december-2011
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Ludmilla Grigorieva geht in die Luft: Teil 2<br />
Heike Schwandt, Gewinnerin des Germanwings Story Award<br />
»Kommen Sie, das ist doch gar kein Rundfl<br />
ug. Sie möchte doch nur einmal mitfl iegen.<br />
Sie machen ihre Arbeit und sie sitzt<br />
daneben. Und wir bezahlen Ihnen natürlich<br />
auch etwas. Sehen Sie, es ist der<br />
Herzenswunsch einer alten Frau. Was<br />
würden Sie an unserer Stelle tun? In die<br />
Bezirksstadt zum Flughafen ist es viel zu<br />
weit. Sie sind der Einzige, der ihr diesen<br />
Wunsch erfüllen kann.«Sergej Walunin<br />
überlegte. Ein paar Rubel zusätzlich könnte<br />
er gut brauchen. Das Benzin war schon<br />
wieder teurer geworden und seine Einnahmen<br />
reichten zurzeit kaum aus, um seine<br />
Maschine vernünftig zu warten. Aber er<br />
hatte keine Lizenz für Passagierfl üge. Andererseits:<br />
Wer würde das schon überprüfen,<br />
wenn er wie immer von dem alten<br />
Militärgelände aus starten würde, das er<br />
nach dem Abzug der Truppen billig gekauft<br />
und auf dem er seinen Ein-Mann-Betrieb<br />
eingerichtet hatte? »Na gut«, stimmte er<br />
schließlich zu. »Aber es muss unter uns<br />
bleiben, sonst nehme ich sie nicht mit.<br />
Versprochen?«»Versprochen!«Das halbe<br />
Dorf stand vor Ludmilla Grigorievas Haus,<br />
um sie zu verabschieden wie zu einer<br />
Weltreise, als ihre Kinder in Anatols<br />
kleinem Auto an jenem großen Tag vorfuhren,<br />
an dem der Geburtstags-Flug<br />
statt-fi nden sollte. Einhellig waren alle Umstehenden<br />
der Meinung, dass die Alte nun<br />
völlig verrückt geworden sei. Schade um<br />
den schönen Wunsch. Wenn schon Geld<br />
ausgeben, wäre ein neuer Fernseher oder<br />
eine Waschmaschine viel sinnvoller<br />
gewesen. Doch Ludmilla Grigorieva hatte<br />
diese Kommentare nur mit einem Lächeln<br />
weggewischt. Das Bild auf ihrem Fernseher<br />
sei zwar schlecht, aber das Programm<br />
sei ja auch nicht gut. Und ihre Wäsche<br />
hätte sie schon seit jeher in dem großen<br />
Zuber hinter dem Haus gewaschen, auch<br />
als noch die Kinder und deren Väter zu<br />
Hause gewesen waren. Da brauchte sie für<br />
ihre paar Hemden und Strümpfe jetzt auch<br />
keine Waschmaschine mehr. Ludmilla<br />
Grigorieva hatte sich fein gemacht. Sie trug<br />
ihr bestes geblümtes Kleid und das neue<br />
Kopftuch, das sie sich im vergangenen<br />
Jahr zum Osterfest gekauft hatte. Vera<br />
öffnete ihrer Mutter die Tür und half ihr,<br />
sich auf den Beifahrersitz des alten Lada<br />
zu setzen. »Gib mir Deine Tasche. Was hast<br />
du eigentlich alles da drin? Du willst doch<br />
nicht verreisen?«, forderte sie ihre Mutter<br />
auf und griff nach der großen, ausgebeulten<br />
Tasche, die Ludmilla Grigorieva auf<br />
den Knien balancierte. »Das geht Dich gar<br />
nichts an«, sagte Ludmilla Grigorieva<br />
streng und packte die Griffe der Tasche<br />
fester. »Das brauche ich.« Vera zuckte die<br />
Schultern und zwängte sich zu ihren beiden<br />
Schwestern auf die Rückbank.<br />
Zweieinhalb Stunden rumpelten sie über<br />
die Straße nach Süden, vorbei an endlosen<br />
Feldern und vereinzelten Dörfern, bis sie<br />
am Rand einer Kleinstadt auf einen mit<br />
Betonplatten eher schlecht als recht befestigten<br />
Weg einbogen, der sie zu dem<br />
