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Ludmilla Grigorieva geht in die Luft: Teil 2<br />

Heike Schwandt, Gewinnerin des Germanwings Story Award<br />

»Kommen Sie, das ist doch gar kein Rundfl<br />

ug. Sie möchte doch nur einmal mitfl iegen.<br />

Sie machen ihre Arbeit und sie sitzt<br />

daneben. Und wir bezahlen Ihnen natürlich<br />

auch etwas. Sehen Sie, es ist der<br />

Herzenswunsch einer alten Frau. Was<br />

würden Sie an unserer Stelle tun? In die<br />

Bezirksstadt zum Flughafen ist es viel zu<br />

weit. Sie sind der Einzige, der ihr diesen<br />

Wunsch erfüllen kann.«Sergej Walunin<br />

überlegte. Ein paar Rubel zusätzlich könnte<br />

er gut brauchen. Das Benzin war schon<br />

wieder teurer geworden und seine Einnahmen<br />

reichten zurzeit kaum aus, um seine<br />

Maschine vernünftig zu warten. Aber er<br />

hatte keine Lizenz für Passagierfl üge. Andererseits:<br />

Wer würde das schon überprüfen,<br />

wenn er wie immer von dem alten<br />

Militärgelände aus starten würde, das er<br />

nach dem Abzug der Truppen billig gekauft<br />

und auf dem er seinen Ein-Mann-Betrieb<br />

eingerichtet hatte? »Na gut«, stimmte er<br />

schließlich zu. »Aber es muss unter uns<br />

bleiben, sonst nehme ich sie nicht mit.<br />

Versprochen?«»Versprochen!«Das halbe<br />

Dorf stand vor Ludmilla Grigorievas Haus,<br />

um sie zu verabschieden wie zu einer<br />

Weltreise, als ihre Kinder in Anatols<br />

kleinem Auto an jenem großen Tag vorfuhren,<br />

an dem der Geburtstags-Flug<br />

statt-fi nden sollte. Einhellig waren alle Umstehenden<br />

der Meinung, dass die Alte nun<br />

völlig verrückt geworden sei. Schade um<br />

den schönen Wunsch. Wenn schon Geld<br />

ausgeben, wäre ein neuer Fernseher oder<br />

eine Waschmaschine viel sinnvoller<br />

gewesen. Doch Ludmilla Grigorieva hatte<br />

diese Kommentare nur mit einem Lächeln<br />

weggewischt. Das Bild auf ihrem Fernseher<br />

sei zwar schlecht, aber das Programm<br />

sei ja auch nicht gut. Und ihre Wäsche<br />

hätte sie schon seit jeher in dem großen<br />

Zuber hinter dem Haus gewaschen, auch<br />

als noch die Kinder und deren Väter zu<br />

Hause gewesen waren. Da brauchte sie für<br />

ihre paar Hemden und Strümpfe jetzt auch<br />

keine Waschmaschine mehr. Ludmilla<br />

Grigorieva hatte sich fein gemacht. Sie trug<br />

ihr bestes geblümtes Kleid und das neue<br />

Kopftuch, das sie sich im vergangenen<br />

Jahr zum Osterfest gekauft hatte. Vera<br />

öffnete ihrer Mutter die Tür und half ihr,<br />

sich auf den Beifahrersitz des alten Lada<br />

zu setzen. »Gib mir Deine Tasche. Was hast<br />

du eigentlich alles da drin? Du willst doch<br />

nicht verreisen?«, forderte sie ihre Mutter<br />

auf und griff nach der großen, ausgebeulten<br />

Tasche, die Ludmilla Grigorieva auf<br />

den Knien balancierte. »Das geht Dich gar<br />

nichts an«, sagte Ludmilla Grigorieva<br />

streng und packte die Griffe der Tasche<br />

fester. »Das brauche ich.« Vera zuckte die<br />

Schultern und zwängte sich zu ihren beiden<br />

Schwestern auf die Rückbank.<br />

Zweieinhalb Stunden rumpelten sie über<br />

die Straße nach Süden, vorbei an endlosen<br />

Feldern und vereinzelten Dörfern, bis sie<br />

am Rand einer Kleinstadt auf einen mit<br />

Betonplatten eher schlecht als recht befestigten<br />

Weg einbogen, der sie zu dem<br />

ehemaligen Militärgelände führte. Sergej<br />

