Bürgerschaftliches Engagement - CDU Deutschlands
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Drucksache 14/8900 – 42 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode<br />
hierzulande auch dazu, Hilfe und Missionierung systematisch<br />
zu vermischen. Ohne bürgerschaftliches Selbstverständnis<br />
konnte soziales <strong>Engagement</strong> zudem problemlos<br />
in den Rahmen hierarchischer und autoritativer Staatsund<br />
Gesellschaftsbilder gestellt werden (Sachße 1986).<br />
Selbst dieses „unpolitische“ <strong>Engagement</strong> war jedoch<br />
keineswegs selbstständig und staatsfern organisiert. In<br />
Deutschland sind die organisatorischen und damit auch<br />
die finanziellen Strukturen von Staat und gemeinnützigem<br />
Sektor korporativ eng verflochten. Auch die solidarischen<br />
Organisationen der Arbeiterbewegung, etwa im<br />
Genossenschaftswesen, sahen sich mit dem Problem konfrontiert,<br />
<strong>Engagement</strong>, speziell im sozialen Bereich, als<br />
Teil eines Aufbruchs zu mehr sozialer Demokratie erlebbar<br />
zu machen und nicht als bloße Nothilfemaßnahme gegenüber<br />
autokratischer staatlicher Herrschaft. Mit dem<br />
Übergang vom Kaiserreich zur Weimarer Republik stellte<br />
sich die schwierige Aufgabe einer Neubestimmung der<br />
Balance von selbstorganisierter sozialer (Klassen-)Solidarität<br />
und sozialen Bürgerrechten, die im Sozialstaat zu<br />
verankern waren.<br />
<strong>Engagement</strong> verfolgt nicht immer „gute Ziele“. Das<br />
20. Jahrhundert hat vorgeführt, wie zivilgesellschaftliche<br />
Mobilisierung für sehr unzivile Zwecke genutzt werden<br />
kann. (vgl. Kocka 2002). Ein Beispiel unter vielen ist die<br />
durchaus freiwillige und selbstorganisierte Massenbewegung<br />
des Nationalsozialismus vor 1933.<br />
Aus der korporatistischen Tradition stammt die bis heute<br />
in der Bundesrepublik Deutschland noch anzutreffende<br />
Auffassung, bürgerschaftliches <strong>Engagement</strong> habe im<br />
Wesentlichen die Aufgabe, das Wirken des Staates einschließlich<br />
der Gemeinden zu unterstützen oder zu ergänzen.<br />
Auch Kunstvereine und Förderstiftungen für die<br />
Wissenschaft, von den mächtigen, aber besonders staatsabhängigen<br />
Wohlfahrtsverbänden ganz zu schweigen,<br />
werden, nicht zuletzt hinsichtlich ihrer steuerlichen Situation,<br />
danach beurteilt, ob sie öffentliche, d.h. staatliche<br />
Aufgaben wahrnehmen. <strong>Engagement</strong>, das sich dieser Zuordnung<br />
sperrt, gilt als harmlose, aber nicht förderungswürdige<br />
Freizeitbeschäftigung oder sogar als suspekt.<br />
Das Selbstbewusstsein des Dritten Sektors als Summe der<br />
nicht staatlichen, gemeinwohlorientierten Organisationen<br />
ist entsprechend schwach ausgeprägt, obwohl vier Fünftel<br />
des bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong>s in diesem Sektor<br />
stattfinden. Die Wohlfahrtsverbände, einst angetreten als<br />
Dachorganisationen und Interessenvertretung solidarischer<br />
Zusammenschlüsse, sind durch die Übernahme<br />
staatlicher sozialer Aufgaben selbst in die Nähe des Staates<br />
und seiner Verwaltung gerückt.<br />
Mittlerweile wächst jedoch auch in der Bundesrepublik<br />
Deutschland die Erkenntnis, dass die Bereitschaft zu <strong>Engagement</strong><br />
von selbstorganisierter Gemeinschaftsbildung<br />
nicht zu trennen ist. Dazu hat vor allem der Diskurs um<br />
die „Zivilgesellschaft“ seit den 1990er Jahren beigetragen.<br />
Bürgerinitiativen, neue soziale Bewegungen, soziokulturelle<br />
Initiativen und zunehmendes <strong>Engagement</strong> für<br />
