Hochschule für Kirchenmusik Heidelberg
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22 Essays<br />
� Max Reger: Die drei Choralphantasien op. 52<br />
von Prof. Dr. Martin Sander<br />
Die drei Choralphantasien op. 52 von Max Reger –<br />
„Alle Menschen müssen sterben“, „Wachet auf!<br />
ruft uns die Stimme“ und „Hallelujah! Gott zu loben,<br />
bleibe meine Seelenfreud’!“ – gehören zu den wichtigsten<br />
und eindrucksvollsten Werken der Orgel-<br />
Literatur, und doch ist über ihren inneren Gehalt<br />
und seelischen Hintergrund bislang nur wenig geschrieben<br />
worden. Einige der an verschiedenen<br />
Stellen zu findenden Anhaltspunkte miteinander zu<br />
verknüpfen und dadurch zum tieferen Verständnis<br />
dieser Musik beizutragen, soll Ziel dieses Aufsatzes<br />
sein.<br />
Als Ausgangspunkt möge zunächst das Zitat Karl<br />
Straubes aus einem Brief an Hans Klotz dienen,<br />
das spätestens durch den Abdruck in der ja von<br />
Klotz erstellten Reger-Gesamt-Ausgabe allgemein<br />
bekannt sein dürfte:<br />
„Die Einleitung zu ‚Wachet auf’ bezeichnete Max<br />
Reger als den ‚Kirchhof’ und die Choralmelodie ist<br />
die Stimme eines Engels, die Toten werden allmählich<br />
erweckt; Dis-E-Dis im Pedal deutet symbolisch,<br />
wie sie sich in den Gräbern rühren. So hat mir mein<br />
Freund sein künstlerisches Wollen gedeutet. Die<br />
Worte ‚und feiern mit das Abendmahl’ hat Max<br />
Reger beim Schaffen des Werkes in der Tiefe seiner<br />
Persönlichkeit erfaßt. Als Katholik war ihm die<br />
‚Communio’ das größte Mysterium, und von diesem<br />
Fühlen aus gab er der Stelle jene keusche<br />
Innigkeit, um damit die völlige Auflösung des Individuums<br />
in der Gemeinschaft mit Christus in mystischen<br />
Klängen zu verklären.“ 1 Über die Schlussfuge<br />
steht hier nichts. Aus anderen Äußerungen Regers<br />
wird aber deutlich, dass die Schlussfugen<br />
sowohl des Wachet auf als auch der folgenden<br />
Hallelujah!-Phantasie als Freudentänze im Himmel<br />
zu verstehen sind. 2<br />
Dieser Prozess der Auferstehung – von der düsteren<br />
Depression des Todes über das sanfte Licht,<br />
aus dem der Engel spricht, das Aufstehen aus den<br />
Gräbern, bis zur Einigkeit des Auferstandenen mit<br />
1 K. Straube, Briefe eines Thomaskantors, S. 235<br />
2 F. Högner, Zur Darstellung der Orgelwerke Max Regers,<br />
Musik und Kirche 41 (1971), S. 302<br />
Gott und zum Jubel der Schlussstrophe – legt auf<br />
den ersten Blick ein Verständnis zumindest der<br />
„Wachet-auf“-Phantasie als Programm-Musik im<br />
Sinne der „neudeutschen Schule“ nahe. Hier aber<br />
ergibt sich ein gewichtiges Problem: Reger war den<br />
sich als „neudeutsch“ verstehenden Kollegen in<br />
wechselseitiger Ablehnung verbunden und kritisierte<br />
deren Programmmusik heftig, weil nach seinem<br />
Verständnis Musik eben nicht äußere Vorgänge,<br />
sondern inneres seelisches Erleben zum Inhalt<br />
haben musste. Das genannte Programm kann als<br />
solches also nur in die Ebene des, wie Straube es<br />
hier nennt, „künstlerischen Wollens“ gehören. Wo<br />
aber finden wir das innere seelische Erleben, das<br />
stark genug ist, um ein solches grandioses Programm<br />
gewissermaßen als Überbau zu tragen?<br />
Ich glaube, wir können aus Regers Biographie und<br />
Briefen einige Hinweise gewinnen, die uns in dieser<br />
Frage einigermaßen weiterbringen. Stellen wir uns<br />
zunächst einmal einen etwas ungehobelten jungen<br />
Mann vor, der raucht, trinkt, niemandem zuhören,<br />
sondern immer nur selbst reden kann. Auch Geld<br />
hat er nur wenig oder gar keines, denn anstatt ihm<br />
Einnahmen zu bescheren, bringen ihm seine ersten<br />
Kompositionen allenfalls Verrisse der Kritik ein –<br />
selbst der eigene Lehrer, Hugo Riemann, lehnt<br />
Regers Musik ab op. 3 immer stärker ab. Seine<br />
Bemühungen um das andere Geschlecht führen<br />
denn auch zu deprimierenden Resultaten. Schließlich<br />
gilt seine Liebe einer verheirateten Frau – Elsa<br />
von Bercken – der er dies nicht einmal sagen kann.<br />
Kurz: Er fühlt sich chancenlos ausgeschlossen von<br />
dem, was ein normales menschliches Leben ausmacht.<br />
Ziemlich bezeichnend ist ein Brief, den er<br />
von seinem Wiesbadener Studium aus nach Hause<br />
an seinen ehemaligen Lehrer Adalbert Lindner<br />
schreibt: „Ich habe mit allen Freuden und Genüssen<br />
des Lebens vollkommen abgeschlossen, bin<br />
so düster und verbittert geworden. Ich bin so<br />
schwer zu behandeln, daß hier allgemein die Redensart<br />
gilt: Mit Reger kann kein Mensch verkehren.“<br />
3<br />
3 A. Lindner, Max Reger. Ein Bild seines Jugendlebens<br />
und künstlerischen Werdens, Stuttgart 1923., S. 96