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041 Issue # 11/11 : PublIc Issues<br />

schwinden und anonymen Hochhaussiedlungen weichen müssen,<br />

herrscht ein nachbarschaftliches, beinahe familiäres Klima.<br />

Die Wäsche hängt quer über der Str<strong>as</strong>se, vor den Wohnungen<br />

wird d<strong>as</strong> Gemüse für die Mahlzeiten vorbereitet. Aber auch<br />

die Gehsteige und Str<strong>as</strong>sen direkt vor den Wohnsiedlungen<br />

werden rege genutzt: für improvisierte Märkte, zum Spielen<br />

oder Haareschneiden [Abb. 10 – 13].<br />

Die schmalen G<strong>as</strong>sen stellen einen inneren geschützten Be-<br />

reich, einen Rückzugsraum dar, der umfriedet und deutlich<br />

von aussen abgegrenzt ist. Doch nicht nur Mauern und Zäune<br />

dienen der Abgrenzung. Viele Chinesen praktizieren auch<br />

eine Art «innere Umfriedung» und entwickeln die «Fähigkeit<br />

zur totalen Abschottung vom Aussen im Aussen. […] In sich<br />

selbst versunkenes und selbstbezogenes Verhalten wird als<br />

Umfriedungsmechanismus gegen d<strong>as</strong> permanente Ausgesetztsein<br />

gegenüber diffusen Eindrücken und Situationen als Selbstschutz<br />

geübt.» 9<br />

Draussen, ausserhalb der Mauern, befindet sich der offene<br />

Raum oder Aussenraum, der ähnlich wie in Tokyo als ein Ort<br />

gilt, an dem man sich nicht gerne länger als nötig aufhält.<br />

Vielmehr ist dies ein Transitraum, den man möglichst zügig<br />

durchquert, um in den nächsten Innenraum zu gelangen. Ge-<br />

schäfte und Handwerker siedeln sich trotzdem an markanten<br />

Stellen dieser Durchgangsräume oder an deren Ein- und<br />

Ausgängen an und besetzen den Gehsteig, um dort ihre Waren<br />

und Dienstleistungen anzubieten [Abb. 14]. Auf diese Weise<br />

wird mancher Aussenraum temporär zu einem lebendigen<br />

Innenraum transformiert. Doch die bevorzugten Aufenthaltsräume<br />

sind die inneren G<strong>as</strong>sen der lilong und MRDs, aber<br />

auch die Parkanlagen, die ebenso von Mauern oder Zäunen um-<br />

geben sind und Innenräume darstellen. Noch bis in die<br />

1990er Jahre hinein wurde für diese Anlagen Eintrittsgeld<br />

verlangt, w<strong>as</strong> noch einmal darauf hindeutet, d<strong>as</strong>s die Parks<br />

in den chinesischen Städten keine öffentlichen Aussenräume,<br />

sondern als Innenräume verstanden werden.<br />

Fliegende Händler auf Fahrradriksch<strong>as</strong> [Abb. 15/16] machen<br />

deutlich, d<strong>as</strong>s die öffentlichen Räume der chinesischen<br />

Stadt offene Durchgangsräume sind. Alle Akteure sind in<br />

Bewegung, der Einkauf p<strong>as</strong>siert unterwegs [Abb. 18] oder<br />

abends, wenn man Zeit dafür hat [Abb. 19]. Auch dann ver-<br />

wandeln sich manche kahle Str<strong>as</strong>senräume für kurze Zeit in<br />

lebendige Innenräume. Bestes Zeichen hierfür ist, d<strong>as</strong>s<br />

manche Männer und Frauen am Abend gerne im Pyjama auf die<br />

Str<strong>as</strong>se gehen, um auf dem improvisierten Markt einzukaufen,<br />

