 an<br />

das eidgenössische Militärdepartement, Bundesarchiv 21/12046).<br />

65


Stimmung in der Arbeiterschaft nach dem missglückten Landes-Generalstreik. 199 Seine<br />

Situationsanalyse traf aber nur auf die gemässigte Mehrheit der Luzerner Arbeiterschaft zu.<br />

Da sich ältere und gemässigte Sozialdemokraten nach dem Landesstreik parteiintern weniger<br />

engagierten, öffnete sich in der SP ein politisches Vakuum, das die Linkssozialisten zu füllen<br />

begannen. Im Frühling 1919 protestierten die gemässigten Sozialdemokraten mit ganzseitigen<br />

Aufrufen im "Centralschweizerischen Demokraten" gegen die antiparlamentarische Haltung<br />

der Linkssozialisten. Diese stärkten an der städtischen Parteiversammlung im Volkshaus am<br />

Abend des 1. August ihren politischen Einfluss. Ernst Oberholzer und Otto Volkart, beides<br />

keine gebürtigen Luzerner, wurden in den Parteivorstand gewählt, in dem neu eine<br />

linkssozialistische Mehrheit bestand.<br />

Im Zentrum der parteiinternen Auseinandersetzung um die ideologische Ausrichtung der SP<br />

stand 1919 die Frage des Beitritts zur 3. Internationale. Diese war im März 1919 in Moskau<br />

als straffe, zentralistische Organisation der kommunistischen Parteien gegründet worden. Die<br />

schweizerische Parteileitung hatte sich grundsätzlich für einen Beitritt ausgesprochen; der<br />

Basler Parteitag vom 16./17.8.1919 sanktionierte diese Option mit 318:147 Stimmen. 200<br />

Nachdem Ernst Oberholzer am Basler Parteitag den Antrag des Kreisvereins Untergrund auf<br />

ein "offenes und unzweideutiges Bekenntnis" zur 3. Internationale vertreten hatte, verlas<br />

Franz Welti, der Vorsitzende des Parteitages, ein ihm unter der Hand zugespieltes Schreiben<br />

Oberholzers vom April 1919 an einen gewissen John de Kay. 201 Der Skandal war perfekt:<br />

John de Kay, ein auf Schloss Steinhof zu Luzern residierender amerikanischer Millionär, war<br />

als Aktivist und Gönner der reformistischen 2. Internationale einschlägig bekannt. Aus dem<br />

Schreiben ging hervor, dass ihm Oberholzer vorgeschlagen hatte, bei der Organisation der im<br />

Sommer 1919 in Luzern abgehaltenen internationalen Konferenz reformistischer<br />

sozialdemokratischer Parteien zur Wiederaufrichtung der diskreditierten 2. Internationale<br />

mitzuhelfen. Die Befürworter der 3. Internationale distanzierten sich umgehend von<br />

Oberholzer. 202 Dieser sah sich in einem Schreiben an die Geschäftsleitung der SPS als Opfer<br />

eines "Intrigengespinsts", das sein Zentrum in Fürsprech Steiner, dem Exponenten des rechten<br />

Luzerner Parteiflügels, habe. 203<br />

Im August starteten die gemässigten sozialdemokratischen Parteihäupter eine intensive<br />

Kampagne, um die Basis auf Kurs gegen die 3. Internationale zu bringen. Ein Leitartikel des<br />

"Centralschweizerischen Demokraten" ("Ein ernstes Wort an die sozialdemokratisch<br />

organisierte Arbeiterschaft des Kantons Luzern") verunglimpfte die Anhänger der<br />

3. Internationale als "proletarische Schädlinge", die jegliche konstruktive Politik sabotierten:<br />

199 Schreiben vom 20.11.1918 an den SMUV Bern (SMUV-Archiv).<br />

200 Bolliger (1970), S. 202 und 203. Jost (1973), S. 144.<br />

201 "Berner Tagwacht" 19.8.1919.<br />

202 LVB 6.9.1919.<br />

203 Schreiben vom 27.8.1919.<br />

Die Geschäftsleitung der SPS untersuchte den Fall und bot Oberholzer Ende <strong>1920</strong> ins Berner Volkshaus vor eine<br />

Untersuchungskommission auf. Oberholzer wohnte zu diesem Zeitpunkt bereits in Basel und liess schriftlich<br />

verlauten, wegen "Kalbereien" reise er nicht herum (Archiv der SPS im Sozialarchiv).<br />

66


"Parteigenossen! Ihr habt seit Monaten und Wochen die Freunde und Vertreter russischer und<br />

ungarischer Diktaturmethoden auch auf dem Platz Luzern an der Arbeit gesehen, ... aber von<br />

positiver fruchtbarer Betätigung habt ihr nichts von dieser Seite zu sehen bekommen." Dem<br />

Artikel war eine Resolution von 41 führenden Luzerner Sozialdemokraten gegen die<br />

3. Internationale beigefügt. 204 Zur "endlichen Abrechnung mit diesen Saboteuren" beriefen<br />

die Gemässigten auf den 6. September 1919 eine Parteiversammlung ins Volkshaus ein, um<br />

im Hinblick auf die bevorstehende Urabstimmung über den Beitritt zur 3. Internationale der<br />

Neinparole zum Durchbruch zu verhelfen. Flugblätter verbreiteten Panikstimmung: "Wir<br />

rufen Euch zur energischen Sammlung und zum Wiederaufbau der gefährdeten Positionen,<br />

die sich die luzernische Arbeiterschaft in mühevollem jahrelangem Kampf errungen hat, auf."<br />

An der Versammlung wurde ein Antrag Oberholzers, einen Kommunisten zum<br />

Tagespräsidenten zu bestimmen, mit zwei Dritteln abgelehnt, worauf ein Tumult ausbrach;<br />

die Versammlung musste abgebrochen werden. Die Gemässigten seien von den mit "Kind<br />

und Kegel" aufmarschierten Kommunisten niedergebuht worden, hielt ein Polizeirapport<br />

fest. 205<br />

In der Urabstimmung unterlagen die Befürworter der 3. Internationale deutlich. Einzig die<br />

Sektion Untergrund stimmte einem Beitritt zu. Auch gesamtschweizerisch wurde der Beitritt<br />

mit 14'612:8'722 Stimmen verworfen.<br />

Tab. 26: Urabstimmungsresultate 1919 in den SP-Kreisvereinen über den Beitritt<br />

zur 3. Internationale<br />

Untergrund Zürichstrasse Moos Obergrund Altstadt<br />

Jastimmen 49 36 32 20 12<br />

Neinstimmen 34 38 80 90 20<br />

Stimmbeteiligung (%) 41 49 34 44 41<br />

Quelle: Centralschweizerischer Demokrat 23.9.1919.<br />

Ende Juli 1919 hatte Oberholzer im Kreisverein Moos über das neue schweizerische SP-<br />

Parteiprogramm referiert. Die anwesenden Genossen begrüssten damals das radikale SP-<br />

Programm einstimmig und verabschiedeten eine Resolution, die eine "Weltrevolution" und<br />

den Anschluss an die 3. Internationale verlangte. Zudem sollten nur Anhänger der 3.<br />

Internationale für die Nationalratswahlen nominiert werden. Diese Episode zeigt, dass<br />

ideologische Positionen beim Luzerner Parteivolk nicht dogmatisch verankert waren, eher<br />

eine spontane Wankelmütigkeit dominierte. Gemäss Versammlungsprotokoll herrschte<br />

Anfang Oktober im Kreisverein Moos bereits wieder ein versöhnlicher Geist zwischen links<br />

und rechts. 206<br />

204 CD 4.9.1919.<br />

205 Polizeirapport vom 7.9.1919 (STARL).<br />

206 Prot. Kreisverein Moos 6.10.1919.<br />

67


Der 1905 gegründete Kreisverein Untergrund galt als radikaler Bodensatz der Partei: "Nicht<br />

selten standen die Genossen des Untergrunds auch intern zu den Bestrebungen und<br />

Auffassungen der 'Häupter' in schärfstem Gegensatz." 207 Zur sozialräumlichen, radikale<br />

politische Positionen fördernden Segregation des Untergrunds allgemein gesellte sich die<br />

Absenz jeglicher Parteiprominenz im Quartier. Diese wohnte mehrheitlich in den Quartieren<br />

Moos und Obergrund, wo das eher gemässigte Verkehrspersonal den Ton angab. 208<br />

In der 2. Hälfte des Jahres 1919 wurden die Galionsfiguren der Linkssozialisten in der SP<br />

entmachtet. Linkssozialist Otto Volkart, seit Mai 1919 Lokalredaktor des<br />

"Centralschweizerischen Demokraten", wurde Mitte September von der Generalversammlung<br />

der sozialdemokratischen Presseunion mit Zweidrittelsmehrheit wegen "fortgesetzten<br />

Missbrauchs des Parteiorgans zu unqualifizierbaren und unbegründeten persönlichen<br />

Angriffen und Insulten gegen einzelne für Partei und Presse seit Jahren tätige Parteigenossen"<br />

abgesetzt. Nicht nur Volkarts Antiparlamentarismus, auch seine prononciert antireligiöse<br />

Haltung war den gemässigten Führern der Arbeiterbewegung ein Dorn im Auge. 209 Zudem<br />

hatte die Zusammenarbeit zwischen Volkart und dem Oltner Hauptredaktor Jacques Schmid,<br />

einem ausgesprochenen Realpolitiker, nicht geklappt. Volkart bezichtigte Schmid der Zensur<br />

seiner Artikel zur 3. Internationale, umgekehrt beschuldigte Schmid Volkart, er habe die<br />

Luzerner Wahlen journalistisch sabotiert. 210 Schliesslich brach eine regelrechte<br />

Schlammschlacht aus: Gemässigte Sozialdemokraten denunzierten Volkart und Oberholzer<br />

als "bolschewistische Terroristen", welche die legitime Parteiführung verdrängt hätten.<br />

Oberholzer wurde insbesondere ein luxuriöser Lebensstil, eine zwielichtige, mit<br />

Gerichtsprozessen bezüglich Alimentenverweigerung belastete Vergangenheit sowie seine<br />

Beliebtheit in Arbeiterkreisen des Untergrunds vorgeworfen.<br />

"Er (Oberholzer, d.V.) ist der gestrandete Stehkragenprolet, dem die Intrige im Blute liegt, der radikale<br />

Salon-Kommunist in Lackschuhen und elegantem schwarzem Gehrock, der mittags den Kaffee in<br />

fashionablen Restaurants schlürft, der heute sich bei der Halbwelt des Kursaals amüsiert und morgen in<br />

geheimen Konventikeln urteilslose Unterstadtproletarier gegen die Parteiführung verhetzt ... " 211<br />

Als Oberholzer eine Boykottaktion gegen den "Centralschweizerischen Demokraten" startete<br />

und Abos für das "Volksrecht" sammelte, platzte den Gemässigten der Kragen: "Aber jetzt ist<br />

genug! Von heute ab steht der 'Demokrat' im offenen Kampf mit Ihnen. Rücksichtslos, wie<br />

Sie es verdienen, werden wir Ihnen Ihre Heuchlermaske vom Gesichte reissen. Wir werden<br />

auch nicht rasten, bis Ihr schädlicher Einfluss in Partei und Presse beseitigt ist." 212 Da die<br />

207 40 Jahre Kreisverein Untergrund, in: FI 5.11.1945.<br />

208 CD 16.9.1919.<br />

209 LT 214/11.9.1919 und 226/25.9.1919. Auf die antireligiöse Haltung Volkarts als Motiv für seine<br />

Abberufung verweist v.a. die grütlianische "Luzerner Volksstimme" vom 27.9.1919.<br />

210 CD 24.4.1919, 8.8.1919 und 13.8.1919. Die Linkssozialisten hatten sich etwa im April gegen die Teilnahme<br />

an den Grossratswahlen ausgesprochen und Kandidaturen aus den eigenen Reihen verweigert. In seiner<br />

Ansprache zum Ersten Mai hatte Volkart den bürgerlichen Parlamentarismus attackiert<br />

211 CD 16.9.1919.<br />

212 CD 18.10.1919.<br />

68


Luzerner Behörden Oberholzer an der Berufsausübung behinderten (sein Anwaltspatent<br />

wurde nicht anerkannt), waren seine Perspektiven in Luzern endgültig ruiniert. <strong>1920</strong> zog er<br />

nach Basel. 213 Auch die christlichsoziale Presse stigmatisierte Oberholzer in einer<br />

dämonisierenden Karikatur als revolutionären Brandstifter (siehe Anhang 65).<br />

Auf den 6. November 1919 berief die Vertrauensmännerversammlung der SP eine<br />

ausserordentliche städtische Parteiversammlung ein, um die immer noch bestehende<br />

linkssozialistische Mehrheit im städtischen Parteivorstand zu stürzen. Dies gelang: Alle<br />

Linkssozialisten wurden aus dem Vorstand gekippt und durch Gegner der 3. Internationale<br />

ersetzt. Ruhe sei in der SP dank der Absetzung der "bolschewistischen Machthaber"<br />

eingekehrt, kommentierte das christlichsoziale "Luzerner Volksblatt". 214<br />

Am 5./6. März 1921 vereinigten sich Linkssozialisten und Altkommunisten zur<br />

kommunistischen Partei der Schweiz. In Luzern wurde am 29.3.1921 im Restaurant<br />

Kreuzstutz im Untergrund die Luzerner Lokalsektion - die erste kommunistische<br />

Lokalsektion der Schweiz überhaupt - offiziell gegründet. 215 Der SP-Kreisverein Untergrund<br />

war von der Spaltung am stärksten betroffen. Das "Zentralschweizerische Arbeiterblatt"<br />

kommentierte den Abgang der Parteilinken sogar mit Erleichterung. Die Spaltung stärke die<br />

SP, zumal dadurch wieder vermehrt ältere Genossen an den Parteiversammlungen<br />

teilnähmen. 216 Der Kreisverein Moos hatte lediglich drei "linkssozialistisch" begründete<br />

Austritte zu verzeichnen; karrierepolitische und religiöse Motive - das Kreisvereinsprotokoll<br />

spricht ironisch von "wiedergefundenem Heil in der römischen Sammelhalle" - führten im<br />

Kreisverein Moos zu mehr Austritten als die Parteispaltung.<br />

Der Mitgliederbestand der kommunistischen Partei stagnierte jahrelang bei 50-60<br />

Personen. 217 Ihr Wähleranteil lag im Gebiet Bruch/Untergrund mit 2,7% doppelt so hoch wie<br />

in den übrigen Urnenkreisen. Die erste von der KPS offiziell herausgegebene Broschüre war<br />

die vom Autodidakten Klemenz Ulrich während seiner Haftzeit im Luzerner Zentralgefängnis<br />

verfasste Schrift "Ist die soziale Revolution auch in der Schweiz notwendig" (1919), ein<br />

utopistisches, von der kommunistischen Rätedemokratie beeinflusstes Manifest für einen<br />

gewaltfreien Umsturz, das die Proletarisierung von Teilen des Mittelstandes im Ersten<br />

Weltkrieg beschreibt. Die Luzerner Kommunisten versammelten sich gewöhnlich im<br />

Untergrund - v.a. in den Restaurants "Eisenbahn" und "Lädeli" - zu ihren Sitzungen. Im<br />

"Lädeli" hielt Jahre später auch Walter Ulbricht einen Vortrag. 218<br />

Die Behörden betrachteten die Luzerner Kommunisten als Gefahr für den Staat. Ein von 150<br />

Personen besuchter Vortrag von Moses Mandel im April <strong>1920</strong> über die ungarische<br />

213 "Neue Ordnung" 28.10.<strong>1920</strong>. "Kämpfer" 23.3.1921.<br />

214 LVB 15.11.1919.<br />

215 "Neue Ordnung" 28.10.<strong>1920</strong>. "Kämpfer" 23.3.1921.<br />

216 AB 28.1.1921.<br />

217 Ulrich (1973), S. 32.<br />

218 Ulrich (1973), S. 33.<br />

69


Räterepublik veranlasste den Polizeispitzel zu folgender Einschätzung der kommunistischen<br />

Bewegung in Luzern.<br />

"Man hört oft das Schlagwort, ja die Luzerner Sozialisten und Kommunisten sind nicht so gefährlich, ihre<br />

Zahl ist zu klein. Es wird ja richtig sein, dass nicht auf dem Platze Luzern der erste Putsch versucht wird<br />

... Wenn man aber seit zwei Jahren die sozialistisch-kommunistische Presse verfolgt hat, wenn man die<br />

grosse Zahl von Versammlungen auch auf dem Platze Luzern in Betracht zieht, wo die ausserkantonalen<br />

extremsten Redner, darunter auch solche, die kaum das Schweizer Bürgerrecht erhalten haben, auftreten,<br />

wenn selbst Nationalräte wie Grimm und Schneider mit Wucht darauf hinarbeiten, dass sich die<br />

Arbeiterschaft mit Waffen versehe, ist das gewiss nicht nur zum Schein, sondern verlangt, auf der Hut zu<br />

sein." 219<br />

Besonders rege Aktivitäten enfalteten die Kommunisten in der Jugend- und Bildungsarbeit. 220<br />

Die sozialdemokratische Jugendorganisation war Anfang der 20er Jahre praktisch inexistent,<br />

die kommunistische blühte umso mehr, wie das "Arbeiterblatt" selbstkritisch konstatierte: "In<br />

einer Beziehung dürften sich die Parteigenossen an der Parteilinken und der kommunistischen<br />

Partei ein Vorbild nehmen, die für ihre Jugendorganisation ein reges Interesse zeigen und<br />

dieselbe nach Möglichkeit unterstützen." Bisweilen rief das "Arbeiterblatt" auch in den<br />

eigenen Reihen zu mehr Utopien neben der Pflege von Realpolitik auf. 221<br />

Das Verhältnis zwischen SP und KP prägten kommunistische Avancen zur Zusammenarbeit<br />

(Stichwort Einheitsfront) und sozialdemokratische Zurückhaltung. Im Kreisverein Moos<br />

beispielsweise herrschte "nicht die geringste Lust" zur Einheitsfront. 222 Angebote für<br />

Listenverbindungen lehnte die SP konsequent ab. Die Kommunisten, die für sich in Anspruch<br />

nahmen, die "echten" Vertreter des Proletariats zu sein, attackierten das sozialdemokratische<br />

Establishment als "bezahlte Parteibürokraten und Nutzniesser der Arbeiterbewegung". Die<br />

kommunistische und die sozialdemokratische Basis trennte auch eine soziale Kluft. 223 In der<br />

2. Hälfte der 20er Jahre schlugen die Kommunisten sozialfaschistische Töne an, etwa 1926 in<br />

einer Beilage des "Kämpfers" zum Ersten Mai: "An die Luzerner Arbeiterschaft: Der grösste<br />

Feind steht in unseren eigenen Reihen."<br />

6.5. Stimmverhalten<br />

Wie homogen war der politische Wille des (männlichen) Stimmvolkes in der Stadt?<br />

Die sich Anfang 20. Jh. abzeichnenden Disparitäten zwischen linkem und rechtem Ufer traten<br />

ab 1910 konstant auf. Der gewerblich geprägte linke Stadtteil stimmte im allgemeinen<br />

progressiver als der rechte. Der Stadt-Land-Gegensatz blieb aber im Vergleich mit den<br />

innerstädtischen Differenzen viel massiver, besonders bei sozialpolitischen Vorlagen, welche<br />

219 STARL 44/799.<br />

220 "Neue Jugend" 17.6.<strong>1920</strong>.<br />

221 AB 7.3.1921 und 3.3.1922.<br />

222 Prot. Kreisverein Moos 5.7.1921.<br />

223 "Neue Ordnung" 1.2.1921.<br />

70


die städtische Arbeiterschaft tangierten (zum Teil über 40% Differenz beim Jastimmen-<br />

Anteil, siehe Anhang 46).<br />

Die quartierspezifischen Abstimmungsresultate blieben insofern ausgeglichen, als die acht<br />

städtischen Urnenkreise fast immer gleich stimmten. Nur das Hofquartier scherte zweimal aus<br />

den ansonsten geschlossenen Ja- und Neinmehrheiten der übrigen Kreise aus, als es den<br />

Lohnabbau beim städtischen Personal befürwortete und die Steuerinitiative der<br />

sozialdemokratischen Partei 1922 verwarf. Im Durchschnitt betrug die Differenz zwischen<br />

dem Wahlkreis mit dem tiefsten und jenem mit dem höchsten Jastimmen-Anteil 19,5%. Bei<br />

den heiss umstrittenen, stark ideologisch aufgeladenen Vorlagen der Nachkriegszeit war die<br />

Differenz zwischen den Gebieten Hof und Untergrund/Bruch jeweils am ausgeprägtesten.<br />

Liessen sich die Abstimmungsresultate auf den Untergrund allein und dessen Teilräume<br />

eingrenzen, fielen die Disparitäten wohl noch um einiges höher aus.<br />

Tab. 27: Jastimmen-Anteile bei hartumkämpften Vorlagen der Nachkriegszeit (in %)<br />

Bruch/Untergrund Hof<br />

Aufhebung der Militärjustiz (1921) 48.5 18.3<br />

Lex Häberlin (1922) 16.2 46.7<br />

Vermögensabgabeinitiative (1922) 25.7 6.7<br />

Arbeitszeitverlängerung (1924) 13.3 39.8<br />

Quelle: Protokolle der Einwohnergemeinde Luzern. Resultate aller Quartiere in Anhang 45.<br />

Diese brisanten Vorlagen erreichten mit über 75% auch eine sehr hohe Stimmbeteiligung.<br />

Dass bei städtischen Abstimmungsgeschäften viel weniger Stimmberechtigte an die Urne<br />

gingen - beim Kredit für Notstandsmassnahmen 1922 bloss 15%, beim Massnahmenpaket zur<br />

Förderung des Wohnungsbaus und zur Milderung der Arbeitslosigkeit 1922 nur 23% -, macht<br />

deutlich, dass die Bevölkerung dem politischen Lokalgeschehen mitunter wenig Interesse<br />

entgegenbrachte. Ausnahme bei den lokalen Abstimmungsgeschäften war die Vorlage über<br />

den Lohnabbau beim städtischen Personal, welche eine Stimmbeteiligung von knapp 70%<br />

erreichte. Leider kann die Stimmbeteiligung nicht schichtspezifisch erfasst werden. Aus dem<br />

Jahr 1955 liegt ein Hinweis vor, ungelernte Arbeiter verfielen oft dem Alkohol und gingen<br />

selten zur Urne. 224<br />

Den Grund für das Fiasko der Vermögensabgabeinitiative mit nur 17% Jastimmen in der<br />

Stadt sah der Luzerner Arbeitersekretär Graf in der massiven bürgerlichen<br />

Gegenpropaganda. 225 Die Jungkonservativen etwa witterten hinter der "Raubinitiative" einen<br />

224 FI 230/4.10.1955.<br />

225 Jb. des sozialdemokratischen Arbeitersekretariats von Luzern 1922.<br />

71


jüdisch-sozialistischen Komplott aus Kreisen des Nationalrats. 226 In Dörfern der Luzerner<br />

Landschaft kam es anlässlich der Abstimmung zu exzessartigen Ausschreitungen, etwa in<br />

Sursee, wo demonstrativ ein roter "Böög" verbrannt wurde. 227<br />

Die SP-Initiativen erzielten im Gebiet Sternmatt, Tribschen und im Moosquartier bessere<br />

Ergebnisse als im Bruch/Untergrund.<br />

7. Der Untergrund im Spannungsfeld von Religion und Arbeiterbewegung<br />

7.1. Seelsorge als soziales Ordnungsinstrument<br />

72<br />

"Kein Glockenklang sprach am Sonntagmorgen<br />

zu den Herzen. So ist es zu begreifen, dass viele<br />

der Kirche fernblieben, und dass in vielen<br />

Strassen ein Geschlecht heranreifte, das andere<br />

Wege ging." (Denkschrift der neuen Kirche St.<br />

Karl, 1938)<br />

Das starke Bevölkerungswachstum im Obergrundgebiet um die Jahrhundertwende<br />

überforderte die kirchliche Infrastruktur und die seelsorgerlichen Kapazitäten der für die linke<br />

Stadtseite zuständigen Kuratkaplanei Franziskanern. Zur Behebung dieses Missstandes<br />

gründete der Stadtpfarrer 1900 das Kirchenbaukomitee Obergrund. 12 Jahre später war der<br />

Bau der Pauluskirche abgeschlossen. Formell bildete das städtische Gemeindegebiet noch<br />

eine einzige Pfarrei, die Stadtpfarrei St. Leodegar. Sie stand den Seelsorgebezirken auf der<br />

linken Stadtseite vor. Etappenweise erhielten jene mehr Kompetenzen und mit dem<br />

Inkrafttreten des neuen kirchlichen Gesetzbuches ("codex iuris civilis") 1918 schliesslich den<br />

Status selbständiger Pfarreien. 228<br />

Auch im zur Kuratkaplanei Franziskanern gehörenden Untergrund gewahrte die Luzerner<br />

Geistlichkeit gegen den Ersten Weltkrieg hin einen sich zuspitzenden pastoralen Notstand,<br />

zumal in der Jugendseelsorge. Die Eröffnung des quartiereigenen St.-Karli-Schulhauses 1911<br />

hatte dazu geführt, dass die Kinder aus Zeit- und Distanzgründen nicht mehr an der<br />

Schulmesse in der Franziskanerkirche im Stadtzentrum teilnehmen konnten. Die Sentikapelle<br />

an der Baselstrasse, ehemals Kirche des Siechenhauses, bot zu wenig Platz. 229 Seit längerem<br />

setzten sich die Senti-Seelsorger für eine grössere Kirche im Untergrund ein. Auch ein Teil<br />

der Quartierbevölkerung forderte 1912 in einer Eingabe an den Kirchenrat eine neue Kirche<br />

im Untergrund. 1914 konstituierte der Stadtpfarrer den Kirchenbauverein St. Karli-<br />

Untergrund. Seine Trägerschaft bestand aus Geistlichen, konservativen Politikern und<br />

Vertretern des Baugewerbes. Die gesellschaftliche Quartierelite war im Verein nicht<br />

vertreten. Vordringlich erschien der Trägerschaft die Beschaffung von Geld zum Kauf einer<br />

226 L 15/28.11.11922.<br />

227 "Kämpfer" 9.12.1922.<br />

228 Steiner (1992), S. 171-174.<br />

229 Steiner (1973), S. 87-88.


Bauparzelle. Eine unter publicityträchtigem Motto - Bau einer "Friedenskirche" als Mahnmal<br />

angesichts der Schrecken der Oktoberrevolution - lancierte Geldsammlung brachte Ende 1917<br />

50'000 Franken ein. Vorderhand diente ein provisorisch hergerichteter Raum als Notkirche.<br />

1922 wurden der Untergrund und das locker überbaute St.-Karli-Gebiet rechts der Reuss zur<br />

selbständigen Pfarrei St. Karl aufgewertet. 230 Das Raumprovisorium endete erst 1934 mit der<br />

Vollendung der St.-Karli-Kirche, der ersten Betonkirche in der Innerschweiz.<br />

Hinter dem Ausbau der kirchlichen Infrastruktur im Untergrund stand nicht zuletzt die<br />

Absicht, einer allfälligen politischen Radikalisierung der Quartierbewohner die Spitze zu<br />

brechen. Der christlichsoziale Politiker Josef Anton Bruggmann231 etwa regte 1918 im<br />

Kirchenbauverein die Erstellung eines Beetsaals an mit dem Hinweis darauf,<br />

Arbeitsbeschaffung sei ein taugliches Instrument, um die Attraktivität v.a. bei der<br />

Quartierjugend verbreiteter sozialistischer und kommunistischer Ideen einzudämmen.<br />

"Unverzügliche" Schaffung religiöser Pfarreivereine wie Jünglings- und<br />

Jungfrauenkongregationen betrachtete der Kirchenbauverein als das geeignete Mittel, die<br />