ehemaligen Militärgelände führte. Sergej<br />
Walunin erwartete sie bereits in seinem<br />
gefl ickten Overall hinter dem Hangar. Er<br />
runzelte die Stirn, als er sah, wie Ludmilla<br />
Grigorieva sich aus dem Lada schälte. Das<br />
würde ein mühsamer Start werden. Das<br />
Zuladegewicht seiner einmotorigen<br />
Maschine war mit den Anbauten zum<br />
Sprühen und den Tanks voller Spritzmittel<br />
sowieso schon ausgereizt. Und Ludmilla<br />
Grigorievas Sonntagskleid spannte sich<br />
über einer mehr als stattlichen Figur. Er<br />
überlegte kurz, ob er einen Teil des Spritzmittels<br />
wieder ablassen sollte, aber dann<br />
entschied er sich dagegen. Er würde sonst<br />
ein zweites Mal starten müssen, um alle<br />
Bäume der Plantage einsprühen zu können,<br />
und außerdem war er in seiner Militärzeit<br />
noch unter ganz anderen Bedingungen<br />
gefl ogen. Ludmilla Grigorieva ließ sich<br />
von ihm die Gurte anlegen und festzurren.<br />
»Sind Sie schon einmal gefl ogen?«, fragte<br />
er sie. Stumm schüttelte sie den Kopf. Zum<br />
ersten Mal in ihrem Leben war sie so aufgeregt,<br />
dass es ihr die Sprache verschlug.<br />
»Lassen Sie doch ihre Tasche draußen,<br />
ihre Kinder passen darauf auf«, versuchte<br />
Sergej Walunin sie zu überreden, doch sie<br />
schüttelte erneut den Kopf und schob die<br />
Tasche unter ihre Beine. Ergeben schloss<br />
Walunin die Türen und bereitete den Start<br />
vor. Er meldete per Funk seinen Abfl ug bei<br />
der Flugsicherung an, überprüfte noch einmal<br />
routinemäßig die Instrumente und<br />
drückte auf den Starterknopf. Unter dem<br />
ohrenbetäubenden Dröhnen des<br />
Propellermotors rollten sie in Position,<br />
dann beschleunigte die Maschine, schüttelte<br />
sich auf der holprigen Piste wie ein<br />
unwilliges Pferd und hob kurz vor Ende der<br />
Startbahn mühsam ab. Mit weit aufgerissenen<br />
Augen beobachtete Ludmilla Grigorieva,<br />
wie die Landschaft unter ihnen immer<br />
kleiner wurde, Häuser und sogar<br />
Lagerhallen zu Spielzeugminiaturen<br />
schrumpften. Obwohl sie als Kind der<br />
Ebenen das Gefühl der Weite gewohnt war,<br />
so nahm ihr der sich öffnende Himmel und<br />
die scheinbare Unendlichkeit des Horizonts<br />
den Atem. Zwischen den Wolken brach ein<br />
Sonnenstrahl hindurch und streichelte wie<br />
mit einem langen Finger über die sanften<br />
Hügel mit ihren Feldern und Weiden. Ludmilla<br />
Grigorieva hätte am liebsten laut gesungen,<br />
doch neben dem fremden Mann in<br />
diesem engen Flugzeug traute sie sich<br />
nicht. Das letzte Mal, dass sie sich so überschäumend<br />
glücklich gefühlt hatte, war<br />
beim Heiratsantrag ihres ersten Mannes<br />
gewesen. Da war sie siebzehn und ein<br />
Backfi sch, der von der Zukunft nur in rosaroten<br />
Bildern träumte. So stiegen ihr nur<br />
ein paar Tränen in die Augenwinkel, die sie<br />
verstohlen mit einem Zipfel ihres Kopftuchs<br />
wegwischte. Nach etwa 20 Minuten<br />
hatten sie ihr Ziel, die Obstplantagen, erreicht.<br />
Sergej Walunin ging tiefer, um die<br />
richtige Höhe zum Verteilen des Spritzmittels<br />
zu haben. In exakten Schleifen fl ogen<br />
sie über die Reihen der Bäume, hin und<br />
wieder zurück, wie ein Schiffchen auf dem<br />
Webstuhl. Ludmilla Grigorieva machte es<br />
nichts aus, dass sich unter ihnen nicht die<br />