Walunin erwartete sie bereits in seinem<br />

gefl ickten Overall hinter dem Hangar. Er<br />

runzelte die Stirn, als er sah, wie Ludmilla<br />

Grigorieva sich aus dem Lada schälte. Das<br />

würde ein mühsamer Start werden. Das<br />

Zuladegewicht seiner einmotorigen<br />

Maschine war mit den Anbauten zum<br />

Sprühen und den Tanks voller Spritzmittel<br />

sowieso schon ausgereizt. Und Ludmilla<br />

Grigorievas Sonntagskleid spannte sich<br />

über einer mehr als stattlichen Figur. Er<br />

überlegte kurz, ob er einen Teil des Spritzmittels<br />

wieder ablassen sollte, aber dann<br />

entschied er sich dagegen. Er würde sonst<br />

ein zweites Mal starten müssen, um alle<br />

Bäume der Plantage einsprühen zu können,<br />

und außerdem war er in seiner Militärzeit<br />

noch unter ganz anderen Bedingungen<br />

gefl ogen. Ludmilla Grigorieva ließ sich<br />

von ihm die Gurte anlegen und festzurren.<br />

»Sind Sie schon einmal gefl ogen?«, fragte<br />

er sie. Stumm schüttelte sie den Kopf. Zum<br />

ersten Mal in ihrem Leben war sie so aufgeregt,<br />

dass es ihr die Sprache verschlug.<br />

»Lassen Sie doch ihre Tasche draußen,<br />

ihre Kinder passen darauf auf«, versuchte<br />

Sergej Walunin sie zu überreden, doch sie<br />

schüttelte erneut den Kopf und schob die<br />

Tasche unter ihre Beine. Ergeben schloss<br />

Walunin die Türen und bereitete den Start<br />

vor. Er meldete per Funk seinen Abfl ug bei<br />

der Flugsicherung an, überprüfte noch einmal<br />

routinemäßig die Instrumente und<br />

drückte auf den Starterknopf. Unter dem<br />

ohrenbetäubenden Dröhnen des<br />

Propellermotors rollten sie in Position,<br />

dann beschleunigte die Maschine, schüttelte<br />

sich auf der holprigen Piste wie ein<br />

unwilliges Pferd und hob kurz vor Ende der<br />

Startbahn mühsam ab. Mit weit aufgerissenen<br />

Augen beobachtete Ludmilla Grigorieva,<br />

wie die Landschaft unter ihnen immer<br />

kleiner wurde, Häuser und sogar<br />

Lagerhallen zu Spielzeugminiaturen<br />

schrumpften. Obwohl sie als Kind der<br />

Ebenen das Gefühl der Weite gewohnt war,<br />

so nahm ihr der sich öffnende Himmel und<br />

die scheinbare Unendlichkeit des Horizonts<br />

den Atem. Zwischen den Wolken brach ein<br />

Sonnenstrahl hindurch und streichelte wie<br />

mit einem langen Finger über die sanften<br />

Hügel mit ihren Feldern und Weiden. Ludmilla<br />

Grigorieva hätte am liebsten laut gesungen,<br />

doch neben dem fremden Mann in<br />

diesem engen Flugzeug traute sie sich<br />

nicht. Das letzte Mal, dass sie sich so überschäumend<br />

glücklich gefühlt hatte, war<br />

beim Heiratsantrag ihres ersten Mannes<br />

gewesen. Da war sie siebzehn und ein<br />

Backfi sch, der von der Zukunft nur in rosaroten<br />

Bildern träumte. So stiegen ihr nur<br />

ein paar Tränen in die Augenwinkel, die sie<br />

verstohlen mit einem Zipfel ihres Kopftuchs<br />

wegwischte. Nach etwa 20 Minuten<br />

hatten sie ihr Ziel, die Obstplantagen, erreicht.<br />

Sergej Walunin ging tiefer, um die<br />

richtige Höhe zum Verteilen des Spritzmittels<br />

zu haben. In exakten Schleifen fl ogen<br />

sie über die Reihen der Bäume, hin und<br />

wieder zurück, wie ein Schiffchen auf dem<br />

Webstuhl. Ludmilla Grigorieva machte es<br />

nichts aus, dass sich unter ihnen nicht die<br />

Serengeti, sondern die Landschaft ihrer<br />

