Verstehen heißt Wiedererfinden - Freinet-Kooperative eV
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Paul Le Bohec<br />
<strong>Verstehen</strong><br />
<strong>heißt</strong><br />
<strong>Wiedererfinden</strong><br />
Natürliche Methode und Mathematik<br />
Pädagogik-<strong>Kooperative</strong><br />
Reihe Moderne Schule
Für die Rohübersetzung des Buchmanuskriptes von<br />
Paul Le Bohec danken wir Peter Schütz, Hildesheim.<br />
Für die stilistische und inhaltliche Überarbeitung gilt<br />
unser Dank vor allem Angela Glänzel, Berlin.<br />
Pädagogik-<strong>Kooperative</strong> e.V., Bremen<br />
2. Auflage 1997<br />
Copyright © by Pädagogik-<strong>Kooperative</strong> e.V.<br />
Pädagogik <strong>Kooperative</strong>, Goebenstr. 8, 28209 Bremen,<br />
Germany<br />
Übersetzung: Peter Schütz, Hildesheim<br />
Satz: Ingrid Kroll, Bremen<br />
Druck: Perspektiven Druck, Bremen<br />
Printed in Germany<br />
ISBN 3-9805100-1-8<br />
Paul Le Bohec<br />
<strong>Verstehen</strong><br />
<strong>heißt</strong><br />
<strong>Wiedererfinden</strong><br />
Natürliche Methode und Mathematik<br />
Pädagogik-<strong>Kooperative</strong> e.V.<br />
Reihe Moderne Schule
Inhalt<br />
Vorwort 7<br />
Vorwort zur 2. Auflage 15<br />
1. Einleitung 17<br />
Mein persönlicher Weg 17<br />
Setting bei Erwachsenen und Kindern 22<br />
2. Elemente der natürlichen Methode - aufgezeigt an der Arbeit<br />
mit Erwachsenen 27<br />
Die Quelle der Erfindungen 28<br />
Subjektivität des Wissens 40<br />
Das Lachen 51<br />
Macht durch Wissen 58<br />
Gruppenphänomene 71<br />
Teilgruppen 76<br />
Die Komplexität 80<br />
3. Die natürliche Methode im Mathematikunterricht 90<br />
Beispiele mit 7-8 Jahre alten Schülern 94<br />
Erste Erfahrungen 94<br />
Erfinden von Zeichen 96<br />
Erfinden von Ziffern 96<br />
Der Kalender 99<br />
Die nicht- dezimalen Zahlensysteme 104<br />
Zahlenfelder 110<br />
Sachprobleme 120<br />
Rechnen mit Unbekannten 128<br />
Ausklammern eines gemeinsamen Faktors 130<br />
Beispiele mit 8-9 Jahre alten Schülern 135<br />
Drillinge 135<br />
‘Fehler’ werden zu Qualitäten 141<br />
Vektoraddition 146<br />
Abenteuer mit Vektoren 153<br />
4. Wie entwickelt sich mathematisches Wissen? 163<br />
Denkmodelle 163<br />
Vier unterschiedliche Positionen 169<br />
Intuitive oder konkrete Mathematik 169<br />
Die mathematische Strukturierung von Situationen 172<br />
Mathematisches Spiel 173<br />
Angewandte Mathematik 175<br />
Zusammenfassung 176<br />
5. Rückblickende Überlegungen 177<br />
Was ist aus den Schülern geworden? 177<br />
Lösungsverfahren und Strategie 180<br />
Die Frage nach dem didaktischen Material 190<br />
Die Kraft, die uns antreibt 193<br />
6. Die Weiterentwicklung der Idee 203<br />
Die gegenseitige Fortbildung der Lehrer 205<br />
Die Rolle des Lehrers 217<br />
Natürliche Lehrpläne 223<br />
Zwei Bereiche von Erfindungen 224<br />
Verschiedene Richtungen 230<br />
7. Grundsätzliches 235<br />
Dimensionen der natürlichen Methode 235<br />
1. Eigene Praxis (des Lehrers) ist unabdingbar. 235<br />
2. Gruppenphänomene 235<br />
3. Informationsquellen 237<br />
4. Physische Besonderheiten 238<br />
5. Psychische Eigenarten 238<br />
6. Rahmenbedingungen 239<br />
Blick über den Zaun 239<br />
Die Bedeutung ungewöhnlicher Erfindungen 243<br />
8. Erfahrungsberichte aus Frankreich und Deutschland 249<br />
