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wir uns ähnlich sind. Sonst erliegen wir<br />

– buchstäblich! – der „ideo-logischen“<br />

Gewalt der Bilder, die, unkritisch über<br />

die Kanäle der Massenmedien verbreitet,<br />

in West und Ost zur unberechenbaren<br />

Waffe werden.<br />

Meine erste These: Das christliche<br />

Abendland hat als einzige der drei monotheistischen<br />

Religionen, die auf Abraham<br />

zurückgehen, die Bildertradition der mittelmeerischen<br />

Antike übernommen. Paradox<br />

zugespitzt kann man sagen: Das Christentum<br />

ist die Alleinerbin der heidnischen<br />

Bilderwelt. Zugleich hat sich die abendländische<br />

Kultur vom Bann der Bilder befreit,<br />

indem sie diese zu Kunst machte, lautet<br />

meine zweite These. Das abendländische<br />

Kunstsystem ist das Resultat einer Säkularisierung,<br />

die mit dem Ende des byzantinischen<br />

Bildersturms einsetzt.<br />

Daraus folgt, als dritte These: Die Freiheit<br />

der Kunst ist eine spezifisch abendländische<br />

Errungenschaft. Keine andere<br />

Hochkultur wie die europäische hat als<br />

zivilisatorische Blüte seiner Kultur ein<br />

Kunstsystem in seiner ganzen autonomen<br />

Reinheit hervorgebracht. Allenfalls<br />

in China und Japa entwickelten sich<br />

vergleichbare Praktiken rein ästhetischer<br />

Erbauung und das Sammeln von Bildwerken,<br />

deren Genuss allerdings auf<br />

Adelskreise beschränkt blieb. Das Einzigartige<br />

abendländischer Entwicklung<br />

ist der Schritt zum Bild als einem Gegenstand<br />

öffentlicher Meinung, wie es der<br />

Geschmacksdiskurs im 18. Jahrhundert<br />

eröffnet.<br />

Einigen müssen wir uns über das Wort<br />

Freiheit in Bezug auf die Kunst. Die<br />

Freiheit der Kunst ist eine Freiheit vor<br />

etwas und eine Freiheit für etwas. Kunst<br />

sei frei vor den Mächten: der Religion,<br />

der Politik und der Ökonomie, von denen<br />

sie zugleich abhängt. Kunst sei frei, für<br />

sich selber zu sein: das zu tun, was sie<br />

nach ihren eigenen Regeln für richtig<br />

hält, ohne dass Religion, Politik oder<br />

Ökonomie vorschreiben können, was sie<br />

zu tun und was zu lassen habe. Das beschreibt<br />

schon die in der Kunst wirksame<br />

Paradoxie: Kunst hat den Anspruch, für<br />

sich selber frei zu sein, während sie zugleich<br />

immer schon der Zustimmung der<br />

gesellschaftlichen Mächte bedarf.<br />

2<br />

Das führt zu meiner vierten These, die<br />

das Paradox ausdrückt: So wenig es eine<br />

Kunst ohne Machtbezug geben kann, so<br />

wenig gibt es Kunst ohne Freiheit. Eine<br />

Kunst, die nicht frei ist, wäre entweder<br />

noch nicht, oder sie ist nicht mehr<br />

Kunst. Unfreie Kunst ist angewandte<br />

Kunst im Wortsinn: sie dient als Mittel<br />

zum Zweck, handle es sich dabei um<br />

Kult, Propaganda oder Werbung. Aber<br />

als Mittel zum Zweck verliert Kunst das<br />

spezifisch Künstlerische: die Freiheit vor<br />

Zwecken, wie Immanuel Kant das Schöne<br />

definiert, ist ihr Wesensmerkmal. So<br />

wächst Kunst als zivilisatorische Blüte<br />

abendländischer Kultur auf einer fragilen<br />

Balance zwischen Freiheit und Machtbezug<br />

religiöser, politischer und ökonomischer<br />

Natur.<br />

Ich möchte beschreiben, wie die Freiheit<br />

in die Kunst eindrang und wie das<br />

Kunstsystem dabei autonom wurde.<br />

Wenn ich im Folgenden vom „Kunstsystem“<br />

spreche, beziehe ich mich auf die<br />

Systemtheorie von Niklas Luhmann. Die<br />

Freiheit der Kunst als eines historisch<br />

