Evonik Magazin 3/2008 - Evonik Industries
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tonnenweise Textilien in einer Fabrik im Nordwesten Chinas<br />
FOTO: PICTURE-ALLIANCE/PDA<br />
Stand der Dinge<br />
Momentaufnahme einer Gesellschaft auf dem Sprung<br />
TEXT DR. TILMAN SPENGLER<br />
EINE SEHR BEEINDRUCKENDE<br />
Autobahn führt von der Provinzhauptstadt<br />
Chengdu in jenen Teil von Sichuan, in dem<br />
das Erdbeben besonders heftig wütete. Über<br />
der Fahrbahn hängen Transparente in leuchtend<br />
roten Farben, die in goldenen Schriftzeichen<br />
politische Losungen verkünden.<br />
Der ältere Besucher des Landes erinnert<br />
sich: Es sind Parolen aus der Zeit der Kulturrevolution,<br />
der radikal linken Periode, die<br />
den Maoismus als Ideologie bemühte…<br />
Auch die Kalligrafie ist die alte. Wie vor<br />
vier Jahrzehnten wird die Bevölkerung wieder<br />
aufgerufen, „sich nur auf sich selbst zu<br />
verlassen“, „sich machtvoll zusammenzuschließen“,<br />
„vom Volk zu lernen“. Bei näherem<br />
Hinsehen fallen diesem älteren Besucher<br />
des Landes zwei Neuerungen auf: Das<br />
Wort „Sozialismus“ kommt in den Losungen<br />
kaum noch vor. Und anders als zu Zeiten<br />
Maos sind in kleinerer Schrift auf den Parolen<br />
die Namen der Sponsoren jener Transparente<br />
vermerkt, die Namen von Banken,<br />
EVONIK-MAGAZIN 3/<strong>2008</strong><br />
Energieerzeugern, Handelskammern. Da<br />
haben die früheren Klassenfeinde vonei nander<br />
gelernt.<br />
Das Erdbeben und die Hilfsaktionen<br />
für die Opfer in den weit abgelegenen<br />
Teilen der Provinz haben den Blick der<br />
Öffentlichkeit auch auf ein gravieren<br />
des Problem der chinesischen Wirtschaftspolitik<br />
gelenkt, nämlich die ungleichzeitige<br />
Entwicklung von Stadt- und Landregionen.<br />
In der liberalisierten Wirtschaft hat sich<br />
daran nichts geändert. Nur heißt heute<br />
die Chiffre für „Land“ schlicht „Wanderarbeiter“.<br />
Ihre Zahl wird je nach Statistik<br />
auf 130 oder 170 Millionen bemessen,<br />
ihr Anspruch auf Daseins fürsorge ist zu<br />
vernachlässigen, und da sie eben „Wanderarbeiter“<br />
sind, findet man in den großen<br />
chinesischen Städten keine Slums.<br />
Diese großen chinesischen Städte, das<br />
trägt nicht unbedingt zur Lösung des Problems<br />
bei, müssen weiter wachsen, um im<br />
Wettbewerb bestehen zu können. In 15 Jahren<br />
rechnen Statistiker daher mit weiteren<br />
20 Megacitys, Städten von mehr als 10 Mil-<br />
CHINA<br />
Kein Wachstum um<br />
jeden Preis –<br />
Nachhaltigkeit ist<br />
gefragt<br />
GESTALTEN<br />
lionen Einwohnern. Das Wachsen der Städte<br />
lässt das Land weiter schrumpfen.<br />
Ein Staat, der keine sozialen Unruhen<br />
verträgt, muss ein Gefühl für Gemeinschaft<br />
stärken. Nationalismus heißt ein politisch<br />
hinlänglich erprobter Begriff. Nationalismus<br />
lebt von symbolischen Veranstaltungen, von<br />
der gemeinsamen Bewältigung schrecklicher<br />
Naturkatastrophen, wie eingangs<br />
geschildert, doch auch von Olympischen<br />
Spielen, Weltausstellungen und allem<br />
an deren Glitzerwerk internationaler Wertschätzung.<br />
Viele chinesische Intellektuelle<br />
haben bereits ein wenig Angst vor dem<br />
neuen, heftigen Nationalismus ihrer Landsleute.<br />
Wir sollten ihnen helfen.<br />
11<br />
Dr. Tilman Spengler ist<br />
Sinologe, Journalist<br />
und Schriftsteller und war<br />
seit 1980 Mitherausgeber<br />
der Zeitschrift „Kursbuch“.<br />
Seine bekanntesten<br />
Bücher sind „Lenins Hirn“,<br />
„Der Maler von Peking“<br />
und „Mallorca. Von<br />
schwarzen Schweinen<br />
und Madonnen“