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Hochschule für Kirchenmusik Heidelberg

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18 Essays<br />

„Golgotha“. Arthur Honegger schrieb seine tiefernste<br />

„Symphonie Liturgique“ und sein Oratorium<br />

„Totentanz“. Der großen Chortradition Englands zu<br />

verdanken waren 1939 Michael Tippetts Oratorium<br />

„A Child of Our Time“ und 1942 Benjamin Brittens<br />

„Ceremony of Carols“; als ihr einstweiliger Höhepunkt<br />

darf Brittens großes „War Requiem“ von 1962<br />

betrachtet werden; auch Leonard Bernsteins „Chichester<br />

Psalms“ von 1965 sind dieser großen Tradition<br />

geschuldet. Erwähnenswert ist, dass fast das<br />

gesamte amerikanische Alterswerk Igor Strawinskys<br />

der geistlichen Musik gewidmet ist, auch wenn es<br />

sich im Repertoire bisher nicht verankern konnte.<br />

Aus dem reichen kirchenmusikalischen Schaffen<br />

des Polen Krzysztof Penderecki ragt auch heute<br />

noch seine „Lukas-Passion“ von 1965 hervor.<br />

Was sich von der geistlichen Musik und der Orgelmusik<br />

von noch jüngeren Komponisten als bleibend<br />

erweisen wird, läßt sich heute höchstens vermuten,<br />

jedoch noch nicht mit Sicherheit absehen. Nicht alle<br />

jemals komponierte Musik kann immerfort lebendig<br />

erhalten werden, auch nicht alle jemals komponierte<br />

<strong>Kirchenmusik</strong>. Musik als eine von Interpreten abhängige<br />

Kunst ist darauf angewiesen, sich auf eine<br />

Auswahl des Unentbehrlichen und Nachhaltigen zu<br />

beschränken, auf einen „Kanon“, auf ein „Repertoire“.<br />

Dieser Auswahlprozess kann 50 Jahre dauern.<br />

Und wer trifft diese Auswahl? Erfahrungsgemäß<br />

ist hier<strong>für</strong> eine dreifache Zustimmung erforderlich. In<br />

erster Linie hierzu berufen sind die hauptberuflichen<br />

<strong>Kirchenmusik</strong>er, hochqualifizierte Chorleiter und<br />

Organisten, die sich mit der Sache der <strong>Kirchenmusik</strong><br />

identifizieren. Wenn sie sich nicht mit einem rein<br />

musealen Abstellgleis begnügen wollen, müssen sie<br />

die ständige Erneuerung eines nachhaltigen kirchenmusikalischen<br />

Repertoires im Auge behalten<br />

und sich den erwähnten Auswahlprozess zur Pflicht<br />

machen. In zweiter Linie sind hierzu berufen die<br />

Musikwissenschaftler und Musikkritiker, soweit sie<br />

kirchenmusikalisch genügend beschlagen sind. Und<br />

last but not least müssen drittens auch jene nichtprofessionellen<br />

Musikfreunde mitentscheiden, die<br />

durch vieljährige kirchenmusikalische Erfahrungen<br />

auf intuitive Weise zu beurteilen gelernt haben, ob<br />

ein neues kirchenmusikalisches Werk den unab-<br />

dingbaren Maßstäben an geistlichem Tiefgang und<br />

kompositorischer Relevanz standhält.<br />

Zur Repertoire-Auswahl ist also ein wirklicher „Dreiklang“<br />

erforderlich: Interpret, Wissenschaftler und<br />

erfahrener Musikfreund sind seine drei Bestandteile.<br />

Wenn einer dieser Bestandteile sich verweigert, wird<br />

ein kirchenmusikalisches Werk schwerlich überdauern.<br />

Auch der qualifizierteste und aufgeschlossenste<br />

<strong>Kirchenmusik</strong>er kann seinem Repertoire kein neues<br />

Werk hinzufügen, das durch unübersteigbare technische<br />

Hürden die Möglichkeiten seines Chores<br />

oder seiner Orgel überfordert oder wenn es in seiner<br />

künstlerischen Wirkung so spröde ist, dass kein<br />

Hörer den Wunsch nach Wiederbegegnung verspürt.<br />

Andererseits wird ein neues kirchenmusikalisches<br />

Werk, das etwa aus kommerziellen Gründen<br />

in banaler oder stilloser Machart lediglich auf leichte<br />

Zugänglichkeit aus ist, kaum Be<strong>für</strong>wortung vonseiten<br />

musikhistorisch ausgebildeter, kompetenter<br />

Musikkritiker finden. Deren Be<strong>für</strong>wortung finden sehr<br />

oft eher geistlich motivierte Werke einer radikalen<br />

Avantgarde, deren experimentalistisches Vokalschaffen<br />

in der Regel auf seltene Aufführungen<br />

durch hochspezialisierte Rundfunkchöre beschränkt<br />

bleibt. Im Rundfunk zu abgelegenen Sendezeiten<br />

ausgestrahlt bleibt es zwangsläufig von der nötigen<br />

Zustimmung durch die erfahrenen Musikfreunde<br />

abgeschottet.<br />

Dass moderne <strong>Kirchenmusik</strong> atonal sein müsse,<br />

glaubt heute niemand mehr im Ernst. Strenge Atonalität<br />

ist Episode geblieben, während sich die vorzeitig<br />

totgesagten tonalen Ausdrucksmittel der Musik<br />

während des gesamten 20. Jahrhunderts kräftig<br />

weiterentwickelt haben. Das hat außer bei Britten<br />

und Penderecki auch beispielsweise bei Arvo Pärt<br />

und bei vielen anderen (etwa bei John Tavener oder<br />

Sven-David Sandström) zu ganz neuartigen Profilierungen<br />

geführt. Auch außerhalb der <strong>Kirchenmusik</strong><br />

und außerhalb Europas, etwa in den USA, bedienen<br />

sich heute die führenden Komponisten (wie Steve<br />

Reich und John Adams) völlig unbefangen neotonaler<br />

Ausdrucksmittel.

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