Bilanz von Daniel Boulanger 249<br />
Bilanz von Marie Therese Bousquant 250<br />
Einige Eindrücke von Monique Quertier 251<br />
Bilanz von Angela Glänzel nach 2 Jahren Erfahrung 254<br />
Erste Versuche in einem 2. Schuljahr von Peter Schütz 258<br />
1. Ausgangsideen 258<br />
2. Anfang 259<br />
3. Durchführung 260<br />
4. Verzahnung mit dem ‘normalen Matheunterricht’ 262<br />
5. Beobachtungen 262<br />
6. Ausblick 267<br />
9. Schlussbemerkung 268<br />
Bibliographie 269
Vorwort<br />
„Le texte libre mathématique - la méthode naturelle“<br />
so hatte Paul Le Bohec ursprünglich dieses Buch genannt<br />
und damit bereits im Titel ausdrücken wollen, dass sein<br />
Anliegen ein doppeltes ist. Zum einen geht es ihm um eine<br />
besondere Art der Annäherung an die Mathematik (Le<br />
texte libre mathématique: der freie mathematische Ausdruck),<br />
zum anderen um die Darlegung einer beson deren<br />
Lernmethode (méthode naturelle: natürliche Methode). Für<br />
den deutschen Sprachgebrauch ist beides nicht sonderlich<br />
aussagekräftig. Weder dürfte dem Leser vor der Lektüre<br />
dieses Buches klar sein, was ein freier mathematischer<br />
Text sein könnte, noch ist die „natürli che Methode“ ein in<br />
pädagogischen Kreisen sonderlich bekannter Begriff. So<br />
gab es während der Übersetzung und Bearbeitung dieses<br />
Buches die verschiedensten Titel vorschläge. Bis schließlich<br />
ein Zitat in den Blick geriet.<br />
„<strong>Verstehen</strong> <strong>heißt</strong> <strong>Wiedererfinden</strong>!“, so ein Piaget-Zitat,<br />
auf das Paul Le Bohec in Kapitel 3 (S. 94) aufmerksam<br />
macht, pointiert auf das Treffendste, worum es bei<br />
der natürlichen (Lern-) Methode eigentlich geht. Und<br />
den Zusammenhang zwischen „Mathematik und natürliche<br />
Methode“ - so der Untertitel - wird der Leser dann<br />
ja noch im Buch in Erfahrung bringen. Damit war der<br />
Titel geboren zu einem Werk, das in vieler Hinsicht bemerkenswert<br />
ist.<br />
Bemerkenswert ist schon die Entstehensgeschichte. Da<br />
drückt der Franzose Paul Le Bohec, einer der großen alten<br />
Männer der <strong>Freinet</strong>-Bewegung und der Hauptvertreter<br />
der natürlichen Methode, der <strong>Freinet</strong>-Pädagogin Marie-<br />
Claude Flügge-Dutilly, die er auf einem der internationalen<br />
<strong>Freinet</strong>-Treffen kennengelernt hat, ein Manuskript mit<br />
7
dem Titel „Le texte libre mathématique“ in die Hand mit<br />
der Nachfrage, ob die Deutschen es vielleicht herausge ben<br />
wollten.<br />
Marie-Claude, Französin und schon seit Jahrzehnten<br />
in Berlin lebend, Lehrerin, aber keineswegs Mathematiklehrerin,<br />
bringt dieses Werk dann in die Berliner <strong>Freinet</strong>-<br />
Gruppe mit, die sich - welch Zufall - gerade mit Mathematik<br />
beschäftigt.<br />
So entsteht der Entschluss, eine Rohübersetzung einiger<br />
Passagen vorzunehmen, um genauer prüfen zu können,<br />
wie lohnend das Werk wäre.<br />
Parallel dazu beginnt Angela Glänzel auch schon mit<br />
ersten Versuchen zu einer derartigen Mathematik in Berlin<br />
und veröffentlicht einen ersten Artikel dazu in „Fragen<br />
und Versuche“ Nr. 56 (1), dessen Quintessenz bald auch<br />
von anderen <strong>Freinet</strong>-Pädagoginnen z.B. in Hamburg aufgegriffen<br />
wird.<br />