"religiös, sittlich schwer gefährdete Jugend von den staats- und religionsfeindlichen<br />

Einflüssen gewisser bekannter Jugendorganisationen fernzuhalten". Als Versammlungsort<br />

sollte das provisorische Gottesdienstlokal dienen. 232 Weniger christlichsoziale Reformpolitik<br />

denn kulturkämpferischer religiöser Eifer stand beim ultramontanen jungkonservativen<br />

Kampfblatt "Luegisland" im Zentrum seines Engagements für eine Kirche. Indem es das<br />

segenspendende Verdienst paternalistisch-wohltätigen Wirkens unterstrich, enthüllte es dieses<br />

als Zeichen sozialer Klassentrennung: Die "Armen, Geplagten, Verhetzten" sollten, so der<br />

"Luegisland", durch das "hohe, edle religiös-soziale Werk" des Kirchenbaus, auf das sie seit<br />

Jahrzehnten ein "heiliges Anrecht" hätten, zum "beseeligenden Bewusstsein kommen, dass sie<br />

im Gotteshaus gleichberechtigt sind, und die warme Schönheit des heiligen Ortes muss ihnen<br />

Ersatz bieten für ihr oft so ödes, kaltes Heim". "Nicht selten vom Pesthauch der Sünde<br />

umgeben", bedürften die Arbeiterkinder im Untergrundquartier eines Gotteshauses umso<br />

dringlicher. In der sozialen Not erblickte das jungkonservative Blatt den Nährboden, auf dem<br />

materielle, von "Volksbeglückern" gestreute Selbstsucht gedieh. Dagegen forderte es<br />

Entsagung und Selbstzucht, traditionelle Postulate karitativer Sozialfürsorge. 233 Vom<br />

Kirchenbau erhoffte sich der "Luegisland" eine positive sozialhygienische Wirkung.<br />

"Eine Kirche im Arbeiterviertel bringt Sonntagsruhe und Festesfreude. Glocken klingen, festlich gekleidete<br />

Menschen strömen zum Gottesdienst, die Sonntagsschänder verkriechen sich, fühlen sich beschämt. Wo<br />

keine Kirche zum Himmel ragt, wo das traurige Einerlei der Mietkasernen keine Erinnerung an höhere Ideale<br />

wachruft ... Da tritt die Schändung des Sonntags frech an die Öffentlichkeit. Es wird Wäsche ausgehängt, es<br />

wird gescheuert und geputzt. Niemand fühlt einen Kontrast; wo keine Kirche, dort kein Sonntag - der<br />

Mensch vertiert." 234<br />

230 Steiner (1973), S. 93.<br />

231 Zentralpräsident der Christlichsozialen Krankenkasse der Schweiz, christlichsozialer Stadt- und Grossrat.<br />

232 "Zweckbestimmung" des Saalbaus St. Karli-Untergrund vom 24.3.1921 (Archiv der Katholischen<br />

Kirchgemeinde Luzern, Faszikel 23: St. Karli).<br />

233 L 2/15.5.1917 und 6/15.7.1917. Steiner (1992), S. 173.<br />

234 L 15.7.1919.<br />

73


Die von den Pfarrern zu Handen des Bischofs verfassten Visitationsberichte, die<br />

Rechenschaft über das religiöse Leben in den Pfarreien ablegen, erlauben Aussagen zur<br />

Volksreligiosität. Für die Pfarrei St. Karl liegen Visitationsberichte ab 1922, als Pfarrer<br />

Gottlieb Moos seine Tätigkeit aufnahm, vor. 235<br />

Im Vergleich mit den protestantischen Städten, aber auch dem katholischen Freiburg, blieb<br />

der Messebesuch in der Stadt Luzern bis weit ins 20. Jh. hinein überdurchschnittlich hoch.<br />

Tiefverwurzelte katholische Tradition, Erleichterungen für den Normenkatholizismus durch<br />

das Staatskirchenrecht und die schützende Funktion der katholischen Landschaft trugen dazu<br />

bei. 236 Dass sich in den Visitationsberichten keine Hinweise auf allfällige Kirchenabstinenz<br />

liberaler Dorfeinwohner in politisch gemischten Dörfern finden, zeigt, dass auch in liberalen<br />

Kreisen der Landschaft der sonntägliche Kirchgang noch selbstverständlich war. 237 Das<br />

katholische Milieu war äusserst kompakt. In bäuerlichen Kreisen, wo sich liturgischer<br />

Fest- und agrarischer Jahrzeitenkalender gegenseitig stützten, setzte erst nach dem Zweiten<br />

Weltkrieg allmählich ein religiöser Mentalitätswandel ein. 238 Auch der Anteil der<br />

sogenannten "Nurösterlinge", also jener, die an gewöhnlichen Sonntagen der Messe<br />

fernblieben, lag auf der Landschaft bedeutend tiefer als in der Stadt.<br />

Strenggläubige Geistliche wie etwa der Krienser Pfarrer und Pfarrer Bossard von St. Paul<br />

beurteilten die Erosionserscheinungen in der Volksreligiosität in ihren Visitationsberichten<br />

als gravierender als die liberaleren. Das Spektrum der Klagen, das von mangelhaftem<br />

Messebesuch, schlechter Erfüllung der Osterpflicht (v.a. bei Männern) - Abstinenz fast der<br />

Hälfte der Pfarreiangehörigen von der Osterpflicht kam in den städtischen Pfarreien nicht<br />

selten vor -, Wildwuchs laizistischer Vereine, antiklerikaler Presseprodukte und Schriften bis<br />

zur Zunahme unehelicher Geburten und Sonntagsentheiligung durch Freizeitanlässe reichte,<br />

koppelte toposartig die Sündhaftigkeit des Stadtlebens mit den als verwerflich eingestuften<br />

Ideologien Sozialismus und Liberalismus. Mitunter gesellte sich zur Kritik an der<br />

Kirchenabstinenz von Sozialisten jene an italienischen Arbeitern; so machte der Hochdorfer<br />

Pfarrer 1926 über 100 sozialistische und italienische Arbeiter aus, welche die Osterpflicht<br />

nicht erfüllten. Die völlig kirchenabstinenten Italiener rügte er besonders.<br />

Die in den Visitationsberichten enthaltenen Statistiken der jährlich gespendeten<br />

Kommunionen weisen für den Untergrund eine tiefe Frequenz aus: von durchschnittlich einer<br />

Kommunion pro Pfarreiangehörigem/r 1923 stieg sie bis 1928 zwar auf vier, lag aber im<br />

Vergleich mit den anderen städtischen Diözesen wesentlich tiefer. In der ebenfalls jungen<br />

235 Nach mündlicher Auskunft von Pfarrer Täschler war Moos ein einfacher, "einfältiger" Mann aus dem Volk.<br />

236 Auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg war der Messebesuch in Luzern überdurchschnittlich hoch.<br />

Altermatt (1989), S. 284 und 335, nennt für das Jahr 1959 folgende Werte: 69% in der Stadt Luzern, 52% in St.<br />

Gallen, 41% in Zürich und 63% in Freiburg.<br />

237 Das rigide katholische Milieu auf der Landschaft illustriert die Weigerung des Pfarrers von Giess (LU) 1928,<br />

die Kirchenglocken zur Beerdigung eines Protestanten zu läuten, was zu einer liberalen Interpellation im<br />

Grossen Rat führte (AB 1.12.1928).<br />

238 Altermatt (1986), S. 115 und 116.<br />

74


Pfarrei St. Paul erhöhte sich der Durchschnitt von sechs Kommunionen 1919 auf zehn im Jahr<br />

1929. Im Stadtzentrum wurde mehr kommuniziert als in den peripheren Quartieren, auf der<br />

rechten Stadtseite mehr als auf der linken: Der Pfarrer von St. Leodegar spendete 1916 und<br />

1919 durchschnittlich 19 Kommunionen pro Person, jener der Kleinstadtpfarrei St. Maria<br />

1916 im Mittel sechs, 1923 zehn und 1929 elf. Bevölkerungsmässig mit den städtischen<br />

Pfarreien vergleichbare Dörfer der Landschaft - etwa Escholzmatt, Ruswil, Willisau und<br />

Hochdorf - wiesen mit durchschnittlich 11 bis 17 Kommunionen 1912-1926 nur geringfügig<br />

höhere Werte auf als die Stadt. Ein Grund für die überraschend tiefe Anzahl gespendeter<br />

Kommunionen dürfte in der damals üblichen Praxis der Generalkommunion liegen. 239<br />

Der Aufbau einer Kartei zwecks seelsorgerlicher Hausbesuche im Untergrund endete für<br />

Pfarrer Moos bald mit einem Fehlschlag: Er musste die Hausmission aufgegeben, weil er von<br />

der Quartierbevölkerung mehrheitlich feindselig empfangen wurde. Ein "Grossteil der<br />

Familien" stehe dem Priester fremd gegenüber, vermerkt Pfarrer Moos im Visitationsbericht<br />

von 1929; antiklerikale Zeitungen seien im Quartier weit verbreitet, und in vielen Familien<br />

herrsche religiöse Indifferenz. Streng religiöse Familien waren im Untergrund eine kleine<br />

Minderheit. 240 Den Besuch des Religionsunterrichts durch die Kinder bewertete Moos als gut,<br />

ebenso das Verhältnis zwischen Geistlichkeit und Lehrerschaft. 241 Als einziger städtischer<br />

Pfarrer erwähnte er Trunksucht als quartierspezifisches Problem (1929). 242<br />

Traditionelles religiöses Brauchtum im Untergrund war die jährlich stattfindende, bei der<br />

Quartierbevölkerung mehrheitlich beliebte Sentiprozession. Eine Fotografie zeigt die<br />

Prozession beim Durchzug durch das sogenannte Schnepfengestell, eine Ansammlung<br />

ärmlicher Häuschen hinter dem Waisenhaus zwischen Baselstrasse und Reuss (1912<br />

abgerissen). Girlanden schmücken die Behausungen (siehe Anhang 66). Einen ausschliesslich<br />

klassenkämpferischen Blick richtete der linksradikale Lokalredaktor Otto Volkart auf die<br />

Sentiprozession: begleitet von Militär mit aufgepflanzten Bajonetten sowie<br />

"Studentenclowns" als Vertretern der Bildung, böte sie ein Bild "abgetakelter<br />

Geschmacklosigkeit". 243<br />

7.2. Laizistisch-städtische Alltagskultur versus katholischer Antimodernismus<br />

Das weltanschauliche Fundament der katholischen Kirche und der konservativen Partei<br />

basierte auf den päpstlichen Enzykliken des 19. Jh.: "Quanta cura" (1864) hatte den<br />

Liberalismus verurteilt und im "Syllabus errorum" einen Katalog von 80 mit dem<br />

katholischen Glauben unvereinbaren Sätzen postuliert; "Rerum novarum" Leos XIII. (1891)<br />

239 Visitationsberichte (Diözesanarchiv Solothurn).<br />

240 Mündliche Auskunft von Jacob Scherrer.<br />

241 1932 allerdings ein verbaler Seitenhieb auf die Lehrerinnen, die im Gegensatz zu ihren männlichen<br />

Kollegen den Gottesdienst nicht immer besuchten. Im Visier hatte Moos vermutlich Josefine Helbling, Luzerner<br />

Sozialistin und Lehrerin, die u.a. mit Angelika Balabanoff befreundet war.<br />

242 Visitationsberichte (Diözesanarchiv Solothurn).<br />

243 CD 21.6.1919.<br />

75


zur Arbeiterfrage entwarf ein sozialreformerisches Programm mit den Kernthesen<br />

Ständeversöhnung, Ablehnung des Sozialismus und Gewährleistung des Privateigentums. 244<br />

Die katholische Zeitkritik geisselte als Abfallprodukte industrieller Rationalisierung und<br />

wirtschaftlicher Produktivitätssteigerung Mammonismus und Aushöhlung ideeller Werte.<br />

Sakrale Strukturierung des Tagesablaufs wie in ländlichen Gebieten war in der Stadt nicht<br />

mehr möglich.<br />

Der Katholizismus speiste sich aus einem antimodernistischen, antiliberalen und<br />

antisozialistischen Reflex. Im urbanen Raum gebärdete er sich als Ablehnung laizistischer<br />

Alltagskultur, die als liberal und sozialistisch infiltriert galt.<br />

Bei Karl Wick beispielsweise, Redaktor beim "Vaterland" und ideologischer Vordenker der<br />

Konservativen, wird die Trennung in eine politische Kultur und eine laizistische Volkskultur<br />

hinfällig, wenn er einen politischen Katholizismus - d.h. die Anwendung der katholischen<br />

Grundsätze auf das öffentliche Leben - als Antwort auf den "politischen Kulturkampf des<br />

Sozialismus" propagiert. 245<br />

Auch in der volkstümlichen Gebrauchslyrik, wie etwa dem "Allgemeinen Gebet in Sachen<br />

St.- Karli-Kirche zum Christkönig-Fest 1930" eines anonymen Verfassers, der das Gedicht<br />

auf Flugzetteln im Untergrund streute, verband sich Kritik am industriellen Fortschritt mit<br />

Antisozialismus. 246<br />

"Verschon' uns, o Herr, mit 'Gotteshäusern',<br />

Die Schlachthöfen ähneln, schon im Äussern,<br />

Langweilig, gefühllos wie eine Fabrik,<br />

Wohin montags der Arbeiter muss zurück.<br />

Gib uns einen Bau für Glaub' Hoffnung und Liebe,<br />

Halte fern von ihm blosse 'Schicklichkeitstriebe'.<br />

Schenk' uns einen schlichten, volkstümlichen Tempel<br />

Der frei von kommunistisch-bolschewistischem Stempel.<br />

Ein Deiner würdiges Gotteshaus<br />

Und weise die 'falschen Propheten' hinaus."<br />

Nach dem Ersten Weltkrieg herrschte in weiten Kreisen ein Malaise ob des sittlichen<br />

Zustandes der Gesellschaft. Politische Programme forderten moralische Erneuerung auf der<br />

Grundlage eines forschen Antisozialismus. Gegen den moralischen Zerfall der Gesellschaft<br />

priesen die Luzerner Literatinnen Agnes von Segesser und Anna Richli in ihren zeitkritischen<br />

Büchern Patriotismus, Katholizismus und Antisozialismus. 247<br />

244 Aubert, Geschichte der Kirche V/1, S. 38-39.<br />

245 Siehe Wicks Schrift "Politik und politische Parteien" (1927), S. 41 und 43.<br />

246 Pfarreiarchiv St. Karl.<br />

247 In Anna Richlis "Otto Wikardts Weg" (1935) findet der weltmännische Protagonist bei seiner Rückkehr in<br />

die Schweiz in der Nachkriegszeit eine Welt moralischer Anarchie und Sittenverwilderung vor.<br />

Agnes von Segesser veröffentlichte 1935 unter dem Pseudonym Franz Buchen den Roman "Der Geheimkurier",<br />

in dem unter Einstreuung damals bereits als Fälschungen ausgewiesener Dokumente die Gefahr eines<br />

bolschewistischen Umsturzes zur Zeit des Landesstreiks beschworen wird. Anna Richli und Agnes von Segesser<br />

waren in der katholischen Frauenbewegung aktiv.<br />

76


Der "Luegisland" warf den Sozialisten vor, sie entheiligten die katholischen Feiertage durch<br />

Bergtouren und Veloausflüge, deuteten Weihnachten zur mitternächtlichen Sonnenwendfeier<br />

im Volkshaus um, Ostern zum heidnischen Frühlingsfest und Pfingsten zum Festtag der<br />

revolutionären Jungburschen. 248<br />

Die politische Dimension alltagskultureller Gewohnheiten war innerhalb der<br />

Arbeiterbewegung selber umstritten. Die Luzerner Kommunisten kritisierten das bürgerlichvolkstümliche<br />

Brauchtum rigoros: Ein Grossteil der sozialdemokratischen Arbeiterschaft<br />

gerate am 1. August mit der Teilnahme an den offiziellen Bundesfeiern ins Fahrwasser<br />

bürgerlicher Mentalität. 249 Auch die Fasnacht wurde nicht verschont: "Arbeiter! Merke doch,<br />

was mit Dir getrieben wird. Bleibe diesem Verblendungsgetriebe fern, werde ein Mensch, sei<br />

wie die Natur, revolutionär gegen alles, was Dich am Fortkommen hindert." 250 Die<br />

Sozialdemokraten wandten sich lediglich gegen Auswüchse wie die Anfang der 20er Jahre in<br />

mondänen Kreisen in Mode kommenden Gesindebälle. Die Veranstalter des ersten Luzerner<br />

Gesindeballs 1921 warben im "Vaterland" mit herrschaftlicher Pose für ihren Anlass: "Der<br />

Anreiz liegt bekanntlich darin, dass das 'Oben nach unten' gekehrt ist in dem Sinne, als die<br />

'Herrschaften' als Dienerschaft aufrücken, wie dies ja nun in heutiger Zeit auch bald das ganze<br />

Jahr Mode zu werden beginnt." 251 Das "Arbeiterblatt" verurteilte den Anlass als dekadente,<br />

"sinn- und geistlose Maskerade" und erinnerte an den altrömischen Brauch der Saturnalien,<br />

wo die Sklaven tatsächlich einen Tag lang von ihrer Herrschaft bedient worden seien. 252<br />

Aus geistlicher Sicht sollte sich Alltagskultur im Rahmen staatsbürgerlicher Tugenden<br />

entfalten. Dazu gehörte die Pflege männlicher Wehrkraft. Der geistliche Verfasser eines<br />

Entwurfs aus dem Jahre 1915 zur religiösen Unterweisung der Schülerkongregation Luzern253 empfiehlt die Pflege des Kriegshandwerks als Bestandteil der Freizeitgestaltung.<br />

"Auch die Kaserne dort drüben sagt euch etwas. Das ist ein schlechter Soldat, ein miserabler Patriot, der<br />

ausser dem Kasernenviertel sich seines Waffenrocks schämt und eine altjüngferliche Sehnsucht hat nach<br />

seinem warmen alten Lismer und den Finken. Pfui! Ein wackerer Soldat hält auch ausserhalb des<br />

Dienstes sein Interesse an militärischen Dingen wach, macht mit in einem Militärverein und bei<br />

Schiessübungen. Er will Soldat sein, nicht nur heissen." 254<br />

Auf den Punkt brachte der Luzerner Vorkämpfer der christlichsozialen Bewegung, Prälat<br />

Albert Meyenberg, die Verschränkung von patriotischem Wehrwillen und Katholizismus in<br />

einer Predigt nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges: "Es gibt nichts Schöneres als die innige<br />

Verbindung der Wehrkraft des Mannes mit der allmächtigen Kraft des ewigen Gottes." 255<br />

248 L 4/15.6.<strong>1920</strong>.<br />

249 "Kämpfer" 5.8.1921<br />

250 "Kämpfer" 28/4.2.1926.<br />

251 V 29.1.1921.<br />

252 AB 2.2.1921.<br />

253 Im Januar 1915 von den städtischen Pfarrern gegründete Knabenkongregation St. Leodegar (Ende 1915: 216<br />

Mitglieder). Eine Mädchenkongregation sollte später geschaffen werden ("weil den Knaben der Vortritt<br />

zukommt"; Protokolle der Jünglingskongregation Luzern, Pfarreiarchiv St. Leodegar).<br />

254 Protokolle des Jünglingsvereins der Stadt Luzern (Pfarreiarchiv St. Leodegar).<br />

255 Schmid (1987), S. 127f.<br />

77


Die zum männlichen Wehrkult stilisierte staatsbürgerliche Verantwortung in Kombination mit<br />

katholischer Familienideologie bildete das Substrat für ein Frauenbild, das auf der<br />

Ambivalenz idealisierender Verklärung und politischer Entrechtung beruhte. Die<br />

jungkonservativen "Turmwärter der katholischen Innerschweiz" pflegten als "Ritter unserer<br />

lieben Frau, der Himmelskönigin" einen verbalen Minnedienstjargon. 256 Die christlichsoziale<br />

Presse nahm speziell die Arbeiterfrauen in die moralische Pflicht: "Wahrlich, die<br />

Heranbildung eines tüchtigen Frauengeschlechts ist eine grosse vaterländische Tat ... Ist nicht<br />

gerade die Arbeiterin berufen, durch religiöse Erziehung Segen zu verbreiten?" 257 An einer<br />

Versammlung des christlichsozialen Gewerkschaftskartells wandte sich Pfarrhelfer<br />

Mühlebach aus Reussbühl gegen die Einführung des Frauenstimmrechts, da es "der Familie<br />

das Heiligste rauben" würde. Die Gewährleistung guter Kindererziehung und häuslichen<br />

Friedens hing für ihn von der Trennung der Geschlechterrollen ab. 258<br />

Auch dem Wirken der Seelsorger im Untergrund lag ein antistädtischer Impuls zugrunde:<br />

"Wie manche Seele - im Stadtleben drin - verkümmert, verhungert, geht verloren, weil man<br />

nicht auf die Sorge der Seele schaut", notierte Pfarrer Moos in einem Entwurf für eine<br />

Predigt. 259 Beat Keller, Religionslehrer und Subregens der Pfarrei, dämonisierte in seinen<br />

"Exerzitienvorträgen für ältere Kommunikanten" den städtischen Lebensraum anhand einer<br />

Anekdote als Sündenbabel.<br />

"Ein Priester, der hier in Luzern ist, begegnete in dieser Stadt einem Jüngling; der ging ohne Gruss an<br />

ihm vorbei, obwohl er ihn kannte und früher im katholischen Jünglingsverein war. Da redete der Priester<br />

ihn liebevoll an: 'oh, oh, was ist mit Dir?' - Antwort: 'Ich lese jetzt dieses Blatt' - er nannte eine ganz<br />

unchristliche, katholikenfeindliche Zeitung - 'jetzt halte ich nicht mehr mit den Katholiken'. Also: Er fällt<br />

ab vom Katholizismus, wird untreu der heiligen Kirche und ihren Priestern. Warum? Schlechte Zeitung,<br />

schlechte Schriften.- Ein einziges schlechtes Buch kann Euch und Euer Leben unglücklich machen. -<br />

Und nun, meine Lieben, Ihr seid jetzt schon und später noch mehr mitten drin unter schlechten, gottlosen<br />

und sittenlosen Menschen, die auch Euch verführen wollen - man bietet Euch an schändliche und<br />

religionslose Schriften, zum Kaufen, oder zum Geschenk, oder zum Leihen - wenn Ihr da nicht solid und<br />

stark Euren Mann stellt und jede schlechte Schrift mit Entrüstung von Euch weist: dann werdet Ihr Eure<br />

unsterbliche Seele nicht retten! Dann werdet Ihr verdorben, ruiniert, dann werdet Ihr wohl auch ewig<br />

verloren gehen - und wo ist dann Eure Seele?" 260<br />

Neben Drohung mit ewiger Verdammnis und politischer Indoktrination markierte die<br />

Vermittlung eines rigiden Arbeitsethos, asketischer Selbstbescheidung und subalternen<br />

Respekts vor übergeordneten Funktionsträgern den Orientierungsrahmen des<br />

256 "Tritt vor sie hin, vor die hohe Schutzfrau, im ganzen Ritterstaat deiner Jugendkraft und deines idealen<br />

Wollens und stelle die Frage: Herrin, was wünschest du? Sie wird erwiedern: Glaube! - Und dann schwing dich<br />

aufs Pferd und sprenge hinaus zum Tor. Die Strauchritter des Unglaubens warten schon draussen. Du weisst,<br />

was du bist und wem du dienst und was du gelobt: Hau ein!" (L 2/15.5.1917).<br />

257 LVB 31/1.8.1919.<br />

258 "Der Arbeiter" 6.9.1919.<br />

259 Epiphaniepredigt vom 9.1.1927 (Pfarreiarchiv St. Karl).<br />

260 Exerzitienvorträge von Regens Keller (Pfarreiarchiv St. Karl).<br />

78


Religionsunterrichtes von Subregens Keller. 261 In den "Kinderexerzitien" aus dem Jahr 1931<br />

findet sich die didaktische Vergegenwärtigung eines "Arbeitstages Jesu".<br />

"Der Knabe Jesu war sehr arbeitsam; sofort am Morgen begann er mit der Arbeit, holte der Mutter das<br />

Wasser am Brunnen, trug das Holz in die Küche, zerkleinerte es, jätete im Gärtchen draussen vor dem<br />

Haus. - Als er etwas grösser und stärker wurde, wurde er noch arbeitsamer ... Jesus war ein bescheidener,<br />

demütiger Arbeiter! Er wollte lernen ... Wenn auf dem Bauplatz die morgendliche Sonne glühte und<br />

Schweiss von seiner Stirne tropfte, wenn er mühsam unter der Last der Balken, die er trug, atmete, wenn<br />

seine zarten Gotteshände rauh und voll Striemen waren - der Knabe hält durch und harret aus bei der<br />

harten Arbeit. Arbeit ist keine Schande! Ist geadelt durch den Sohn Gottes, der schon als Knabe so<br />

schwer gearbeitet hat. Gott verabscheut den Faulenzer, den Nichtstuer, den Trägen. Liebe Kinder, werdet<br />

nur nie faul und träg. Ein Kind, das viel arbeitet, bleibt leichter brav und gut ... - Jesus endlich war ein<br />

gehorsamer Arbeiter, der nicht alles besser wissen wollte, obwohl er es viel besser wusste. Er war ja<br />

Gott! Er kannte die Kräfte der Elektrizität und der Wasser ... Er wusste genau, dass man später, im 20.<br />

Jh., nicht mehr so arbeiten würde; aber er war gehorsam."<br />

Für Franz Meier, Pfarrer von Emmen, bedeutete (Gottes-)Furcht die Voraussetzung zur<br />

Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung. In seinem Traktat "Religion und Politik<br />

(1927) schreibt er: "Mit dem Gottesglauben fällt selbstverständlich auch die Gottesfurcht, die<br />

seit Jahrtausenden als der Anfang der Weisheit betrachtet wurde. Mit dem Unglauben im<br />

Volke muss die sittliche Anarchie kommen." 262<br />

7.3. Die Haltung der freien Arbeiterbewegung zu Religionsunterricht und Kirche<br />

Welche Haltung nahm die Arbeiterbewegung zu Religion und Kirche ein? Das "Arbeiterblatt"<br />

publizierte zwar bisweilen scharfe antiklerikale Artikel, die in der bürgerlichen Presse<br />

geharnischte Gegenreaktionen auslösten; insgesamt kamen aber kirchliche und religiöse<br />

Themen in der Luzerner Arbeiterpresse eher marginal zur Sprache. Sie betonte die<br />

konfessionelle Neutralität der SP und den privaten Charakter von Glaubensüberzeugungen.<br />

Der religiös-soziale Flügel hatte in der Luzerner SP Tradition, eine Minderheit der führenden<br />

Parteigenossen ging sogar zur Kirche.<br />

Im zeitlichen Umfeld des Landes-Generalstreiks gerieten allerdings Kirche und<br />

Arbeiterbewegung vermehrt aneinander. Religiöse Themen gewannen auch innerhalb der<br />

Luzerner Arbeiterbewegung im Zusammenhang mit der Parteispaltung an Brisanz.<br />

Jacques Schmid publizierte im Mai 1919 im "Centralschweizerischen Demokraten" unter dem<br />

Kürzel "Philos" eine vierteilige Artikelserie unter dem Titel "Arbeiter, wo gehörst Du<br />

hin?". 263 Im letzten Beitrag vertrat er die These, Sozialismus und Christentum widersprächen<br />

sich nicht grundsätzlich, der Atheismus einzelner Sozialisten sei nicht für den Sozialismus<br />

insgesamt repräsentativ. Gegen diese in Luzern mehrheitsfähige Position opponierte der<br />

