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Verstehen heißt Wiedererfinden - Freinet-Kooperative eV

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an mit den Fingern zu zählen. Aber sie gab wieder auf. Die<br />

Spannung stieg. Plötzlich rief Grazieila los:<br />

„Ich habe es gefunden: NON SO LA MATEMATICA.“<br />

(Ich kann keine Mathematik!)<br />

Welche Freude! Beifall brach aus, man schüttelte ihr<br />

die Hand. Ausrufe der Befriedigung waren zu hören, ein<br />

Freudentaumel brach aus. Endlich hatten wir nicht nur<br />

eine vielversprechende Hypothese, sondern die ganze Lösung<br />

gefunden. Welche Befriedigung, welch eine Erfüllung,<br />

welche Entspannung! Als die Gemüter sich ein wenig<br />

beruhigt hatten, habe ich selbstverständlich das Wort<br />

ergriffen, um dieses überraschende Ereignis zu kommentieren.<br />

Ich unterstrich zuerst die Intensität des anfänglichen<br />

Schweigens und wies darauf hin, dass es mit Angst,<br />

aber auch mit Wut angefüllt war. Es ist nämlich so: Das<br />

menschliche Wesen mag es überhaupt nicht, dem Chaos<br />

ohnmächtig ausgeliefert zu sein. Und durch ihren Beitrag<br />

hat Grazieila uns alle befreit.<br />

Dieses Mal konnte man einfach nicht auf ihren Erfolg<br />

eifersüchtig sein. Im Allgemeinen lehnen es die Menschen<br />

ab, dass man ihnen hilft. Sie wollen die Lösung allein finden.<br />

Aber hier hatten wir es nicht mehr mit einer leichten<br />

Beunruhigung zu tun, die stimuliert, sondern mit einer<br />

rich tigen Angst um die Lösung. Und es war der ganzen<br />

Gruppe wichtig, Grazieila ihre Anerkennung zu zollen.<br />

Hier handel te es sich nicht mehr um eine Simulation oder<br />

ein Spiel. Es war eine echte Handlung, ein Stück wirklichen<br />

Lebens mit all seinem Schwung und ohne jede<br />

Zurückhaltung.<br />

Nur Sandro, der Autor, nahm nicht an der gemeinsamen<br />

Freude teil.<br />

„Mm, nun, ich bin mit Grazieila überhaupt nicht<br />

zufrieden!“<br />

Alles lachte natürlich, weil es klar war, dass man ihm<br />

auf brutale Weise seine Macht entrissen hatte. Es gab nun<br />

zwei Personen, die sich einander gegenüber standen: die<br />

Gruppe und Sandro. Und er hatte verloren. Oder genau er:<br />

Er war wieder auf das Niveau der anderen herunter geholt<br />

worden.<br />

Aber für Sandra war das zuwenig: Sandro sollte auch<br />

noch für die Minuten der Spannung zahlen, die er allen<br />

zugemutet hatte. Also fing sie wieder an, mit den Fingern<br />

nachzuzählen.<br />

„Hej, das geht nicht, Sandro. Du hast eine 8 für den<br />

Buchstaben O eingesetzt, obwohl es die 13 ist.“<br />

Also musste Sandro detailliert erklären, dass er wegen<br />

eines Bleistifts, den er in der rechten Hand hatte, nur seine<br />

linke Hand zum Zählen benutzen konnte und dazu seine<br />

Finger nacheinander auf die linke Wange gelegt hatte. Und<br />

so hat er zunächst bis 5, dann wieder bis 5 und dann bis 3<br />

gezählt. Und dabei hat er die erste 5 vergessen.<br />

Wie soll man das allgemeine Lachen beschreiben, das<br />

sich augenblicklich ausbreitete? Das Lachen war entspannend,<br />

erholsam und stellte das Gleichgewicht wieder her.<br />

„Ah, nun ist alles aufgeklärt! Es ist ja nicht weiter verwunderlich,<br />

dass wir keine Lösung gefunden haben, weil<br />

die Ausgangsdaten falsch waren.“<br />

„Das beruhigt: Wir sind also doch nicht so dumm!“<br />

Und weil Sandro sein Ungeschick, seinen Mangel an<br />

Gemeinsinn so demütig zugegeben hat, grollt man ihm<br />

nicht mehr. Die Gruppe verzieh ihm freimütig, weil er sich<br />

schuldig bekannt und Humor bewiesen hatte.<br />

Lachen entdramatisiert, wenn sich jemand bedroht<br />

fühlt. Und diese Möglichkeit wird gerne von demjenigen<br />

genutzt, der sich bereits so sehr von den anderen abgehoben<br />

hat, dass er die zornigen Blicke der restlichen Versammlung<br />

auf sich ruhen fühlt.<br />

„Hoppla, das wird gefährlich. Ich muss von diesem<br />

gefährlichen Weg herunterkommen.“ Und er macht einen<br />

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