Untitled - Schwabenakademie Irsee
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16<br />
Markwart Herzog<br />
pas den Gregorianischen Kalender 1918 zunächst in Geltung gesetzt hatte, ihn<br />
jedoch später durch einen auf Planwirtschaft zugerüsteten ‚Gegenkalender‘<br />
ersetzte. Parallel zum ersten Fünfjahresplan wurde 1929 der ‚Rote Kalender‘<br />
eingeführt, der ein Deutungs- und Definitionsmonopol über Zeit und Alltagsleben<br />
beanspruchte und das gesellschaftspolitische Ziel einer vollständigen<br />
Säkularisierung des Sowjetstaates vorantrieb. Die christlichen Sonn- und<br />
Feiertage wurden durch kommunistische Jubeltage verdrängt, die Heiligenfeste<br />
durch neue, auf Industrialisierung und Kollektivierung, die Helden der<br />
Arbeit und der Revolution bezogene Feiertage ersetzt. – Es gab sogar ein<br />
„Anti-Weihnachts-Fest“ und einen „antireligiösen Karneval“. 28 – Dieses Kalendarium<br />
verlieh dem Jahreslauf eine sinnhafte Ordnung, in deren Rhythmus<br />
die Produktivität der Industrie gesteigert (Einführung einer „ununterbrochenen<br />
Arbeitswoche“), die Gesellschaft von kirchlichem Einfluß und religiösem<br />
Aberglauben gereinigt werden sollte. Aber die Rezeption des Roten Kalenders<br />
ist weitgehend gescheitert. Vor allem auf dem Land hat man die offiziellen<br />
sowjetischen Festtagsveranstaltungen, die „ein kultureller Fremdkörper<br />
in der dörflichen Lebenswelt“ waren, gemieden, so daß „eine Parallelexistenz<br />
offizieller und volkstümlicher Feiertagskultur“, eine „Vermischung kirchlicher<br />
und sowjetischer Festkalender“ entstehen konnte. 29 Die kirchliche Festtagstradition<br />
alten Stils wurde beibehalten und, häufig auch in den Städten,<br />
prächtiger begangen als der in den Revolutionskalender integrierte Festzyklus<br />
mit dem Jahrestag der Oktoberrevolution als „sakralem Kern“ (Malte Rolf).<br />
Die genannten Kalenderreformen und -revolutionen sind Produkte intellektueller<br />
Eliten, angesiedelt in urbanen Kulturen. Sie setzen eine Kombination<br />
von Wissen und Macht, Politik und Kommunikation voraus. Deswegen<br />
war die Bereitschaft, die neue Zeitordnung zu akzeptieren, sowohl in Frankreich<br />
als auch in England bei der urbanen Bevölkerung größer als auf dem<br />
Land. Der Rhythmus des agrarischen Lebens hat seine eigenen Gesetze, gegen<br />
die sich die revolutionäre Zeitordnung in Frankreich und in der Sowjetunion<br />
nicht durchsetzen konnte.<br />
Wie sich im 20. Jahrhundert die ländliche Bevölkerung dem Roten Kalender<br />
spröde verweigerte und das Terminsystem der französischen Revolution<br />
außerhalb der Städte verhältnismäßig wenig beobachtet wurde, so ist auch im<br />
16. Jahrhundert in Bayerisch-Schwaben eine nicht nur konfessionell motivierte,<br />
sondern auch spezifisch bäuerliche Unzufriedenheit mit dem katholischen<br />
Reformkalender belegt. Mit den Kalendertagen wurden nämlich auch<br />
die für den bäuerlichen Lebensrhythmus wichtigen Gedenktage der Heiligen<br />
verschoben; konfessionelle Differenzen wurden also auch in diesem Fall<br />
28 Vgl. MALTE ROLF, Feste des „roten Kalenders“: der Große Umbruch und die sowjetische<br />
Ordnung der Zeit, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 49 (2001) 101–118, hier 104<br />
Anm. 14.<br />
29 ROLF, ebd., 112, 117.