261 Auch die Angst vor grassierendem Atheismus im Zuge der Oktoberrevolution ist in den geistlichen Notizen<br />

präsent:"Es ist furchtbar: in Russland - seit 1917 wurde einer Grosszahl von Kindern gelehrt, es gebe keinen<br />

Gott. Ganze Legionen Gottloser und Gottleugner in Russland. Selbst in der Schweiz: Gottlosenverbände und<br />

Gottlosenvereine!" (aus: "Exerzitienvorträge für ältere Kommunikanten" von Regens Keller).<br />

262 Meyer (1927), S. 35.<br />

263 CD 24.4.1919, 29.4.1919, 5.5.1919 und 8.5.1919.<br />

79


Linkssozialist Otto Volkart, damals noch Lokalredaktor des "Centralschweizerischen<br />

Demokraten". In seinem Beitrag "Sind wir religionslos?" charakterisierte er echte Sozialisten<br />

als Feinde der christlichen Kirche; religiös seien sie nur insofern, als sie eine pantheistische,<br />

"geistige und seelische Verbundenheit mit dem Weltall" pflegten. Kernelemente der<br />

christlichen Sittenlehre wie Demut, Reinheit, Selbstlosigkeit und Mitleid liess Volkart aber<br />

als Tugenden bestehen. 264<br />

Eine Woche vor dem Buss- und Bettag vom 19.9.<strong>1920</strong> verlasen die Pfarrer von den Kanzeln<br />

herab das Bettagsmandat der Schweizer Bischöfe gegen den Sozialismus, das die Katholiken<br />

zum Austritt aus sozialistischen Organisationen - wozu auch der Grütliverein gezählt<br />

wurde - aufforderte. 265 Der "Centralschweizerische Demokrat" verurteilte das Bettagsmandat,<br />

ohne ihm grossen Stellenwert beizumessen. Eine ebenso massive Gegenreaktion wie z.B. die<br />

Aufforderung zum Kirchenaustritt blieb aus. Einzig in einem Artikel des "Arbeiterblatts" von<br />

Ende 1921 stiess ich auf die explizite Aufforderung zum Kirchenaustritt. Anlässlich eines<br />

Vortrages eines Basler Genossen über "Christentum und Sozialismus" hatten Teilnehmer in<br />

der anschliessenden Diskussion die Haltung der Luzerner Kirche den Sozialisten gegenüber<br />

als besonders intolerant geschildert. Der Berichterstatter brachte im "Arbeiterblatt" die Idee<br />

ins Spiel, religiöse Laienvorträge zu organisieren, um "unseren Genossen den Austritt aus der<br />

Kirche leichter zu gestalten". 266 Eine Woche später kritisierte ein Einsender einen Teil der<br />

SP-Führung, sie biedere sich aus Opportunismus der Kirche an. Bei Sozialdemokraten kamen<br />

Kirchenaustritte im Gegensatz zu den Kommunisten (z.B. Klemenz Ulrich) selten vor. 267<br />

Viel Konfliktstoff zwischen Kirche und Arbeiterbewegung bot nach dem Weltkrieg der<br />

Religionsunterricht. Die Bundesverfassung von 1874 hatte den obligatorischen<br />

Religionsunterricht aufgehoben und das Schulwesen als konfessionell neutral definiert. Dies<br />

widersprach dem Standpunkt der konservativen Regierung im Kanton Luzern. So erhielt das<br />

1879 verabschiedete kantonale Erziehungsgesetz ein stark konfessionelles Gepräge; der<br />

Religionsunterricht wurde dem Kompetenzbereich der Kirche anheimgestellt; der Bischof<br />

arbeitete den Lehrplan aus. In den Gremien der Schulpflege hatten die Pfarrer eine zentrale<br />

Stellung inne. 268 In der Stadt Luzern war die Aufnahme von Geistlichen in den fünfköpfigen<br />

264 CD 9.5.1919.<br />

265 Hirtenschreiben der Schweizer Bischöfe, in: SKZ 38/23.9.<strong>1920</strong>. Die für die Seelsorger in der "Instructio ad<br />

Clerum universum Helvetiae" erlassenen Richtlinien zur Durchführung des Bettagsmandats empfahlen<br />

wiederholtes Verlesen in der Kirche und Hausbesuche als Mittel der Abwerbung. Bei drohendem Massenaustritt<br />

aus der Kirche, wie er allenfalls in den industriellen Zentren möglich sei, müsse vorsichtig agiert werden. Zudem<br />

warnten die Richtlinien davor, dass sozialistische Eltern unter Umständen ihre Kinder vom Religionsunterricht<br />

fernhalten könnten (SKZ 37/16.9.<strong>1920</strong>). Zu Vorkommnissen rund um das Bettagsmandat finden sich leider<br />

keine schriftlichen Zeugnisse in den Luzerner Pfarreiarchiven. Dass der Zusammenbruch der<br />

Textilarbeitergewerkschaft der Viscose 1921 mit ihm in Zusammenhang stand, ist Spekulation. Zu<br />

Massenaustritten aus sozialistischen Gewerkschaften und der SP kam es nicht.<br />

266 AB 29.10.1921.<br />

267 Ulrich (1973), S. 88.<br />

268 Hafner (1991), S. 67. Hofer (1924), S. 141.<br />

80


Erziehungsrat seit 1890 zwar nicht mehr vorgeschrieben, blieb aber die Regel. Erst das<br />

Erziehungsgesetz von 1948 machte die Klerikalisierung des Erziehungswesens rückgängig. 269<br />

In der Sitzung der städtischen Schulpflege vom 6. Mai 1921 brachten die fünf<br />

sozialdemokratischen Mitglieder das Thema Religionsunterricht aufs Tapet. Um aufzuzeigen,<br />

dass er zur Verunglimpfung des Sozialismus und sozial Benachteiligter missbraucht werde,<br />

schilderten sie einige Vorkommnisse aus dem Unterricht. Ein Schüler, der sein Religionsbuch<br />

mit der Arbeiterzeitung eingebunden hatte, sei verwarnt worden. Aus Solidarität seien in der<br />

folgenden Stunde alle Schüler mit einem "Demokrat"-Einband erschienen. Ein Geistlicher<br />

habe im Religionsunterricht das Bettagsmandat vorgelesen und seinen Schülerinnen,<br />

14jährigen Mädchen, freie Liebe, Empfängnisverhütung sowie das Recht auf<br />

Schwangerschaftsabbruch als sozialistische Hauptforderungen präsentiert. Schliesslich habe<br />

ein Religionslehrer zu einem an der Baselstrasse wohnenden Mädchen gesagt: "Schämst Du<br />

Dich nicht, dort wohnen ja keine rechten Leute." Die sozialdemokratischen<br />

Schulpflegemitglieder beantragten der Versammlung, eine von der SP bereits lancierte<br />

Eingabe an die Schuldirektion, welche eine Untersuchung der Vorfälle verlangte, zu<br />

unterstützen. Sie stellten klar, die Eingabe richte sich nicht generell gegen den<br />

Religionsunterricht und bestehende Lehrplanvorschriften. Schulpflege-Präsident Zimmerli<br />

verneinte die Zuständigkeit der Schulpflege; eine Einmischung in den Religionsunterricht sei<br />

gesetzlich nicht möglich. Die Versammlung lehnte den sozialdemokratischen Antrag ab,<br />

beschloss aber, das Sitzungsprotokoll dem Erziehungsrat vorzulegen. 270 Ein halbes Jahr später<br />

kam Zimmerli auf die Angelegenheit zurück: Der Erziehungsrat sei bei den betreffenden<br />

Geistlichen vorstellig geworden; Stadtpfarrer Ambühl habe aber die Beschwerde als nicht<br />

begründet zurückgewiesen. 271<br />

Aufgrund der geschilderten Vorfälle attackierte das "Arbeiterblatt" den Religionsunterricht<br />

als ultramontanen, zu Urteilsunfähigkeit erziehenden Gesinnungsunterricht und forderte<br />

sozialdemokratische Eltern auf, ihre Kinder nicht mehr hinzuschicken. Die leicht<br />

beeinflussbaren Zöglinge seien psychisch völlig überfordert, denn sie würden zwischen<br />

Schule und sozialistischem Elternhaus hin und her gerissen. Bis in die Schulaufsätze hinein<br />

spiegle sich die antisozialistische Indoktrination, etwa wenn "Sozialismus" als Metapher für<br />

das Böse schlechthin verwendet werde. Laut "Arbeiterblatt" traten <strong>1920</strong> in einer Klasse 12<br />

von 15 Schülern tatsächlich aus dem Religionsunterricht aus. 272<br />

Das "Vaterland" proklamierte eine "natürliche Pflicht" des Priesters, vor moralischen<br />

Irrtümern aufzuklären. 273 Die Jungkonservativen propagierten sogar, in Opposition zur<br />

Bundesverfassung, die konfessionelle Einheitsschule: "Zu ihrem vollen Recht kommt die<br />

269 Hafner (1991), S. 67.<br />

270 Prot. der Schulpflege vom 6. Mai 1921.<br />

271 Prot. der Schulpflege vom 10. Nov. 1921.<br />

272 AB 16.4.1921.<br />

273 Die 14jährige Stadtjugend war der Geistlichkeit und dem "Vaterland" bereits zu stark aufgeklärt ("weiss<br />

bereits zuviel"); dem müsse die Spitze gebrochen werden (V 17.6.1921).<br />

81


eligiöse Erziehung, die Erziehung überhaupt nur in der religiösen Einheitsschule. Nur im<br />

festen Rahmen der Konfession kann der Charakter des Kindes emporwachsen." 274<br />

Die bereits zitierten Aufzeichnungen von Regens Keller lassen vermuten, dass der<br />

Religionsunterricht im Untergrund in der Vermittlung traditioneller "Unterschichtstugenden"<br />

spezifisch auf die Arbeiterbevölkerung zugeschnitten war.<br />

8. Strukturelle Diskriminierung des Untergrunds im Bildungsbereich<br />

Obwohl der Untergrund schon früh stark bevölkert war und viele Kinder im Quartier wohnten<br />

(gesamtstädtisch betrug der Anteil Jugendlicher bis 15 Jahre 25% der Bevölkerung), bestand<br />

bis 1911 keine Schule im Quartier. Die SchülerInnen besuchten den Unterricht in den<br />

Schulhäusern im Stadtzentrum. Im Obergrund waren bereits 1898 und 1904 zwei Schulhäuser<br />

gebaut worden; das Maihofquartier erhielt 1906 eine eigene Unterrichtsstätte. Erst als der<br />

Mangel an Klassenzimmern wegen der steigenden Schülerzahlen im ersten Jahrzehnt des<br />

20. Jh. akut wurde (1900: 2'636 SchülerInnen; 1910: 4'626), drängte sich für den Stadtrat die<br />

Errichtung eines Schulhauses im Gebiet Untergrund/St. Karli gebieterisch auf. 275 Doch auch<br />

die Eröffnung des St.-Karli-Schulhauses beseitigte den Mangel an Klassenzimmern nicht<br />

ganz. Deshalb führte der Stadtrat 1911 gegen die Opposition der meisten LehrerInnen den<br />

alternierenden Unterricht an den 1. Primarklassen ein. Die durchschnittlich 64 SchülerInnen<br />

zählenden Klassen wurden in zwei Abteilungen geteilt. Dadurch halbierte sich die Anzahl<br />

Unterrichtsstunden pro SchülerIn. So konnten sechs Lehrer und sechs Schulzimmer pro Jahr<br />

eingespart werden. Der Stadtrat begründete seinen Entscheid zur Einführung des<br />

alternierenden Unterrichts auch mit hygienischen Überlegungen. 276<br />

Die SP lehnte den alternierenden Unterricht als Diskriminierung der sozial Benachteiligten<br />

ab. 1913 orientierte Ernst Nobs, damals Redaktor beim "Centralschweizerischen<br />

Demokraten", im Kreisverein Moos über die neue Unterrichtsform. Er gab zu bedenken, dass<br />

unter der reduzierten Klassenzeit v.a. Arbeiterkinder, die in der Regel weniger Schuljahre<br />

absolvierten als Kinder aus besser situierten Familien, litten. 277 Besonders in Krisenzeiten<br />

traten Arbeiterkinder früher ins Berufsleben ein als Kinder bürgerlicher Herkunft. In der<br />

Wirtschaftskrise Anfang der 20er Jahre (Schuljahr <strong>1920</strong>/21) verliessen z.B. 90 Schüler im<br />

Alter von 14 Jahren, die unter normalen Umständen die Schule weiterbesucht hätten, den<br />

Unterricht, um Geld zu verdienen. Der Vermutung eines sozialdemokratischen<br />

Schulpflegemitglieds, die Schulbehörden bildeten mit Absicht proletarische Klassen,<br />

widersprach der Rektor der städtischen Schulen heftig. 278<br />

274 L 1.3.1918.<br />

275 B.u.A. StR. 14.3.1912.<br />

276 Prot. der Schulpflege vom 7.5.<strong>1920</strong>.<br />

277 Prot. des Kreisvereins Moos vom 31.10.1913.<br />

278 Prot. der Schulpflege vom 23.12.1919.<br />

82


Obwohl die Zahl der PrimarschülerInnen nach dem Ersten Weltkrieg sank - zahlreiche<br />

kinderreiche Arbeiterfamilien waren aus Luzern abgereist -, und obwohl kein akuter Mangel<br />

an Schullokalitäten mehr herrschte, schaffte der Stadtrat den alternierenden Unterricht nicht<br />

ab. Mitte 1919 lehnte er zudem ab, der SP für die von ihr für 200 Kinder geplante<br />

Sonntagsschule Schulräume zur Verfügung zu stellen. 279<br />

Als im Herbst 1918 in Luzern die Grippewelle ausbrach, wurde das St.-Karli-Schulhaus zum<br />

Grippespital umfunktioniert (bis Frühling 1919). In bürgerlichen Quartieren wäre eine solche<br />

Massnahme wohl schwerer durchsetzbar gewesen.<br />

Jugendliche aus dem Untergrund kamen ganz selten in den Genuss höherer Schulbildung. Im<br />

Schuljahr 1919/<strong>1920</strong> beispielsweise wohnten 447 Kantonsschüler (Gymnasiasten) in der<br />

Stadt. 280 Jacob Scherrer, damals dreizehn Jahre alt und an der Baselstrasse wohnhaft, erinnert<br />

sich an einen einzigen - durchaus unbeliebten - Kantonsschüler von der Baselstrasse, den<br />

Sohn des liberalen Grossstadtrates Geisshüsler. Dass an der Baselstrasse ein<br />

Philosophiestudent wohnte, der es später "zu etwas brachte", wird von der Quartiergeschichte<br />

"Vom Gütsch zur Reuss" speziell hervorgehoben. 281<br />

Als "Keimzellen der Reaktion und des bornierten Klassengeistes" charakterisierte Josef<br />

Albisser 1927 die Korpsstudenten der Hochschulen: Mit Autos umherrasend, betrieben sie<br />

Abstimmungspropaganda und verhöhnten die Arbeiterschaft. An der Wallfahrt nach Sempach<br />

gegen die Streikführer des Landes-Generalstreiks hatten laut Albisser sogar<br />

Mittelschulverbindungen teilgenommen. 282<br />

279 CD 21.6.1919.<br />

280 Jb. der Kantonsschule Luzern 1919/20.<br />

281 "Vom Gütsch zur Reuss", S. 51.<br />

282 AB 12.3.1927.<br />

83


9. Vereinswesen<br />

9.1. Strukturmerkmale<br />

Der gesellschaftliche Wandel der Jahrhundertwende brachte einen enormen quantitativen<br />

Ausbau des Vereinswesens mit sich, ein Indiz intensiverer Freizeitgestaltung in fixen<br />

Organisationsformen. Via Vereine boten sich Chancen zur persönlichen Profilierung und zur<br />

Mehrung offiziöser Macht.<br />

Tab. 28: Städtische Vereine und Genossenschaften 1890 und 1911<br />

1890 1911<br />

Gemeinnützige Vereine/Krankenkassen 29 69<br />

Gesangs-, Geselligkeits- und Musikvereine 19 48<br />

Kunst- und wissenschaftliche Vereine 8 13<br />

Militär- und Schützenvereine 15 22<br />

Religiöse Vereine 15 23<br />

Sport- und Turnvereine 5 34<br />

Vereine zur Hebung der Berufsinteressen 30 84<br />

Abstinenzvereine - 12<br />

Diverse 10 69<br />

Total 131 374<br />

Quelle: Adressbücher 1890 und 1911.<br />

Zur Beantwortung der Frage, in welchem Ausmass Personen aus dem Untergrund in leitenden<br />

Vereinsorganen vertreten waren, habe ich die in den Adressbüchern pro Verein verzeichneten<br />

drei Vorstandschargen - Präsident, Aktuar und Kassier - auf die Wohnadresse ihrer Inhaber<br />

hin ausgezählt.<br />

Das Ergebnis ist für die Jahre 1890 und 1911 ähnlich: Sehr wenige Leute aus dem<br />

Untergrundquartier gehörten städtischen Vereinsvorständen an. 1911 bekleideten<br />

gesamtstädtisch ca. 900 Personen total 1'018 Vorstandsposten. Die mühsame Identifikation<br />

mittels Steuerregistern und Adressbüchern ergab 19 sicher und 16 eventuell von im<br />

Untergrund wohnhaften Personen besetzte Vorstandschargen. Mit einem Anteil unter 3% war<br />

der Untergrund im städtischen Vergleich massiv untervertreten. Auch die wohlhabenden<br />

Quartierbewohner besetzten nur wenige leitende Positionen. Mit Machtfülle ausgestattete<br />

Ämter bekleideten der liberale Grossstadtrat Geisshüsler (Spenglermeisterverband) und Josef<br />

Meyer (Gipsermeisterverband). Auch in Führungsgremien von Arbeitervereinen fehlten<br />

Personen aus dem Untergrund weitgehend. Ausnahmen waren die Arbeitersparkasse<br />

"Ameise", ein Abstinentenverein und die Krankenkasse organisierter Bauarbeiter. Allerdings<br />

sind jene Arbeitervereine, die weitgehend auf den Untergrund beschränkt waren (z.B.<br />

Radfahrer), in den Adressbüchern gar nicht verzeichnet. Über sie ist kaum etwas in Erfahrung<br />

84


zu bringen. Auch die im Untergrund verbreiteten inoffiziellen Stammtischgesellschaften<br />

fehlen in den Adressbüchern. Aus ihnen heraus wuchsen bisweilen bedeutende Vereine. Ein<br />

Beispiel einer Tischgesellschaft ist der 1917 im Wirtshaus zur Pflege von Kameradschaft und<br />

Eintracht konstituierte Friedensverein Gütsch, aus dem später der Männerchor Untergrund<br />

hervorging.<br />

Die Quartiergeschichte "Vom Gütsch zur Reuss" verweist als Beweis für eine<br />

"sprichwörtliche" Quartiersolidarität auf das im Vergleich mit den anderen Quartieren im<br />

Untergrund speziell stark blühende Vereinswesen. Zweifellos kam dem öffentlichen<br />

Quartierraum für die Freizeitgestaltung der Arbeiterbevölkerung des Untergrunds eine<br />

grössere Bedeutung zu als z.B. im Hofquartier, wo es kaum Wirtschaften gab und die vielen<br />

Hotelangestellten auch nach der Arbeit eher in der Sphäre ihres Arbeitsortes verharrten<br />

(Unterkunft im Hotel). Die Einschätzung der Quartiergeschichte übergeht aber, dass gerade<br />

das Vereinswesen politische und ethnische Gräben durchzogen. Insofern war es, mochte es<br />

noch so sehr florieren, weniger Ausdruck von Quartier- denn von partikularer<br />

Gruppensolidarität. Liberale Vereine waren die 1900 gegründeten Gütsch-Schützen, die<br />

Gütschmusik (1905) und der Männerchor Gütsch (1902). Nach dem Weltkrieg lösten sich die<br />

Vereine langsam aus der Bindung ans Quartier. Die Mehrheit der Mitglieder der Gütschmusik<br />

etwa wohnte 1922 nicht mehr im Untergrund. Parallel zu dieser "Verstädterung" ursprünglich<br />

im Quartier verwurzelter Vereine setzte nach dem Weltkrieg die ethnische Durchmischung<br />

ein. Die Italiener der ersten Generation waren noch nicht in einheimische Vereine<br />

aufgenommen worden. Doch auch umgekehrt gehörten z.B. dem 1906 von Luigi Sandi<br />

gegründeten Veloclub Concordia ausschliesslich Italiener an. 283<br />

In der Geschichte der "Gesellschaft der löblichen St.-Jakobs-Vorstadt, kurz St.-Jakobs-<br />

Gesellschaft - einer der traditionsreichsten Vereine im Untergrund -, widerspiegelt sich der<br />

gesellschaftliche Wandel im 19. Jh. An ihren alle ein bis zwei Jahre abgehaltenen<br />

"Urversammlungen" karikierte sie den gesellschaftlichen Wandel mittels parodistischen<br />

Ämterbesetzungen. 1811, zur Zeit der Mediation, hiess der Vorsitzende etwa<br />

"Amtsschultheiss" der "Republik zu St. Jakob". Andere Ämter trugen Titel wie "Kommandant<br />

der Festung Gibraltar", "Kabishächler", "Kuhpocken-Einimpfer", "Verteidiger der Unschuld",<br />

"Heiler der Stillwut". Als "grösstem Mann seit Jahrhunderten" erwies die St.-Jakobs-<br />

Gesellschaft Napoleon Reverenz, weil die Vorstadt sein "erstes Augenmerk" gewesen sei. In<br />

den 60er Jahren kündeten Ämter wie "Lokomotivpfiffer" und "Zukunftssanguiniker" von der<br />

"goldenen Zeit" der Industrialisierung. 284 Von über 100 Mitgliedern 1812 schrumpfte die<br />

St.-Jakobs-Gesellschaft bis Anfang 20. Jh. auf ca. 40 Mitglieder. Sie hatte sich vom<br />

republikanischen, auf die St.-Jakobs-Vorstadt begrenzten Geselligkeitsverein zu einem<br />

exklusiven städtischen Club vermöglicher liberaler Geschäftsleute gewandelt.<br />

283 In den 20er Jahren erhielt der Club durch den sich am Faschismus orientierenden FC Vittoria Konkurrenz.<br />

284 Beck (1957), S. 48-49.<br />

85


9.2. Der Quartierverein Bernstrasse: Guter Quartiergeist oder Interessenlobby?<br />

1890 wohnten neun Hauseigentümer an der Bernstrasse; total gab es erst 13 Häuser. In den<br />

90er Jahren wurden an die 50 neue Häuser, u.a. Mietshausreihen am oberen Strassenabschnitt,<br />

errichtet. Der Quartierverein Bernstrasse entstand 1896 auf Initiative der neuen Hausbesitzer.<br />

An der Baselstrasse existierte mit dem "Wächter am Gütsch" bereits seit 1864 ein<br />

Quartierverein. Er war aus einer spontanen Protestaktion der Bevölkerung gegen die Sperrung<br />

des Zugangs zum Waschsteg an der Reuss durch den Besitzer der Sentimatte, Xaver Meyer,<br />

entstanden. 285 Die unterschiedliche Entstehungsgeschichte der beiden Quartiervereine ist<br />

insofern relevant, als die im folgenden geschilderten Zustände an der Bernstrasse kaum auf<br />

die Baselstrasse übertragen werden können. 286<br />

Als erster Präsident des Quartiervereins Bernstrasse amtierte Fabrikant Johann Ehrenberg, der<br />

eine mechanische Werkstatt in der Sentimatt betrieb. Die Mitgliederzahl des Vereins blieb<br />

recht tief: sie stieg von 14 im Gründungsjahr auf 40 im Jahr 1910 und 48 <strong>1920</strong>. Von den 23<br />

im Jahr 1910 an der Bernstrasse wohnhaften Hausbesitzern gehörten 16 dem Quartierverein<br />

an (<strong>1920</strong>: 20 von 28). Das unterschichtige Bevölkerungssegment fehlte gänzlich, wie eine<br />

Überprüfung anhand der Steuerregister zeigt. Der erste Italiener, Ernesto Bernaschina,<br />

gelangte nach 1910 in den Quartierverein. Pikant ist die Vorgeschichte seiner Aufnahme:<br />

1906 intervenierte der Quartierverein bei der städtischen Baudirektion, um die Erstellung<br />

eines Doppelwohnhauses durch Bernaschina, der bereits ein Grundstück besass, zu<br />

verhindern. Das geplante Haus, so der Quartierverein, würde die Umgebung verschandeln,<br />

nicht zu den angrenzenden kleinen Häusern passen und die bestehende Baulinie nicht<br />

einhalten. Bernaschina konnte das Haus aber wie geplant bauen und wurde schliesslich sogar<br />

in den Quartierverein eingebunden. 1919 und <strong>1920</strong> fanden zwei weitere vermögliche Italiener<br />

im Quartierverein Aufnahme (Conti und Callegari). 287<br />

Als roter Faden durch die Protokollbücher des Quartiervereins Bernstrasse ziehen sich an die<br />

Stadt gerichtete Infrastrukturanliegen: Behebung des ständigen Wassermangels (v.a. an der<br />

oberen Bernstrasse), Eindolung eines verschmutzten Baches, bessere Kanalisation - auf der<br />

Strasse lief der Kot "über dem Schuhwerk zusammen"-, ein neuer Strassenbelag und<br />

vermehrte Kehrichtabfuhr. Die "unentschuldbare Vernachlässigung" der Bernstrasse im<br />

Vergleich mit anderen Stadtteilen wertete der Quartierverein als schwere Schädigung der<br />

Hausbesitzer. Sie beklagten, dass "alle anständigen Leute" das Quartier verliessen, die<br />

Wohnungen leerstünden oder an "minderwertige Elemente" vermietet werden müssten. 288<br />

285 "Vom Gütsch zur Reuss", S. 116.<br />

286 Leider erhielt ich keinen Zugang zu den Protokollen des Quartiervereins "Wächter am Gütsch".<br />

287 Prot. Quartierverein Bernstrasse 5.8.1921. Aber auch als Mitglied wurde Bernaschina 1921 vom schriftlich<br />

gerügt, in seinem Haus für mehr Ruhe zu sorgen. Ausser Bernaschina rügte der Quartierverein nur ausserhalb<br />

des Quartiers wohnende Hausbesitzer, sie sorgten in ihrem Eigetum nicht für die nötige Ordnung.<br />

288 Prot. Quartierverein Bernstrasse 9.12.1896.<br />

86


Ohne hartnäckigen Druck in Form von Eingaben war bei der personell notorisch<br />

unterdotierten Stadtverwaltung allerdings kaum etwas zu erreichen.<br />

1906 forderte der Quartierverein den Stadtrat ultimativ auf, die Bernstrasse als letzten<br />

Aussenbezirk endlich in den Stadtbaubezirk aufzunehmen. Als Missstände, die sich ergeben<br />

hatten, weil die städtische Bauordnung an der Bernstrasse keine Anwendung fand, nannte er<br />

den Bau der unteren linksseitigen Häuserzeile dicht der Strasse entlang, die Erstellung von<br />

Mietskasernen an der oberen Bernstrasse und die Entwertung der Strasse allgemein.<br />

"Spekulationswut feierte hier, wie nirgendsgleich, ihre fragwürdigen Triumphe", resümierte<br />

der Quartierverein. 289<br />

Trotz gezielten Fernhaltens der Unterschicht vom Verein betrachtete sich der Quartierverein<br />

Bernstrasse als Repräsentant der ganzen Quartierbevölkerung. Seine sozialpolitischen<br />

Aktivitäten lassen sich als Strategie lesen, die Öffentlichkeit des Quartierraums zu<br />

beschneiden und kleinbürgerliche Wertordnungen durchzusetzen. 290 Mit Erfolg wurde das<br />

