Artheon Nr. 26 bis Seite 27.indd
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ligten Frauen gibt Auskunft auch von den<br />
Rückwirkungen solcher Aktionen auch<br />
für die, die es planten:<br />
„Auch der 22. April 1969 war einer jener<br />
Tage, an denen man sich entscheiden<br />
musste, wie weit man gehen wollte. Für<br />
Hannah Weitemeier war es der Tag, an<br />
dem sie zu weit gegangen ist. Dass Adorno,<br />
der von Hitler vertriebene Professor,<br />
der zurückgekehrte Emigrant, auch das<br />
Busenattentat als Gewaltakt begreifen<br />
konnte, vielleicht sogar musste, hat Hannah<br />
Weitemeier nicht geahnt. Ein wenig<br />
seltsam findet sie die Vorstellung noch<br />
heute: ‚Ein weiblicher Körper ist ja keine<br />
Waffe.’ Bereut habe sie die Aktion trotzdem<br />
sofort, ‚wir fanden uns danach gar<br />
nicht so toll’.“ l<br />
Bei beiden erwähnten Vorfällen geht es<br />
um die Thematisierung von Andeutungen<br />
von Sexualität am institutionell falschen<br />
Ort, um damit etwas deutlich, anschaulich<br />
zu machen; um damit zu provozieren,<br />
was nicht, noch nicht offen, bloß da<br />
lag. Es war auch Unfug mit dabei.<br />
Bei der Erzeugung von wahrscheinlich<br />
eintretenden, allen gemeinsamen Imaginationen<br />
laufen Kunst und Pädagogik<br />
erst einmal auseinander. Pädagogik ist<br />
hier verkürzt so verstanden: Sie ist die<br />
Erscheinungsform organisierter, institutionalisierter<br />
Wahrscheinlichkeitsräume<br />
und -zeiten für das Auftreten von Bildungseffekten.<br />
Kunst versucht den Imaginarisierungsprozess<br />
selber zu verdeutlichen,<br />
reflektiert auf die genutzten medialen<br />
Möglichkeiten, weist auf die situativen,<br />
räumlichen und zeitlichen Besonderheiten<br />
hin. Sie rechnet geradezu mit der<br />
Einzigartigkeit dieser Prozesse.<br />
Die Notwendigkeit pädagogischer<br />
Prozesse besteht antipodisch darin, die<br />
Wahrscheinlichkeit dafür zu erhöhen,<br />
dass partiell sehr ähnliche Vorstellungen<br />
evoziert werden. Man präpariert dabei<br />
einen „Schirm“, auf dem für alle das<br />
Gleiche zu sehen, zu lesen, zu hören ist<br />
und hält das Setting wie einen Zaun einigermaßen<br />
stabil. Dadurch erreicht man<br />
eine Ausrichtung, aber keinesfalls eine<br />
Garantie für identisches Aufnehmen.<br />
Und die Sexualität? Sie ist wohl irgend-<br />
14<br />
wo dazwischen und nähert sich in dieser<br />
Hinsicht der Kunst an, weil sie zumindest<br />
in der gesellschaftlich entwickelten<br />
Form der Liebe Einzigartigkeit will.<br />
Nacktes Leben 4: Sexualität, Neugier<br />
und die wahrscheinliche Entstehung<br />
von Dummheit<br />
Warum nun wird Pädagogik mit Kunst in<br />
Verbindung gebracht? Kann denn mit der<br />
Vermittlung von Kunst Bildung wahrscheinlich<br />
gemacht werden, ein Publikum<br />
gebildet werden?<br />
Dazu ein kleiner Umweg: Freud geht<br />
davon aus, dass alle Kinder forschen.<br />
Er nennt diese Forschung „Sexualforschung“.<br />
Weiterhin nennt er Gründe<br />
dafür, deutet sie an, warum einige Kinder<br />
das Forschen aufgeben oder einschränken.<br />
Teile dieser Forschung sind auch in<br />
der Kunst wieder zu finden, werden dort<br />
fortgesetzt, auch jenseits des besonderen<br />
Zustandes Kindheit. Das wäre das, was<br />
Adorno in der ‚Ästhetischen Theorie’<br />
„Naivetät“ nennt.<br />
Die Einschränkung oder Beendigung der<br />
Forschung macht so etwas wie Pädagogik<br />
notwendig.<br />
Den Satz kann man zweifach hören: Zum<br />
