Stella ist 61 Jahre alt und sagt: „Das Leben auf der Straße ist sehr gefährlich.“ 26
WWW.HINZUNDKUNZT.DE Schwerpunkt Alter (K)Ein Ort zum Altwerden Hamburg ist wenig vorbereitet auf die steigende Zahl von Obdachlosen, die alt und krank sind. Hoffnung verspricht das neue Konzept der „Lebensplätze“, das jetzt in Bergedorf startet. TEXT: SIMONE DECKNER FOTOS: IMKE LASS Stella sitzt im Untergeschoss des CaFée mit Herz auf St. Pauli und sagt, sie habe erst überlegen müssen, ob sie ihre Geschichten erzählen soll. In 61 Lebensjahren hat sich eine Menge angesammelt. In ihrem Fall sehr viel Schmerzhaftes: Gewalt in der Kindheit, sexuelle Übergriffe, schwere gesundheitliche Probleme und Operationen. Schon lange arbeitet sie nicht mehr, zwar erhält sie eine kleine Erwerbsminderungsrente, doch es reicht trotzdem vorn und hinten nicht. Vor zweieinhalb Jahren landet sie schließlich auf der Straße. Heute kennt sie jede Hamburger Hilfseinrichtung für obdachlose Menschen von innen: „Ich habe alles durch“, sagt sie und lächelt beinahe entschuldigend. Seit sie Platte macht, geht es Stella gesundheitlich noch schlechter. „Meine Beine sind kaputt“, sagt sie. Schon mehrmals brach sie auf der Straße zusammen, vor zwei Jahren war es richtig knapp. Die Beine geschwollen, das Blut spritzte bei Berührung heraus. „Der Notarzt hat mir gesagt, das sei eine Sache zwischen Leben und Tod gewesen“, sagt sie. Sogar eine Amputation stand im Raum: Da bekam die resolute Frau dann doch Panik. Nur nicht die Beine verlieren! Im Krankenhaus erklärte man ihr, sie dürfe nicht so lange sitzen. Wenn sich das Blut staut, drohen Entzündungen, im schlimmsten Fall Thrombosen. Stella hat noch ein anderes Problem: „Ich kann einfach nicht mehr auf dem Boden schlafen, weil ich von da nicht mehr alleine hochkomme.“ Auf die Frage, was ihr akut am meisten helfen würde, muss sie nicht lange überlegen: „Die beste Hilfe wäre, dass ich meine Beine hochlegen und mal schlafen kann. Ein sicheres Dach über dem Kopf.“ Viel Hoffnung darauf hat sie jedoch nicht. „Es gibt keinen Ort für obdachlose Frauen wie mich. Ich weiß gar nicht, ob das überhaupt jemanden von unseren Politikern interessiert“, sagt sie. Maike Oberschelp, die Chefin des CaFée mit Herz, ist ebenfalls ernüchtert, wenn sie zur Situation älterer und kran- Obdachlos im Alter Eine 82 Jahre alte Frau ist die älteste registrierte Person in der Hamburger Obdachlosenstatistik (2018). Frauen stellen zwar nur 20 Prozent der Menschen, die auf der Straße leben, doch je älter sie werden, umso höher ist ihr Anteil: Rund 40 Prozent aller Obdachlosen sind zwischen 50 und 59 Jahre alt. Die Hälfte von ihnen sind Frauen. Bei den Obdachlosen Ü70 sind Frauen sogar doppelt so stark vertreten (2,1 Prozent) wie Männer (1,0 Prozent). 54,3 Prozent der Obdachlosen sind nicht krankenversichert. Ihre Gesundheit beurteilen 19,1 Prozent als „schlecht“ und 23 Prozent als „weniger gut“. Nach objektiven Kriterien (Beurteilung durch medizinisches Personal) ist ihr Zustand allerdings noch schlechter, als sie selbst glauben. Obdachlose sterben im Durchschnitt mit 49 Jahren. SIM ker Obdachloser in der Stadt befragt wird. Im Mai starb in unmittelbarer Nähe der Einrichtung ein 51-jähriger obdachloser Rollstuhlfahrer, der Platte machen musste. Oberschelp kann den Anblick des Mannes, den sie flüchtig kannte, nicht vergessen: „Es gibt für diese Menschen in der Stadt keinen Ort, um alt zu werden“, sagt sie. Ihr Fazit klingt bitter: „Als Obdachloser wirst du in dieser Stadt auf der Straße verrecken, wenn nicht jemand zufällig vorbeikommt und einen Krankenwagen ruft.“ Auch Eva Masoumi von der Bahnhofsmission beobachtet vor allem seit der Pandemie eine stärkere Verelendung ihrer Gäste. Die Menschen, die am Hauptbahnhof Hilfe suchen, werden zudem immer älter. Masoumi hat einen konkreten Vorschlag: „Es müsste in jedem Hamburger Stadtteil eine Krankenstube geben“, sagt sie. In der Krankenstube der Caritas auf St. Pauli werden akut oder chronisch kranke 27