Wäscheaushängen gegen die Strasse hin unterbunden: 1908 bot nur noch ein Haus Anlass zur<br />

Beanstandung. Anfang der 20er Jahre lancierte der Quartierverein einen Wettbewerb zur<br />

Verschönerung der Gärten. Eine "Blumenkommission" prämierte 30 Personen für besonders<br />

gepflegten Garten- und Balkonschmuck. 291 Blumenschmuck an Häusern war eine relativ neue<br />

Erscheinung. Auf alten Fotos der Baselstrasse um die Jahrhundertwende sind noch keine<br />

beschmückten Häuser erkennbar. Der Quartierverein setzte sich nur selten für Anliegen ein,<br />

von denen auch arme Anwohner profitierten: So intervenierte er beim Konsumverein, der für<br />

Kohlelieferungen an die obere Bernstrasse einen speziellen Transportzuschlag erhob, und bei<br />

einem Lehrer, der Schulkinder von der Bernstrasse beschimpft hatte; in einer Eingabe an die<br />

Polizeidirektion 1908 verlangte er die Wiedererrichtung des im Zuge des Baus der St.-Karli-<br />

Brücke abgebrochenen Waschstegs, da er, anders als in den neuen Quartieren, im Untergrund<br />

noch nötig sei. 292<br />

Hohen Stellenwert mass der Quartierverein dem Kampf gegen den üblen Quartierruf bei. Dies<br />

ging so weit, dass er auf Richtigstellungen beharrte, wenn die Tagespresse - etwa im Mai<br />

1907 der "Tagesanzeiger" - von einem Radau an der Bernstrasse berichtete, der sich streng<br />

genommen auf Littauer Boden ereignet hatte. Die Gewährleistung von Ruhe und Ordnung<br />

war aus der Sicht der Hausbesitzer grundlegend für eine Aufwertung der Bernstrasse als<br />

Wohnquartier. In einer Eingabe an den Stadtrat 1898 verlangte der Quartierverein verstärkte<br />

Polizeipräsenz im Quartier. Anstoss erregten illegale Winkelwirtschaften, in denen nachts<br />

musiziert, getanzt und gelärmt wurde, "viele zweideutige Frauenzimmer" bzw. "italienische<br />

und hiesige Dirnen", die "Unsitte" verbreiteten, auf den Gehsteigen diskutierende Italiener,<br />

welche die Passanten zu Ausweichmanövern auf die dreckige Strasse nötigten, ja sogar die<br />

abends auf der Strasse spielenden Kinder. Als Sofortmassnahmen gegen die besonders an<br />

289 Eingabe an den Stadtrat vom 4.10.1906.<br />

290 Fritzsche (1990), S. 31.<br />

291 Prot. Quartierverein Bernstrasse 17.12.1923.<br />

292 Prot. Quartierverein Bernstrasse 5.11.1904 und 30.8.1916.<br />

87


Wochenenden zu "Skandal aufgelegten Italiener und Arbeiter" an der oberen Bernstrasse<br />

regte der Quartierverein die Schaffung eines Polizeipostens an der Grenze zu Littau und<br />

intensivere Patrouillen an. Die in der Eingabe enthaltene Formulierung "Läuse und Flöhe in<br />

Oberitalien" bringt die xenophobe Abwehrhaltung des Quartiervereins auch sprachlich zum<br />

Ausdruck. 293 Der Zuzug vieler Italiener, deren Mentalität bei der einheimischen Bevölkerung<br />

zum Teil auf Unverständnis stiess, hatte in den 90er Jahren diffuse Ängste geweckt. 1902<br />

vermerkt das Sitzungsprotokoll des Quartiervereins, seit dem Einzug des Italieners Cavalli in<br />

das Haus Bernstrasse Nr. 55 veranstalte "Gesindel und händelsüchtiges Pack" "lärmendes<br />

Treiben, wo es ja selbstverständlich auch in sittlicher Beziehung unlauter zugehen muss." 294<br />

Der simple Konnex von Unsittlichkeit und Lautstärke entsprach kleinbürgerlicher<br />

einheimischer Mentalität. Der Quartierverein wandte sich auch gegen eine zweite Wirtschaft<br />

an der Bernstrasse, obwohl ein Vereinsmitglied selber entsprechende Pläne hegte. 295 Als 1908<br />

immer noch "Italienerkarawanen" die Trottoirs blockierten, die Polizei aber nichts dagegen<br />

unternahm, stellte der Quartierverein in Eigenregie Tafeln auf, die das Verweilen auf dem<br />

Gehsteig untersagten. 296<br />

Die amtliche Aufsicht über die Quartierbewohner oblag dem Quartierwachtmeister, eine mit<br />

der städtischen Polizeiordnung von 1868 geschaffene Kontrollinstanz. Sein Pflichtenheft<br />

beinhaltete, dass er im Quartier wohnte, Rapporte über übelbeleumdete, z.B. Hausbettel<br />

betreibende Personen anfertigte und illegal im Quartier Anwesende eruierte. 297 Der<br />

Quartierwachtmeister der Bernstrasse, Josef Bremgartner, gehörte auch dem Quartierverein<br />

an und führte in dessen Auftrag polizeiliche Abklärungen durch. 1921 erzwang der<br />

Quartierverein schliesslich Bremgartners Rücktritt, nachdem er ihn mehrmals vergeblich<br />

aufgefordert hatte, sein Auto weniger zu benützen, weil es eine ständige Lärmquelle im<br />

Quartier darstellte. Bremgartner war der erste Autobesitzer im Untergrund überhaupt. 298<br />

Die vom Quartierverein ausgeübte soziale Kontrolle intensivierte sich parallel zu den sich<br />

zuspitzenden gesellschaftlichen Gegensätzen um 1910. 1909 ersuchte er den Luzerner<br />

Armenverein um ein Verzeichnis jener Quartierbewohner, die Armenunterstützung genossen,<br />

um deren Verhältnisse zu prüfen und "dieser oder jener Familie den Unfug abzuschaffen". 299<br />

Anhand einer vom Armenverein erhaltenen Liste eruierte der Quartierverein 14 "unwürdige"<br />

Personen und Familien, die seiner Ansicht nach einer unmoralischen Lebensführung frönten<br />

und somit missbräuchlich Armenhilfe bezogen. Als moralische Defekte erschienen dem<br />

Quartierverein etwa Alkoholismus ("Saufbruder"), Arbeitsfaulheit, Hausbettel, Verschuldung<br />

und Diebstahl ("zum Stehlen dressierte Kinder"). 300 Als Sanktionen schlug er dem<br />

293 Eingabe an den Luzerner Stadtrat 1898.<br />

294 Prot. Quartierverein Bernstrasse 16.3.1902.<br />

295 Prot. Quartiervereien Bernstrasse 15.11.1908 und August 1909.<br />

296 Prot. Quartierverein Bernstrasse 21.12.1908.<br />

297 GDV, Bd V., S. 457-458.<br />

298 Prot. Quartierverein Bernstrasse 5.8.1921.<br />

299 Prot. Quartierverein Bernstrasse 18.11.1909.<br />

300 Prot. Quartierverein Bernstrasse 16.12.1909.<br />

88


Armenverein die Rückschaffung der betreffenden Personen in ihre Heimatgemeinde und den<br />

Entzug der Unterstützung vor. Eine spezifisch italienische Untugend erblickte der<br />

Quartierverein im Missbrauch des Armenarztes. 301<br />

1911 regte Fabrikant Ehrenberg die Abgabe spezieller Zirkulare an alle Hausbesitzer zur<br />

Registrierung von "Radaumachern" an. 302 "Radaumacher" hatten sich, auf der Flucht vor der<br />

Stadtpolizei, verschiedentlich auf Littauer Boden in Sicherheit bringen können. 303 Um den<br />

Bedürfnisnachweis für einen Polizeiposten an der oberen Bernstrasse zu erbringen, strebte der<br />

Quartierverein die Zuteilung der im Rönnimoos auf Littauer Boden gelegenen Schindler-<br />

Häuser an die Gemeinde Luzern an. Eine entsprechende Eingabe war allerdings bereits früher<br />

erfolglos gewesen. Von der Wohnkolonie Schindlers versprach sich der Quartierverein eine<br />

soziale Aufwertung der Strasse. 304 Seine Bemühungen, Schindler als Mitglied zu gewinnen,<br />

weil er "viel Gutes" tun könne, hatten keinen Erfolg. 305<br />

Im Schwarzbuch des Quartiervereins Bernstrasse waren 1902 88 "schlechte Familien"<br />

eingetragen. 306 Die vereinsinterne Praxis der Wohnungsvermietung trug einen xenophoben<br />

Stempel. Ende Januar 1907 verlangte ein Mitglied in der Versammlung des Quartiervereins<br />

Auskunft darüber, ob sich die Hauseigentümer verpflichtet hätten, die Italiener aus den<br />

Häusern zu entfernen, was der Präsident teilweise bejahte. 1912 beschloss der Quartierverein<br />

die Errichtung eines Wohnungsnachweisbüros, um schlecht beleumdete Personen von der<br />

Bernstrasse fernzuhalten. Die Hausbesitzer liessen von den Wohnungsinteressenten ein<br />

spezielles Formular ausfüllen und reichten es an den Quartierwachtmeister weiter, der<br />

polizeiliche Abklärungen vornahm. Im ersten Monat seines Bestehens vermietete das<br />

Wohnungsnachweisbüro sieben Unterkünfte an "hiesige unbescholtene Leute". 307 Gemäss<br />

Steuerregister wohnten <strong>1920</strong> nur in drei Häusern von Quartiervereinsmitgliedern Italiener<br />

(allerdings ohne Berücksichtigung der Saisonniers). Allein zehn von ihnen bei insgesamt<br />

sechzehn wohnten im Haus von Bernaschina. Total verzeichnet das Steuerregister <strong>1920</strong> aber<br />

84 Zensiten mit italienischem (z.T. wohl tessinischem) Namen (18% der Steuerzahler der<br />

Bernstrasse). Die Italiener wohnten zwar nicht mehr in Baracken wie noch in den 90er Jahren,<br />

sie konzentrierten sich aber in einzelnen Häusern und lebten somit auch in einer gewissen<br />

Isolation von der einheimischen Bevölkerung.<br />

301 Prot. Quartierverein Bernstrasse 21.12.1908.<br />

302 Prot. Quartierverein Bernstrasse 9.10.1911.<br />

303 Prot. Quartierverein Bernstrasse 11.4.1912.<br />

304 Prot. Quartierverein Bernstrasse 15.2.1909.<br />

305 Prot. Quartierverein Bernstrasse 15.11.1908.<br />

306 Prot. Quartierverein Bernstrasse 5.3.1902.<br />

307 Prot. Quartierverein Bernstrasse 8.8.1912.<br />

89


Exkurs 2: Katholische Konkurrenzorganisationen im Kampf mit der freien<br />

Arbeiterbewegung<br />

Deren unmittelbare Präsenz und Aktivitäten im Untergrund sind nicht fassbar. Die<br />

katholischen Konkurrenzorganisationen zur freien Arbeiterbewegung stellten die Speerspitze<br />

des katholischen Milieus dar. Die folgende Milieuschilderung veranschaulicht die<br />

gesellschaftliche Isolation des Linksradikalismus in Luzern.<br />

Unter der Führung Heinrich Walthers - Luzerner Polizeidirektor und "Königsmacher" im<br />

Nationalrat - rückte der Kampf gegen den Sozialismus für die konservative Partei ins Zentrum<br />

staatspolitischen Wirkens. 308 Er war ein Merkmal der von Urs Altermatt beschriebenen Blüte<br />

der katholischen "Sonder-" bzw. "Subgesellschaft" <strong>1920</strong>-1950, die neben einem Aufschwung<br />

des Vereinswesens (z.B. Volksverein) verstärkte Integration in den freisinnig dominierten<br />

Bundesstaat beinhaltete (zweiter Bundesratssitz). Der Kanton Luzern, als ehemaliger<br />

Sonderbundskanton gewissermassen katholisches "Réduit", hatte an diesem<br />

Konsolidierungsprozess teil: Frauen- und Männerkongregationen und neue Verbände wie<br />

Jungwacht, Pfadfinder und Blauring verzeichneten in der Zwischenkriegszeit regen Zulauf. 309<br />

1934 wies der Kanton Luzern mit 51 Sektionen bzw. fast 5'000 Mitgliedern die höchste<br />

Dichte an Pfarreijungmannschaften in der Schweiz auf. 310 Im Vergleich mit der Diaspora<br />

zeichnete das katholische Vereinswesen in den schwach industrialisierten katholischen<br />

Stammgebieten um die Jahrhundertwende noch ein organisatorischer Rückstand aus. Da in<br />

ihnen traditionelle katholische Werte durch den Staat geschützt waren, fungierten die<br />

Standesvereine mehr als Nachschubbasis für die konservative Partei denn als politische<br />

Kampfinstrumente. 311 Erst mit dem Aufschwung der linken Arbeiterbewegung profilierten sie<br />

sich mehr und mehr als politische Abwehrorganisationen. Katholische Arbeiter- und<br />

Arbeiterinnenvereine, konservative Jungmannschaft und christlichsoziale Partei verband die<br />

Zugehörigkeit zur katholisch-konservativen "Grossfamilie", deren ideologische Klammer<br />

darin bestand, die gesellschaftliche Macht des Katholizismus zu wahren. Die Aktivitäten der<br />

Standesvereine lagen im sozialen und religiösen Bereich (Bildungsveranstaltungen,<br />

Haushaltungskurse, Andachten, Generalkommunion); Jugendbewegung und christlichsoziale<br />

Partei waren stärker politisch engagiert. 312<br />

Die ersten katholischen Männer- und Arbeitervereine entstanden - als Reaktion auf die<br />

wachsende Popularität des Sozialismus und in Anlehnung an die Weisungen der päpstlichen<br />

308 Gruner (1977), S. 120-121.<br />

309 Altermatt (1989), S. 102. Steiner (1992), S. 177.<br />

310 Vogt, Verbandsstatistik des Schweizerischen Katholischen Jungmannschaftsverbandes, S. 11.<br />

311 Altermatt (1989), S. 112 und 115.<br />

312 Die Vielfalt katholischer Organisationen ist in ihrer organisatorisch-personellen Vernetzung schwer fassbar.<br />

Katholische Organisationen wie etwa die "Grosse Marianische Kongregation", eine "Vereinigung gebildeter<br />

katholischer Männer und Jünglinge" (<strong>1920</strong>: 800 Mitglieder), übten wohl einen nicht zu unterschätzenden<br />

offiziös-politischen Einfluss aus, zumal auf die Kontinuität konservativer Elitebildung.<br />

90


Enzyklika "Humanum genus" von 1884 - auf Beschluss des schweizerischen Katholikentages<br />

in Basel 1887. 313 Sie fungierten nicht ausschliesslich als Arbeitervereine; eher waren sie ein<br />

katholisches Pendant zu den links-liberalen Grütlivereinen. Förderung der Religiosität unter<br />

den Mitgliedern stand im Zentrum der Vereinsaktivitäten. Ausdrücklich der Arbeiterschaft<br />

vorbehaltene Arbeitervereine entstanden ab 1899 auf Initiative des späteren Kanonikus Jung<br />

in St. Gallen, der einer Zusammenarbeit mit sozialdemokratischen Organisationen skeptisch<br />

gegenüberstand. Nach dem endgültigen Bruch zwischen christlichsozialen und sozialistischen<br />

Gewerkschaften ob der Frage der konfessionellen Neutralität am Arbeitertag in Luzern 1904<br />

breiteten sich christliche Gewerkschaften und Arbeitervereine von der Ostschweiz her bis<br />

1914 über weite Gebiete der Schweiz aus. Die Mitgliederzahl der katholischen<br />

Arbeitervereine stieg von ca. 1'000 Mitgliedern 1903 auf 10'000 im Jahr 1913; die<br />

Arbeiterinnenvereine hatten noch mehr Mitglieder. 314 Ihr sozialreformerisches Programm<br />

lehnte sich an die Enzyklika "Rerum novarum" (1891) Leos XIII. an, welche die<br />

Arbeiterfrage im Kontext der modernen Industriegesellschaft behandelte.<br />

In Luzern gründeten der Theologe Albert Meyenberg315 und Kanonikus Jung im Mai 1904<br />

den ersten Luzerner Arbeiterverein neuen Typs. Die statutarisch festgeschriebene Vertretung<br />

von Arbeiterinteressen beinhaltete neben der Durchführung sozialer Kurse und<br />

vierteljährlicher Generalkommunionen die Vermittlung spezifischer Standestugenden wie<br />

Ehrlichkeit, Sparsamkeit und Arbeitsamkeit. Der ebenfalls 1904 gegründete Luzerner<br />

Arbeiterinnenverein entfaltete reges sozialpolitisches Engagement. Die mit einer Frau<br />

ergänzte geistliche Vereinsleitung führte 1905/1906 Enquêten über die Dienstverhältnisse der<br />

Luzerner Ladentöchter durch, die 1913 in ein neues Ruhetagsgesetz mit Sonntagsladenschluss<br />

für Ladentöchter mündeten. Praxisbezogene Vereinsaktivitäten wie Krankenpflege-, Kochund<br />

Bügelkurse ergänzten religiöse Erbauungsübungen zur moralischen "Veredelung" der<br />

Arbeiterinnen durch Tugenden wie Gewissenhaftigkeit, Einfachheit und Zufriedenheit. Die<br />

katholische Kirche führte in Luzern zwei Wohnheime für Arbeiterinnen, Ladentöchter und<br />

Bürofräulein sowie ein Jünglingsheim und ein Gesellenhaus. 316<br />

Ende 1918 waren im Kanton Luzern etwa 1'200 Personen in Arbeiter- und<br />

Arbeiterinnenvereinen organisiert (800 Frauen, 400 Männer), Ende 1919 knapp 1'500 (535<br />

Männer, 950 Frauen). Der städtische Arbeiterverein zählte Ende 1918 160 und Ende 1919<br />

200, der städtische Arbeiterinnenverein 400 Mitglieder. 317 Abgesehen von einigen<br />

Neugründungen auf der Landschaft verzeichneten die katholischen Arbeitervereine nach dem<br />

Landesstreik keinen nennenswerten Aufschwung.<br />

313 Ruffieux (1966), S. 373.<br />

314 Altermatt (1989), S. 155.<br />

315 Albert Meyenberg (1861-1934) war Professor am Priesterseminar Luzern 1890-1934, Mitarbeiter am<br />

"Vaterland" sowie Redaktor der "Schweizerischen Kirchenzeitung" 1900-1935 (Huber, Presse, S. 335).<br />

316 Konservativ Luzern 1871-1921, S. 139.<br />

317 LVB 8.3.1919 und 13.9.1919. ZVB 8/28.2.<strong>1920</strong>. Gesamtschweizerische Mitgliederzahl der katholischen<br />

Arbeitervereine: 1918 11'000 Mitglieder, <strong>1920</strong> Höhepunkt mit fast 14'500. Die Arbeiterinnenvereine waren<br />

stärker: über 15'000 Mitglieder 1913, 1918 fast 19'500, <strong>1920</strong> Höhepunkt mit über 21'000 (Kull, 1930, S. 40).<br />

91


Im kirchlichen Vereinswesen kam es gegen Kriegsende zu bedeutenden organisatorischen<br />

Änderungen. Pfarrer Bossard von der Pfarrei St. Paul (Obergrund) erkannte das<br />

Einflusspotential, das in der Schaffung katholischer Laienorganisationen in den einzelnen<br />

städtischen Pfarreien selber lag. So trieb er - zum Teil gegen heftigen Widerstand der<br />

bisherigen Vereinsspitzen - die Dezentralisierung des gesamtstädtisch organisierten<br />

kirchlichen Vereinswesens vehement voran. 1916 gründete er einen Mütterverein (200<br />

Mitglieder), <strong>1920</strong> eine Jungfrauen- und eine Mädchenkongregation. 318 In einem Schreiben<br />

Bossards vom Februar 1921 an den Bischof in Solothurn ist Legitimationsdruck für sein<br />

Vorprellen spürbar: "Alle Mittel" müssten benutzt werden, so Bossard, um das geistliche<br />

Leben in den Pfarreien, in denen es viele Protestanten und "sehr viele" Sozialisten gebe, zu<br />

heben. Nachdem nun auch der Arbeiterinnenverein "parochial" organisiert sei, stehe einer<br />

Verdreifachung der Mitgliederzahl innert Monatsfrist nichts mehr im Wege. Bossard war ein<br />

Dorn im Auge, dass die Pfarrer bislang "überhaupt keine Fühlung" zu den Vereinen gehabt<br />

hatten. 319 Mit der Gründung einer Jünglings- und Knabenkongregation in der Pfarrei St. Paul<br />

gab er schliesslich noch den Anstoss zur Auflösung des städtischen katholischen<br />

Jünglingsvereins mit über 600 Mitgliedern. 320 Der "Centralschweizerische Demokrat"<br />

berichtete 1919, Geistliche bemühten sich, im Untergrund eine Knabengarde zu schaffen. 321<br />

Die historischen Wurzeln der christlichsozialen Partei liegen in den katholischen<br />

Arbeitervereinen. Sie war als "Bollwerk" gegen die linke Arbeiterbewegung konzipiert, wie<br />

verschiedene christlichsoziale Politiker in ihren Festschriften betonen. 322 Christlichsoziale<br />

Arbeiterpolitik im Zeichen von Ständeversöhnung und Volksgemeinschaft sollte dem<br />

klassenkämpferischen Sozialismus - die SPS hatte sich mit dem marxistischen Programm von<br />

1904 und den Statuten von 1911 radikalisiert - den Nährboden entziehen und die Arbeiter in<br />

den Schoss katholischer Organisationen zurückholen. 323 Die christlichsoziale Partei, gemäss<br />

Gründungsstatuten vom Januar 1911 eine "eigene politische Gruppe innerhalb der<br />

konservativen Partei der Stadt Luzern", setzte ihre sozialreformerischen Akzente - anders als<br />

die v.a. Bauernpolitik betreibenden Konservativen - im industriellen Bereich. Sie strebte eine<br />

Humanisierung der Wirtschaft in christlichem Sinn an, unter Beibehaltung des<br />

Privateigentums und der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. 324 Die Christlichsozialen<br />

318 70 Jahre Pfarrei St. Paul, S. 20.<br />

319 Diözesanarchiv Solothurn. Die Zahl der Protestanten in der Stadt hatte sich von 1900 bis <strong>1920</strong> beinahe<br />

verdoppelt (von 4'933 auf 9'530).<br />

320 Festschrift Kirche St. Karl, S. 49.<br />

321 CD 11.7.1919.<br />

322 Etwa in "60 Jahre in der christlichsozialen Bewegung", einem Interview mit Andreas Marzohl im<br />

"Zentralschweizerischen Volksblatt"; weiter Müller-Marzohl (1990, unveröffentlichtes Typoskript), der die<br />

Erfolge der christlichsozialen Bewegung in Luzern mit jenen der Sozialisten in andern Landesteilen vergleicht;<br />

schliesslich Widmer (o.J.).<br />

323 Gruner (1977), S. 127.<br />

324 LVB 1.8.1919. Der Bauernstand wurde dazu angehalten, seine "bevorzugte Lage gegenüber andern Ständen"<br />

nicht durch materialistische Wirtschaftspolitik auszunützen.<br />

92


prangerten durchaus auch katholische Arbeitgeber der Ausbeutung an. 325 Doch das<br />

"wucherische Grosskapital" erschien in ihrer Perspektive letztlich lediglich als Makel einer<br />

grundsätzlich intakten Wirtschaftsordnung.<br />

Im Ersten Weltkrieg spitzte sich mit der sozialen Polarisierung auch die Rivalität zwischen<br />

der linken Arbeiterbewegung und den Christlichsozialen zu. 326 Für den 30. August 1917 hatte<br />

der Schweizerische Gewerkschaftsbund in verschiedenen Städten Kundgebungen gegen die<br />

Teuerung und die bundesrätliche Politik angekündigt. In Luzern wuchs die Aktion zu einer<br />

triumphalen Protestkundgebung aus, obwohl ältere Gewerkschafter und gemässigte<br />

Sozialdemokraten zunächst ablehnend auf den Beschluss des SGB reagiert hatten, weil sie<br />

Repressionen seitens der Arbeitgeber befürchteten. Klemenz Ulrich, mit der Mobilisierung<br />

der Arbeiterschaft in Emmenbrücke betraut, beschreibt die Formierung des<br />

Demonstrationszuges:<br />

"Am Donnerstag nachmittag um 3 Uhr ertönten plötzlich die Sirenen der Viscose als Signal zum<br />

Streikbeginn. Alles strömte den Ausgängen zu in den Arbeitskleidern, die Frauen und Mädchen und die<br />

Arbeiter. Unsere Sirene war auch das Signal gewesen für die von Moosschen Eisenwerke. Alles strömte<br />

herbei. Dann formierte sich der Demonstrationszug, voran die Freie Jugend mit ihrer roten Fahne und<br />

einem Tambour. Wir zogen gegen das Reussbühl, nahmen gleichfalls noch die Arbeiterinnen der<br />

Schappespinnerei mit und zogen die ganze Strassenbreite einnehmend durch die Baselstrasse auf den<br />

Volkshausplatz. Die Freie Jugend und andere sangen die Internationale und andere revolutionäre Lieder.<br />

Auf dem ganzen Weg schlossen sich noch mehr Leute dem Zug an. Vor dem Volkshaus zogen wir mit<br />

etwa 5'000 Teilnehmern auf. Dann kam noch ein Zug von Kriens mit etwa 2'000." 327<br />

Dass die SP weit über ihre engere Anhängerschaft hinaus Demonstranten mobilisieren<br />

konnte, war für die Christlichsozialen ein Alarmsignal. Sie luden nun ihrerseits zu einer<br />

Protestversammlung gegen die Teuerung ins Hotel Union, wo 600 Personen eine Eingabe an<br />

den Regierungsrat verabschiedeten, in der sie Schutz vor "sozialdemokratischen<br />

Gewalttätigkeiten bei Demonstrationen" verlangten. 328 Auch andere, ähnliche Episoden<br />

machen deutlich, dass die christlichsoziale Partei politisches Profil suchte, indem sie sich<br />

Postulate der freien Arbeiterbewegung in abgeschwächter Form zu eigen machte, sich aber<br />

ideologisch scharf von ihr abgrenzte (siehe auch christlichsoziale Wahlpropaganda nach dem<br />

Ersten Weltkrieg in Anhang 65). Freigeistiger Liberalismus und "staatsfeindlicher"<br />

Sozialismus waren in der christlichsozialen Optik als verwandte Irrlehren dem Untergang<br />

geweiht: "Die Sozialdemokratie ist nicht mehr, wie viele Leute noch glauben, nur eine<br />

wirtschaftliche Organisation, nein, sie geht aufs Ganze. Der Liberalismus hat den<br />

Bolschewismus gerufen: Beide aber werden an sich selbst zu Grunde gehen, denn<br />

325 Statuten der christlichsozialen Parteigruppe der Stadt Luzern 1911. LVB 28.12.1918, 30.3.1917 und<br />

17.3.1917. Widmer (o.J.).<br />

326 1917-1919 verzeichnete die SP in verschiedenen Kantonen Wahlerfolge (VD, SO, BS): in der ersten<br />

Proporzwahl für den Zürcher Kantonsrat 1917 wurde die SP stärkste Fraktion: Sie konnte ihre Mandate beinahe<br />

verdoppeln.<br />

327 Ulrich (1973), S. 13.<br />

328 LVB 39/29.9.1917.<br />

93


Naturgesetze können nicht sabotiert werden." 329 Umgekehrt betrachtete die Linke die<br />

Christlichsozialen als sozialreformerisches Deckmäntelchen der konservativen Partei. Der<br />