Teil trägt Pädagogik zur Beendigung<br />
der Forschung bei. Sie schafft nicht nur<br />
Dummheit wieder ab, sondern kann sie<br />
auch kreieren. Sie hat darüber kaum<br />
Macht im Sinne einer gezielten Handhabe.<br />
Es hängt vom ‚pädagogischen Eros’<br />
ab. Mit Absicht kann man Bildung nicht<br />
erreichen.<br />
Es geht bei der kindlichen Sexualforschung<br />
um die Bezähmung, die Kultivierung<br />
von etwas, das leicht überfordernde,<br />
stark anfordernde, herausfordernde, je<br />
nach dem sogar bedrohliche Züge hat.<br />
Das nicht, weil es an sich furchtbar oder<br />
unlustig wäre, im Gegenteil – es kann<br />
auch durch die Lust, die es macht, zur<br />
Herausforderung werden.<br />
Lust ist ja manchmal nur im Moment<br />
lustig, manchmal will sie Ewigkeit. Und<br />
dadurch ist sie sehr beängstigend.<br />
Es geht um die Kultivierung eines Grenzgeschehens,<br />
den Trieb. Freud umschreibt<br />
‚Trieb’ so: „Unter einem ‚Trieb’ können<br />
wir zunächst nichts anderes verstehen<br />
als die psychische Repräsentanz einer<br />
kontinuierlich fließenden, innersomatischen<br />
Reizquelle, zum Unterschied vom<br />
<strong>Artheon</strong>-Mitteilungen <strong>Nr</strong>. <strong>26</strong><br />
‚Reiz’, der durch vereinzelte und von<br />
außen kommende Erregungen hergestellt<br />
wird. Trieb ist so einer der Begriffe<br />
der Abgrenzung m des Seelischen vom<br />
Körperlichen.“ n<br />
Es ist das Grenzgeschehen, das so aufregt<br />
und anregt und überwältigen kann.<br />
Das ist z.B. das Überschreiten der Grenze<br />
zwischen Symbolisieren, Imaginieren<br />
und Biologischem. Erst durch dieses<br />
Überschreiten können beide in Funktion<br />
treten, in menschliche Funktion. Alles<br />
was automatisch geht, also ohne diese<br />
komplizierten Übersetzungen, ist nicht<br />
Trieb sondern Instinkt.<br />
An dieser Grenze entsteht Reibung, Wärme<br />
und Energie; es entsteht Irritation,<br />
Entscheidungsnot und das Aufdämmern<br />
der Einsicht ins Inzestverbot, als der<br />
Tatsache, dass hier und jetzt nicht alles<br />
möglich ist. Man akzeptiert es lieber als<br />
Verbot, denn als Feststellung einer Unmöglichkeit.<br />
Ist es nicht so, dass Kunst im Überschreiten<br />
dieses Verbots hin zur Unmöglichkeit<br />
arbeitet?<br />
In dieser Lücke entsteht die Not, zu<br />
symbolisieren, eine unabweisbare Forderung,<br />
die, wenn sie eine Gesellschaft<br />
betrifft, als Katastrophe zu bezeichnen ist<br />
und nach sofortiger Bedeutungsgebung<br />
verlangt. Individuell kann es in Verleugnung,<br />
Verdrängung, Verschiebung,<br />
Halluzination, Verwerfung ausgehen, im<br />
Genuss, sich in der Lücke melancholisch<br />
niederzulassen.<br />
Sind Erwachsene schon in die Netze<br />
möglicher Signifikanten und der damit<br />
zu verbindenden Vorstellungen eingelassen,<br />
haben dagegen kleine Kinder von<br />
all den Unterscheidungen keine Ahnung:<br />
Sie wissen nicht um die sexuellen, erotischen,<br />
symbiotischen, aggressiven Handlungen<br />
und Phantasien, denen sie ihre<br />
Existenz verdanken und die das Handeln<br />
der notwendig anwesenden Erwachsenen<br />
beflügeln oder lahm legen. Und bei ihnen<br />
selber rührt sich etwas, was sie nicht unmittelbar<br />
interpretieren können. Sie beginnen<br />
zu suchen und geraten damit genau<br />
in jene Passage zwischen dem Verbot<br />
(der Moral) und dem, was als unmöglich<br />
gilt. Die Kinder haben also allen Grund<br />
zu forschen und Theorien zu bilden.