Auf diese Weise wächst das Interesse an dieser Art<br />
Mathematik sehr schnell und damit fällt auch die Entscheidung<br />
für die Herausgabe. Es gilt nun einen passenden<br />
Übersetzer für das Manuskript zu finden. Dieser<br />
sollte - so die Berliner <strong>Freinet</strong>-Gruppe - sowohl gut vom<br />
Französischen ins Deutsche übersetzen können als auch<br />
einiges von Mathematik verstehen und schließlich auch<br />
noch Paul und dessen „natürliche Methode“ sowie die Eigenarten<br />
seines Sprachstils kennen. Schließlich findet sich<br />
Peter Schütz aus Hildesheim, der seit längerem im internationalen<br />
Bereich der <strong>Freinet</strong>-Bewegung aktiv ist, fließend<br />
Französisch spricht und Paul persönlich kennt. Als auf<br />
einem der jährlich stattfindenden <strong>Freinet</strong>-Grundschultreffen<br />
in Altenmelle Pauls Ansatz vorgestellt wird, ist Peter<br />
begeistert und erklärt sich bereit, die Rohübersetzung des<br />
(1) “Fragen und Versuche” ist die Zeitung deutscher <strong>Freinet</strong>-Lehrerinnen,<br />
die drei- bis viermal jährlich erscheint.<br />
Buchmanuskriptes anzufertigen.<br />
Marie-Claude Flügge konnte dann gewonnen werden,<br />
die Rohübersetzung nochmals zu überprüfen, Angela<br />
Glänzel übernahm die stilistische und sachlogische<br />
Über arbeitung, so dass das Buch im Deutschen lesbar,<br />
schlüs sig und verständlich wurde, und Gerda Frommeyer<br />
(Bremen) schließlich stand für die Feinarbeiten (Rechtschreibprüfung,<br />
Layout etc.) zur Verfügung - das Abenteuer<br />
konnte beginnen.<br />
Und es war wirklich ein Abenteuer, denn ziemlich bald<br />
stellte sich heraus, dass Pauls Werk nicht nur wie ein Manuskript<br />
aussah, sondern tatsächlich noch ein solches war.<br />
Und es bedurfte noch erheblicher Arbeit in der Gruppe<br />
Peter, Angela und Marie-Claude - teils mit teils ohne Paul<br />
- um aus dem Manuskript das Buch werden zu lassen, als<br />
das es jetzt vorliegt. Da mussten ganze Kapitel weggelassen,<br />
völlig umgestellt oder auch fast neu geschrieben werden<br />
usw. usw.<br />
Im Laufe des Entstehungsprozesses dieses Buches<br />
haben alle Beteiligten viel über die Komplexität der Übersetzung<br />
und Herausgabe eines Werkes gelernt und sind oft<br />
genug an ihre Grenzen gestoßen, zumal sie diese Arbeit<br />
neben ihrem normalen Berufsalltag bewältigten.<br />
Letztendlich ist das Vorhaben dann auch nur mit gu tem<br />
Zuspruch und mancherlei Übersetzungs- und Formulierungshilfen<br />
vieler - hier ungenannt bleibender - <strong>Freinet</strong>freunde<br />
zum Abschluss gekommen. So ist dieses Buch<br />
wirklich zu einem Gemeinschaftswerk von <strong>Freinet</strong>-PädagogInnen<br />
geworden und hat, noch ehe es erschienen ist,<br />
eine breite Wirkung innerhalb der deutschen <strong>Freinet</strong>-Bewegung<br />
entfaltet.<br />
In welcher Weise sich dabei <strong>Freinet</strong>-Pädagoginnen<br />
haben anregen lassen, wie sie die Bohec‘schen Ideen in<br />
ihren Unterricht integrieren oder adaptieren, zeigen z.B.<br />
die beiden der französischen Übersetzung angefügten<br />
8 9
Berichte aus deutschen Grundschulklassen (vgl.S. 254 ff).<br />
Dieses Buch ist aber vor allem wegen der hier entwickelten<br />
Lernmethode bemerkenswert. Eines der zentralen<br />
Anliegen Paul Le Bohecs ist es, mit diesem Buch zu<br />
