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Hinz&Kunzt_353_Juli

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WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Intern<br />

Wohnung überhaupt führen können.<br />

Wer dieses Stufensystem durchlaufen<br />

hat, bekommt in der Regel irgendwann<br />

die Chance auf eine Wohnung.<br />

Was spricht gegen so ein System?<br />

Dass es die Menschen ein Stück weit<br />

entmündigt. Wohnungslose im Wohnheim<br />

etwa bekommen zunächst keinen<br />

eigenen Mietvertrag, sondern die Einrichtung<br />

schließt diesen ab. Nach einem<br />

Jahr wird dann entschieden, ob<br />

die Person einen Mietvertrag auf ihren<br />

Namen bekommt. So eine Regelung<br />

für erwachsene Leute finde ich bedenklich.<br />

Es gibt Leute, die lehnen es<br />

ab, sich in so ein Stufensystem hineinzubegeben,<br />

weil sie sich da mies behandelt<br />

fühlen – und das kann ich gut<br />

nachvollziehen.<br />

Auch wer auf der Straße lebt, kann Verantwortung<br />

für sich selbst übernehmen – dieses<br />

Prinzip war und ist dem Sozialarbeiter<br />

wichtig. Auch er musste manchmal Geduld<br />

aufbringen, wenn Hinz&Künztler:innen<br />

lange benötigten, um Unterstützung anzufragen<br />

oder einige Anläufe brauchten, um bei<br />

Ämtern und Behörden ihre Rechte geltend zu<br />

machen. Doch ihnen diese Aufgaben voreilig<br />

abzunehmen, hält er für falsch – weil es den<br />

Menschen die Chance nimmt, selbst etwas zu<br />

erreichen. „Dass er die Leute gelassen, aber<br />

dabei immer im Blick gehabt hat, das<br />

hat s eine Arbeit besonders gemacht“, sagt<br />

Mitstreiterin Birgit Müller.<br />

Hat Hamburg heute ein Winternotprogramm,<br />

mit dem du einverstanden<br />

bist?<br />

Dass die Stadt in der Halskestraße ein<br />

Hotel angemietet hat, um Obdachlose<br />

in Einzelzimmern unterzubringen,<br />

ist ein Quantensprung. Trotzdem werden<br />

auch dort mehrere Hundert obdachlose<br />

Menschen in einem Haus<br />

untergebracht.<br />

Was ist daran problematisch?<br />

Im Winternotprogramm kommen extrem<br />

kranke Menschen zusammen, die<br />

stark alkoholisiert sind oder die sich in<br />

einem psychischen Ausnahmezustand<br />

befinden. Du willst zu so einer Gruppe<br />

von Menschen nicht dazugehören.<br />

Dieses Argument nennen obdachlose<br />

Menschen meist nicht, sie sagen eher:<br />

„Ich habe Angst, beklaut zu werden.“<br />

Das mag vorkommen. Aber ich glaube,<br />

die Konfrontation mit der eigenen Krise<br />

hindert viele daran, ins Winternotprogramm<br />

zu gehen.<br />

Seit Beginn des Jahres sind schon<br />

wieder acht wohnungslose Menschen<br />

auf der Straße gestorben, darunter<br />

auch Pluto, ein bekannter und beliebter<br />

Hinz&Künztler. Was lösen solche<br />

Todesmeldungen in dir aus?<br />

Immer noch: Trauer. Ich werde aber<br />

auch aggressiv. Wenn ich daran denke,<br />

was wir gerade für Pluto alles unternommen<br />

haben, damit man ihm hilft!<br />

Was Pluto gebraucht hätte, war ein Zuhause.<br />

Er hat sogar das Winternotprogramm<br />

immer bis zum letzten Tag<br />

in Anspruch genommen. Wenn man<br />

das alles so spürt und mitbekommt, und<br />

dann sterben die Leute auf der Straße –<br />

irgendwann fehlen einem einfach die<br />

Worte. Ich merke, dass ich darüber gar<br />

nicht mehr sachlich diskutieren kann.<br />

Das ist auch ein Grund, warum ich es<br />

für sinnvoll halte, in Frührente zu gehen.<br />

Welche Ziele hättest du gerne noch<br />

erreicht?<br />

Das oberste Ziel ist nicht erreicht worden,<br />

und zwar, dass wir gemeinsam mit<br />

der Sozialbehörde ein Konzept erarbeiten,<br />

wie alle Obdachlosen in Hamburg<br />

eine dauerhafte, menschenwürdige<br />

Unterkunft bekommen. Es kann nicht<br />

sein, dass die Sozialarbeit in Hamburg<br />

nur noch das Leben der Menschen<br />

auf der Straße erhalten soll, weil die<br />

Angebote fehlen, die eine wirkliche<br />

Integration möglich machen. Daran<br />

muss weitergearbeitet werden.<br />

Beharrlich Missstände ansprechen und<br />

zeigen, wie es besser gehen kann – damit<br />

haben Stephan Karrenbauer und seine<br />

Mitstreiter:innen bei Hinz&<strong>Kunzt</strong> politisch<br />

viel für Obdachlose bewirkt. Nach einer<br />

Deutschlandreise präsentierten er und Birgit<br />

Müller der Sozialbehörde eine Sammlung<br />

Lang ist’s her: Stephan<br />

Karrenbauer im Mai 2001<br />

43<br />

von guten Projekten für Obdachlose, die in<br />

anderen Städten schon etabliert waren, und<br />

s tießen damit auch ein Umdenken in der<br />

Bürgerschaft an. Mit dem früheren Sozialsenator<br />

Detlef Scheele liefen sie nachts durch<br />

die Innenstadt, um auf die Menschen aufmerksam<br />

zu machen, die dort Platte machten.<br />

Als das Betteln in der Hamburger Innenstadt<br />

verboten werden sollte, startete Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />

Aktionen dagegen und wendete das Blatt.<br />

In vielen kleinen Schritten veränderten<br />

Stephan Karrenbauer und die, die mit ihm an<br />

einem Strang zogen, die politische Agenda,<br />

initiierten runde Tische und etablierten einen<br />

beständigen Dialog zwischen Stadt und<br />

ziviler Obdachlosenhilfe.<br />

Als politischer Sprecher warst du auch<br />

Lobbyist für die Rechte von Obdachlosen.<br />

Bist du zufrieden mit dem, was<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong> politisch geschafft hat?<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong> hat erreicht, dass das<br />

Thema Obdachlosigkeit inzwischen<br />

über Jahrzehnte fest verankert ist in den<br />

Köpfen der Politiker. Das haben wir<br />

hinbekommen: Den Hamburgern immer<br />

wieder klarzumachen, dass es keine<br />

Normalität ist, dass Menschen auf der<br />

Straße schlafen. Deshalb gibt es keinen<br />

Senat, der sich uns gegenüber verweigert<br />

hat oder nicht bereit wäre, Gespräche<br />

zu führen. Vielleicht auch, weil<br />

Politiker grundsätzlich gerne lieber mit<br />

guten Geschichten in unserem Magazin<br />

stehen. Wir sind Meinungsmacher. •<br />

redaktion@hinzundkunzt.de

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