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Das Erhoffte will seine Zeit - Kirchenblatt

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6<br />

Wie kann einer sagen, er werde vom Tod<br />

auferstehn am dritten Tag,<br />

und es spalte die Erde sich,<br />

und die Sonne verliere ihren Schein?<br />

Seitdem laufen, von der Vernunft Erleuchtete<br />

durch die Strassen und verbreiten,<br />

man habe <strong>seine</strong> Leiche gestohlen<br />

und nachts im Toten Meer versenkt;<br />

dort werde sie eines Tages ans Ufer<br />

geschwemmt.<br />

Doch übers Wasser kam Er im Morgenlicht<br />

und grüsste alle, die ihn erkannten.<br />

8<br />

Wie können sie von sich sagen,<br />

an ihnen erfülle sich, was Er versprach,<br />

sie, die doch wenig begriffen von ihm,<br />

als Er noch lebte?<br />

Es ist schwer zu glauben, dass Er ein Gott war,<br />

auch heute. Er selbst hatte Furcht,<br />

nicht wiedererkannt zu werden,<br />

wenn Er noch einmal käme.<br />

Damals hingegen,<br />

vom Geist übergossen mit <strong>seine</strong>m Wasser,<br />

sprachempfangend waren viele<br />

und heilig nüchtern für Augenblicke.<br />

Jener Geist aber ist in der Dürre versickert,<br />

noch hat er <strong>seine</strong> Quellen, da und dort,<br />

und sprengt die Erde.<br />

Weggefegt über Nacht<br />

aus «Oden III»<br />

Weggefegt über Nacht<br />

meine Wörter,<br />

die gestern noch lichtvoll waren.<br />

Durch die Schluchten meiner Stadt<br />

flattern jetzt Flederhunde<br />

und reissen mit ihren Zähnen<br />

die letzten fliegenden Silben,<br />

und Joker, weissgeschminkt<br />

und rot ihre Lefzen,<br />

zum Grinsen geboren,<br />

zum Lästern bestellt,<br />

rattengrau<br />

schleichen hinter mir her,<br />

Wortreste verzehrend,<br />

die in ihren Hälsen verwesen.<br />

Tabula rasa ihres Gottes,<br />

der längst sein Kartenspiel<br />

denen überliess,<br />

die es zynisch mischen<br />

nach Spass und Laune.<br />

Was einst Figuren waren<br />

des Lebens noch,<br />

sind jetzt tote Scheine,<br />

mit denen sie wuchern<br />

tauschgeschäftlich um nichts.<br />

Seitdem geht man<br />

blinden Wegweisern nach<br />

und handelt<br />

mit esoterischem Licht.<br />

Wer es kauft, gerät<br />

nach wenigen Tagen schon<br />

in den Bann neuer Finsternis.<br />

Die Wörter im Umlauf,<br />

die wenigen noch,<br />

sind Wechsel, ungedeckt,<br />

fliegende Valuten;<br />

sie werden von Geiern geschlagen,<br />

die herabstürzen<br />

aus anderen Höhen,<br />

wo ein Wort wohnt,<br />

wie es heisst,<br />

das nicht vergeht.<br />

Ich bin ein Narr der Tiefe<br />

aus «Oden III»<br />

Ich bin ein Narr der Tiefe<br />

sommergeboren,<br />

früh erwacht<br />

im Farbkreis ihrer Augen,<br />

die mich lenkt und führt<br />

mit ihren Flügeln<br />

in eine Gegend namens Delphi,<br />

wo das Gedächtnis eines Gottes<br />

begraben liegt<br />

in <strong>seine</strong>m eingestürzten Tempel,<br />

Apollon,<br />

jederzeit im Netz zu finden,<br />

wenn noch einer ihn sucht.<br />

Pfeile der Erkenntnis schoss er<br />

von fern herab damals –<br />

Ich tauche in die Quelle dort,<br />

um ihn zu hören,<br />

denn er hatte rätselhafte Worte<br />

sagt man,<br />

und oft missdeutet.<br />

Kein Gott spricht Klartext.<br />

Und auch der Andere<br />

am Kedronbach,<br />

der kam «am Ende»,<br />

wie zu lesen war in Schriften –<br />

Ein Gott schreibt nicht,<br />

es sei denn in den Sand.<br />

Wer schreibt, sind immer wir<br />

und setzen in unserer Grammatik<br />

Jene gefangen –<br />

den Begrabenen von Delphi<br />

wie den Anderen auch,<br />

der, wie es heisst, gottverlassen starb.<br />

Wer so redet, der wird belacht,<br />

ich weiss.<br />

Doch,<br />

ich bleibe ein Narr der Tiefe,<br />

Paul Klee hat mich gemalt.<br />

Paul Klee (1879–1940)<br />

«Narr der Tiefe», 1927, Öl, 37 x 41 cm<br />

Kunsthaus Zürich<br />

KIRCHENBLATT 17 2011 5<br />

Thema

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