zu rauchen oder mit den Nachbarn zu plaudern.<br />

Letztlich sind es die Bewohner, die durch ihr Empfinden auf-<br />

grund der gemeinsamen Nutzungen aus einem Aussenraum einen<br />

gelebten Innenraum machen. Daraus entsteht auch die für<br />

westliche Beobachter schwer ertragbare Situation, d<strong>as</strong>s keine<br />

eindeutige Aussage darüber gemacht werden kann, w<strong>as</strong> genau<br />

öffentlicher Raum in Shanghai ist und wo dieser zu lokali-<br />

sieren wäre. Die (öffentlichen) Aussenräume Shanghais<br />

sind nur dann «gute» Räume, wenn sie zu Innenräumen – oft<br />

auch nur temporär – transformiert werden.<br />

Nutzungen und Aneignungen in Tokyo<br />

Anders als in Shanghai ist d<strong>as</strong> Leben auf den Str<strong>as</strong>sen von<br />

Tokyo weniger vielseitig, auch auf den kleinen Strässchen,<br />

den roji. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts fanden zwar einige<br />

Intellektuelle Gefallen daran, durch die Strässchen der<br />

einstigen Altstadtgebiete Tokyos zu flanieren. In Anlehnung<br />

an Walter Benjamin gab es einige Schriftsteller, die d<strong>as</strong><br />

Flanieren zu ihrem literarischen Inhalt und Lebensstil ge-<br />

macht haben. 10 Doch davon ist im 21. Jahrhundert nicht mehr<br />

viel übrig geblieben. D<strong>as</strong> Flanieren in der Stadt scheint<br />

doch eher einer europäischen Vorstellung zu entsprechen. In<br />

Tokyo bewegt man sich heutzutage sehr gezielt durch die<br />

Stadt, sei es über grosse Distanzen mit einem der aufs beste<br />

ausgebauten öffentlichen Verkehrsmittel oder nur innerhalb<br />

des Quartiers, in dem die<br />

meisten Wege gemütlich zu<br />

Fuss oder mit dem Fahrrad<br />

zurückgelegt werden können.<br />

Überhaupt ist Tokyo ein<br />

Fahrradparadies. Man darf<br />

überall und in beide Rich-<br />

tungen fahren, auch auf den<br />

Gehsteigen [Abb. 19]. Zudem<br />

sind Fahrräder sehr billig<br />

und werden selten gestohlen.<br />

Der öffentliche Raum<br />

Tokyos wird deutlich weniger<br />

intensiv von den Bewohnern<br />

und Bewohnerinnen angeeignet<br />

als in Shanghai. Eine je-<br />

doch typische und sehr feine,<br />

daher von der Stadtverwaltung<br />

akzeptierte Form der<br />

Aneignung sind die soge-<br />

nannten potgardens, die vor<br />

den Häusern auf den Geh-<br />

wegen und zum Teil auch auf<br />

der Str<strong>as</strong>se stehen. Auf<br />

unaufdringliche Art dehnen<br />

die Hausbewohner so ihren<br />

Innenraum in den öffentli-<br />

chen, äusseren Raum aus,<br />

wodurch die roji [Abb. 20]<br />

beinahe unmerklich von einem<br />

offenen in einen inneren Be-<br />

reich transformiert werden.<br />

9<br />

Sonia Schoon,<br />

«Umfriedung und<br />

Draussen in<br />

der dichotomen<br />

Lebenswelt<br />

Shanghai», in:<br />

Die stadt als<br />

Wohnraum, hg.<br />

von Jürgen H<strong>as</strong>se,<br />

Freiburg,<br />

München 2008.<br />

10<br />

Vgl. Evelyn<br />

Schulz, «Die<br />

‹Renaissance der<br />

Stadt› (toshi<br />

saisei) und die<br />

Wiederentdeckung<br />

der Hinterg<strong>as</strong>sen<br />

(roji) – Aspekte<br />

der Literatur und<br />

Kultur des Fla-<br />

nierens», in: Der<br />

Raum der stadt,<br />

hg. von Jürgen<br />

Krusche, Marburg<br />

2008.

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