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II - CCA Monatsblatt

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Wiedergutmachung statt Lynchjustiz<br />

Ist für die formale Justiz gerade die Urteilsfindung ohne Ansehen der Person ein<br />

Grundprinzip, sind das individuelle Umfeld, die familiäre Situation, die Stellung<br />

des Angeklagten innerhalb der Gemeinschaft für die Justicia comunitaria von<br />

ausschlaggebender Bedeutung. Jeder verteidigt sich selbst, bringt seine<br />

persönlichen Beweggründe vor. Das von der Gemeindeversammlung und deren<br />

Vorsitzendem gesprochene Urteil zielt auf die Wiedergutmachung und<br />

Herstellung des Rechtsfriedens: Ein Teil der meist materiellen Strafen, die<br />

Geldstrafen oder auch etwa die Verpflichtung zur Fertigung von Lehmziegeln<br />

sein können, sollen direkt bei den Geschädigten den Schaden wieder gutmachen.<br />

Ein anderer wichtiger Teil geht in die Gemeinschaftskasse bzw. den Bau von<br />

Schulen, sanitären Anlagen oder Krankenhäusern, um so den entstandenen<br />

Ärger innerhalb der Gemeinschaft zu begleichen. Diese materiellen Strafen<br />

ersetzen heute zunehmend die früher üblichen physischen Strafen wie<br />

öffentliches Auspeitschen. Als Höchststrafe gilt die zeitweise oder dauerhafte<br />

Vertreibung aus der Gemeinschaft.<br />

In Verruf gerät die Justicia comunitaria vor allem dann, wenn grausame Fälle<br />

von Lynchjustiz in ihrem Namen geschehen und bekannt werden: Eine Frau<br />

wird wegen Ehebruch lebendig begraben, Einbrecher werden zu Tode geprügelt,<br />

Viehdiebe von Dorfbewohnern erschossen, ein Räuber wird von Nachbarn<br />

verbrannt. Dabei sieht das System selbst weder Gefängnis noch Todesstrafe vor.<br />

Diese Fälle sind zum einen Ausdruck des durch die starke Migration in die<br />

Städte bedingten Verlustes traditioneller Zusammenhänge. Zum anderen<br />

herrscht oftmals Verwirrung über die nicht schriftlich festgehaltenen Regeln und<br />

Normen der Justicia comunitaria.<br />

Bereits seit 1994 sieht die bolivianische Verfassung eine alternative Form der<br />

Konfliktschlichtung nach indigenen Rechtsnormen vor. Auch in der<br />

reformierten Strafprozessordnung findet sich neben dem Recht auf einen<br />

Übersetzer die Verpflichtung zur Heranziehung eines auf die Justicia<br />

comunitaria spezialisierten Gutachters. Auch kann das Strafverfahren vor der<br />

formalen Justiz ausgesetzt werden, wenn der Streit innerhalb der indigenen<br />

Gemeinschaft selbst beigelegt werden konnte.<br />

Grenzen der traditionellen Justiz<br />

Der Mehrheitsvorschlag der verfassungsgebenden Versammlung geht einen<br />

bedeutsamen Schritt weiter: Die Justicia comunitaria soll als gleichberechtigtes<br />

Rechtssystem neben dem formalen in der Verfassung verankert werden. Damit<br />

will man dem tatsächlichen Vorrang der traditionellen Justiz im ländlichen<br />

Raum Rechnung tragen. Aber vor allem ist es auch ein wichtiger Baustein im<br />

Gesamtprojekt der Regierung Morales zur «Entkolonialisierung» Boliviens.<br />

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