bedrängte Menschen oder eine bedrohte Natur weit außerhalb<br />
des unmittelbaren Blickfelds haben neue Bedürfnisse<br />
und Einschätzungen der Bürger ebenso sichtbar ge-<br />
macht wie die Tatsache, dass selbst demokratisch zustande<br />
gekommene staatliche Positionen kein objektives<br />
Gemeinwohl verkörpern und sich von engagierten Bürgern<br />
kritisch überprüfen lassen müssen. Spätestens seitdem<br />
ist die Themenanwaltschaft (advocacy) aus dem bürgerschaftlichen<br />
<strong>Engagement</strong> nicht mehr wegzudenken –<br />
ein <strong>Engagement</strong>, das nicht zuletzt aus der dezidierten Unabhängigkeit<br />
vom Staat ihre Legitimation schöpft.<br />
Exemplarisch wird dies am Beispiel Mittel- und Osteuropas<br />
einschließlich der DDR deutlich. Hier hat sich als<br />
Konsequenz der Schlussakte von Helsinki (1975), die<br />
auch in diesen Staaten die Bildung selbstorganisierter<br />
Gruppen formal legalisierte, in den folgenden Jahren ein<br />
Netzwerk oppositioneller Gruppen gebildet, das in der<br />
Lage war, an entscheidender Stelle in die Politik einzugreifen.<br />
Autoren wie Vaclav Havel (1985), Györgi Konrad<br />
(1984) oder Adam Michnik (1985) haben den Freiraum<br />
engagierten bürgerschaftlichen Handelns neu bestimmt.<br />
Diesen Freiraum gegen einen autoritären Staat zu erstreiten,<br />
war ein wichtiger Schritt zur Demokratie in diesen<br />
Ländern. Auch in demokratischen Staaten haben die osteuropäischen<br />
Bürgerbewegungen zu einer Neubesinnung<br />
auf den Anspruch gesellschaftlicher Selbstorganisation in<br />
einer Bürgergesellschaft geführt. <strong>Bürgerschaftliches</strong> <strong>Engagement</strong><br />
nimmt in dieser Tradition eine Handlungspriorität<br />
in Gemeinwohlangelegenheiten in Anspruch und erfüllt<br />
eine Ausgleichsfunktion zwischen der Delegation<br />
zahlreicher Entscheidungen an den demokratisch legitimierten<br />
Staat und der Autonomie gesellschaftlicher<br />
Selbstorganisation. Die Rezeption gerade dieses Gedankens<br />
steht freilich in Deutschland noch in den Anfängen.<br />
Die politische Entdeckung des bürgerschaftlichen <strong>Engagement</strong>s<br />
ist kein deutscher Sonderweg. Bereits zwischen<br />
1988 und 1990 war in Großbritannien die parlamentarische<br />
„Commission on Citizenship“ tätig und untersuchte,<br />
wie „aktive Bürgerschaft“ am besten gefördert und ermutigt<br />
werden könne. Ähnliche Initiativen gab es in den<br />
1990er Jahren in vielen anderen westlichen Ländern, etwa<br />
den Niederlanden und den USA. Die Ursachen dieser<br />
„Rückkehr der Bürger“ (Kymlicka/Norman 1995) sind<br />
vielfältig. Zu den gemeinsamen Faktoren zählen beispielsweise<br />
folgende Aspekte:<br />
– Grenzen staatlichen Handelns: In den Jahrzehnten des<br />
Aufbaus und steigenden Wohlstands hat der Staat<br />
viele zusätzliche Aufgaben übernommen. Heute zeigen<br />
sich Kehrseiten staatlichen Wachstums, die die<br />
Zukunftsperspektiven der Bundesrepublik Deutschland<br />
beeinträchtigen. Durch Überreglementierung und einen<br />
umfassenden Steuerungsanspruch hat der Staat<br />
sich selbst überfordert und letztlich geschwächt.<br />
– Grenzen des Wohlstands: Seit Mitte der 1970er Jahre<br />
zeichnet sich das Ende des Wirtschaftswunders der<br />
Nachkriegszeit ab. Hohe Wachstumsraten ermöglichten<br />
in dieser Zeit eine dynamisch steigende individuelle<br />
Kaufkraft; bei Friktionen standen progressiv<br />
mitgewachsene sozialstaatliche Sicherungssysteme<br />
bereit. Diese Erfahrungen von Sicherheit und Wohlstand<br />
waren so prägend, dass sie auch auf die politische<br />
Beteiligung ausstrahlten: Warum sich enga-