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Verstehen heißt Wiedererfinden - Freinet-Kooperative eV

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Berichte aus deutschen Grundschulklassen (vgl.S. 254 ff).<br />

Dieses Buch ist aber vor allem wegen der hier entwickelten<br />

Lernmethode bemerkenswert. Eines der zentralen<br />

Anliegen Paul Le Bohecs ist es, mit diesem Buch zu<br />

einer Grundlegung der ‘natürlichen Methode‘ zu kom men,<br />

einer Lernmethode, die sich bewusst gegen das didaktisch<br />

aufbereitete (systematisierte) Lernen, wie es in der Regel<br />

in der Schule für notwendig erachtet wird, abhebt. Nach<br />

der natürlichen Methode lernt z.B. jedes Kind seine Muttersprache<br />

sprechen. Das Kind hört, spricht nach, hört<br />

wieder, korrigiert sich usw. und es dürfte kaum einen Pädagogen<br />

geben, der die Effektivität derartigen Lernens<br />

in Zweifel ziehen und z.B. den Eltern raten würde, doch<br />

lieber mit ihrem Kind erst ein Übungs programm für einzelne<br />

Buchstaben oder einfache Wort gebilde zu absolvieren,<br />

ehe sie mit ihm in ganzen Sätzen und schwierigeren<br />

Wörtern sprechen sollten.<br />

Eine der ersten, die recht umfassend mit der natürlichen<br />

Methode in Berührung gekommen ist, ist meines<br />

Wissens die taubstumme und blinde Helen Keller, die ab<br />

1887 - Helen war damals etwa 7 Jahre alt und konnte sich<br />

nur mit Hilfe einiger Gesten verständlich machen - von<br />

ihrer Lehrerin Annie Sullivan in der Weise „unterrichtet“<br />

wurde, indem sie ihr (ganz wie die Mutter mit ihrem kleinen<br />

Kinde spricht) fast von Anfang an unaufhörlich in die<br />

Hand buchstabierte, ohne ihre Sätze erst didaktisch aufzubereiten<br />

oder vorgefertigte Sätze vorzulegen, die Helen<br />

dann ‚nachzubuchstabieren‘ hatte - eine ‚Methode‘, die<br />

sich Annie Sullivan in der Arbeit mit Helen selbst erarbeitet<br />

hatte. Auf diese Weise entwickelte sich die Sprachfähigkeit<br />

von Helen derart rasch und weitgehend, dass die<br />

Lehrer einer Taubstummenschule, die nach herkömmlichen<br />

Unterrichtsmethoden mit ihren Schülerinnen mit<br />

vorgefertigten Sätzen arbeiteten, die diese dann ‚nach-<br />

sprechen‘ mussten, es kaum glauben konnten (2) . Auch der<br />

Reformpädagoge Berthold Otto war von der natürlichen<br />

Methode überzeugt. Seine ideale Schule sollte eine solche<br />

sein, in der das Kind das natürli che Lernen der Vorschulzeit<br />

nahtlos fortsetzen kann.<br />

<strong>Freinet</strong> hat die Leistungsfähigkeit der natürlichen Methode<br />

sehr eindringlich in seinem Buch „apprentissage de<br />

la langue“ (3) an der Schreib- und Leseentwicklung sei ner<br />

Tochter Balouette aufgezeigt; übrigens ein Ansatz, wie er<br />

heute in der Méthode ‚Lesen durch Schreiben‘ des Schweizers<br />

Jürgen Reichen erfolgreich in vielen schwei zer und<br />

deutschen Grundschulklassen praktiziert wird.<br />

Dennoch hatte <strong>Freinet</strong> offensichtlich auch seine Zweifel<br />

an der generellen Einsetzbarkeit der natürlichen Méthode.<br />

Er war es jedenfalls, der Paul abriet, daran weiterzuarbeiten.<br />

<strong>Freinet</strong>s Frau Elise, im Unterschied zu ihrer<br />

späteren Euphorie anfangs noch eher skeptisch gegenü ber<br />

Pauls Vorhaben, schrieb dagegen, so berichtet es Paul selber:<br />

„Hier sind <strong>Freinet</strong>, Pierrot, Jean gegen dich. Und ich<br />

bin auch eher auf ihrer Seite. Aber mach weiter; denn du<br />

könntest gegenüber uns allen Recht behalten.“ (vgl. S.166)<br />

Dies offensichtlich beherzigend und eingebettet in eine<br />

pädagogische Bewegung, die weniger auf die Worte ihres<br />

Gründers denn auf die eigenen Erfahrungen und Forschungen<br />

gibt, hat sich Paul lange Jahre der Entwicklung<br />

der natürlichen Methode verschrieben und sie, wie unter<br />

anderem dieses Buch zeigt, zu seinem Lebenswerk gemacht.<br />

Im Laufe seiner Forschungen und Erfahrungen mit<br />

(2) H. Keller: Geschichte meines Lebens, Scherz-Verlag, Bern 1955.<br />

(3) C. <strong>Freinet</strong>: La méthode naturelle, Bd. I: L’apprentissage de la langue,<br />

Editions Delachau et Niestle, Neuchâtal, Schweiz 1968, Teilabdruck unter<br />

dem Titel „Vom Schreiben- und Lesenlernen“ in Boehncke/Humburg,<br />

„Schreiben kann jeder“, Reinbek bei Hamburg 1980<br />

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