Statutenentwurf der 1919 auch auf kantonaler Ebene konstituierten christlichsozialen Partei<br />

vom Februar <strong>1920</strong> wahrte die enge Anlehnung an die Mutterpartei ("Glied der konservativen<br />

und christlichsozialen Gesamtpartei"). 330 Diese hatte unter dem Eindruck des Landesstreiks<br />

Anfang 1919 ein Sozialprogramm verabschiedet, das u.a. die Einführung einer Alters- und<br />

Invalidenversicherung und eine Reform des Heerwesens postulierte. Die konservative Partei<br />

beschloss eine konsequente Förderung der christlichsozialen Arbeiterorganisationen,<br />

gewährte der christlichsozialen Partei Einsitz im Zentralkomitee und entsandte ihrerseits<br />

Vertreter in christlichsoziale Gremien. 331 In allgemein-politischen, religiösen,<br />

schulpolitischen und kulturellen Fragen verpflichtete sich die christlichsoziale Partei, die<br />

Stellungnahmen der Konservativen zu unterstützen, in wirtschafts- und sozialpolitischen<br />

Fragen hatte sie das Recht auf eigene Verlautbarungen. 332<br />

Der rechtsbürgerliche Wirtschaftsflügel der Konservativen stand den Christlichsozialen<br />

feindlich gegenüber. Umgekehrt öffnete das "Zentralschweizerische Volksblatt" seine Spalten<br />

mitunter für Kritik an der konservativen Elite. Ein Einsender prangerte Doppelmoral,<br />

"Patriziertum, Machthunger und Arroganz" gewisser konservativer Führer an: "Es wird doch<br />

niemand mehr behaupten wollen, dass heute die bei den Konservativen vielfach gelebten<br />

Tendenzen mit den religiösen Ansichten, die dieser Partei eigentlich zugrunde liegen sollten,<br />

einig gehen." Nach heftigem Protest aus konservativen Kreisen distanzierte sich die<br />

Redaktion allerdings vom Inhalt des Artikels; die christlichsoziale Führung entschuldigte sich<br />

bei der konservativen Partei. 333 Mit der Befürwortung der Lex Häberlin stellten die<br />

Christlichsozialen ihre grundsätzliche ideologische Linientreue unter Beweis. 334<br />

Der Aufschwung der freien Gewerkschaften in der zweiten Kriegshälfte spornte die<br />

Christlichsozialen zur Reaktivierung ihrer seit Kriegsausbruch inaktiven Sektionen an. Das<br />

christlichsoziale "Luzerner Volksblatt" forderte apodiktisch eine Gegenoffensive: "Hier in der<br />

Zentralschweiz hätte es nicht so weit kommen sollen, dass andere, rote Verbände, den<br />

einheimischen christlichen Arbeitern die Organisation diktieren. Geschehen muss nun etwas,<br />

es ist allerhöchste Zeit, sonst kommen wir unrettbar zu spät." 335 Neben einigen<br />

christlichsozialen Gewerkschaftssektionen wurde 1917 die "Christliche<br />

Gewerkschaftsvereinigung Luzern und Umgebung" gegründet. Im Oktober 1918 nahm ein<br />

christlichsoziales Arbeitersekretariat unter der Leitung von Heinrich Lüthi seine Tätigkeit<br />

329 LVB 6.9.1919 und 1.8.1919.<br />

330 ZVB 5/7.2.<strong>1920</strong>.<br />

331 LVB 1.2.1919.<br />

332 Prot. des konservativen Parteiausschusses (CVP-Archiv: PA 40/1815).<br />

333 ZVB 1/1922.<br />

334 Müller-Marzohl (1990).<br />

335 LVB 2.6.1917 und 17.11.1917.<br />

94


auf. 336 Total waren ca. 600 Gewerkschafter christlichsozial organisiert; die Standesvereine<br />

umfassten doppelt so viele Mitglieder. 337<br />

"Wir haben einen sehr schweren Stand seit dem Generalstreik, denn die 'Christen' haben<br />

tatsächlich sich bemerkbar gemacht und versuchen überall, Dreck in die Milch zu schütten",<br />

beurteilte der sozialdemokratische Metallarbeitersekretär Zimmerli <strong>1920</strong> die Situation in den<br />

Metallarbeitergewerkschaften. 338 Zimmerli schrieb diese Zeilen vor dem Hintergrund bitterer<br />

Enttäuschung über abtrünnige Gewerkschafter. Mit der Fusion der Metallarbeitersektionen<br />

von Luzern und Emmenbrücke 1918 war Ludwig Bühler zum Sektionspräsidenten gewählt<br />

worden. 339 Schon bald zerstritt sich Bühler aber mit dem SMUV in Bern und Zimmerli.<br />

Anlass war die Aushandlung eines Arbeiterstatuts bei von Moos. Bühler trat schliesslich als<br />

Sektionspräsident zurück und begann, eine christlichsoziale Gewerkschaft bei von Moos<br />

aufzubauen. 340 Bis Januar 1919 hatte er 84 Gewerkschafter abgeworben. Ihre<br />

Austrittsschreiben an den SMUV lauteten alle gleich: "Erklärung: Durch die Ausführung des<br />

Landesstreiks hat der Schweizerische Metall- und Uhrenarbeiterverband revolutionäre<br />

Tendenzen bestätigt, worin eine Umwandlung des Vereinszweckes liegt, die gemäss Art. 74<br />

ZGB keinem Mitglied aufgenötigt werden darf. Der Unterzeichnete erklärt hiermit den<br />

Austritt." 341 Die christlichsoziale Metallarbeitergewerkschaft konnte sich indessen nicht<br />

etablieren. Zwei Jahre nach dem Landesstreik war ihr Mitgliederbestand immer noch sehr<br />

schwach (Emmenbrücke 67, Luzern 13, Kriens 29, Sursee 42). 342 Insgesamt verloren die<br />

freien Gewerkschaften nach dem Landesstreik nicht sehr viele Mitglieder an christlichsoziale<br />

Organisationen.<br />

Die jungkonservative Bewegung wuchs aus den kirchlichen Jünglingsvereinen heraus, die in<br />

den 90er Jahren des 19. Jh. von den Luzerner Theologen Josef Beck und Albert Meyenberg<br />

gegründet worden waren. 343 Die ausschliesslich religiöse Zweckbestimmung der von<br />

Geistlichen geführten Jünglings- und Jungmännervereine erschien konservativen Politikern<br />

aber bald als zu eng. Dass die geistlichen Vereinsleiter die Jünglinge mitunter von<br />

Parteipolitik fernzuhalten versuchten, provozierte geradezu die Entstehung politischer<br />

Jugendgruppen. 344 Kam dazu, dass vor dem Hintergrund der sich radikalisierenden<br />

336 Heinrich Lüthi (1890-1976), Holzarbeiter in Kriens, Präsident des christlichsozialen Gewerkschaftskartells<br />

von Luzern, Mitglied des Zentralvorstands des Christlichnationalen Gerwerkschaftsbundes (CNG), 1919-1947<br />

Grossrat, ab 1942 Amtsrichter.<br />

337 Lüthi, in: 50 Jahre christliche Gewerkschaften, S. 6.<br />

338 Schreiben Zimmerlis vom 19.1.<strong>1920</strong> an den SMUV (SMUV-Archiv).<br />

339 "10 Jahre Gewerkschaftsarbeit Luzern-Emmenbrücke", S. 5-6.<br />

340 Schreiben Zimmerlis an den SMUV vom 7.9.1918 und 11.9.1918 (SMUV-Archiv).<br />

341 Zitat aus einem Schreiben Zimmerlis an den SMUV vom 10.1.1919 (SMUV-Archiv).<br />

342 "10 Jahre Gewerkschaftsarbeit Luzern-Emmenbrücke", S. 3-4.<br />

343 Konservativ Luzern 1871-1921, S. 138. Der Luzerner Josef Beck wirkte 1891-1934 als Theologieprofessor<br />

in Freiburg.<br />

344 Gewisse Geistliche befürworteten durchaus eine politische Jugendarbeit. Etwa Prälat Meyenberg, der auf<br />

dem schweizerischen Katholikentag 1913 für eine "parteipolitische Schulung der reiferen Jungmannschaft"<br />

plädierte.<br />

95


Sozialdemokratie die Schaffung jungkonservativer Gruppierungen zum "Gebot der<br />

parteilichen Kriegsführung" avancierte. 345 Um <strong>1920</strong> bestanden erst in den Kantonen Luzern,<br />

St. Gallen und im Tessin jungkonservative Organisationen.<br />

Die erste politische Jugendorganisation ausserhalb der Jünglingsvereine war in Luzern 1903<br />

auf der Grundlage des konservativen Parteiprogramms unter der Bezeichnung "Amicitia"<br />

konstituiert worden. Die Mitgliederzahl stieg im ersten Jahr ihres Bestehens von 27 auf<br />

150. 346 In Abstimmungen und Wahlkämpfen profilierte sich die Amicitia als<br />

kulturkämpferische Vorhut der konservativen Partei. 347 1907 entstand ein Kantonalverband,<br />

der 1912 bereits 4'238 Mitglieder zählte. Nach vorübergehender vereinspolitischer Flaute bei<br />

Kriegsausbruch bestimmte zusehends ein virulentes sozialistisches Feindbild das<br />

Vereinsleben. Als Provokation wirkte, dass Willi Münzenberg, der Präsident der<br />

sozialdemokratischen Jugendorganisation der Schweiz, den im Zeichen des Antimilitarismus<br />

stehenden Zweiten schweizerischen Jugendtag an Pfingsten 1916 bewusst in Luzern - nach<br />

Münzenberg "eines der reaktionärsten und kirchentreusten" Gebiete der Schweiz -<br />

durchführte. 348 2'000 sozialistische Jungburschen zogen durch Luzern und sammelten sich<br />

anschliessend zu einer antimilitaristischen Kundgebung vor dem Telldenkmal in Altdorf. Die<br />

schockierten Jungkonservativen veranstalteten nachträglich eine "Sühnedemonstration" vor<br />

dem ihrer Ansicht nach entweihten Nationaldenkmal. 349<br />

An der Luzerner Kreistagung der katholischen Jungmannschaft 1916 rief Lorenz Rogger,<br />

Direktor des Hitzkircher Lehrerseminars, pathetisch zur Bekämpfung des Sozialismus, dessen<br />

Propaganda er Vorbildlichkeit attestierte, auf: "Katholisch Jung-Luzern! Willst du das<br />

katholische Luzerner Haus, willst du katholischen Grund und Boden dir stehlen lassen, aus<br />

lauter Gemütlichkeit? ... Durch den ganzen Kanton sollen Schützengräben gehen ... ." 350<br />

Die Bemühungen, die Jungkonservativen ins politische Geschehen einzubinden, bargen eine<br />

überkantonale Konfliktdimension. Anders als die Luzerner Konservativen lehnte der in der<br />

Diaspora verankerte Zentralverband der katholischen Jünglingsvereine mit Sitz in Zürich eine<br />

stärkere parteipolitische Schulung der Jungmannschaften ab. Der Richtungsstreit eskalierte,<br />

als einflussreiche Luzerner Konservative im Mai 1917 als Konkurrenz zum schweizerischen<br />

Organ der Jünglingsvereine, der "Schildwache", für die Luzerner Amicitien eine eigene<br />

345 Kopp, 25 Jahre Amicitia Luzern, S. 3.<br />

346 "Der Arbeiter" 2.1.1904.<br />

347 L 2/15.5.1921. Widmer (1983), S. 20.<br />

348 Zur Radikalisierung der linken Luzerner Arbeiterbewegung im Ersten Weltkrieg siehe Schelbert (1985), S.<br />

27ff.<br />

349 Münzenberg (1930), S. 178-180. Gesamtschweizerisch erhöhte die sozialdemokratische Jugendorganisation<br />

ihre Mitgliederzahl von 944 im Jahr 1914 auf 5'000 1917. Speziell starke Mitgliederzunahme stellte<br />

Münzenberg 1917 für die Zentralschweiz fest (S. 191). Klemenz Ulrich bestätigt dies: In seinen "Erinnerungen"<br />

(1973) schildert er, wie er nach einem Vortrag Münzenbergs in Emmenbrücke 1915 der Freien Jugend beitritt,<br />

die damals kaum ein Dutzend Mitglieder zählt. 1917 verzeichnete die Sektion Emmenbrücke bereits 70<br />

Mitglieder; zusätzlich waren Sektionen in Kriens, Luzern, Perlen-Root und Gerliswil entstanden. Der<br />

"Centralschweizerische Demokrat" lobte das Engagement der sozialistischen Jugend und deren Teilnahme am<br />

Parteileben während des Ersten Weltkrieges wiederholt als vorbildlich.<br />

350 Rogger, "Tagwacht", Referat an der Kreistagung der luzernischen Jungmannschaft vom 10.9.1916.<br />

96


Zeitung, den nach dem Wachtturm der Luzerner Museggbefestigung benannten "Luegisland",<br />

gründeten. Der Zentralpräsident der gesamtschweizerischen Jünglingsvereine kritisierte das<br />

Luzerner Vorprellen als von langer Hand geplante Strategie der Abwerbung und<br />

übersteigerten katholischen Lokalpatriotismus. 351 Der "Luegisland" (Untertitel: "Turmwart<br />

der katholischen Innerschweiz") steuerte unter Berufung auf die katholische<br />

Gegenreformation des 16. Jh. einen ultramontanen, kulturkämpferischen Kurs: "Und auf der<br />

Zinne steht als Wächter wieder ein katholischer Jungschütz ...; er bürgt dafür: in dieses Haus,<br />

in diese Familie hinein kommt kein feindliches Buch, keine feindliche Zeitung, kein<br />

feindlicher Schritt." 352 Sozialismus wurde mit heimlicher Zersetzung des katholischen Staates<br />

und Korrumpierung der Jugend gleichgesetzt. Der "Luegisland" sah ein Geschlecht, "reif für<br />

die frechsten Lehren", im "Fiebergemisch von Bolschewistenunsinn und sozialem Fortschritt"<br />

keimen, "die roten Fluten steigen!" 353 Sogar katholische Jünglinge von der Luzerner<br />

Landschaft gerieten bei ihrem Wegzug in die Stadt in den Sog sozialistischer Jugendgruppen,<br />

weil keine gleichwertigen katholischen Vereine bestünden: "... Zwei Tage später war der<br />

Neuling in der Sozi-Gewerkschaft, am dritten im Vorstand, am vierten, am Sonntag, nicht<br />

mehr in der Kirche." 354<br />

Anfang der 20er Jahre, zu einer Zeit, wo die Arbeiterbewegung infolge der Wirtschaftskrise<br />

geschwächt war und nur defensiv agierte, war die Hälfte der ca. 20 Amicitia-Sektionen<br />

inaktiv. 355 Erst im Frontenfrühling der 30er Jahre traten die Luzerner Jungkonservativen<br />

wieder stärker politisch in Erscheinung. Gemäss einem internen Aktionsprogramm von 1933<br />

sympathisierten sie "mehr als man glaubt" mit der Erneuerungsbewegung. Das Programm<br />

forderte unter anderem die Beseitigung des politischen Systems sowie die Einsetzung einer<br />

autoritären Regierung. 356<br />

351 Widmer (1983), S. 8-10. Jung (1988), S. 163, 176 und 218.<br />

352 L 1/1.5.1917.<br />

353 L 15.11.1918 und 1.12.1918. Zur Inszenierung einer kollektiven Angstpsychose im Umfeld des<br />

Landesstreiks siehe die sprachgeschichtliche Studie von Martin Fenner, Partei und Parteisprache im politischen<br />

Konflikt, Bern 1981.<br />

354 L 11/1.10.1918.<br />

355 L 5/1.7.1922.<br />

356 Geplant waren auch Veranstaltungen mit Robert Tobler, dem Führer der Neuen Front (CVP-Archiv: PA<br />

40/1814).<br />

97


SCHLUSSWORT<br />

Ich habe versucht, wichtige Aspekte der spezifischen Entwicklung des Luzerner Untergrunds<br />

nachzuzeichnen. Sie lassen sich meiner Ansicht nach zur These verdichten, dass das<br />

Untergrundquartier im konjunkturellen Wachstumsschub der Jahrhundertwende von den<br />

gesellschaftlich positiv bewerteten, materiellen wie immateriellen Facetten der<br />

Modernisierung abgekoppelt wurde.<br />

Im Vergleich mit den kräftig expandierenden Neubaugebieten im Süden Luzerns - und dem<br />

Zürcher Arbeiterquartier Aussersihl - wies der Untergrund eine viel geringere<br />

demographische Wachstumsdynamik auf. 357 Auch die höhere Durchmischung der<br />

Bevölkerungsstruktur im Untergrund - in den 90er Jahren entwickelte er sich zum<br />

Auffangbecken für<br />

Fremdarbeiter - hob ihn von den Neubaugebieten im Süden der Stadt ab.<br />

Die bauliche Erschliessung vollzog sich im Untergrund organischer als in den in kurzer Zeit<br />

aus dem Boden gestampften neuen Wohnquartieren im Süden der Stadt. Alte und jüngere<br />

Bausubstanz grenzten aneinander. Kollektive Bauformen - z.B. genossenschaftlicher<br />

Wohnungsbau, der zu einer Aufwertung des Sozialprestiges des Quartiers hätte beitragen<br />

können - existierten im Untergrund nicht; die Wohnqualität war deutlich schlechter als in den<br />

übrigen Quartieren.<br />

Der Wandel der Erwerbsstruktur förderte die sozialräumliche Segregation. Das Spektrum der<br />

Berufe des 2. Sektors verengte sich zusehends im Zuge der Fabrikindustrialisierung, die für<br />

eine wachsende Zahl von Beschäftigten ähnliche Arbeitsbedingungen schuf. Der 1890 noch<br />

intakte kleingewerbliche Quartiercharakter schwächte sich bis <strong>1920</strong> zugunsten einer zum Teil<br />

proletarischen Lebenswelt ab. Die autarke, auf Grundbedürfnisse ausgerichtete<br />

Dienstleistungsstruktur - z.B. die überdurchschnittliche Dichte an Wirtschaften - war für ein<br />

Arbeiterquartier typisch. Anhand des bedeutendsten Fabrikbetriebs im Untergrund (Schindler)<br />

wurde die soziale Polarisierung im 20. Jh. mit dem Höhepunkt um Kriegsende dargestellt, und<br />

wie Schindler den schwelenden Klassenkonflikt betriebsintern durch eine geschickte<br />

Arbeiterstamm-Politik regulierte.<br />

Die Konzentration negativer Landmarken im Quartier und der Bahnbau akzentuierten die<br />

soziale Segregation. Die materiellen Ressourcen waren im Untergrund breiter gestreut als<br />

gesamtstädtisch. Quartierintern bestanden aber deutlich differenzierte, kleine Sozialräume:<br />

Die Innere Baselstrasse und die Bernstrasse trennte die ausgeprägteste soziale Kluft. Eine<br />

Oberschicht bzw. gesellschaftliche Elite im Sinn eines Bildungs- und Besitzbürgertums, wie<br />

sie in anderen Quartieren existierte, fehlte im Untergrund weitgehend. Die "Quartierelite"<br />

bildeten v.a. Ladenbesitzer und Gewerbetreibende.<br />

357 Künzle (1990), S. 46.<br />

98


Auch die politischen und soziokulturellen Begleiterscheinungen der Zuspitzung negativer<br />

sozialräumlicher Bedingungen wurden sichtbar. Die Verschlechterung des Sozialprestiges des<br />

Untergrundquartiers stand in Wechselbeziehung mit der Entwicklung zum Ausländer- und<br />

Industriequartier ab den 90er Jahren. Die Segregation und das soziale Stigma des Quartiers<br />

verschärften sich synchron.<br />

Die freie Arbeiterbewegung agierte angesichts der Omnipräsenz des katholischen Milieus in<br />

Luzern aus der Defensive. Die SP - deren Verhältnis zur italienischen Kolonie nicht immer<br />

unproblematisch war - rückte im Untergrund nach dem Ersten Weltkrieg folgerichtig zur<br />

stärksten Partei auf. In der Parteielite kaum vertreten und von dieser bisweilen paternalistisch<br />

behandelt, blieb der Untergrund aber selbst innerhalb der Arbeiterbewegung Stiefkind. Mit<br />

Ausnahme des Kreisvereins Untergrund verfügte die unterschichtige Arbeiterbevölkerung im<br />

Untergrund aber über keine institutionalisierten Kanäle der Interessenvertretung. Im<br />

Gegensatz zu Aussersihl, wo Auszüge in wohlhabende Quartiere die Opposition gegen den<br />

bürgerlichen Staat signalisierten, vermochte die Arbeiterbewegung im Untergrund die<br />

Quartiergrenzen nicht zu "sprengen". 358 Die Arbeiterbevölkerung prägte die kollektive<br />

Quartieridentität dazu zu wenig, verschiedene Interessengruppen rivalisierten im Quartier. So<br />

blieb das Arbeiterquartier als soziokultureller Faktor weitgehend stumm. Die unterschichtige<br />

Arbeiterbevölkerung verharrte - nomen est omen - im 'Untergrund'. Dass radikale<br />

Splittergruppen im Untergrund über etwas grösseren Anhang verfügten, änderte daran nichts.<br />

Etwa lässt sich für Luzern auch nicht nachweisen, dass der Landes-Generalstreik wie in<br />

Zürich vom Arbeiterquartier ausging. 359<br />

Die Bereitstellung moderner kirchlicher Infrastruktur (Kirchenbau) in Luzern in den ersten<br />

Jahrzehnten des 20. Jh. ermöglichte den Ausbau des kirchlichen Vereinswesens in den<br />

Quartieren. Der Bedeutungszuwachs der einzelnen Pfarreien wertete die Funktion der Kirche<br />

als Hüterin und Vermittlerin geistig-moralischer Werte auf. Der karitativ-sozialhygienische<br />

Diskurs in Zusammenhang mit dem Kirchenbau insinuierte der Bevölkerung des Untergrunds<br />

Rückständigkeit. Auch den Religionsunterricht prägte die Vermittlung eines schuldhaften<br />

unterschichtigen Sozialstatus.<br />

Strukturelle Chancenungleichheit benachteiligte die unterprivilegierte Quartierbevölkerung<br />

im Bildungsbereich. Das Vereinswesen, das sich erst nach dem Ersten Weltkrieg ethnisch zu<br />

durchmischen begann, zeichnete sich, ähnlich wie die Dienstleistungsstruktur, durch eine<br />

gewisse Autarkie aus. Führungspositionen in städtischen Vereinen bekleideten auch die<br />

besser situierten Quartierbewohner kaum. Im Quartierverein Bernstrasse erhob sich eine<br />

kleinbürgerliche Hausbesitzerschicht zum sozialen Ordnungsfaktor. Je mehr der Quartierruf<br />

litt, desto schärfere Repression bis hinein in die Privatsphäre übte sie gegen unterschichtige<br />

Arbeiter und Italiener aus.<br />

358 Fritzsche (1986), S. 60.<br />

359 Fritzsche (1986), S. 60.<br />

99


Alles in allem relativiert sich das Bild der Bevölkerung des Untergrunds als<br />

Schicksalsgemeinschaft, wie es die Quartiergeschichte "Vom Gütsch zur Reuss" skizziert. Die<br />

mystifizierte Quartiersolidarität zerfällt bei näherem Hinsehen in partikulare<br />

Gruppeninteressen.<br />

100


Abkürzungsverzeichnis<br />

AB "Luzerner Arbeiterblatt"<br />

BAR Bundesarchiv<br />

B.u.A. Berichte und Anträge des Stadtrates Luzern an den Grossen Stadtrat<br />

CD "Centralschweizerischer Demokrat"<br />

EVZ Eidgenössische Volkszählung<br />

FI "Freie Innerschweiz"<br />

GDV Gesetze, Dekrete, Verordnungen für den Kanton Luzern<br />

Jb. Jahresberichte<br />

L "Luegisland"<br />

LHV Luzerner Historische Veröffentlichungen<br />

LT "Luzerner Tagblatt"<br />

LVB "Luzerner Volksblatt"<br />

Prot. Protokoll<br />

SAL Stadtarchiv Luzern<br />

SAR Sozialarchiv Zürich<br />

STARL Staatsarchiv Luzern<br />

V "Vaterland"<br />

Vber. StR. Verwaltungsberichte des Stadtrates von Luzern<br />

VS Luzerner Volksstimme<br />

ZVB Zentralschweizerisches Volksblatt<br />

101


QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS<br />

I. UNGEDRUCKTE QUELLEN (DOKUMENTE, PROTOKOLLE)<br />

a. Staatsarchiv Luzern<br />

- Akten Archiv 4, Fach 4: Polizeiwesen<br />

- Akten 37/315: Quartiervereine, Bahnhofumbau<br />

- Akten Archiv 4, Fach 7: C. Arbeit: 4. Arbeitersekretariate 5. Verhältnis Arbeitgeber-<br />

Arbeitnehmer: a) Gesamtarbeits- und Normalarbeitsverträge;<br />

b) Kündigungsstreitigkeiten; c) Lohnstreitigkeiten; d) Streiks<br />

- TADL 860: Soziale Struktur einzelner Bezirke 1944<br />

- CVP-Archiv (PA 40/1815): Sitzungsprotokolle der Konservativen Volkspartei des<br />

Kantons Luzern 1919-1924<br />

b. Stadtarchiv Luzern<br />

- Berufsregister der Stadt Luzern 1909-1914<br />

- Organisation des Schulwesens 1899-<strong>1920</strong> (B3.4/A22)<br />

- Protokolle des freisinnigen Parteikomitees der Stadt Luzern 1914-1918 (F.21.3)<br />

- Protokolle des Grossen Stadtrates von Luzern<br />

- Schulpflege: Protokolle der Schulkommission 1903-1926 (B3.18/B4.2/9/10)<br />

- Städtische Steuerregister 1891, 1910 und <strong>1920</strong> (B3.40/B1.1/3)<br />

- Tätigkeitsberichte des liberalen Arbeitersekretariates 1918-1929<br />

- Wachtgeldrodel 1849 (B3.22/B8.1)<br />

- Wahlprotokolle der Verhandlungen der Einwohnergemeinde Luzern ab 1882 (B3.4/B3.1)<br />

- Wahl- und Abstimmungsakten ab 1891 (B3.4/A1.1)<br />

c. Sozialarchiv Zürich<br />

- Archiv der SPS: Akten der Beschwerdekommission zu den Fällen Graf und<br />

Oberholzer<br />

d. Archiv der Sozialdemokratischen Partei des Kantons Luzern<br />

- Protokollbuch des sozialdemokratischen Kreisvereins Obergrund ab 1921<br />

- Protokollbücher des sozialdemokratischen Kreisvereins Moos 1907-1921<br />

e. Archiv des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB)<br />

- Korrespondenz SGB-Arbeiterunion Luzern<br />

- Gewerkschaftskartell Luzern: Protokolle, Berichte, Zirkulare 1897-1972<br />

f. Bundesarchiv<br />

- Militärjustizakten betreffend Untersuchung der Umtriebe der sozialdemokrati-<br />

schen Soldatenorganisation Luzern und Umgebung<br />

102


g. SMUV-Archiv Bern<br />

- Korrespondenz mit der Sektion Luzern<br />

h. Diözesanarchiv Solothurn<br />

- Visitationsberichte<br />

- Korrespondenzen<br />

i. Pfarreiarchive St. Leodegar und St. Karl<br />

- Exerzitienvorträge für ältere Kommunikanten und Kinderexerzitien 1931<br />

k. Katholische Kirchgemeinde Luzern<br />

- Faszikel St. Karl<br />

l. Quartierverein Bernstrasse<br />

- Protokolle der General- und Quartalsversammlungen 1896-1940<br />

- Korrespondenzen<br />

II. GEDRUCKTE QUELLEN<br />

a) Jahresberichte, Erinnerungen, Festschriften, Zeitungsartikel<br />

- 10 Jahre Gewerkschaftsarbeit des SMUV Luzern und Emmenbrücke 1918-1928.<br />

- 50 Jahre Allgemeine Baugenossenschaft Luzern, Luzern 1974.<br />

- 50 Jahre Centralschweizerischer Demokrat/Arbeiterblatt/ Freie Innerschweiz. In:<br />

ebd. 19.6.1948.<br />

- 50 Jahre Christliche Gewerkschaften. Hg. von T. Vonwyl, Luzern 1971.<br />

- 50 Jahre sozialdemokratischer Kreisverein Untergrund-Altstadt. In: Freie<br />

Innerschweiz 4.10.1955.<br />

- 50 Jahre christliche Holzarbeiter Luzern, 1954.<br />

- 80 Jahre Holzarbeiterbewegung in Luzern, 1952.<br />

- 90 Jahre 1. Mai in Luzern. Hg. von R. Meier u.a. Luzern 1980.<br />

- 150 Jahre von Moos Stahl. Hg. von Kurt Fallegger, Luzern 1992.<br />

- Festschrift des schweizerischen Ingenieur- und Architektenvereins 1893, Luzern 1893.<br />

