30. Mai bis 12. Juni 2010 - Kirchenblatt
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1898<br />
Secondo Pia, Fotograf<br />
1855–1941<br />
Leinwand und legte ihn in ein ausgehaue -<br />
nes Grab, in dem noch niemand bestattet<br />
worden war.» Als direkte Beweise dienen<br />
diese Bibelstellen natürlich nicht.<br />
Ähnlich sieht es allerdings auch mit allen<br />
Gegenbeweisen aus. Sie haben noch nie<br />
das Gegenteil beweisen können. Gewiss<br />
ist nur Folgendes: Das grosse Leinentuch<br />
verwahrt zwischen vielen Blutflecken<br />
eine skandalöse, höchst aufreizende<br />
Nachricht. In diesem langen Laken war<br />
einmal jemand verpackt. Es zeigt den<br />
Schatten der Vorder- und Rückseite eines<br />
bärtigen Mannes mit schweren Verletzungen<br />
an den Handgelenken, den Füssen,<br />
am Kopf und eigentlich überall. Der<br />
Geschundene ist splitterfasernackt! Unmittelbar<br />
nach seinem Tod hat man ihm<br />
auch noch eine grosse Wunde zwischen<br />
den Rippen beigebracht. Blut und seröses<br />
Wasser sind ihm aus dieser Wunde im Liegen<br />
den Rücken hinuntergelaufen: Leichenblut,<br />
das «Blut der Seele», wie es in<br />
der Antike hiess.<br />
Bei dem Blut am Kopf, aus den Nagelwunden<br />
an den Händen und Füssen und<br />
den Geisselspuren handelte es sich um<br />
das Blut eines Lebenden mit Blutgruppe<br />
AB+. In dem Tuch lag ein Mann, dem ex -<br />
akt das Gleiche widerfuhr, was Jesus von<br />
Nazareth nach Auskunft der Evangelien<br />
geschehen ist. Kein Objekt der Archäologie<br />
ist so kompatibel mit jedem Detail der<br />
Passion, wie sie uns von diesem Menschensohn<br />
überliefert wurde. Kein Bild,<br />
kein Schriftstück auf der ganzen Erde<br />
spiegelt präziser, wie Jesus zu Tode kam.<br />
Wiederentdeckung im Jahr 1898<br />
Erste Fotos aus dem Jahr 1898 machten<br />
«das Grabtuch» zudem dafür berühmt,<br />
dass uns in seinem fotografischen Negativ<br />
das Positiv eines Gesichtes ansieht.<br />
Dennoch kann jeder Laie sehen, dass die<br />
lange Leinwand selbst kein Foto ist und<br />
auch nicht der Film einer kosmischen Kamera.<br />
Albrecht Dürer hat schon 1516 be-<br />
wiesen, dass das Tuch auch kein Gemälde<br />
ist, als er mit seinem Versuch scheiterte,<br />
mit dem Pinsel ein Abbild davon herzustellen.<br />
Was wir sehen, hat keine Konturen,<br />
keine Zeichnung, keine Pigmente,<br />
rein gar nichts davon und ruht nur in den<br />
oberen Teilen der Faser. Keiner kann sagen,<br />
was es genau ist, und wie dieses Bild<br />
auf den Stoff geraten ist. Dennoch tobt<br />
um das zarte geheimnisvolle Bild ein grosser<br />
Kampf. Die einen gehen davor in die<br />
Knie. Andere haben einen Heidenspass,<br />
es als Fälschung zu entlarven, immer wieder.<br />
Kalt lässt das Tuch kaum einen, der<br />
sich ihm nähert. Nur beweisen lässt sich<br />
an ihm nichts.<br />
Fruchtbarer scheint es darum, sich einmal<br />
in einer neuen Versuchsanordnung von<br />
allen Beweisen für oder gegen die Echtheit<br />
des Grabtuchs zu verabschieden und<br />
einen Schritt dahinter anzusetzen. Denn<br />
es ist ja schon längst das am gründlichs -<br />
ten untersuchte Textilstück der Welt. Danach<br />
bleibt die Entstehung des Bildes, das<br />