einer Grundlegung der ‘natürlichen Methode‘ zu kom men,<br />
einer Lernmethode, die sich bewusst gegen das didaktisch<br />
aufbereitete (systematisierte) Lernen, wie es in der Regel<br />
in der Schule für notwendig erachtet wird, abhebt. Nach<br />
der natürlichen Methode lernt z.B. jedes Kind seine Muttersprache<br />
sprechen. Das Kind hört, spricht nach, hört<br />
wieder, korrigiert sich usw. und es dürfte kaum einen Pädagogen<br />
geben, der die Effektivität derartigen Lernens<br />
in Zweifel ziehen und z.B. den Eltern raten würde, doch<br />
lieber mit ihrem Kind erst ein Übungs programm für einzelne<br />
Buchstaben oder einfache Wort gebilde zu absolvieren,<br />
ehe sie mit ihm in ganzen Sätzen und schwierigeren<br />
Wörtern sprechen sollten.<br />
Eine der ersten, die recht umfassend mit der natürlichen<br />
Methode in Berührung gekommen ist, ist meines<br />
Wissens die taubstumme und blinde Helen Keller, die ab<br />
1887 - Helen war damals etwa 7 Jahre alt und konnte sich<br />
nur mit Hilfe einiger Gesten verständlich machen - von<br />
ihrer Lehrerin Annie Sullivan in der Weise „unterrichtet“<br />
wurde, indem sie ihr (ganz wie die Mutter mit ihrem kleinen<br />
Kinde spricht) fast von Anfang an unaufhörlich in die<br />
Hand buchstabierte, ohne ihre Sätze erst didaktisch aufzubereiten<br />
oder vorgefertigte Sätze vorzulegen, die Helen<br />
dann ‚nachzubuchstabieren‘ hatte - eine ‚Methode‘, die<br />
sich Annie Sullivan in der Arbeit mit Helen selbst erarbeitet<br />
hatte. Auf diese Weise entwickelte sich die Sprachfähigkeit<br />
von Helen derart rasch und weitgehend, dass die<br />
Lehrer einer Taubstummenschule, die nach herkömmlichen<br />
Unterrichtsmethoden mit ihren Schülerinnen mit<br />
vorgefertigten Sätzen arbeiteten, die diese dann ‚nach-<br />
sprechen‘ mussten, es kaum glauben konnten (2) . Auch der<br />
Reformpädagoge Berthold Otto war von der natürlichen<br />
Methode überzeugt. Seine ideale Schule sollte eine solche<br />
sein, in der das Kind das natürli che Lernen der Vorschulzeit<br />
nahtlos fortsetzen kann.<br />
<strong>Freinet</strong> hat die Leistungsfähigkeit der natürlichen Methode<br />
sehr eindringlich in seinem Buch „apprentissage de<br />
la langue“ (3) an der Schreib- und Leseentwicklung sei ner<br />
Tochter Balouette aufgezeigt; übrigens ein Ansatz, wie er<br />
heute in der Méthode ‚Lesen durch Schreiben‘ des Schweizers<br />
Jürgen Reichen erfolgreich in vielen schwei zer und<br />
deutschen Grundschulklassen praktiziert wird.<br />
Dennoch hatte <strong>Freinet</strong> offensichtlich auch seine Zweifel<br />
an der generellen Einsetzbarkeit der natürlichen Méthode.<br />
Er war es jedenfalls, der Paul abriet, daran weiterzuarbeiten.<br />
<strong>Freinet</strong>s Frau Elise, im Unterschied zu ihrer<br />
späteren Euphorie anfangs noch eher skeptisch gegenü ber<br />
Pauls Vorhaben, schrieb dagegen, so berichtet es Paul selber:<br />
„Hier sind <strong>Freinet</strong>, Pierrot, Jean gegen dich. Und ich<br />
bin auch eher auf ihrer Seite. Aber mach weiter; denn du<br />
könntest gegenüber uns allen Recht behalten.“ (vgl. S.166)<br />
Dies offensichtlich beherzigend und eingebettet in eine<br />
pädagogische Bewegung, die weniger auf die Worte ihres<br />
Gründers denn auf die eigenen Erfahrungen und Forschungen<br />