- Graphische Sammlung der Zentralbibliothek Luzern: Zeitungsartikel-Sammlung zu einzelnen<br />

Strassen.<br />

- Jahrbücher des Schweizerischen Textilarbeiterverbandes 1918-1923.<br />

- Jahresberichte der Gesellschaft für Handel und Industrie in Luzern ab 1899.<br />

- Jahresbericht der Kantonsschule Luzern 1919/<strong>1920</strong>.<br />

- Jahresberichte des christlichsozialen Arbeitersekretariats Luzern 1919-1925.<br />

- Jahresberichte des christlichen Metallarbeiterverbandes der Schweiz.<br />

- Jahresberichte des Schweizerischen Metall- und Uhrenarbeiter-Verbandes (SMUV) ab 1914.<br />

- Jahresberichte des Allgemeinen freiwilligen Armenvereins der Stadt Luzern ab 1882.<br />

- Jahresberichte des Schweizerischen Grütlivereins 1915-1923.<br />

- Jahresberichte des sozialdemokratischen Arbeitersekretariats Luzern 1905, 1906, <strong>1920</strong>-1940.<br />

103


- Jahresberichte des Volkshausvereins Luzern 1911 und 1922.<br />

- Konservativ Luzern 1871-1921. Zum fünfzigjährigen Regierungsjubiläum der<br />

Konservativen Partei des Kantons Luzern. Luzern 1921.<br />

- Luzerner Arbeiterbewegung 1897-1918. Siebenteilige Artikelserie der<br />

LNN, 5. Mai bis 23. Juni 1973 (von P. Huber und M. Schmid)<br />

- Meyer, Franz. Religion und Politik. Luzern 1927.<br />

- Müller-Marzohl, Alfons. Die christlichsoziale Partei des Kantons Luzern 1919-1970<br />

(unveröffentlichtes Typoskript 1990).<br />

- Münzenberg, Willi. Die dritte Front. Berlin 1930.<br />

- Ulrich, Klemenz. Ist die soziale Revolution auch in der Schweiz notwendig? <strong>1920</strong>.<br />

- Ulrich, Klemenz. Erinnerungen, 1973 (unveröffentlichtes Typoskript).<br />

- Wick, Karl. Politik und politische Parteien, Luzern 1927.<br />

- Widmer, Fritz. Die christlichsoziale Partei des Kantons Luzern, o.J.<br />

(unveröffentlichtes Typoskript).<br />

b. ZEITUNGEN<br />

- Centralschweizerischer Demokrat/Arbeiterblatt/Freie Innerschweiz<br />

(sozialdemokratisch)<br />

- Gewerkschafter (christlichsoziale Arbeiterbewegung)<br />

- Kämpfer (kommunistisch)<br />

- Luegisland (Luzerner katholische Jungmannschaft)<br />

- Luzerner Tagblatt<br />

- Luzerner Volksblatt/Zentralschweizerisches Volksblatt (christlichsozial)<br />

- Luzerner Volksstimme (1919-1925; grütlianisch)<br />

- Luzerner Zeitung (LNN)<br />

- Metallarbeiter<br />

- Neue Jugend (kommunistisch)<br />

- Neue Ordnung (kommunistisch)<br />

- Schweizerische Kirchenzeitung<br />

- Textilarbeiter<br />

- Vaterland<br />

- Viscose-Post (Werkzeitschrift der Société de la Viscose Suisse, ab 1941)<br />

c. AMTLICHE UND ÜBRIGE QUELLEN<br />

- Adressbücher der Stadt Luzern (mit Branchenverzeichnissen)<br />

- Amtliche Übersicht über die Verhandlungen des Grossen Rates und des<br />

Regierungsrates<br />

- Auszüge aus den Steuerregistern der Stadtgemeinde Luzern 1902 und 1908<br />

- Berichte und Anträge des Stadtrates von Luzern an die Versammlung der<br />

Einwohnergemeinde<br />

- Eidgenössische Betriebszählung 1929<br />

- Eidgenössische Fabrikinspektorenberichte 1914-1918<br />

- Eidgenössische Fabrikstatistiken 1911 und 1923<br />

- Eidgenössische Volkszählungen<br />

- Gesetze, Dekrete, Verordnungen für den Kanton Luzern<br />

- Häuserverzeichnisse Stadt Luzern 1890, 1904 und 1915<br />

- Kantonsblätter<br />

104


- Schweizerische Statistische Mitteilungen, Heft 1/1921: Erwerbs- und<br />

Vermögenssteuern<br />

- Staatsverwaltungsberichte des Kantons Luzern<br />

- Steuerbüchlein der Stadt Luzern 1911 (Hg. SP Luzern)<br />

- Verwaltungsberichte des Stadtrates von Luzern<br />

- Wohnungsenquête der Stadt Luzern 1897 (bearbeitet von Hermann Pietzcker)<br />

III. MÜNDLICHE QUELLE<br />

- Jakob Scherrer (Jahrgang 1907)<br />

LITERATUR<br />

- ALTERMATT, Urs. Katholizismus und Moderne. Zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte der<br />

Schweizer Katholiken im 19. und 20. Jh. Zürich 1989.<br />

- ALTERMATT, Urs. Leben auf dem Land: Nach dem Rhythmus der Glocken? Zum<br />

religiösen Mentalitätswandel im Luzernbiet um 1950. In: 600 Jahre Stadt und Land<br />

Luzern:"Lasst hören aus neuer Zeit". Luzern 1986, S. 115-124.<br />

- BECK, Peter. Von alten Bräuchen im Laufe des Kirchenjahres. In: Luzern im Wandel der<br />

Zeiten, Heft 3. Luzern 1957.<br />

- BICKEL, Wilhelm. Bevölkerungsgeschichte und Bevölkerungspolitik der Schweiz seit dem<br />

Ausgang des Mittelalters. Zürich 1947.<br />

- BLEEK, Stephan. Quartierbildung in der Urbanisierung. Das Münchner Westend 1890-<br />

1933. München 1991.<br />

- BOLLIGER, Markus. Die Basler Arbeiterbewegung im Zeitalter des Ersten Weltkrieges<br />

und der Spaltung der Sozialdemokratischen Partei. Basel/Stuttgart 1970.<br />

- BRUNNER, Hansruedi. Luzerns Gesellschaft im Wandel. Luzerner Historische<br />

Veröffentlichungen, Bd. 12. Luzern/Stuttgart 1981.<br />

- BRUNNER, Hansruedi. Die Stadt Luzern <strong>1850</strong>-1914. Bevölkerung-Wirtschaft-Gesellschaft.<br />

Soziale Schichtung <strong>1850</strong>-1890. Liz. phil I, Zürich 1976.<br />

- BUSSMANN, Roman. Die Luzerner Stadtratswahlen 1832-1984. In: Luzern im<br />

Wandel der Zeiten, Neue Folge, Heft 1. Luzern 1987.<br />

- DEGEN, Bernard. Abschied vom Klassenkampf. Die partielle Integration der<br />

schweizerischen Gewerkschaftsbewegung zwischen Landesstreik und<br />

Weltwirtschaftskrise (1918-1929). Basel/Frankfurt a.M. 1991.<br />

- DENECKE, Dietrich. Aspekte sozialgeographischer Interpretationen innerstädtischer<br />

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- ETTER, Jann. Armee und öffentliche Meinung in der Zwischenkriegszeit 1918-1939. Diss.<br />

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Arbeiterexistenz im 19. Jh., hg. von W. Conze/U. Engelhardt, Stuttgart 1981, S. 92-<br />

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- FRITZSCHE, Bruno. Quartierbildung und Mobilität. In: Soziale Räume in der<br />

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105


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- RUFFIEUX, Roland. Katholische Arbeiterbewegung in der Schweiz. In: Scholl, Herman,<br />

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sozialethische Verkündigung des Luzerner Theologen Albert Meyenberg. Diss. Bern<br />

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Beiträge zum 100-Jahr-Jubiläum des Quartiervereins "Wächter am Gütsch" (1864).<br />

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- WIDMER, Josef. Von der konservativen Parteinachwuchsorganisation zur katholischen<br />

Erneuerungsbewegung. Die schweizerischen Jungkonservativen in den 30er Jahren.<br />

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- WYLER, Julius. Die schweizerische Bevölkerung unter dem Einflusse des Weltkrieges.<br />

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- WYLER, Julius. Die Demographie der Ausländer in der Schweiz. Bern 1921.<br />

108


VERZEICHNIS <strong>DER</strong> TABELLEN, GRAFIKEN, KARTEN UND ABBILDUNGEN<br />

Tabellen im Text<br />

1. Städtische Quartiereinteilungen 1833-1910 7/8<br />

2. Wohnstrukturen 1897 14<br />

3. Wohnungsnachteile nach Bezirken 1897<br />

15<br />

4. Wohnungen in den Stadtbezirken 1897 bis und mit<br />

Jahreszins von Fr. 500.- (in % aller Wohnungen) 15<br />

5. Haushaltsstrukturen 1897 18<br />

6. Erwerbsstruktur an der Basel- und Bernstrasse 1891 (%) 21<br />

7. Die Berufsarten des 2. Sektors an der Bern- und<br />

Baselstrasse 1891 21<br />

8. Fabrikbetriebe im Untergrund 1904 25<br />

9. Dienstleistungsdichte 1890-1921 (Auswahl) 28<br />

10. Die Steuerpflichtigen im Untergrund 1849-<strong>1920</strong><br />

38<br />

11. Soziale Schichtung im Untergrund 1849 und 1891 40<br />

12. Schichtung und Beruf im Untergrund 1891 44<br />

13. Totalsteuerkapital an der Baselstrasse 1891-<strong>1920</strong> (in Fr.) 44<br />

14. Ressourcenverteilung an der Baselstrasse<br />

1891-<strong>1920</strong> (Durchschnittswerte pro Zensit in Fr.) 45<br />

15. Ressourcenverteilung in den übrigen Gebieten des Untergrunds<br />

1891-<strong>1920</strong> (Durchschnittswerte pro Zensit in Fr.) 46<br />

16. Einkommensstreuung an der Basel- und<br />

Bernstrasse 1910 und <strong>1920</strong> (in Prozent) 46<br />

17: Die unterste Einkommensschicht 1891 (525 Fr.), 1910<br />

und <strong>1920</strong> (200 Fr.) 48<br />

18. Anteil von Taglöhnern und Hilfsarbeitern an der untersten<br />

Einkommensschicht (in % der Unterschicht der jeweiligen Strasse)<br />

48<br />

19. Einkommensstreuung bei den 30 Hilfsarbeitern<br />

in den Lehmann-Häusern <strong>1920</strong> 49<br />

20. Die höchsten Steuerposten 1891-<strong>1920</strong> 50<br />

21. Bezirksspezifische Ergebnisse der Grossratswahlen vom 14.5.1911 53<br />

22. Stimmenanteile im Urnenkreis Untergrund/Bruch<br />

bei den Stadtratswahlen 1919 und 1923 55<br />

23. Die Wohnquartiere der Grossstadträte nach<br />

Parteien 1911 und 1921 55<br />

24. Mitgliederdichte in den SP-Kreisvereinen 1919<br />

(Anzahl Quartierbewohner pro SP-Mitglied)<br />

58<br />

25. Durchschnittliches Einkommen der Mitglieder des Volkshausvereins,<br />

der Steuerpflichtigen des Untergrundquartiers sowie der<br />

Grossstadträte 1911 und <strong>1920</strong> (in Fr.) 59<br />

26. Urabstimmungsresultate 1919 in den SP-Kreisvereinen über<br />

den Beitritt zur 3. Internationale 66<br />

27. Jastimmen-Anteile bei hartumkämpften Vorlagen<br />

der Nachkriegszeit (in %) 70<br />

109


28. Städtische Vereine und Genossenschaften 1890 und 1911 83<br />

Anhang (in Band 2)<br />

1. Die Bevölkerung der Stadt Luzern <strong>1850</strong>-1941 3<br />

2. Die Wohnbevölkerung der Stadt Luzern 1900-1930 (jeweils per 31.12.) 3<br />

3. Bevölkerungswachstum des linken und des rechten Stadtteils<br />

1860-<strong>1920</strong> (in %) 3<br />

4. Bevölkerungsstrukturen in den Quartieren 1910 und <strong>1920</strong> 4<br />

5. Die ausländische Wohnbevölkerung in der Schweiz und im<br />

Kanton Luzern 1900-1941 4<br />

6. Die ausländische Wohnbevölkerung in der Stadt 1888-1930 5<br />

7. Anzahl Häuser in den Stadtbezirken 1890 5<br />

8. Wohnungspreise in der Stadt 1913 und <strong>1920</strong> 5<br />

9. Wohnstrukturen 1910 und <strong>1920</strong> 6<br />

10. Anzahl Wohnungen nach Preisklassen 1897 6<br />

11. Die Erwerbstätigkeit in der Stadt Luzern nach<br />

Wirtschaftssektoren 1888-<strong>1920</strong> 6<br />

12. Industriebetriebe und Beschäftigte im Kt. LU 1895-1929 7<br />

13. Städtische Erwerbsstruktur 1888 und 1910 (in %) 8<br />

14. Beschäftigte in den Fabriken des Kantons Luzern 1879-1944 8<br />

15. Branchenstruktur im Untergrund 1871-1921 9<br />

16. Erwerbsstruktur an der Bern- und Baselstrasse 1891 11<br />

17. Erwerbsstruktur im Hofquartier 1910 und <strong>1920</strong> (in %) 12<br />

18. Erwerbsstruktur an der Bern- und Baselstrasse 1910 und <strong>1920</strong> 12<br />

19. Soziale Struktur der Stadtbezirke 1944 14<br />

20. Überzeit-Arbeitsbewilligungen für Fabrikarbeit<br />

im Kanton Luzern 1914-1925 14<br />

21. Existenzminima bei den Steuertaxationen 1891-<strong>1920</strong> 15<br />

22. Städtische Erwerbssteuerpflichtige nach<br />

Erwerbsklassen 1904-<strong>1920</strong> 15<br />

23. Anzahl städtische Vermögen nach Grössenklassen 1899-<strong>1920</strong> 16<br />

24. Steuerkapital der Gemeindesteuer 1900 nach beiden Stadtteilen 16<br />

25. Bruttosteuerkapital für die Gemeindesteuer der<br />

Stadt Luzern 1910-<strong>1920</strong> 16<br />

26. Einkommensklassen 1910 (in %)<br />

17<br />

27. Einkommensstreuung 1910 im Hof, im Untergrund und in der Stadt 17<br />

28. Streuung hoher Einkommen und Vermögen 1908<br />

nach Bezirken 17<br />

29. Steuerpflichtige nach Vermögensklassen 1910 18<br />

30. Einkommensverteilung im Untergrund 1891 18<br />

31. Einkommensverteilung im Untergrund 1910 (ohne Sentimatt) 18<br />

32. Städtische Einkommensverteilung 1910 19<br />

33. Einkommensverteilung im Untergrund <strong>1920</strong> 19<br />

34. Vermögensverteilung im Untergrund 1891 19<br />

35. Vermögensverteilung im Untergrund 1910 20<br />

36. Vermögensverteilung im Untergrund <strong>1920</strong> 20<br />

37. Vermögensverteilung im Untergrund <strong>1920</strong> 20<br />

110


38. Städtische Vermögensverteilung <strong>1920</strong> 21<br />

39. Städtische Einkommensverteilung <strong>1920</strong> 21<br />

40. Unterste Einkommensschicht an der<br />

Baselstrasse 1891 (Erwerb Fr. 525) 22<br />

41. Berufe der Grossstadträte 1911 und <strong>1920</strong> 22<br />

42. Bezirksspezifische Ergebnisse der Grossratswahlen<br />

1919 und 1923 23<br />

43. Partei- und Zusatzstimmen bei den Nationalratswahlen<br />

vom 29.10.1922 23<br />

44. Bezirksspezifische Ergebnisse der Stadtratswahlen<br />

1919 und 1923 23<br />

45. Bezirksspezifische Resultate bei eidgenössischen, kantonalen<br />

und städtischen Abstimmungsvorlagen 1912-1924 (Auswahl) 24<br />

46. Abstimmungsergebnisse in der Stadt und in<br />

der Luzerner Landschaft 1912-1923 (Auswahl) 25<br />

47. Der Arbeiterunion angeschlossene Gewerkschaftsmitglieder<br />

und Sektionen 1901-1924 (per 31.12.) 26<br />

48. Innerstädtische Mitgliederverteilung des<br />

Volkshausvereins 1921 26<br />

49. Frequenzen des Quartierverkehrs 1890 26<br />

50. Lohnbewegungen der freien Metallarbeitergewerkschaft 1914-<strong>1920</strong> 27<br />

51. Streiks in Luzern 1882-1925 27<br />

52. Streiks 1916-1925 28<br />

53. Die Entwicklung der Lebenshaltungskosten auf dem Platz Luzern<br />

für eine fünfköpfige Arbeiterfamilie vom Juni 1914 bis Juni <strong>1920</strong> (in Fr.)<br />

28<br />

54. Steuerregister Untergrund 1891 29<br />

55. Steuerregister Untergrund 1910 38<br />

56. Steuerregister Untergrund <strong>1920</strong> 53<br />

57. Stadtplan 1840 71<br />

58. Martini-Plan 72<br />

59. Neue Siedlungsgebiete 1890 73<br />

60. Neubauten an der Baselstrasse 1838-1890 74<br />

61. Untergrund 1890 75<br />

62. Untergrund 1923 76<br />

63. Anteil Zensiten mit steuerbarem Erwerb<br />

über Fr. 2'500.- im Jahr 1908 77<br />

64. Anteil Zensiten mit steuerbarem Vermögen<br />

über Fr. 10'000.- im Jahr 1908 78<br />

65. Christlichsoziale Abstimmungspropaganda 79<br />

66. Schnepfengestell 81<br />

67. Haus "Zum Baslertor" 83<br />

68. Bahnübergang an der Baselstrasse 84<br />

111


PERSONENREGISTER<br />

Albisser Josef 32, 47, 52, 60, 82 Münzenberg, Willi 95<br />

Allgäuer-Haas, Josef 24, 30 Mussolini, Benito 22<br />

Altermatt Urs 89 Napoleon 84<br />

Ambühl 80 Nobs, Ernst 81<br />

Bächtold, Samuel 56 Oberholzer, Ernst 63ff.<br />

Bacilieri, Josef 22 Pietzcker, Hermann 14ff.,<br />

30<br />

Balabanoff, Angelika 74 Richli, Anna 75<br />

Beck, Josef 94 Rogger, Lorenz 95<br />

Bernaschina, Ernesto 85, 88 Sandi, Luigi 84<br />

Bielmann, Leonz 13, 29 Scherer, Roman 41<br />

Bleek, Stefan 24 Scherrer, Jacob 5, 82<br />

Bossard, Franz 73, 91 Schindler, Alfred 31ff., 88, 97<br />

Bremgartner, Josef 87 Schindler, Robert 12, 30ff.<br />

Bruggmann, Josef Anton 72 Schmid, Jacques 60, 67, 78<br />

Schneider, Friedrich 68<br />

Brunner, Hansruedi 4, 5, 40f., 43 Schüpbach, Werner 4<br />

Bühler, Ludwig 94 Spitteler, Carl 37<br />

Callegari, Giovanni 85 Sprecher, Theophil 63f.<br />

Cavalli 87 Stähli, P. 34ff.<br />

Conti, Giro 85 Steiner, Josef 60f., 65<br />

Décoppet, Camille 64 Ulbricht, Walter 68<br />

Ehrenberg, Johann 33, 85, 88 Ulrich, Klemenz 63ff., 79, 92<br />

End, Franz Josef 52 Volkart, Otto 65ff., 74, 78<br />

Fischer, Alois 24 von Reding, H. 41<br />

Füllemann, Wilhelm 53 von Segesser, Agnes 75<br />

Geishüssler, Josef 56, 82f. Waller, Mauritz 53<br />

Graf, Gottlieb 31, 61, 70 Walther, Heinrich 64, 89<br />

Grimm, Robert 68 Weibel, Josef 54<br />

Heeb, Friedrich 61 Welti, Franz 65<br />

Helbling, Josefine 74 Wick, Karl 75<br />

Herzog, Jakob (Joggi) 63 Wille, Ulrich 63f.<br />

Hochstrasser 29 Winkler, Josef 43<br />

Jung, Johann Baptist 90 Zimmerli, Hans 34ff., 64, 94<br />

Kay, John de 65 Zimmerli, Jakob 80<br />

Keller, Beat 77, 80<br />

Lehmann, Leopold 12, 49<br />

Leo XIII. 74, 90<br />

Lüthi, Heinrich 93<br />

Mandel, Moses 68<br />

Meier, Franz 78<br />

Meyenberg, Albert 76, 90, 94<br />

Meyer, Baptist 19, 53, 56<br />

Meyer, Josef 83<br />

Meyer, Xaver 12, 85<br />

Moos, Gottlieb 72, 74, 77<br />

Muheim, Anton 61<br />

Mühlebach 77<br />

112


INHALTSVERZEICHNIS<br />

1. Die Bevölkerung der Stadt Luzern <strong>1850</strong>-1941 3<br />

2. Die Wohnbevölkerung der Stadt Luzern 1900-1930 (jeweils per 31.12.) 3<br />

3. Bevölkerungswachstum des linken und des rechten Stadtteils<br />

1860-<strong>1920</strong> (in %) 3<br />

4. Bevölkerungsstrukturen in den Quartieren 1910 und <strong>1920</strong> 4<br />

5. Die ausländische Wohnbevölkerung in der Schweiz und im<br />

Kanton Luzern 1900-1941 4<br />

6. Die ausländische Wohnbevölkerung in der Stadt 1888-1930 5<br />

7. Anzahl Häuser in den Stadtbezirken 1890 5<br />

8. Wohnungspreise in der Stadt 1913 und <strong>1920</strong> 5<br />

9. Wohnstrukturen 1910 und <strong>1920</strong> 6<br />

10. Anzahl Wohnungen nach Preisklassen 1897 6<br />

11. Die Erwerbstätigkeit in der Stadt Luzern nach<br />

Wirtschaftssektoren 1888-<strong>1920</strong> 6<br />

12. Industriebetriebe und Beschäftigte im Kt. LU 1895-1929 7<br />

13. Städtische Erwerbsstruktur 1888 und 1910 (in %) 8<br />

14. Beschäftigte in den Fabriken des Kantons Luzern 1879-1944 8<br />

15. Branchenstruktur im Untergrund 1871-1921 9<br />

16. Erwerbsstruktur an der Bern- und Baselstrasse 1891 11<br />

17. Erwerbsstruktur im Hofquartier 1910 und <strong>1920</strong> (in %) 12<br />

18. Erwerbsstruktur an der Bern- und Baselstrasse 1910 und <strong>1920</strong> 12<br />

19. Soziale Struktur der Stadtbezirke 1944 14<br />

20. Überzeit-Arbeitsbewilligungen für Fabrikarbeit<br />

im Kanton Luzern 1914-1925 14<br />

21. Existenzminima bei den Steuertaxationen 1891-<strong>1920</strong> 15<br />

22. Städtische Erwerbssteuerpflichtige nach<br />

Erwerbsklassen 1904-<strong>1920</strong> 15<br />

23. Anzahl städtische Vermögen nach Grössenklassen 1899-<strong>1920</strong> 16<br />

24. Steuerkapital der Gemeindesteuer 1900 nach beiden Stadtteilen 16<br />

25. Bruttosteuerkapital für die Gemeindesteuer der<br />

Stadt Luzern 1910-<strong>1920</strong> 16<br />

26. Einkommensklassen 1910 (in %)<br />

17<br />

27. Einkommensstreuung 1910 im Hof, im Untergrund und in der Stadt 17<br />

28. Streuung hoher Einkommen und Vermögen 1908<br />

nach Bezirken 17<br />

29. Steuerpflichtige nach Vermögensklassen 1910 18<br />

30. Einkommensverteilung im Untergrund 1891 18<br />

31. Einkommensverteilung im Untergrund 1910 (ohne Sentimatt) 18<br />

32. Städtische Einkommensverteilung 1910 19<br />

33. Einkommensverteilung im Untergrund <strong>1920</strong> 19<br />

34. Vermögensverteilung im Untergrund 1891 19<br />

35. Vermögensverteilung im Untergrund 1910 20<br />

36. Vermögensverteilung im Untergrund <strong>1920</strong> 20<br />

37. Vermögensverteilung im Untergrund <strong>1920</strong> 20<br />

38. Städtische Vermögensverteilung <strong>1920</strong> 21<br />

39. Städtische Einkommensverteilung <strong>1920</strong> 21


40. Unterste Einkommensschicht an der<br />

Baselstrasse 1891 (Erwerb Fr. 525) 22<br />

41. Berufe der Grossstadträte 1911 und <strong>1920</strong> 22<br />

42. Bezirksspezifische Ergebnisse der Grossratswahlen<br />

1919 und 1923 23<br />

43. Partei- und Zusatzstimmen bei den Nationalratswahlen<br />

vom 29.10.1922 23<br />

44. Bezirksspezifische Ergebnisse der Stadtratswahlen<br />

1919 und 1923 23<br />

45. Bezirksspezifische Resultate bei eidgenössischen, kantonalen<br />

und städtischen Abstimmungsvorlagen 1912-1924 (Auswahl) 24<br />

46. Abstimmungsergebnisse in der Stadt und in<br />

der Luzerner Landschaft 1912-1923 (Auswahl) 25<br />

47. Der Arbeiterunion angeschlossene Gewerkschaftsmitglieder<br />

und Sektionen 1901-1924 (per 31.12.) 26<br />

48. Innerstädtische Mitgliederverteilung des<br />

Volkshausvereins 1921 26<br />

49. Frequenzen des Quartierverkehrs 1890 26<br />

50. Lohnbewegungen der freien Metallarbeitergewerkschaft 1914-<strong>1920</strong> 27<br />

51. Streiks in Luzern 1882-1925 27<br />

52. Streiks 1916-1925 28<br />

53. Die Entwicklung der Lebenshaltungskosten auf dem Platz Luzern<br />

für eine fünfköpfige Arbeiterfamilie vom Juni 1914 bis Juni <strong>1920</strong> (in Fr.)<br />

