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Verstehen heißt Wiedererfinden - Freinet-Kooperative eV

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Viele lachten über die heftige Art, eine Jüngere in<br />

Schutz zu nehmen. Ich erläuterte, dass ich es getan hatte,<br />

weil ich schneller vorankommen wollte, weil nicht genügend<br />

Platz da war und weil das Wesentliche in dem, was<br />

ich an die Tafel geschrieben hatte, auf jeden Fall zum Ausdruck<br />

gekommen war.<br />

Aber ich habe sofort die Gelegenheit genutzt, das<br />

Thema der emotionalen Betroffenheit aufzugreifen. Es<br />

ge lingt mir immer es anzusprechen, weil es garantiert<br />

auf tritt. In Aix hat uns Hortensia ein eindrucksvolles Beispiel<br />

gegeben. Ihr Sohn hatte große Probleme, lesen zu<br />

lernen. In jener Zeit hatte er sich den kleinen Finger gebrochen.<br />

Man hatte ihn mit einer Schiene und Gips fixiert.<br />

Als eines Morgens seine Lehrerin mit dem gleichen Gips<br />

um den gleichen kleinen Finger in ihrer Klasse erschien,<br />

fing er plötzlich an zu lesen.<br />

Seine eigentliche Schwierigkeit war das ‘ch’. Denn er<br />

hieß Michael. Und das ‚ch‘ in diesem Wort wird wie das<br />

deutsche ‚k‘ ausgesprochen. Wenn es sich um irgendwelche<br />

beliebigen Worte wie ‚choeur‘ (Chor) oder ‚Chrysantheme‘<br />

(Chrysantheme) gehandelt hätte, wäre es nicht weiter<br />

von Bedeutung gewesen. Denn solche Worte kom men<br />

(in der französischen Sprache, Anm. d. Übers.) selten vor.<br />

Wörter dagegen wie ‚chats‘ (Katzen), ‚chiens‘ (Hun de),<br />

‚chevaux‘ (Pferde) und ‚chants‘ (Lieder) treten in Hülle<br />

und Fülle auf. Deshalb können sich die Kinder das ‚ch‘<br />

(gesprochen wie das deutsche ‚seh‘, Anm. d. Übers.) leicht<br />

merken. Aber das ‚ch‘, ausgesprochen wie ‚k‘, war für Michael<br />

in jedem Augenblick vorhanden, und zwar in seinem<br />

Vornamen. Und diesen Laut aufzugeben, das hät te<br />

bedeutet, auch ein wenig sich selbst aufzugeben. (21)<br />

Wie man sieht, dürfen die Lehrer die emotionale Betroffenheit<br />

nicht außer acht lassen, weil sie eine große Bedeutung<br />

für den Erwerb von Wissen hat.<br />

Hier ein anderes Beispiel aus meiner eigenen Kindheit:<br />

Wir waren in unserer Klasse 55 Jungen im Alter von 11<br />

bis 12 Jahren. Es ist ganz klar, dass ich die Namen von fast<br />

allen meinen Mitschülern vergessen habe. Trotzdem gibt<br />

es einen, an den ich mich sehr genau erinnere. Eines Tages<br />

erhielt ich eine Strafe: Ich sollte nachsitzen. Aber ich hatte<br />

versucht mich unbemerkt davonzustehlen. In diesem Moment<br />

ging ein Junge zum Lehrer und sagte zu ihm:<br />

„Le Bohec muss doch nachsitzen.“ „Ach ja, richtig! Le<br />

Bohec, du bleibst da.“ Nun gut, dieser Junge hieß Piaud.<br />

Eine ähnliche Sache passierte mit Briend. Er hat mir einen<br />

Fehler in meinem Diktat angestrichen, obwohl da keiner<br />

war. Und auch Briend behalte ich immer im Gedächtnis.<br />

Und jeder von euch könnte für sich selbst überprüfen,<br />

durch welche Elemente, welche Ereignisse, welche Um<br />

stände diese oder jene Sache in seinem Gedächtnis hängen<br />

geblieben ist. Und das sind nicht notwendigerweise negative<br />

Dinge. Man fühlt genau, „dass Emotionalität und Ler nen<br />

unzertrennlich sind. Und es ist nicht immer die Vernunft, die<br />

im Streit mit den Gefühlen Recht hat und die uns immer den<br />

besten Weg zur Erkenntnis führt“ (Morin 1986, S. 128)<br />

(21) Aber was war der eigentliche Anlass für Michaels Verän derung? Hat<br />

Michael sich vielleicht herausgehoben gefühlt, weil durch die gleichartige<br />

Verletzung eine neue Beziehung zu seiner Lehrerin entstanden ist? Wir<br />

werden es nie wissen. Es gibt viele Dinge, die im Dunkeln verborgen<br />

bleiben.<br />

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