gibt, hat sich Paul lange Jahre der Entwicklung<br />
der natürlichen Methode verschrieben und sie, wie unter<br />
anderem dieses Buch zeigt, zu seinem Lebenswerk gemacht.<br />
Im Laufe seiner Forschungen und Erfahrungen mit<br />
(2) H. Keller: Geschichte meines Lebens, Scherz-Verlag, Bern 1955.<br />
(3) C. <strong>Freinet</strong>: La méthode naturelle, Bd. I: L’apprentissage de la langue,<br />
Editions Delachau et Niestle, Neuchâtal, Schweiz 1968, Teilabdruck unter<br />
dem Titel „Vom Schreiben- und Lesenlernen“ in Boehncke/Humburg,<br />
„Schreiben kann jeder“, Reinbek bei Hamburg 1980<br />
10 11
Kindern und auch mit Erwachsenen hat er die Grenzen<br />
dieser Methode immer weiter hinausschie ben können und<br />
ist gerade in der Mathematik, an die er sich zuletzt gewagt<br />
hatte, besonders erfolgreich gewesen. Dies macht schon<br />
Erstaunen, scheint sich doch ein Fach, das immer als der<br />
Inbegriff der Systematik betrachtet wird, einer solchen<br />
„unsystematischen“ Methode gegen über auf den ersten<br />
Blick völlig zu versperren.<br />
Bemerkenswert schließlich ist dieses Werk von dem<br />
in ihm vorgestellten Verständnis von Mathematik und<br />
Mathematikunterricht.<br />
Überblickt man die derzeitige Situation des Mathematikunterrichts,<br />
so wird man feststellen, dass auch heute<br />
noch - zumindest in Deutschland - die Mehrzahl der Mathematiklehrerinnen<br />
dem Glauben anhängen, die Aufgabe<br />
des Mathematikunterrichts bestehe im wesentlichen<br />
darin, Standardverfahren zur Lösung von - in Mathematikbüchern<br />
zusammengestellten - Aufgaben einzuüben.<br />
Aber auch reformpädagogisch orientierte Lehrerinnen<br />
sind trotz aller Öffnung ihres Unterrichts im sprachlichen<br />
und sachkundlichen Bereich in der Regel nur wenig<br />
über diesen eben erwähnten Ansatz hinausge kommen und<br />
können sich unter einem anderen Mathe matikunterricht<br />
letztlich auch nur die Auflockerung durch mathematische<br />
Übungsspiele oder Aufgabenkärtchen in Karteikartenform<br />
vorstellen.<br />
Dagegen stellt Paul Le Bohec nun einen Ansatz vor,<br />
der das kreative Potenzial der Kinder (und der Erwachsenen)<br />
auch in der Mathematik voll zur Entfaltung bringt.<br />
Wer die Passagen dieses Buches liest, in denen es um<br />
die mathematischen Kreationen der Kinder und der Erwachsenen<br />
geht, wird bald merken, dass Mathematik eine<br />
ganze Menge mehr bedeutet als routiniertes Nachmachen<br />
von Lösungsschemata. Dass Mathematik etwas ungeheuer<br />
Spannendes und Kreatives sein kann, haben große<br />
Mathematiker immer wieder deutlich gemacht. Bekannt<br />
ist z.B. Norbert Wieners Ausspruch: „Ich bin Mathematiker,<br />
also Künstler“. Diejenigen, die im Studium bis in<br />
die neuere Forschung der Mathematik vorstoßen konnten<br />
(wie es mir z.B. vergönnt war), wer den diesen Zusammenhang<br />
zwischen Mathematik und Kunst bestätigen<br />
können. Dass auch mathematische Laien etwas von diesem<br />
Fluidum spüren können, kann man diesem Buch entnehmen<br />
und - wie ich hoffe - auch selbst erleben, wenn<br />
man sich, sei es mit Kolleginnen oder seiner Klasse - auf<br />
das Abenteuer des freien Ausdrucks auch in der Mathematik<br />
einlässt.<br />
Dabei bleibt Paul Le Bohec mit seinen Klassen nicht im<br />