28<br />

54. Steuerregister Untergrund 1891 29<br />

55. Steuerregister Untergrund 1910 38<br />

56. Steuerregister Untergrund <strong>1920</strong> 53<br />

57. Stadtplan 1840 71<br />

58. Martini-Plan 72<br />

59. Neue Siedlungsgebiete 1890 73<br />

60. Neubauten an der Baselstrasse 1838-1890 74<br />

61. Untergrund 1890 75<br />

62. Untergrund 1923 76<br />

63. Anteil Zensiten mit steuerbarem Erwerb<br />

über Fr. 2'500.- im Jahr 1908 77<br />

64. Anteil Zensiten mit steuerbarem Vermögen<br />

über Fr. 10'000.- im Jahr 1908 78<br />

65. Christlichsoziale Abstimmungspropaganda 79<br />

66. Schnepfengestell 81<br />

67. Haus "Zum Baslertor" 83<br />

68. Bahnübergang an der Baselstrasse 84<br />

114


1. Die Bevölkerung der Stadt Luzern <strong>1850</strong>-1941:<br />

Quelle: EVZ.<br />

60000<br />

50000<br />

40000<br />

30000<br />

20000<br />

10000<br />

2. Die Wohnbevölkerung der Stadt Luzern 1900-1930 (jeweils per 31.12.)<br />

Quelle: Vber. StR 1900-1930.<br />

3. Bevölkerungswachstum des linken und des rechten Stadtteils 1860-<strong>1920</strong> (in Prozent)<br />

Quelle: EVZ (Gemeindezusammenzüge).<br />

0<br />

<strong>1850</strong> 1860 1870 1880 1888 1900 1910 <strong>1920</strong> 1930 1941<br />

1900: 29'255 1908: 37'456 1916: 41'696 1924: 44'086<br />

1901: 30'868 1909: 38'637 1917: 44'458 1925: 46'082<br />

1902: 31'423 1910: 39'339 1918: 44'958 1926: 45'653<br />

1903: 32'183 1911: 40'725 1919: 44'706 1927: 45'701<br />

1904: 33'401 1912: 41'523 <strong>1920</strong>: 44'029 1928: 46'570<br />

1905: 34'608 1913: 42'260 1921: 43'033 1929: 47'006<br />

1906: 35'612 1914: 41'813 1922: 42'999 1930: 47'066<br />

1907: 36'533 1915: 41'656 1923: 43'475<br />

80<br />

70<br />

60<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

0<br />

1860-<br />

1870<br />

1870-<br />

1888<br />

1888-<br />

1900<br />

1900-<br />

1910<br />

linkes Ufer<br />

rechtes Ufer<br />

1910-<br />

<strong>1920</strong><br />

115


4. Bevölkerungsstrukturen in den Quartieren 1910 und <strong>1920</strong><br />

Bezirk Quartierbevölkerung Männeranteil Ausländeranteil<br />

1910 <strong>1920</strong> 1910 <strong>1920</strong> 1910 <strong>1920</strong><br />

I 2'212 2'240 40.7 37.6 21.1 20.5<br />

II 3'872 2'651 48.6 44.7 23.9 17.4<br />

III 2'837 3'124 45.3 41.3 22.6 18.1<br />

IV 1'647 2'753 42.8 46.1 14.9 14.8<br />

V 4'175 2'981 46.0 44.3 15.4 12.9<br />

VI 1'996 2'826 41.9 46.3 15.8 9.3<br />

VII 9'790 3'868 48.4 49.5 15.1 21.1<br />

VIII 6'106 2'870 46.1 46.4 12.7 13.8<br />

IX 3'459 3'571 55.0 42.9 12.6 9.3<br />

X 3'928 2'634 53.3 42.0 33.2 14.8<br />

XI 2'167 47.3 12.7<br />

XII 3'500 47.6 9.7<br />

XIII 2'280 45.1 10.9<br />

XIV 2'099 47.2 6.5<br />

XV 2'555 46.1 11.9<br />

XVI 2'251 48.5 8.1<br />

Rechtes<br />

Ufer<br />

14'743 16'575 45.4 43.5 19.8 15.3<br />

Linkes<br />

Ufer<br />

25'279 27'795 49.0 46.3 17.0 12.3<br />

Total 40'022 44'370 47.7 45.3 18.1 13.4<br />

Quelle: EVZ (Gemeindezusammenzüge).<br />

5. Die ausländische Wohnbevölkerung in der Schweiz und im Kanton Luzern 1900-1941<br />

1900 1910 <strong>1920</strong> 1930 1941<br />

absolut in % absolut in % absolut in % absolut in % absolut in %<br />

Emmen 56 1.8 75 360 1.8 205 4.1 310 3.9 149 1.7<br />

Littau 242 6.5 280 1 6.5 278 6.4 303 6.0 148 2.8<br />

Kriens 351 5.9 422 1 5.9 530 7.3 509 6.8 375 4.3<br />

Horw 104 5.9 252 11.3 185 8.1 163 6.0 111 3.1<br />

Stadt<br />

Luzern<br />

4'114 14.1 7'046 17.9 5791 13.2 5'403 11.5 3'609 6.6<br />

Region<br />

Luzern<br />

4'867 10.8 8'075 13.8 7'159 11.1 6'688 9.2 4'392 5.2<br />

Übriger<br />

Kanton<br />

1'476 1.4 3'723 3.4 2'132 1.9 2'263 1.9 1'191 0.9<br />

Kanton<br />

Luzern<br />

6'343 4.3 11'798 7.0 9'291 5.3 8'951 4.7 5'583 2.7<br />

Schweiz 383'424 11.6 552'011 14.7 402'385 10.4 355'522 8.7 223'552 5.2<br />

Quellen: EVZ 1930 und 1941, S. 36 ff. Gubler (1952), S. 51.<br />

360 Schätzungen anhand des Verlaufs der allgemeinen Bevölkerungsbewegung.<br />

116


6. Die ausländische Wohnbevölkerung in der Stadt 1888-1930<br />

8000<br />

7000<br />

6000<br />

5000<br />

4000<br />

3000<br />

2000<br />

1000<br />

Quelle: EVZ 1910 und <strong>1920</strong>.<br />

7. Anzahl Häuser in den Stadtbezirken 1890<br />

I II III IV V VI VII VIII IX X Total<br />

173 148 149 182 179 120 161 151 106 110 1'479<br />

Quelle: Vber. StR. 1899, S. 53. Hier sind auch die Häuser ausserhalb des Stadtbaubezirks<br />

verzeichnet, deshalb die höhere Zahl als in Tab. 3 (Bd. 1, S. 17).<br />

8. Wohnungspreise in der Stadt 1913 und <strong>1920</strong><br />

0<br />

1888 1900 1910 <strong>1920</strong> 1930<br />

2 Zimmer 3 Zimmer 4 Zimmer<br />

ohne Mansarde mit Mansarde ohne Mansarde mit Mansarde ohne Mansarde mit Mansarde<br />

a b a b a b a b a b a b<br />

Anzahl Wohnungen 1913<br />

126 70 11 7 645 222 93 35 490 211 147 45<br />

Durchschnittlicher Jahresmietpreis 1913<br />

326 380 376 396 507 524 591 584 614 664 812 764<br />

Anzahl Wohnungen <strong>1920</strong><br />

984 80 78 7 2'919 253 357 43 1'884 242 490 53<br />

Durchschnittlicher Jahresmietpreis Ende <strong>1920</strong><br />

442 424 591 444 635 608 733 680 809 784 1'045 944<br />

Quellen: a: nach Wohnungsenquête <strong>1920</strong>, S. 8-11. b: nach Mietpreiserhebung Januar 1924,<br />

in: Sozialstatistische Mitteilungen 2/1924.<br />

117


9. Wohnstrukturen 1910 und <strong>1920</strong><br />

Quartier Bewohner pro Bewohner pro Haushaltung pro<br />

Haushaltung Wohnhaus Wohnhaus<br />

1910 <strong>1920</strong> 1910 <strong>1920</strong> 1910 <strong>1920</strong><br />

Hof<br />

Untergrund<br />

5.8 5.9 10.0 11.4 1.7 1.9<br />

und Bruch361 5.1 4.6 22.5 20.6 4.4 4.5<br />

Linkes Ufer 4.8 4.3 20.2 21.1 4.2 5.0<br />

Rechtes Ufer 4.8 4.6 14.6 15.0 3.1 3.3<br />

ganze Stadt 4.8 4.4 17.4 18.8 3.7 4.4<br />

Quelle: EVZ 1910 und <strong>1920</strong> (Gemeindezusammenzüge).<br />

10. Anzahl Wohnungen nach Preisklassen 1897:<br />

Preisklasse I II III IV V VI VII VIII IX X<br />

bis 200 11 57 38 25 20 8 14 40 24 64<br />

201-500 35 384 226 223 216 140 229 341 165 392<br />

501-800 44 178 189 93 161 135 242 111 71 74<br />

801-1'200 47 21 88 46 75 70 68 38 12 7<br />

1'201-<br />

1'500<br />

23 2 8 18 9 15 4 14 2 1<br />

über 1'500 39 1 16 7 17 21 3 11 3 1<br />

Quelle: Pietzcker (1898), S. 160.<br />

11. Die Erwerbstätigkeit in der Stadt Luzern nach Wirtschaftssektoren 1888-<strong>1920</strong><br />

1888 1900 1910 <strong>1920</strong><br />

absolut in % absolut in % absolut in % absolut in %<br />

1. Sektor 469 5.7 465 3.6 445 2.5 482 2.2<br />

2. Sektor 3'712 45.2 6'242 48 8'071 47.1 9'190 42.0<br />

3. Sektor 4'033 49.1 6'294 48.4 8'603 50.4 12'195 55.8<br />

Total 8'214 100 13'001 100 17'119 100 21'867 100<br />

Quellen: Huber (1986), S. 246. Schüpbach (1983), S. 23. Berechnungen anhand der<br />

Eidgenössischen Volkszählungen von <strong>1920</strong> und 1930.<br />

361 Die Bezirke IX und X von 1907 für 1910 und Bezirke VII und VIII von 1910 für <strong>1920</strong><br />

118


12. Industriebetriebe und Beschäftigte im Kt. LU 1895-1929<br />

Industriezweig 1895 1923 1929<br />

Baumwollindustrie<br />

Seiden-/Kunstseidenindustrie362<br />

Wollindustrie<br />

übrigeTextilindustrie<br />

Total Textilindustrie<br />

Betriebe<br />

9<br />

6<br />

3<br />

2<br />

20<br />

Vom<br />

Fabrikgesetz<br />

erfasste<br />

Arbeiter<br />

und<br />

Angestellte<br />

251<br />

889<br />

46<br />

42<br />

1'228<br />

Betriebe<br />

a)<br />

6<br />

2<br />

3<br />

3<br />

14<br />

Total<br />

291<br />

1'252<br />

95<br />

63<br />

1'701<br />

Vom Fabrikgesetz erfasste<br />

Arbeiter und Angestellte<br />

Männer<br />

109<br />

175<br />

33<br />

16<br />

333<br />

b)<br />

Frauen<br />

182<br />

1'077<br />

62<br />

47<br />

1'368<br />

Jugendliche<br />

unter 18<br />

Jahren<br />

männ weiblich<br />

lich<br />

30<br />

25<br />

7<br />

3<br />

65<br />

44<br />

216<br />

16<br />

20<br />

296<br />

Betriebe<br />

a)<br />

5<br />

5<br />

3<br />

1<br />

14<br />

119<br />

Vom Fabrikgesetz<br />

erfasste Arbeiter<br />

und Angestellte<br />

b)<br />

Total<br />

200<br />

3'847<br />

84<br />

33<br />

4'164<br />

Männe<br />

r<br />

Kleidung/Ausrüstung 2 48 35 855 196 659 22 139 37 917 238 679<br />

Nahrungs-/Genussmittel 33 597 22 657 426 231 22 28 23 758 479 279<br />

Chemische Industrie 2 20 10 2'197 1'167 1'030 30 328 9 178 144 34<br />

Kraft/Gas/Wasser 2 52 4 92 92 - 1 - 5 69 68 1<br />

Papier/Leder/Kautschuk 6 282 4 412 361 51 25 23 9 600 503 97<br />

Graphische Industrie 9 260 15 395 335 60 44 18 18 601 488 113<br />

Holzbearbeitung 17 290 34 606 605 1 53 - 43 929 924 5<br />

Herstellung von Metallen 12 615 24 1'332 1'199 133 135 34 22 1'596 1'459 137<br />

Maschinen, Apparate,<br />

Instrumente<br />

9<br />

611<br />

24<br />

1'312<br />

Uhrenindustrie, Bijouterie<br />

Industrie der Steine<br />

1 11 2 38 25 13 6 4 3 57 37 20<br />

und Erden<br />

8 309 10 396 382 14 39 1 10 437 423 14<br />

Total 121 4'323 198 9'993 6'385 3'608 587 880 225 12'213 8'136 4'077<br />

Quellen: Statistische Quellenwerke der Schweiz, Nr. 3: Eidgenössische Betriebszählung<br />

1929, Heft 1: Fabrikstatistik, S. 32-37.<br />

362 Die Kunstseidenindustrie wurde bis 1923 im Industriezweig "Chemische Industrie" verzeichnet.<br />

Schweizerische Fabrikstatistik 1929, S. 4.<br />

1'264<br />

48<br />

145<br />

9<br />

32<br />

1'907<br />

71<br />

1'495<br />

28<br />

11<br />

1'605<br />

1'768<br />

Fraue<br />

n<br />

129<br />

2'352<br />

56<br />

22<br />

2'559<br />

139


13. Städtische Erwerbsstruktur 1888 und 1910 (in %):<br />

50<br />

45<br />

40<br />

35<br />

30<br />

25<br />

20<br />

15<br />

10<br />

Quelle: Huber (1986), S. 246 und 249.<br />

5<br />

0<br />

A: Gewinnung der Naturerzeugnisse<br />

B: Veredelung der Natur- und Arbeitserzeugnisse<br />

C: Handel<br />

D: Verkehrswesen<br />

E: Allgemeine öffentliche Verwaltung, Rechtspflege, Wissenschaft, Künste<br />

F: Nicht genau bestimmbare Berufe<br />

14. Beschäftigte in den Fabriken des Kt. LU 1879-1944<br />

absolut<br />

Zunahme<br />

in %<br />

Frauenanteil in<br />

%<br />

120<br />

1879 1885 1889 1895 1901 1911 1923 1929 1937 1944<br />

1'654<br />

44.0<br />

2'388<br />

44.4<br />

46.0<br />

2'788<br />

16.8<br />

40.0<br />

4'323<br />

55.1<br />

31.2<br />

5'160<br />

19.4<br />

25.6<br />

8'175<br />

58.4<br />

28.2<br />

9'993<br />

22.2<br />

36.1<br />

12'213<br />

22.2<br />

33.4<br />

9'503<br />

- 22.2<br />

Quellen: Jäger (1986), S. 62. Lorenz (1910), S. 9. Eidgenössische Fabrikstatistik 1944, S.170.<br />

1888<br />

1910<br />

A B C D E F<br />

31.6<br />

13'023<br />

37.0<br />

24.7


16. Erwerbsstruktur an der Bern- und Baselstrasse 1891<br />

Quelle: Steuerregister 1891.<br />

Schreiner 23<br />

Orgelschreiner/-bauer 14<br />

Schmiede 11<br />

Schneider 15<br />

Mechaniker 6<br />

Schlosser/Sattler 4<br />

Schriftsetzer 7<br />

Maurer 10<br />

Schuhmacher 9<br />

Zimmerleute 8<br />

Gipser 5<br />

Heizer 4<br />

Steinhauer/-brecher 8<br />

Diamantschleifer 7<br />

Uhrmacher 3<br />

Bäcker/Metzger/Confiseure 7<br />

Magaziner 10<br />

Bauamtsarbeiter 15<br />

Zeughausarbeiter 9<br />

Arbeiter 5<br />

Taglöhner 18<br />

übrige 2. Sektor 33<br />

Kutscher, Karrer, Fuhrhalter 9<br />

Bahnarbeiter 13<br />

Verkehr 5<br />

Bahnangestellte/-beamte 3<br />

Reisende, Hausierer, Bediente 7<br />

liberale, akademische Berufe 16<br />

Lehrer 6<br />

Beamte 6<br />

Bauführer, Baumeister und<br />

6<br />

Baunternehmer<br />

Postangestellte 4<br />

Polizei, Militär 7<br />

Wirte 13<br />

Privat 29<br />

Kommis 10<br />

Aufseher 10<br />

übrige 3. Sektor 25<br />

Händler, Negotianten,<br />

45 (davon 10<br />

Fabrikanten<br />

Spezereihändler)<br />

Total 445<br />

121


17. Erwerbsstruktur im Hofquartier 1910 und <strong>1920</strong> (in Prozent):<br />

Erwerbsklasse Hof 1910 Hof <strong>1920</strong><br />

Landwirtschaft<br />

Handwerk/Gewerbe/<br />

11 9<br />

Fabrikindustrie<br />

Hauswirtschaft/Gast-<br />

9 6<br />

gewerbe<br />

6 29<br />

Verkehr 8 4<br />

Handel, Verwaltung,<br />

Banken,<br />

Versicherungen etc.<br />

Datenbasis der Auszählung:<br />

Hof 1910: 478 der 486 ausgewiesenen natürlichen Zensiten. Das speziell verzeichnete<br />

Hotelpersonal ist nicht berücksichtigt.<br />

Hof <strong>1920</strong>: 927 der 968 natürlichen Zensiten. Die Nachträge, in denen die meisten<br />

Hotelangestellten verzeichnet sind, sind nicht berücksichtigt. Der massive Anstieg von 6%<br />

auf 29% im Hof in der Erwerbsklasse Hauswirtschaft/Gastgewerbe resultiert daraus, dass<br />

<strong>1920</strong> die Dienstboten (v.a. Frauen) im Gegensatz zu 1910 in den Steuerregistern verzeichnet<br />

sind.<br />

18. Erwerbsstruktur an der Bern- und Baselstrasse 1910 und <strong>1920</strong> (in Prozent):<br />

26<br />

Quelle: Steuerregister der Stadt Luzern. Datenbasis der Auszählung:<br />

Basel- und Bernstrasse 1910: 578 der 636 natürlichen Zensiten.<br />

Basel- und Bernstrasse <strong>1920</strong>: 902 der 959 natürlichen Zensiten.<br />

Eine feinere Aufschlüsselung nach einzelnen Berufen findet sich auf der nächsten Seite.<br />

19<br />

liberale Berufe 19 14<br />

Private 21 19<br />

Erwerbsklasse Baselstrasse Baselstrasse Bernstrasse Bernstrasse<br />

1910 <strong>1920</strong> 1910 <strong>1920</strong><br />

Landwirtschaft<br />

Handwerk/Gewerbe/<br />

- - - -<br />

Fabrikindustrie<br />

Hauswirtschaft/Gast-<br />

61 72 78 80<br />

gewerbe<br />

6<br />

4<br />

1<br />

3<br />

Verkehr<br />

Handel, Verwaltung,<br />

11 5 9 4<br />

Banken,<br />

Versicherungen etc.<br />

16 15<br />

9<br />

9<br />

liberale Berufe 1 1.5 - -<br />

Private 5 2.5 3 4<br />

122


19. Soziale Struktur der Stadtbezirke 1944<br />

I II III IV V VI VII VIII IX X XI XII XIII XIV XV XVI<br />

E 2'834 3'954 3'476 4'011 3'080 4'014 3'266 3'109 3'668 2'922 4'332 3'054 3'503 4'402 2'514 4'328<br />

F 512 68 24 59 16 145 24 90 45 13 12 8 102 54 24 219<br />

H/T 800 1'100 1'000 1'300 900 1'100 800 900 1'200 700 1'300 1'000 1'000 1'300 700 1'300<br />

F/U 400 200 200 100 100 100 100 200 200 200 100 200 100 100 100<br />

R/P 300 300 200 200 100 100 100 200 200 200 200 200 300 200 200 100<br />

I/H 200 600 700 700 600 600 1'100 800 700 500 900 600 400 700 500 700<br />

H/B/<br />

V<br />

200 400 300 400 300 400 200 300 400 300 600 300 300 400 300 400<br />

G 100 200 200 100 300 100 300 100 100 100 300 100<br />

U 100 100<br />

öV 100 200 100 200 100 500 100 100 100 100 100 200 200 100 100<br />

S 100 200 100 100 100 100 100 100 100 100 100 100<br />

V 100 100 100 100 100 100 100 300 100 300 100 300<br />

K 500 800 700 1'000 500 1'000 1'000 700 700 600 800 500 700 1'100 400 1'200<br />

Quelle: TADL 860 (STARL).<br />

E: Einwohner H/B/V: Handel, Bank-, Versicherungswesen<br />

F: Fläche in ha G: Gastgewerbe<br />

H/T: Hauswirtschaft/Taglöhnerei U: Urproduktion<br />

F/U: freie Berufe/übrige öV: öffentliche Verwaltungen<br />

R/P: Rentner/Pensionierte S: Studenten/höhere Schüler<br />

I/H: Industrie/Handwerk V: Verkehr K: Kinder<br />

20. Überzeit-Arbeitsbewilligungen für Fabrikarbeit im Kanton Luzern 1914-1925<br />

123


Jahre Anzahl Bewilligungen davon betroffene Arbeiter/innen<br />

1914: 525<br />

1914/1915<br />

131<br />

1915: 1'504<br />

1916: 3'325<br />

1916/1917<br />

213<br />

1917: 6'871<br />

1918 86 1918: 2'041<br />

1919 50 1919: 664<br />

<strong>1920</strong> 138 <strong>1920</strong>: 2'630<br />

1921 115 1921: 4'728<br />

1922 107 1922: 4'282<br />

1923 281 1923: 17'252<br />

1924 207 1924: 5'435<br />

1925 163 1925: 6'391<br />

Quelle: Staatsverwaltungsberichte des Kantons Luzern.<br />

124


21. Existenzminima bei den Steuertaxationen 1891-<strong>1920</strong><br />

Taxation 1891 (gemäss Steuergesetz von 1867)<br />

a) Abzüge vom Erwerb: Knechte, Mägde, Handwerksgesellen mit Kost und Logis bei den<br />

Meisterleuten und Lohn bis und mit Fr. 300.- sind steuerfrei. Die übrigen Erwerbstätigen sind<br />

bis und mit Fr. 500.- Einkommen steuerfrei.<br />

b) Abzüge vom Vermögen: steuerfreies Vermögen Lediger und von Familien bis Fr. 1'000.-,<br />

von Witwen und elternlosen Kindern bis Fr. 1'500.-.<br />

Taxation 1910 (gemäss Steuergesetz von 1892)<br />

a) Abzüge vom Erwerb: Fr. 500.- steuerfrei für Ledige bei Einkommen bis Fr. 1'800.-, Fr.<br />

800.- für Familien. Bei Einkommen ab Fr. 1'800.- setzt eine gestaffelte Degression ein.<br />

b) Abzüge vom Vermögen: steuerfreies Vermögen bis Fr. 1'000.- für Ledige, bis Fr. 2'000.-<br />

für Verheiratete. 20% des Vermögens Erwerbsunfähiger und Bevormundeter bei Vermögen<br />

bis Fr. 6000.- sind steuerfrei.<br />

- Abzüge sind nur in einer Steuerkategorie möglich mit Priorität auf dem Erwerb.<br />

Taxation <strong>1920</strong> (gemäss Steuergesetznovelle von 1919)<br />

a) Abzüge vom Erwerb: Beiträge an Krankenkassen bis Fr. 300.-. Fr. 800.- für Ledige bei<br />

Einkommen bis Fr. 1'800.-, Fr. 1'400.- für Verheiratete bei Einkommen bis Fr. 2'800.-. Bei<br />

höheren Einkommen gestaffelte Degression. Zusätzlicher Abzug pro Kind unter 16 Jahren<br />

von Fr. 300 - Für unselbständig Erwerbende Abzug von 10% bei Einkommen bis Fr. 6'000.-,<br />

sofern der Erwerb eindeutig feststellbar ist. Teuerungszulagen werden nach Ermessen nicht in<br />

Anrechnung gebracht.<br />

b) Abzüge vom Vermögen: Steuerfreies Hausmobiliar bis Fr. 2'000.- für Familien und Ledige.<br />

Übriges Vermögen steuerfrei bis Fr. 1'000.- für Ledige, bis Fr. 3'000.- für Familien. Für<br />

Erwerbsunfähige steuerfreies Vermögen bis Fr. 2'000.-, danach bis Fr. 20'000.- 50%<br />

Ermässigung.<br />

22. Städtische Erwerbssteuerpflichtige nach Erwerbsklassen 1904-<strong>1920</strong><br />

Erwerb<br />

in<br />

Franken<br />

1904<br />

1910<br />

1916<br />

1918<br />

<strong>1920</strong><br />

Anzahl Anteil Anzahl Anteil Anzahl Anteil Anzahl Anteil Anzahl Anteil<br />

Zensiten<br />

Zensiten<br />

Zensiten<br />

Zensiten<br />

Zensiten<br />

bis<br />

2'000<br />

6'095 80.6 6'300 77.5 7'522 79.4 7'435 74.3 8'465 57.8<br />

2001-<br />

5'000<br />

1'129 14.9 1'407 17.3 1'586 16.7 1'856 18.6 4'268 29.1<br />

5'001-<br />

10'000<br />

244 3.2 303 3.7 291 3.1 543 5.4 1'524 10.4<br />

über<br />

10'000<br />

90 1.2 114 1.4 78 0.8 170 1.7 396 2.7<br />

Total 7'558 100 8'124 100 9'477 100 10'004 100 14'653 100<br />

Quellen: Rölli (<strong>1920</strong>), S. 42/43. Vber. StR. 1919/20, S. 54.<br />

125


23. Anzahl städtische Vermögen nach Grössenklassen 1899-<strong>1920</strong><br />

Betrag in Franken 1899 1904 1910 1916 1918 <strong>1920</strong><br />

bis 10'000 2'240 2'368 2'871 2'954 2'924 3'175<br />

10'001-50'000 956 1'251 1'371 1'518 1'755 1'865<br />

50'001-100'000 286 326 379 452 497 596<br />

100'001-200'000 85 174 235 246 247 336<br />

200'001-300'000 24 52 72 67 76 91<br />

300'001-500'000 33 42 67 57 57 65<br />

500'001-1 Mio. 18 25 40 38 41 48<br />

über 1 Mio. 4 4 8 7 9 12<br />

Quellen: Rölli (<strong>1920</strong>), S. 32, Vber. StR. 1919/20, S. 54.<br />

24. Steuerkapital der Gemeindesteuer 1900 nach beiden Stadtteilen<br />

Quelle: Vber. StR. 1900, S. 90.<br />

25. Bruttosteuerkapital für die Gemeindesteuer der Stadt Luzern 1910-<strong>1920</strong><br />

Jahr Kataster (ein Fünftel der<br />

Katasterschatzung)<br />

Erwerbssteuerkapital<br />

Gesamtvermögen<br />

126<br />

Totalsteuerkapital<br />

Betrag Zunahme Betrag Zunahme Betrag Zunahme Betrag Zunahme<br />

in %<br />

in %<br />

in %<br />

in %<br />

1910 40'707'180 91'763'860 188'244'850 320'715'890<br />

1912 44'420'510 9.1 98'522'550 7.4 193'808'700 2.9 336'751'760 5.0<br />

1914 46'758'284 5.3 109'353'350 11.0 204'536'950 5.5 360'648'584 7.1<br />

1916 47'269'124 1.1 90'614'950 - 17.0 195'188'450 - 4.6 333'072'524 - 7.6<br />

1918 48'084'624 1.7 132'170'550 45.8 208'979'775 7.1 389'234'949 16.9<br />

<strong>1920</strong> 49'743'361 3.4 253'894'350 92.1 252'426'182 20.8 556'063'900 42.8<br />

