Zabel_ueber_Bloch_plus_Info_dt_engl - Omnia vincit Amor
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Erkenntnistheorie 22<br />
verlieren kann. War die Erbsünde nicht mehr nötig, um das Handeln des Menschen zu erklären, konnte der Kirche<br />
die Aufgabe zugeschrieben werden, diesen Menschen notdürftig in Angst und Schrecken zu halten. Wenn sie eine<br />
andere Funktion suchte, bereitete sie dem Gemeinwesen Probleme, das zusehen muss, die Einzelinteressen in Schach<br />
zu halten. Hobbes war für alle Parteien inakzeptabel, doch gerade darum einflussreich. Wollte man ein anderes<br />
Menschenbild vertreten, musste man mit Hobbes und der Kirche brechen, die von einer nicht minder rohen<br />
menschlichen Grundnatur und einem verderblichen Materialismus ausging. Wollte man der Kirche eine andere<br />
Position im Staat zugestehen, musste man es offen tun. Hobbes legte Argumente vor, von denen man sich nur sicher<br />
entfernen konnte, wenn man Grundannahmen in Frage stellen wollte, auf denen Staat und Religion gerade aufbauten.<br />
Deutlich wird die missliche Lage, die hier für Vertreter der Religion konstelliert wird, bei Shaftesbury (1671–1713),<br />
der die Gegenthese zu Hobbes am Ende wagte und postulierte, dass die bestehende Welt die beste aller möglichen<br />
sei, da Gott nur eine solche Welt schaffen konnte. Hobbes und die Kirchen hätten, so Shaftesbury, ein falsches Bild<br />
von der Natur des Menschen gezeichnet: Der Mensch strebe nach Harmonie mit der gesamten Schöpfung. Damit<br />
sollte nicht behauptet sein, dass der Mensch gegenwärtig seiner Natur gemäß lebe – er lebe tatsächlich so wie<br />
Hobbes und die Kirchen es beobachteten, egoistisch. Gerade das müsse man mit Erkenntnistheorie erklären: Es<br />
könne nur der Effekt der gesamten staatlichen und kirchlichen Erziehung sein, die den Mensch mit Belohnungen und<br />
Strafen bändigte, um hier Macht zu gewinnen. Die gute Natur werde durch die gegenwärtige Form der<br />
Machtausübung verdorben. Die Erwägungen waren erneut rationalistisch. Sie gingen von Prämissen aus, und<br />
schlossen von ihnen auf die Realität.<br />
Weder von den gewählten Prämissen noch von der „Vernunft“ der erkenntnistheoretischen Schlussfolgerungen<br />
konnte sich die Theologie problemlos verabschieden – es sei denn sie bekannte sich zur Irrationalität des Glaubens.<br />
Das wiederum war in der gegenwärtigen Debatte gerade allen drei etablierten Konfessionen, Katholiken,<br />
Protestanten und Reformierten verwehrt, die alle drei in ihren eigenen Reihen gegen „schwärmerische“ Strömungen<br />
wie den Pietismus und den Quietismus antraten. Gingen Theologen der drei großen Konfessionen indes auf die<br />
Schlussverfahren der rationalistischen Philosophie ein, so brachte sie das absehbar in eine missliche Lage gegenüber<br />
ihrer Selbstdefinition: Sie vertraten ihre Konfessionen als gültige nach der offenbarten Religion und zogen daraus<br />
politische Ansprüche in den Staaten Europas. Die Folge war für das 17. Jahrhundert eine immense Durchdringung<br />
der philosophischen Debatte mit Zielvorgaben theologischer Diskussionen – und eine Diskussion, in der staatliche<br />
Organe zunehmend sich der philosophischen Argumentationen bedienten, um Konfessionen zu integrieren.<br />
Die Frage der Freiheit des Willens durchdrang, als erkenntnistheoretisch nicht zu entscheidende, die<br />
Debattenlandschaft mit der Option, dass auf ihrem Gebiet massivste konfessionelle Politik betrieben wurde. Die<br />
reformierte Religion stand unter den drei Konfessionen allein als Vertreterin eines radikalen Determinismus: Gott<br />
hatte die gesamte Schöpfung seinem Plan unterworfen, und alles vorbestimmt, was wir tun. Auf Europas Landkarte<br />
war dies die Religion der freien Niederlanden, des Genfer Sta<strong>dt</strong>staates. In allen übrigen Ländern Europas waren<br />
Reformierte wie die Hugenotten Frankreichs eine bedrohte Minderheit. Wenn man sich von der rationalistischen<br />
Debatte nicht distanzierte, drohte man insbesondere hier einer versteckt theologisch brisanten Debatte die Tür zu<br />
öffnen. Die Welt der Naturgesetze war am Ende mit einiger Wahrscheinlichkeit eher deterministisch (versteckt<br />
reformiert) als lutherisch oder katholisch.<br />
Baruch Spinoza (1632–1677)<br />
Die Extrempositionen der rationalistischen Erkenntnistheorie vertraten Baruch Spinoza und Gottfried Wilhelm<br />
Leibniz – Spinoza mit einem Denken, das in logischen Schlüssen den Dualismus in Frage stellte, den die<br />
Transzendenz voraussetzte: Wenn man von zwei getrennten Substanzen (Gott und Natur, Körper und Geist)<br />
ausginge, müsse man postulieren, dass sie keine Eigenschaft teilten, da sie sonst partiell identisch und damit nicht<br />
getrennt seien. Eine Substanz, die bestehe, müsse im selben Moment für sich selbst bestehen können. Benötigte sie<br />
eine andere Substanz, um zu existieren, verletzte sie ihre Definition als isolierbare Substanz. Eine Substanz könne im<br />
selben Moment nicht mehr eine andersgeartete hervorbringen, die hervorgebrachte wäre nicht mehr unabhängig. Die<br />
bestehende Substanz müsse mithin ungeschaffen existieren. Sie müsse unendlich sein – denn wäre sie endlich, so