Serengeti, sondern die Landschaft ihrer<br />
Heimat dehnte. Und wenn man die Augen<br />
ein wenig zusammenkniff, dann konnte<br />
man das Meer von Baumkronen sogar für<br />
eine Herde von rundlichen, dunklen Tieren<br />
halten. Viel zu schnell für ihren Geschmack<br />
waren die Tanks leer und Sergej Wolunin<br />
drehte ab. Die Mittagsthermik ließ die<br />
kleine Maschine auf dem Rückfl ug bocken<br />
wie ein Fohlen. Ludmilla Grigorieva beugte<br />
sich plötzlich vor und begann, an dem<br />
Reißverschluss ihrer Tasche herumzuzerren.<br />
Erschrocken sah Wolunin zu ihr<br />
hinüber. Ihr würde doch hoffentlich nicht<br />
schlecht werden und sie sich übergeben<br />
müssen? »Was ist los? Ist Ihnen nicht<br />
gut?«, fragte er über den Motorenlärm hinweg.<br />
»Nein, nein«, sie richtete sich wieder<br />
auf und hielt ein Fünf-Liter-Einwegglas mit<br />
Gurken in der Hand. »Das habe ich mitgebracht.<br />
Für Sie. Als Dankeschön. Mögen<br />
Sie?« »Klar. Immer. Wissen Sie was?<br />
Halten Sie mal das Steuerruder.« Bevor<br />
Ludmilla Grigorieva protestieren konnte,<br />
hatte er ihr das Glas aus der Hand genommen<br />
und schraubte den Deckel ab. Das<br />
Flugzeug machte einen kleinen Hopser,<br />
doch Wolunin klemmte sein Knie unter das<br />
Steuerruder und brachte es wieder auf<br />
Kurs. »Ah, so gute Gurken habe ich schon<br />
lange nicht mehr gegessen. Meine Großmutter<br />
hat sie früher so gemacht. Mit Dill<br />
und Honig. Da ist doch Honig drin, oder?«<br />
Ludmilla Grigorieva lachte: »Sie schmecken<br />
nur mit Honig. Heutzutage setzen die<br />
Leute den Sud mit Essig und Zucker an,<br />
aber das ist nichts. Auch wenn der Honig<br />
teurer ist, aber so muss man es<br />
machen.«Sergej Wolunin griff noch einmal<br />
in das Glas und holte sich eine Gurke heraus,<br />
dann widmete er seine Aufmerksamkeit<br />
wieder seinem Flugzeug. In weiter<br />
Entfernung kam der alte Militärfl ugplatz in<br />
ihr Blickfeld. »Wir sind gleich da«, kündigte<br />
er an und klopfte mit dem Zeigefi nger auf<br />
den Höhenmesser, der gerne einmal ein<br />
bisschen hängenblieb. Er spürte, wie ihm<br />
Ludmilla Grigorieva auf den Arm tippte.<br />
»Sagen Sie, junger Mann, wie lange könnte<br />
ich für drei Gläser Gurken mit ihnen<br />
mitfl iegen?«Sergej Wolunin hätte beinahe<br />
laut losgelacht, doch dann bemerkte er,<br />
wie die alte Frau ihn ansah. Ihr Kopftuch<br />
war etwas nach hinten gerutscht und eine<br />
graue Strähne hing ihr über die Stirn. Ihre<br />
Augen leuchteten, ihre Wangen waren<br />
gerötet wie bei einem Kind vor einem Tisch<br />
mit Geschenken. »Es hat Ihnen gefallen,<br />
Mütterchen?«, fragte er mit gedämpfter<br />
Stimme, aber doch so laut, dass sie ihn<br />
verstehen konnte. »Ja. Wenn ich jünger<br />
wäre, würde ich meine Kuh und mein Haus<br />
verkaufen und Fliegen lernen.«Sergej<br />
Wolunin grinste so breit, dass sein goldener<br />
Eckzahn aufblitzte. »Drei Gläser, da<br />
lässt sich schon was machen.«Erstaunt<br />
beobachteten ihre Kinder, wie Sergej<br />
Wolunin Ludmilla Grigorieva galant aus<br />
dem Flugzeug half und sie ihm einen schallenden<br />
Kuss mitten auf den Mund drückte.<br />
»Anatol«, rief sie. »In sechs Wochen<br />
brauche ich Dich und Dein Auto. Ich habe<br />
eine geschäftliche Verabredung mit Herrn<br />
Wolunin hier.«<br />
GW—145