Rahma ist in Hamburg aufgewachsen, sie hat nie woanders gewohnt. Ein normales Leben kann sie dennoch nicht führen – aufgrund fehlender Papiere.
WWW.HINZUNDKUNZT.DE Stadtgespräch In der Falle Wie eine 16-jährige Hamburgerin um einen Pass kämpft – und damit um das Recht auf ein normales Leben. TEXT: ULRICH JONAS FOTOS: MIGUEL FERRAZ Rahma ist eine Heranwachsende, wie sie sich viele Eltern wünschen: freundlich, ziel strebig, klug. Hat nie die Schule geschwänzt, nimmt keine Drogen, besucht die höhere Handelsschule und denkt darüber nach, wo sie eine Ausbildung machen könnte. Immobilienmaklerin möchte sie mal werden. „Ich brauche Abwechslung, und Verkaufen macht mir Spaß!“, sagt sie mit einem kleinen Lächeln. Doch sie steht vor einem Problem, das ihr Leben zunehmend überschattet: Rahma hat in den 16 Jahren und zehn Monaten seit ihrer Geburt in Hamburg nie ein Ausweispapier besessen. Alle drei bis sechs Monate muss die Tochter zweier Geflüchteter deshalb bei der Ausländerbehörde vorsprechen, um sich eine sogenannte Duldung ausstellen zu lassen. Formal droht der jungen Hamburgerin jederzeit die Abschiebung. Vor allem aber fehlt ihr jeder Raum für Perspektiven: Wer stellt eine Auszubildende ein, die drei Monate später vielleicht nicht mehr da ist? „Das ist eine Last, die ich tragen muss“, sagt die junge Frau mit ernstem Gesicht. „Obwohl ich eine saubere Akte habe und nie etwas Schlimmes gemacht habe.“ Und diese Last wiegt von Tag zu Tag schwerer: Ein Bankkonto eröffnen? Ohne Ausweispapiere undenkbar. Mit der Familie in den Auslandsurlaub fahren? Nicht möglich. Sie erzähle ihre Geschichte nicht jeder und jedem, sagt Rahma. Aber wenn Freundinnen sie fragen würden, ob sie gemeinsam den Führerschein machen oder verreisen, „muss ich mit Nein antworten.“ Und dann muss sie entweder lügen oder beginnen, eine lange, komplizierte Geschichte zu erzählen. Auf die Welt kommt sie 2005 in Volksdorf. Ihre Mutter war mit Rahmas älteren Halbgeschwistern vor dem Krieg in der Kaukasus-Republik Inguschetien geflohen, ihr erster Ehemann verlor dort sein Leben. Rahmas Vater stammt aus dem Irak. In einer Geflüchteten-Unterkunft lernten er und die „Ich habe nie etwas Schlimmes gemacht.“ RAHMA Mutter sich kennen und lieben. Doch als Rahma fünf Jahre alt ist, trennen sich ihre Eltern. Die Kinder bleiben bei der Mutter. 16 Jahre dauert es, bis diese nach einer heiklen Reise in ihre Heimat und mithilfe der Ausländerbehörde einen russischen Pass ausgestellt bekommt – Voraussetzung für ein sichereres Aufenthaltsrecht in Deutschland. Auch Rahmas Halbgeschwister haben entsprechende Papiere. Nur Rahma selbst – obwohl sie nie woanders als in Hamburg gelebt hat – bekommt keinen Aufenthaltstitel. Weil sie keinen Pass hat. Keinen deutschen. Keinen russischen. Und auch keinen irakischen. 7 Wären ihre Eltern vor 20 Jahren nach Großbritannien geflohen, hätte Rahma heute einen britischen Pass und vermutlich einige Probleme weniger: Außerhalb Deutschlands wird die Staatsangehörigkeit meist nicht über die Herkunft der Vorfahren definiert, sondern darüber, wo Menschen geboren werden und leben. Doch die junge Frau wohnt in Hamburg, und das bedeutet: Ein dauerhaftes Bleiberecht wird sie so schnell nicht bekommen und einen deutschen Pass schon gar nicht. Da hilft es nicht, dass sie in der Unterkunft, in der sie mit Mutter und Oma lebt, nach der Schule zwei Kindergruppen leitet. Dass Halbschwester und Halbbruder studieren und nebenbei jobben, um sich ihr Leben zu finanzieren. Und es hilft Rahma auch nicht, dass die Mutter, nachdem sie ihren Job als Hotelreinigungskraft wegen Corona verloren hat, sich zur Betreuerin von alten Menschen hat umschulen lassen, um finanziell möglichst bald wieder auf eigenen Beinen zu stehen. Die Ausländerbehörde sieht keinen Ermessensspielraum und verweist auf den fehlenden Pass. Doch wo soll der herkommen? Über die Mutter? Das Generalkonsulat der Russischen Förderation schreibt, um Rahma wie ihre Mutter und die Halbgeschwister als russische Staatsbürgerin anzuerkennen, müsse sie zwecks Feststellung ihrer Identität „einen Personalausweis oder einen ausländischen Reisepass“ vorlegen. Doch alles, was Rahma hat, ist eine deutsche Geburtsurkunde. Und ihre Geschichte als Tochter einer Russin und eines Irakers,