gewachsenen Systems besteht darin:<br />

sich nach eigenen Regeln herzustellen.<br />

Luhmann lehnt sich bei der Definition<br />

der ‚autopoiesis‘ an den Biochemiker<br />

Humberto Maturana. Der versteht organische<br />

Zellen als Systeme, die sich durch<br />

„Selbsterzeugung” ausbilden. So wie die<br />

biologische Zelle, schnürt sich auch ein<br />

gesellschaftlich erzeugtes System wie die<br />

Kunst aus einem älteren Stammsystem<br />

ab und entwickelt sich nach immanenten<br />

Regeln. Die Autopoiesis der Kunst<br />

besteht demnach in einem historischen<br />

Prozess, verlaufs dessen sich Kulturpraktiken<br />

wie Bauen, Bilden, Malen, Tanzen<br />

und Musik machen, Tätigkeiten also, die<br />

wir nachträglich, etwa seit 1800, „Kunst“<br />

nennen, über die Stammsysteme geistlicher<br />

und weltlicher Macht herauslösen.<br />

Dies geschieht, indem sich die genannten<br />

Kulturpraktiken mit gesellschaftlich<br />

höher bewerteten Anlehnungskontexten<br />

wie der Redekunst, der Naturwissenschaft<br />

und der Literatur verbünden, um<br />

schliesslich in Kooperation mit dem modernen<br />

Wirtschaftssystem des Marktes<br />

zum autonomen Kunstsystem zu werden,<br />

wie wir es heute kennen.<br />

Auf dem langen Gang der Kunst zu ihrer<br />

<strong>Artheon</strong>-Mitteilungen <strong>Nr</strong>. <strong>26</strong><br />

Freiheit werde ich vier Etappen herausgreifen,<br />

die für die Entwicklung des<br />

europäischen Kunstsystems entscheidend<br />

waren: Erstens: die Kannibalisierung der<br />

römischen Antike; zweitens: die Idee des<br />

selbstbestimmten Individuums; drittens<br />

die Praxis freier Märkte und viertens die<br />

Entstehung einer bürgerlichen Öffentlichkeit.<br />

Auf diesen vier Schritten ruht,<br />

notwendigerweise, die abendländische<br />

Kunst.<br />

Ich möchte das Bewusstsein dafür<br />

schärfen, dass das Kunstsystem ein<br />

Kulturgut ist, das wie der Organismus<br />

eines Regenwaldes, durch Eingriffe<br />

aus der Balance gebracht werden kann.<br />

Die Einzigartigkeit des Kunstsystems<br />

als europäischer Zivilisationsleistung<br />

gilt es zu betonen, weil ich fürchte,<br />

dass es im Prozess der Globalisierung<br />

beschädigt werden könnte. Dazu komme<br />

ich im letzten Teil des Vortrags. Eine<br />

Kurzdiagnose vorweg: Sosehr die<br />

Freiheit der Kunst vom ökonomischen<br />

System des Marktes proftiert hat, so<br />

schädlich ist es, wenn dessen Regeln die<br />

Regeln des Kunstsystems kontaminieren.<br />

„Mehr Freiheit, weniger Staat“ mag<br />

der Ideologie neoliberaler Ökonomen<br />

frommen, der Kunst schadet diese<br />

Haltung. Weniger Staat führt zu weniger<br />

Kunst.<br />

Doch kehren wir zurück zu den grossen<br />

vier Etappen in der Geschichte von der<br />

Freiheit der Kunst:<br />

Die Kannibalisierung der Antike<br />

Das Reliquiar der Heiligen Fides gehört<br />

zu den ältesten erhaltenen Skulpturen im<br />

christlichen Westen. Die heilige Fides,<br />

dreizehnjährige Tochter einer Patrizierfamilie<br />

aus Agen, hatte ihr Martyrium um<br />

307 erlitten, als die Christen in Gallien<br />

unter Augustus Maximianus Herculaeus<br />

verfolgt wurden. Da sie sich weigerte,<br />

einem Götterbild zu opfern, sollte sie auf<br />

einem Feuerrost zu Tode kommen. Dabei<br />

geschah das erste Wunder: Ein Gewitterregen<br />

löschte das Feuer. Das glaubensstarke<br />

Mädchen wurde darauf enthauptet.<br />

So stehen wir vor der paradoxen Tatsache,<br />

dass einer Märtyrerin, die sich

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