Vladimir Kantor _Zwei Erzahlungrn.pdf - Высшая школа экономики
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72 <strong>Vladimir</strong> <strong>Kantor</strong><br />
wenn Domna erzählte, als wäre ich an ihrem Leben<br />
schuld. Und vielleicht war ich es nach einer höheren,<br />
kosmisch-mystischen Auslegung auch, denn es heißt<br />
ja: Wer hat, dem wird gegeben, und wer nicht hat, dem<br />
wird genommen.<br />
Domnas ältere Tochter heiratete zu Beginn der<br />
fünfziger Jahre und blieb im Dorf, die jüngere Mascha<br />
aber kam schon in den frühen sechziger Jahren nach<br />
Moskau, noch eher als ihr Bruder, arbeitete als Kellnerin<br />
in einem Restaurant und sicherte sich damit ihren<br />
Lebensunterhalt. Da verstand ich zum ersten Mal,<br />
dass eine Arbeit mit Kost und Logis und mit vielleicht<br />
etwas Trinkgeld beim „einfachen Volk“ als Lebenserfolg<br />
gilt. Sie war es auch, die ihrem Bruder Genja eine<br />
Polizistenlaufbahn in Moskau empfahl. Ihre Mutter<br />
besuchte sie selten, aber ich erinnere mich noch an<br />
ihr gutes Gesicht, die schwarzen lockigen Haare, ihre<br />
fröhlichen Augen und ihre Fähigkeit, mit unserem<br />
Sohn zu spielen. Als sie einmal besonders laut mit Tim<br />
herumtobte, sagte Domna plötzlich sehr ernst zu ihr,<br />
so als wolle sie ihr einen Rat geben, und deutete dabei<br />
auf mich: „Geh du mit Gleb ins Bett, dann kriegst du<br />
auch so einen“. Die Tochter blitzte mit den Augen und<br />
lachte. Nur ich wurde verlegen.<br />
Dafür kam ihr Sohn zweimal im Monat zu uns,<br />
stand erst lange im Flur, dann stellte er seine Stiefel<br />
auf einen kleinen Abtreter im Vorsaal und ging in das<br />
Zimmer, wo seine Mutter mit unserem Sohn wohnte.<br />
Dort schwieg er lange, dann fragte er: „Also, wie