auf seinen Fasern ruht, schlicht unerklärlich.<br />
Die entscheidende Frage aber, ob es<br />
das authentische Grabtuch Jesu ist, lässt<br />
sich nicht mit einer Fifty-fifty-Lösung beantworten.<br />
Da gibt es nach Abwägung aller Indizien<br />
nur ein klares Ja oder Nein. Ist es das echte<br />
Grabtuch, fügen alle schlüssigen Beweisketten<br />
dem nichts mehr hinzu. Ist es nicht<br />
so, können alle Beweise dafür oder dagegen<br />
daran nichts mehr ändern. Aufregender<br />
ist deshalb heute, einer umgekehrten<br />
Fragestellung folgen. Also nicht der Frage,<br />
ob es echt ist oder nicht, sondern der<br />
Frage: Was ist, wenn es so ist?<br />
Eine lange Reise<br />
Gegen alle Wahrscheinlichkeit hat es<br />
überlebt. Schon in den frühesten Dokumenten<br />
der Christenheit war von Tüchern<br />
die Rede – und hier haben wir nun<br />
ein Tuch, das dieser Rede vollkommen<br />
entspricht. Kein Widerspruch trennt es<br />
Das Grabtuch wird in einem, mit dem Edelgas Argon gefüllten,<br />
2500 Kilogramm schweren Glasbehälter aufbewahrt.<br />
Die Ausstellung eröffnete Kardinal Severino Poletto, Turins Erz<strong>bis</strong>chof.<br />
von der Annahme, dass wir es in Turin<br />
wahrhaftig vor uns haben. Wären wir vor<br />
einem Gericht, würde das Grabtuch<br />
leicht jeden Indizienprozess gewinnen,<br />
dass es mit dem «reinen Leinen» des Joseph<br />
von Arimatäa identisch ist.<br />
Vor kurzem hat Richter Dr. Markus van<br />
den Hövel sich in Bochum der Mühe unterzogen,<br />
den Prozess noch einmal aufzurollen.<br />
Sein Urteil ist eindeutig. In den<br />
70er-Jahren hat der Gerichtsmediziner<br />
Dr. Max Frei aus Zürich auf dem Tuch eine<br />
Reihe von Blütenpollen entdeckt, die ihm<br />
verschiedene Landschaften eingetragen<br />
haben, wo es sich befunden haben muss.<br />
Im Westen ist der Aufenthalt des Tuches<br />
seit dem Jahr 1356 minutiös dokumentiert<br />
– etwa in Lirey, Saint Hippolyte oder<br />
Chambéry. Doch folgt man der Spur der<br />
verborgenen Pollen in diesem Gewebe,<br />
dann muss es auch in Jerusalem, der Gegend<br />
zwischen Euphrat und Tigris und in<br />
Konstantinopel gewesen sein, bevor es<br />
nach Turin kam. Es ist eine Strecke, die<br />
sich von keinem Navigator erfassen lässt.<br />
Der Weg des Grabtuchs geht durch weite<br />
Wüsten, uralte Städte und durch die<br />
grosse Stille. Unbegreifliches Glück ist<br />
dem Tuch auf seiner langen Reise oft widerfahren,<br />
zuletzt im Zweiten Weltkrieg,<br />
als es vor den Rollkommandos der deutschen<br />
Wehrmacht in das Kloster Montevergine<br />
hinter Avellino in der Campagna<br />
in Sicherheit gebracht wurde – und eben<br />
nicht, wie geplant, in die mächtige Benediktiner-Abtei<br />
auf dem Monte Cassino,<br />
die als die sicherste Trutzburg Italiens<br />
galt.<br />
Auf seinem Weg vom Morgenland zum<br />
Abendland hätte die Sindon hundertmal<br />
verbrennen, vernichtet werden oder verloren<br />
gehen können. Plünderungen,<br />
Diebstähle und eine Serie von Rechtsbrüchen<br />
haben es gerettet. Der Leinwand<br />
ist eine Landkarte des Leidens eingezeichnet.<br />
Doch richtig beginnt sie erst in unserer<br />
Zeit zu reden.<br />
KIRCHENBLATT 12 <strong>2010</strong> 5<br />
Thema