Untitled - Schwabenakademie Irsee
Untitled - Schwabenakademie Irsee
Untitled - Schwabenakademie Irsee
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
22<br />
Gerd Haeffner<br />
Auf unser Beispiel bezogen, sieht das so aus: Erstens die Erkenntnis, daß<br />
die Folge ‚Sattsein – Hunger – Sättigung – Sattsein‘ mehrmals und immer<br />
wieder eingetreten ist, und so vielleicht auch in der Zukunft sich wiederholen<br />
wird. Gleichzeitig mit diesem Wiedererkennen derselben Folge von subjektiven<br />
Zuständen ergibt sich aber zweitens eine ganz formale Strukturvorstellung<br />
von zeitlichen Folgen überhaupt, ungeachtet ihres Inhalts: Immer ist da<br />
die Folge ‚zuerst, dann, dann, zuletzt‘ oder, anders ausgedrückt: Jedes Jetzt<br />
hat ein anderes, das ihm vorausgeht, und wieder ein anderes, das ihm folgt.<br />
Diese Form von zeitlicher Folge bleibt zunächst freilich ganz implizit. Sie ist<br />
in dieser Hinsicht den einfachen Regeln der Grammatik ähnlich, die ein Kind<br />
lange schon befolgt, bevor es sie in der Schule kennenlernt – nur noch viel<br />
elementarer.<br />
1.3. Sprachfähigkeit<br />
Die Sprachfähigkeit ist das neuartige Ausdrucksvermögen, das dieser neuen<br />
Stufe des Zeitbewußtseins entspricht. Der je gegenwärtige Zustand des<br />
Wohlbehagens oder des Leidens läßt sich hinreichend durch einen unartikulierten<br />
Laut ausdrücken, der zugleich ein einfaches Signal an die Mutter ist.<br />
Aber eine Folge von Empfindungen oder gar von Wahrnehmungen läßt sich<br />
so nicht mehr ausdrücken. Dazu braucht es ein Ausdrucksmittel, das die<br />
Laute nach Regeln artikuliert. Es braucht die Sätze der Lautsprache. In unserem<br />
Beispiel heißt das, daß einer ausdrücken kann: Jetzt habe ich Hunger; ich<br />
will wieder satt werden.<br />
Die Zeit ist im Gerüst des Satzbaus durch mindestens zwei tragende Elemente<br />
vertreten. Das erste Element ist die Unterscheidung von Subjekt und<br />
Prädikat: Während das Subjekt gleich bleibt, können sich die Prädikate ändern:<br />
Fritz ist jetzt blond, später weiß. Zeit impliziert ja immer, daß etwas in<br />
einer Hinsicht sich gleich bleibt und in anderer Hinsicht sich ändert; wo alles<br />
sich gleich bleibt, kann es ebenso wenig zum Bewußtsein von Zeit kommen<br />
wie da, wo nur Wechsel herrscht. Das andere tragende Element besteht aus<br />
der Mehrzahl der Tempora, der ‚Zeitformen‘: Anna läuft, ist gelaufen, wird<br />
laufen; etwas war, ist und wird sein.<br />
Wenn man beachtet, daß die Sprache in ihren elementaren Formen ursprünglich<br />
nicht nur der nachträgliche Ausdruck eines schon fertigen Denkens<br />
oder Bewußtseins ist, sondern daß Bewußtsein und Denken sich im engen<br />
Zusammenhang mit dem Erwerb der Sprachkompetenz realisieren, dann<br />
kann man vermuten, daß die Beherrschung der Formen des Zeitbewußtseins<br />
an die Beherrschung der Formen der Sprache geknüpft ist.<br />
Wo stehen wir am Ende dieses ersten Teils unserer Überlegungen? Wir<br />
haben die Grundstruktur des Zeitbewußtseins dargestellt, nach ihrer subjektiven<br />
und nach ihrer objektiven Seite. Die subjektive Seite betraf die Fähigkeit,<br />
sich der Zeit bewußt zu werden, indem man sich des Wechsels bewußt wird;