unverbindlichen ‘Sandkastenspiel’ hängen, wie man vielleicht<br />
argwöhnen könnte. Vielmehr werden die Leserinnen<br />
staunen, mit welcher Schnelligkeit seine Klassen sich<br />
in die Tiefen der Mathematik eingraben und spielend Themen<br />
bearbeiten, die weit über den Rahmen der übli chen<br />
Grundschulmathematik hinausgehen.<br />
Als das Abenteuer dieser Buchherausgabe vor fast<br />
vier Jahren begann, ahnte noch niemand, dass wir damit<br />
unmittelbar im Trend der neuen Diskussion um den Mathematikunterricht<br />
liegen würden. Nach der selbstverordneten<br />
Innovationspause, nach dem Desaster mit der Einführung<br />
der so genannten ‚neuen Mathematik‘, scheint<br />
nämlich jetzt ein neuer Innovationsschub in der Mathematikdidaktik<br />
Platz zu greifen:<br />
• Da mehren sich in letzter Zeit Beiträge, die sich in radikaler<br />
Weise mit dem bisherigen Mathematikunter richt<br />
auseinandersetzen: etwa von der französischen Mathematikerin<br />
Stella Baruk, die dem Mathematik unterricht vorwirft,<br />
absolut nichts über die Psyche der Kinder zu wissen,<br />
12 13
denen man Mathematik beibringen will (4) oder von Forschern<br />
der ‚Chaosmathematik‘ (5) , die dem Mathematikunterricht<br />
vorwerfen, dass „von den Lernenden <br />
mehr erwartet wird, als das gedan kenlose Exerzieren von<br />
Fertigkeiten...“.<br />
• Da erscheinen zwei Ausgaben der „Grundschulzeitschrift“<br />
kurz hintereinander mit einem Schwerpunkt in<br />
Mathematik (6) , in dem sich bereits zeigt, wie Grundschullehrerlnnen<br />
- z.T. mit, aber auch ohne den Bohec‘-schen<br />
Impuls - einen freieren Mathematikunterricht prak tizieren<br />
und reflektieren.<br />
• Da gibt es schließlich die Schweizer Urs Ruf und Peter Gallin,<br />
die seit einigen Jahren mit ihrem Buch „Sprache und<br />
Mathematik“ (7) einen Ansatz des Mathematikunter richts<br />
vertreten, der die Rollenverteilung von Lehrerinnen und<br />
Schülerinnen völlig verändert. Hier wird nicht mehr, wie<br />
in der Regel im Mathematikunterricht üblich, von Schülerinnen<br />
erwartet, dass sie in erster Linie die Theorien der<br />
Lehrerinnen nachzuvollziehen haben, die ihnen diese als<br />
wohlportionierte Mathehäppchen verabreichen. Vielmehr<br />
sind die Schülerinnen als aktive Teile aufgefor dert, sich<br />
selbst einen Reim auf das Ausgangsproblem zu machen,<br />
und die Aufgabe der Lehrerinnen besteht darin, die von<br />
dem Kind erdachten Ideen nachzuvollziehen und ihm zu<br />
helfen, diese seine privaten Theorien weiterzuden ken und<br />
auszuentwickeln. Und erst danach ist die richtige Zeit, die<br />
reguläre Theorie der Wissenschaft kennen zulernen und<br />
zu übernehmen - wozu die Schülerinnen dann auch sehr<br />
leicht und schnell bereit sind.<br />
(4) S. Baruk: Wie alt ist der Kapitän? Über den Irrtum in der<br />
Mathematik, Basel 1989 (vgl. Bibliographie)<br />
(5) Peitgen u.a.: Bausteine des Chaos - Fraktale, Stuttgart 1992<br />
(6) Die Grundschulzeitschrift, Hefte Nr. 72 und 74. Seelze, 1994<br />
(7) U. Ruf und P. Gallin: Sprache und Mathematik in der Schule, Verlag<br />
Lehrerinnen und Lehrer Schweiz, Zürich 1990<br />
Dem doppelten Ansatz dieses Buches entsprechend<br />
gehen unsere Wünsche denn auch in zweierlei Richtung.<br />
Zum einen hoffen wir mit dieser Herausgabe einen kräftigen<br />
Impuls für die Neuentwicklung des Mathematikunterrichtes<br />