Quelle: Vber. StR. 1919/20.<br />

Grossstadt Kleinstadt<br />

Kataster (ein Fünftel der<br />

Schatzung)<br />

12'160'718 9'247'784<br />

Erwerbssteuerkapital 27'427'450 24'310'100<br />

Liegendes Vermögen 14'444'687 7'657'775<br />

Fahrendes Vermögen 56'213'585 38'103'335<br />

Gesamtvermögen 70'658'272 45'761'110<br />

Totalsteuerkapital 110'246'440 79'318'994


26. Einkommensklassen 1910 (in %)<br />

Quellen: Rölli (<strong>1920</strong>). Steuerregister 1910.<br />

27. Einkommensstreuung 1910 im Hof, im Untergrund und in der Stadt<br />

Quellen: Rölli (<strong>1920</strong>). Steuerregister.<br />

28. Streuung hoher Einkommen und Vermögen 1908 nach Bezirken<br />

Bezirke<br />

gemäss<br />

Quartiereinteilung<br />

1890<br />

Untergrund Hof Stadt 1910 Stadt <strong>1920</strong><br />

bis 2'000 96.3 71.4 77.6 57.8<br />

2'001-5'000 2.8 19.1 17.3 29.1<br />

5'001-10'000 0.9 7.4 3.7 10.4<br />

über 10'000 2.1 1.4 2.7<br />

total 100 100 100 100<br />

Einkommensklassen Anzahl Prozent Summe Prozent<br />

Untergrund<br />

Zensiten<br />

(Fr.)<br />

bis 2'000 624 96.3 281'350 75.4<br />

2'001-5'000 18 2.8 51'930 13.9<br />

5'001-10'000 6 0.9 39'700 10.7<br />

Total<br />

Stadt<br />

648 372'980<br />

bis 2'000 6'300 77.5 31.7<br />

2'001-5'000 1'407 17.3 30.8<br />

5'001-10'000 303 3.7 14.7<br />

über 10'000<br />

Hof<br />

114 1.4 22.8<br />

bis 2'000 374 71.4<br />

2'001-5'000 100 19.1<br />

5'001-10'000 39 7.4<br />

über 10'000 11 2.1<br />

Anzahl Vermögen von Fr.<br />

10'000.- und mehr<br />

In % der Anzahl<br />

Haushalte von<br />

1910<br />

Anzahl Einkommen<br />

von Fr. 2'500.- und<br />

mehr<br />

127<br />

In % der Anzahl<br />

Haushalte von<br />

1910<br />

I 232 59 119 30.2<br />

II 106 11.7 94 10.4<br />

III 216 34.3 141 22.4<br />

IV 139 35.4 95 24.2<br />

V 226 26.6 146 17.2<br />

VI 180 44.7 113 28<br />

VII 320 14.7 247 11.3<br />

VIII 332 22.9 181 12.5<br />

IX 102 14.9 53 7.7


X 40 5.2 20 2.6<br />

Quellen: Auszug aus dem städtischen Steuerregister 1908. EVZ <strong>1920</strong>.<br />

29. Steuerpflichtige nach Vermögensklassen 1910<br />

Vermögensklassen<br />

(Fr.)<br />

Stadt total Untergrund Hof<br />

Anzahl Prozent Anzahl Prozent Anzahl Prozent<br />

bis 10'000 2'871 56.9 106 74.6 139 41.0<br />

10'001-50'000 1'371 27.2 30 21.1 109 32.1<br />

50'001-100'000 379 7.5 2 1.4 39 11.5<br />

100'001-200'000 235 4.7 3 2.1 23 6.8<br />

200'001-300'000 72 1.4 1 0.7 10 3.0<br />

300'001-500'000 67 1.3 - - 13 3.8<br />

500'001-1 Mio. 40 0.8 - - 5 1.5<br />

über 1 Mio. 8 0.2 - - 1 0.3<br />

Total 5'043 100 142 100 339 100<br />

Quellen: Steuerbüchlein. Rölli (<strong>1920</strong>), S. 32. Der Anteil Vermögenssteuerpflichtiger an allen<br />

Zensiten lag im Untergrund am tiefsten (22.2%; Hof: 69.7%; ganze Stadt: 43.3%).<br />

30. Einkommensverteilung im Untergrund 1891<br />

Anteil am<br />

Einkommen<br />

in %<br />

100<br />

90<br />

80<br />

70<br />

60<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

26.3<br />

36.9<br />

46.3<br />

60.1<br />

0<br />

0 20 40 60 80 100<br />

Erwerbssteuerpflichtige in %<br />

100<br />

82.6<br />

128


31 Einkommensverteilung im Untergrund 1910 (ohne Sentimatt)<br />

Anteil am<br />

Einkommen<br />

in %<br />

100<br />

32. Städtische Einkommensverteilung 1910<br />

90<br />

80<br />

70<br />

60<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

Anteil am<br />

Erwerb in %<br />

Quelle: Rölli (<strong>1920</strong>), S. 42/43.<br />

0<br />

0 20 40 60 80 100<br />

Erwerbssteuerpflichtige in %<br />

33. Einkommensverteilung im Untergrund <strong>1920</strong><br />

Anteil am<br />

Einkommen<br />

in %<br />

100<br />

90<br />

80<br />

70<br />

60<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

0<br />

100<br />

90<br />

80<br />

70<br />

60<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

0<br />

8<br />

19.2<br />

30.2<br />

38.9<br />

49.4<br />

75.1<br />

65.3<br />

57.7<br />

100<br />

89.2<br />

31.7<br />

0 20 40 60 80 100<br />

Anteil Erwerbssteuerpflichtiger in %<br />

1.7<br />

5<br />

10.2<br />

18.5<br />

29.2<br />

Erwerbssteuerpflichtige in %<br />

100<br />

77.2<br />

62.5<br />

0 20 40 60 80 100<br />

41<br />

56.1<br />

76.6<br />

100<br />

129


34. Vermögensverteilung im Untergrund 1891<br />

Anteil am<br />

Vermögen in<br />

%<br />

35. Vermögensverteilung im Untergrund 1910<br />

Anteil am<br />

Vermögen in<br />

%<br />

36. Vermögensverteilung im Untergrund <strong>1920</strong><br />

Anteil am<br />

Vermögen in<br />

%<br />

100<br />

90<br />

80<br />

70<br />

60<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

22 25.7<br />

54.2<br />

41.9<br />

10<br />

0<br />

2.3<br />

0 20 40 60 80 100<br />

Vermögenssteuerpflichtige in %<br />

3.7<br />

8.2 11.214.3<br />

100<br />

90<br />

80<br />

70<br />

60<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

0<br />

100<br />

90<br />

80<br />

70<br />

60<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

0<br />

3.7<br />

7.9<br />

12.4 16.7<br />

22.2<br />

0 20 40 60 80 100<br />

Vermögenssteuerpflichtige in %<br />

2.6<br />

6.6<br />

16.4 20.4<br />

27.9<br />

Vermögenssteuerpflichtige in %<br />

35.7<br />

31.1<br />

49<br />

41.6<br />

57.7<br />

100<br />

100<br />

0 20 40 60 80 100<br />

100<br />

81.7<br />

68.8<br />

130


37. Vermögensverteilung im Untergrund <strong>1920</strong><br />

Quelle: Steuerregister.<br />

38. Städtische Vermögensverteilung <strong>1920</strong><br />

Anteil am<br />

Vermögen in<br />

%<br />

100<br />

90<br />

80<br />

70<br />

60<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

24.7<br />

42.9<br />

33.5<br />

74.3<br />

54.1<br />

10<br />

0<br />

2.7<br />

6<br />

11.3<br />

0 20 40 60 80 100<br />

Vermögenssteuerpflichtige in %<br />

16.120.8<br />

39. Städtische Einkommensverteilung <strong>1920</strong><br />

Anteil am<br />

Erwerb in %<br />

Betrag Zensiten Summe Zensiten Summe Zensiten Summe<br />

1891 1891 1910 1910 <strong>1920</strong> <strong>1920</strong><br />

bis 2'000 38 58'500 45 70'400 21 37'700<br />

2'001-4'000 11 37'000 23 80'000 18 56'500<br />

4'001-6'000 22 115'000 17 85'500 26 139'100<br />

6'001-8'000 10 77'500 11 81'200 8 57'600<br />

8'001-10'000 8 78'500 11 103'800 11 106'200<br />

10'001-15'000 14 198'000 13 167'800 15 195'700<br />

15'001-20'000 5 95'000 5 86'900 6 106'000<br />

20'001-50'000 14 418'000 13 416'200 9 282'300<br />

50'001-100'000 4 316'000 2 113'000 3 184'000<br />

über 100'000 4 1'180'000 4 684'000 2 261'000<br />

Total 130 2'573'500 144 1'888'800 119 1'426'100<br />

100<br />

90<br />

80<br />

70<br />

86.96<br />

80.26<br />

70.06<br />

60<br />

57.56<br />

50<br />

51.06<br />

40<br />

43.36<br />

36.96<br />

30<br />

31.16<br />

20<br />

24.46<br />

18.56<br />

10<br />

12.06<br />

0 0.5 1.46<br />

5.06<br />

0 20 40 60 80 100<br />

Erwerbssteuerpflichtige in %<br />

100<br />

100<br />

131


Quellen: Städtische Steuerregister. Für die städtische Vermögens- und Einkommensverteilung<br />

<strong>1920</strong>: Vber. StR. 1919/20, S. 54.<br />

Definition Untergrund: Baselstrasse, Bernstrasse, Reussinsel, Sagenmattstrasse.<br />

40. Unterste Einkommensschicht an der Baselstrasse 1891 (Erwerb Fr. 525)<br />

Taglöhner 13 Magaziner 6<br />

Bauamtsarbeiter 12 Diamantschleifer 5<br />

Schreiner 10 Steinbrecher 5<br />

Strafhausaufseher 10 Schneider 7<br />

Bahnarbeiter 9 Schuster 5<br />

Schmiede 9 Maurer 4<br />

Zeughausarbeiter 6 Zimmermänner 3<br />

Quelle: Steuerregister 1891. Nur die Berufe mit drei Nennungen und mehr sind hier<br />

verzeichnet. Sie decken 104 der total 147 mit Minimalerwerb an der Baselstrasse ab.<br />

41. Berufe der Grossstadträte 1911 und <strong>1920</strong><br />

Quellen: Brunner (1981), S. 74. Vber. StR. <strong>1920</strong>.<br />

1911 <strong>1920</strong><br />

Juristen 14 7<br />

Ärzte 3 1<br />

Hoteliers/Wirte 5 1<br />

Prof./Lehrer - 2<br />

Handel, Bankiers 6 10<br />

Handwerk, Gewerbe 10 11<br />

Bahn, Post, Schiff 8 13<br />

Architekten, Ingenieure 5 5<br />

Angestellte, Beamte 4 8<br />

Rentner 1 -<br />

Landwirt 1 1<br />

Verschiedene 3 1<br />

132


42. Bezirksspezifische Ergebnisse der Grossratswahlen 1919 und 1923<br />

Wahl- konservativ und liberal sozialistisch Grütlianer Stimmbeteiligung<br />

bezirk christlichsozial<br />

1919 1923 1919 1923 1919 1923 1919 1923 1919 1923<br />

I 43.6 45.8 42.1 40.7 8.0 8.7 6.3 4.8 74.6 70.3<br />

II 17.3 22.5 55.3 45.9 18.4 22.9 9.0 8.7 72.5 74.4<br />

III 27.5 29.1 42.1 40.5 23.0 21.3 7.4 9.1 75.9 73.4<br />

IV 20.6 19.7 35.4 34.3 38.0 39.5 6.0 6.5 75.2 74.1<br />

V 28.4 29.1 45.5 47.0 16.2 16.3 9.9 7.6 77.6 76.6<br />

VI 21.5 21.4 35.9 33.8 30.4 34.5 12.2 10.3 77.7 75.4<br />

VII 21.0 19.4 37.4 36.1 31.6 32.6 10.0 11.9 81.5 79.4<br />

VIII 16.1 17.8 33.5 39.8 39.3 31.6 11.1 10.8 73.8 74.9<br />

Total 24.3 25.3 41.0 39.9 25.6 26.1 9.1 8.7 76.1 74.9<br />

Quelle: Protokolle der Verhandlungen der Einwohnergemeinde Luzern.<br />

43. Partei- und Zusatzstimmen bei den Nationalratswahlen vom 29.10.1922<br />

Wahlbezirk<br />

konservativ<br />

liberal<br />

sozialistisch<br />

christlichsozial<br />

kommunistisch<br />

unabhängige<br />

freie Wählervereinigung<br />

133<br />

Stimmbeteiligung<br />

P Z P Z P Z P Z P Z P Z<br />

I 34.6 33.5 40.4 3.3 12.6 3.0 7.5 18.5 0.3 44.4 4.6 13.7 67.1<br />

II 15.7 34.5 44.4 4.6 24.9 1.8 5.9 19.7 1.9 31.7 7.2 14.3 71.7<br />

III 20.6 33.0 40.0 4.7 25.1 3.5 6.7 19.2 0.6 30.2 7.0 14.8 73.9<br />

IV 13.9 35.2 28.6 4.7 43.2 1.5 5.6 20.3 2.6 33.2 6.1 14.8 71.9<br />

V 20.5 35.9 45.3 6.1 20.1 6.5 5.6 20.5 1.4 30.7 7.1 14.6 78.4<br />

VI 13.5 32.7 32.2 4.2 36.7 2.9 7.6 21.8 1.1 14.4 8.9 15.5 74.5<br />

VII 15.6 32.7 36.9 4.7 35.9 3.7 5.0 18.2 0.7 28.6 5.9 17.6 77.8<br />

VIII 10.0 33.0 38.2 5.3 39.4 3.9 4.9 24.1 0.7 29.6 6.8 12.5 74.0<br />

Total 17.7 33.9 38.3 4.8 29.9 3.2 6.1 20.3 1.2 32.2 6.8 14.8 73.8<br />

P: Parteistimmen Z: Anteil Zusatzstimmen an Parteistimmen<br />

Quelle: Protokolle der Verhandlungen der Einwohnergemeinde Luzern.<br />

44. Bezirksspezifische Ergebnisse der Stadtratswahlen 1919 und 1923<br />

Wahl- konservativ liberal sozialistisch Grütlianer kommuniStimmbeteibezirkstischligung 1919 1923 1919 1923 1919 1923 1919 1923 1923 1919 1923<br />

I 40.9 44.3 43.4 42.1 11.0 9.5 4.7 3.8 0.3 77.0 67.6<br />

II 16.1 18.5 53.7 51.8 23.0 21.3 7.2 6.9 1.5 77.4 70.6<br />

III 24.8 26.3 41.2 42.8 25.7 22.3 8.3 8.2 0.4 78.0 75.0<br />

IV 18.4 18.1 32.2 36.5 42.4 36.5 7.0 6.2 2.7 76.3 75.3<br />

V 26.4 24.8 44.4 49.3 20.1 17.5 9.1 7.8 0.6 76.7 76.1<br />

VI 20.2 17.8 35.6 36.1 34.4 33.7 9.8 10.7 1.7 75.5 71.6<br />

VII 18.4 17.8 38.7 39.8 35.5 33.7 7.4 8.1 0.6 79.9 80.8<br />

VIII 13.4 14.7 36.0 40.5 42.2 35.9 8.4 7.7 1.2 77.0 70.2<br />

Total 22.1 22.3 40.7 42.4 29.3 26.6 7.9 7.6 1.1 77.2 73.5<br />

Quelle: Protokolle der Verhandlungen der Einwohnergemeinde Luzern.


45. Bezirksspezifische Resultate bei eidgenössischen, kantonalen und städtischen<br />

Abstimmungsvorlagen (Auswahl)<br />

Vorlage Art der<br />

Abstimmung<br />

Datum der<br />

Abstimmung<br />

Wahlbezirk mit<br />

tiefster Stimmbeteiligung<br />

in %<br />

Wahlbezirk mit<br />

höchster Stimmbeteiligung<br />

in %<br />

Wahlbezirk mit<br />

tiefstem<br />

Jastimmen-<br />

Anteil in %<br />

134<br />

Wahlbezirk mit<br />

höchstem<br />

Jastimmen-<br />

Anteil in %<br />

Kranken- und Unfallversicherung<br />

E 4.2.1912 VIII: 58.6 V: 69.3 III: 83.8 VIII: 92.4<br />

Öffentliche Ruhetage K 1.3.1914 VIII: 51.9 V: 65.6 IV: 53.6 I: 65.6<br />

Revision Art. 103<br />

Bundesverfassung<br />

E 25.10.1914 VI: 15.0 III: 27.0 IV: 86.5 VI: 93.9<br />

Steuergesetzinitiative (SP) K 20.12.1914 II: 38.3 VII: 51.2 I: 16.4 VIII: 50.0<br />

Steuergesetzinitiative (LP) K 20.12.1914 II: 38.3 VII: 51.2 VII: 29.7 II: 46.9<br />

Einmalige Kriegssteuer E 6.6.1915 VIII: 43.7 V: 53.7 IV: 98.3 II: 99.4<br />

Stadtratsproporz (SP-<br />

Initiative<br />

S 20.1.1918 IV: 56.3 VII: 64.3 II: 80.7 VIII: 90.0<br />

Eidgenössische<br />

Kriegssteuer<br />

E 4.5.1919 IV: 41.3 V: 50.5<br />

Ordnung des Arbeitsverhältnisses<br />

E 21.3.<strong>1920</strong> IV: 42.1 VIII: 55.9 I: 53.2 VIII: 78.0<br />

Aufhebung der<br />

Militärjustiz<br />

E 30.1.1921 IV: 41.3 V: 53.6 I: 18.3 IV: 48.5<br />

- AHV-Initiative<br />

(Grütlianer)<br />

K 6.3.1921 IV: 30.6 II: 40.0 V: 4.9 III: 14.9<br />

- Gegenvorschlag des<br />

Grossen Rates<br />

K 6.3.1921 IV: 30.6 II: 40.0 I: 75.0 VIII: 88.8<br />

Förderung des Wohnungsbaus/Bekämpfung<br />

der<br />

Arbeitslosigkeit<br />

S 14.5.1922 I: 18.4 V: 28.2 I: 71.0 VI: 90.4<br />

Steuergesetzinitiative (SP) K 11.6.1922 IV: 30.5 V: 46.6 I: 40.3 VIII: 75.2<br />

Lex Häberlin I E 24.9.1922 I: 62.4 VII: 79.9 IV: 16.2 I: 46.7<br />

Vermögensabgabe E 3.12.1922 IV: 72.2 V: 82.9 I: 6.7 IV: 25.7<br />

Schutzhaftinitiative E 18.2.1923 IV: 26.6 V: 37.0 VI: 11.4 VII: 19.2<br />

Armengesetz K 15.4.1923 I: 55.2 V: 66.3 VIII: 52.3 VI: 78.3<br />

Städtischer Lohnabbau S 13.5.1923 V: 22.9 I: 55.9<br />

Abänderung des<br />

Fabrikgesetzes<br />

(Arbeitszeitverlängerung)<br />

E 17.2.1924 I: 63.5 VII: 80.4 IV: 13.3 I: 39.8<br />

Quellen: Protokolle der Verhandlungen der Einwohnergemeinde Luzern ab 1912,<br />

Staatsverwaltungsberichte, Kantonsblätter, Vber. StR., Sigg (1978).<br />

E = Eidgenössisch K = Kantonal S = Städtisch<br />

Urnenkreise gemäss Stadtratsbeschluss vom 18.1.1911:<br />

Kreis I: Wesemlin, Halde, Hof, Wey<br />

Kreis II: Hertensteinstrasse, Zürichstrasse, Maihof<br />

Kreis III: Altstadt, Bramberg, St. Karli<br />

Kreis IV: Basel-/Bernstrasse, Gütsch, Gibraltar<br />

KreisV: Säli, Bruchmatt, Kleinstadt, Hirschengraben<br />

Kreis VI: Hirschmatt, Neustadt<br />

Kreis VII: Reckenbühl, Obergrund, Allmend, Kleinmatt<br />

Kreis VIII: Bahnhof, Bundesstrasse, Sternmatt, Tribschen


46. Abstimmungsergebnisse in der Stadt und in der Luzerner Landschaft 1912-1923<br />

(Auswahl)<br />

Eidgenössische Abstimmungs-<br />

Stadt Luzern<br />

Landschaft<br />

Vorlagen<br />

datumStimmbetei-<br />

Ja-Anteil Stimmbetei- Ja-Anteil<br />

ligungligung<br />

Kranken- und<br />

Unfallversicherung<br />

4.2.1912 62.8 87.0 48.3 76.8<br />

Einmalige<br />

Kriegssteuer<br />

6.6.1915 50.0 99.0 53.3 96.8<br />

Einführung von<br />

Stempelabgaben<br />

13.5.1917 27.4 61.9 23.9 52.6<br />

Direkte Bundessteuer 2.6.1918 62.4 65.3 61.4 23.7<br />

Proportionalwahl des<br />

Nationalrates<br />

13.10.1918 46.7 79.2 38.4 74.4<br />

Neue Kriegssteuer 4.5.1919 44.7 72.9 44.5 89.4<br />

Ordnung des<br />

Arbeitsverhältnisses<br />

21.3.<strong>1920</strong> 51.2 68.5 37.4 26.4<br />

Beitritt zum<br />

Völkerbund<br />

16.5.<strong>1920</strong> 76.2 55.2 66.9 50.9<br />

Arbeitszeit bei den<br />

Eisenbahnen<br />

31.10.<strong>1920</strong> 70.0 80.2 53.6 39.8<br />

Aufhebung der<br />

Militärjustiz<br />

30.1.1921 47.8 37.2 42.1 12.1<br />

Lex Häberlin I 24.9.1922 76.2 30.0<br />

Vermögensabgabe 3.12.1922 78.4 17.2<br />

Einführung der<br />

Schutzhaft<br />

18.2.1923 31.3 13.9<br />

Aufhebung des<br />

8-Stunden-Tages<br />

Kantonale Vorlagen<br />

17.2.1924 75.0 23.6<br />

Öffentliche Ruhetage 1.3.1914 59.3 60.1 55.0 50.2<br />

Abänderung des<br />

Steuergesetzes (SP-<br />

Initiative)<br />

20.12.1914 40.9 33.0 45.0 9.7<br />

Abänderung des<br />

Steuergesetzes (LP-<br />

Initiative)<br />

20.12.1914 40.9 38.4 45.0 18.5<br />

Abänderung des<br />

Ruhetagsgesetzes<br />

25.11.1917 34.1 14.8 33.2 15.8<br />

- Einführung einer<br />

Alters- und<br />

Invalidenversicherung<br />

6.3.1921 35.8 9.5 30.2 3.6<br />

- Gegenvorschlag des<br />

Grossen Rates<br />

6.3.1921 35.8 80.9 30.2 32.0<br />

Abänderung des<br />

Steuergesetzes<br />

11.6.1922 41.6 64.6 37.4 14.6<br />

Steuergesetz 28.1.1923 52.3 49.1 63.1 50.1<br />

Armengesetz 15.4.1923 62.1 66.9 70.4 69.1<br />

Quellen: Staatsverwaltungsberichte, Kantonsblätter, Vber. StR., Sigg (1978).<br />

Landschaft meint hier das gesamte Kantonsgebiet mit Ausnahme der Stadt. Dass<br />

somit die industriellen Agglomerationsgemeinden in den Ergebnissen der<br />

Landschaft eingeschlossen sind, mindert die Disparitäten geringfügig.<br />

135


47. Der Arbeiterunion angeschlossene Gewerkschaftsmitglieder und Sektionen 1901-1924<br />

(per 31.12.)<br />

Jahr 1901 1907 1914 1915 1916 1917 <strong>1920</strong> 1921 1922 1923 1924<br />

Mitgliede 700 2'150 1'164 1'294 1'36 2'115 4'15 3'125 3'000 3'000 3'400<br />

r<br />

8<br />

0<br />

363<br />

Sektionen 13 32 26 22 20 20<br />

Quelle: Jahresberichte des sozialdemokratischen Arbeitersekretariats von Luzern.<br />

48. Innerstädtische Mitgliederverteilung des Volkshausvereins 1921<br />

rechte Stadtseite linke Stadtseite<br />

Bezirke<br />

Mitgliederanteil<br />

I II III IV V VI VII VIII IX X XI XII XIII XIV XV XVI<br />

(%)<br />

Bevölkerungsanteil<br />

2 1.5 2 4.5 3 5 4.5 5.5 11 5 4.5 13.9 6.5 10.9 4.5 15.9<br />

(%) 5 6 7 6.2 6.7 6.3 8.7 6.5 8 5.9 4.9 7.9 5.1 4.7 5.7 5.1<br />

Quelle: Jahresbericht des Volkshausvereins 1921.<br />

49. Frequenzen des Quartierverkehrs 1890<br />

Fussgänger Wagen<br />

Kellerhof<br />

Vieh Barrieren<br />

geschlossen<br />

Di Mitte Mai 8'730 772 218 6h 49<br />

So Ende Mai 11'202 311<br />

Obergrund<br />

199 7h 21<br />

Di Mitte Mai 7'055 1'044 115 2h 40<br />

So Ende Mai 15'141 592<br />

Untergrund<br />

- 2h 4<br />

Di Mitte Mai 8'503 1'213 104 3h 4<br />

So Ende Mai 14'537 237 4 3h 30<br />

Quelle: STARL 37/517<br />

363 Geschätzter Wert.<br />

136


50. Lohnbewegungen der freien Metallarbeitergewerkschaft 1914-<strong>1920</strong><br />

Quelle: Jb. SMUV 1914-<strong>1920</strong>.<br />

51. Streiks in Luzern 1882-1925<br />

12<br />

10<br />

8<br />

6<br />

4<br />

2<br />

0<br />

1<br />

8<br />

8<br />

2<br />

Jahr Anzahl beteiligte davon freie<br />

Arbeiter Gewerkschaftsmitglieder<br />

1914 1 65 58<br />

1915 3 213 89<br />

1916 4 450 318<br />

1917 7 1'737 810<br />

1918 15 3'629 2'410<br />

1919 8 1'160 978<br />

<strong>1920</strong> 6 1'080 678<br />

1<br />

8<br />

9<br />

0<br />

1<br />

9<br />

0<br />

0<br />

Quellen: Schmid (1974). Hirter (1988). Jb. des sozialdemokratischen Arbeitersekretariats<br />

Luzern.<br />

1<br />

9<br />

1<br />

0<br />

1<br />

9<br />

2<br />

0<br />

137


52. Streiks 1916-1925<br />

1916 Metallarbeiter Walzwerk von Moos<br />

(Emmenweid)<br />

<strong>1920</strong> Fuhrleute<br />

1917 Zimmerleute Metallarbeiter Viscose<br />

Metallarbeiter Schindler Bauarbeiter<br />

1918 Holzarbeiter 1922 Holzarbeiter<br />

Maler Typographen<br />

Metallarbeiter Schindler 1924 Massschneider<br />

Landesstreik 1925 Metallarbeiter von Moos Emmenweid<br />

1919 Giesser Emmenbrücke (Schindler)<br />

Quellen: Jb. des sozialdemokratischen Arbeitersekretariats Luzern. Jb. SMUV.<br />

53. Die Entwicklung der Lebenshaltungskosten auf dem Platz Luzern für eine fünfköpfige<br />

Arbeiterfamilie vom Juni 1914 bis Juni <strong>1920</strong> (in Fr.)<br />

Jahr Nahrung Kleidung Miete Heizung,<br />

Telefon,<br />

Mobiliar<br />

Steuern,<br />

Bildung,<br />

Versicherung<br />

Total Index<br />

1914 1'265 350 450 250 435 2'750 100<br />

1915 1'415 420 450 300 479 3'066 111<br />

1916 1'720 490 450 363 565 3'588 130<br />

1917 2'075 595 470 425 653 4'218 153<br />

1918 2'530 647 500 475 740 4'892 178<br />

1919 2'735 716 550 540 849 5'390 196<br />

<strong>1920</strong> 2'664 720 620 637 880 5'521 201<br />

1921 2'470 670 700 524 910 5'274 192<br />

1922 2'120 640 760 490 920 4'930 189<br />

Quelle: "Luzerner Volksstimme" 17/29.4.1922. Erhoben unter Benützung der für den Platz<br />

Luzern erreichbaren statistischen Unterlagen.<br />

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