Heimat dehnte. Und wenn man die Augen<br />

ein wenig zusammenkniff, dann konnte<br />

man das Meer von Baumkronen sogar für<br />

eine Herde von rundlichen, dunklen Tieren<br />

halten. Viel zu schnell für ihren Geschmack<br />

waren die Tanks leer und Sergej Wolunin<br />

drehte ab. Die Mittagsthermik ließ die<br />

kleine Maschine auf dem Rückfl ug bocken<br />

wie ein Fohlen. Ludmilla Grigorieva beugte<br />

sich plötzlich vor und begann, an dem<br />

Reißverschluss ihrer Tasche herumzuzerren.<br />

Erschrocken sah Wolunin zu ihr<br />

hinüber. Ihr würde doch hoffentlich nicht<br />

schlecht werden und sie sich übergeben<br />

müssen? »Was ist los? Ist Ihnen nicht<br />

gut?«, fragte er über den Motorenlärm hinweg.<br />

»Nein, nein«, sie richtete sich wieder<br />

auf und hielt ein Fünf-Liter-Einwegglas mit<br />

Gurken in der Hand. »Das habe ich mitgebracht.<br />

Für Sie. Als Dankeschön. Mögen<br />

Sie?« »Klar. Immer. Wissen Sie was?<br />

Halten Sie mal das Steuerruder.« Bevor<br />

Ludmilla Grigorieva protestieren konnte,<br />

hatte er ihr das Glas aus der Hand genommen<br />

und schraubte den Deckel ab. Das<br />

Flugzeug machte einen kleinen Hopser,<br />

doch Wolunin klemmte sein Knie unter das<br />

Steuerruder und brachte es wieder auf<br />

Kurs. »Ah, so gute Gurken habe ich schon<br />

lange nicht mehr gegessen. Meine Großmutter<br />

hat sie früher so gemacht. Mit Dill<br />

und Honig. Da ist doch Honig drin, oder?«<br />

Ludmilla Grigorieva lachte: »Sie schmecken<br />

nur mit Honig. Heutzutage setzen die<br />

Leute den Sud mit Essig und Zucker an,<br />

aber das ist nichts. Auch wenn der Honig<br />

teurer ist, aber so muss man es<br />

machen.«Sergej Wolunin griff noch einmal<br />

in das Glas und holte sich eine Gurke heraus,<br />

dann widmete er seine Aufmerksamkeit<br />

wieder seinem Flugzeug. In weiter<br />

Entfernung kam der alte Militärfl ugplatz in<br />

ihr Blickfeld. »Wir sind gleich da«, kündigte<br />

er an und klopfte mit dem Zeigefi nger auf<br />

den Höhenmesser, der gerne einmal ein<br />

bisschen hängenblieb. Er spürte, wie ihm<br />

Ludmilla Grigorieva auf den Arm tippte.<br />

»Sagen Sie, junger Mann, wie lange könnte<br />

ich für drei Gläser Gurken mit ihnen<br />

mitfl iegen?«Sergej Wolunin hätte beinahe<br />

laut losgelacht, doch dann bemerkte er,<br />

wie die alte Frau ihn ansah. Ihr Kopftuch<br />

war etwas nach hinten gerutscht und eine<br />

graue Strähne hing ihr über die Stirn. Ihre<br />

Augen leuchteten, ihre Wangen waren<br />

gerötet wie bei einem Kind vor einem Tisch<br />

mit Geschenken. »Es hat Ihnen gefallen,<br />

Mütterchen?«, fragte er mit gedämpfter<br />

Stimme, aber doch so laut, dass sie ihn<br />

verstehen konnte. »Ja. Wenn ich jünger<br />

wäre, würde ich meine Kuh und mein Haus<br />

verkaufen und Fliegen lernen.«Sergej<br />

Wolunin grinste so breit, dass sein goldener<br />

Eckzahn aufblitzte. »Drei Gläser, da<br />

lässt sich schon was machen.«Erstaunt<br />

beobachteten ihre Kinder, wie Sergej<br />

Wolunin Ludmilla Grigorieva galant aus<br />

dem Flugzeug half und sie ihm einen schallenden<br />

Kuss mitten auf den Mund drückte.<br />

»Anatol«, rief sie. »In sechs Wochen<br />

brauche ich Dich und Dein Auto. Ich habe<br />

eine geschäftliche Verabredung mit Herrn<br />

Wolunin hier.«<br />

GW—145

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