zu geben. Auf der anderen Seite möchten<br />
wir hiermit zur Auseinandersetzung mit und Weiterentwicklung<br />
der natürlichen Methode anregen, einer ‚Lernmethode‘,<br />
die derzeit - von Pädagogen offensichtlich<br />
weitgehend unbemerkt und diese außen vor lassend -mal<br />
wieder ihre Leistungsfähigkeit beweist. Wer beobach tet,<br />
wie und mit welcher ‚Methode‘ - und Leichtigkeit - sich<br />
Kinder und Jugendliche derzeit des Computers bemächtigen,<br />
wird wissen, was ich meine.<br />
Hartmut Glänzel, Pädagogik-<strong>Kooperative</strong> e.V.,<br />
Bremen im Juli 1994<br />
Vorwort zur 2. Auflage<br />
Paul Le Bohec’s Buch hat schnell einen interessierten<br />
und begeisterten Leserkreis gefunden, so dass es unerwartet<br />
jetzt schon in die 2. Auflage geht.<br />
Eine Reihe von aufmerksamen Lesern hat uns nach<br />
dem Erscheinen des Buches wertvolle Tips und Hinweise<br />
gegeben auf Druckfehler, Übersetzungsfehler, sachliche<br />
Fehler. Dafür möchten wir an dieser Stelle herzlich danken.<br />
Da trotz dieser Hilfe und eigener Recherche immer<br />
noch einiges unbefriedigend bleibt, bitten wir auch weiterhin<br />
um unterstützende Rückmeldung.<br />
Seit der Herausgabe dieses Buches hat sich die Diskussion<br />
über Mathematikunterricht ziemlich dynamisiert.<br />
So sind meine Hinweise vom Jahre 1994 jetzt schon<br />
14 15
ergänzungsbedürftig. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit<br />
möchte ich auf zwei mir besonders bemerkenswerte Veröffentlichungen<br />
hinweisen.<br />
Die schon erwähnten Gallin und Ruf haben ihre Arbeit<br />
fortgesetzt und in ein interessantes Schulbuch (8) gegossen<br />
(für die Klassen 1 bis 3 und über alle Fächergrenzen<br />
hinweg!).<br />
H.W. Heymann hat eine Schrift (9) vorgelegt, in der er<br />
die allgemeinbildenden Anteile des derzeitigen Mathematikunterrichts<br />
untersucht und mit seinen Thesen eine<br />
sehr kontroverse Diskussion - bis in die Boulevard-Presse<br />
hinein - vom Zaun gebrochen hat.<br />
Dass „<strong>Verstehen</strong> <strong>heißt</strong> <strong>Wiedererfinden</strong>“ so schnell eine<br />
so große Resonanz gefunden hat, hat nicht nur uns, sondern<br />
verständlicherweise auch den Autor sehr zufrieden<br />
gemacht. „Ich wäre noch viel zufriedener“, schrieb uns<br />
Paul vor kurzem in einem persönlichen Brief, „wenn ich<br />
hören würde, dass sich viele Lehrer darangemacht haben,<br />
die natürliche Methode auch zu praktizieren.“ Dem habe<br />
ich, außer der Bitte, dann mit uns darüber in Austausch<br />
und Diskussion zu treten, nichts hinzufügen.<br />
Hartmut Glänzel, Pädagogik-<strong>Kooperative</strong> e.V.,<br />
Bremen im September 1997<br />
(8) Peter Gallin/Urs Ruf: Ich mach das so! Wie machst du es?<br />
Das machen wir ab. - Sprache und Mathematik, 1. bis 3. Schuljahr,<br />
Lehrmittelverlag des Kantons Zürich, 1995. Zu beziehen über Pädagogik-<br />
<strong>Kooperative</strong>, Bremen<br />
(9) Hans Werner Heymann: Allgemeinbildung und Mathematik, noch<br />
unveröffentlichte Habilitationsschrift, Bielefeld 1995<br />
1. Einleitung<br />
Mein persönlicher Weg<br />
„In Wirklichkeit liest jeder, wenn er liest, etwas über sich<br />
selbst. Das Werk des Schriftstellers ist nur eine Art optisches<br />
Instrument, das er dem Leser anbietet, um ihm zu<br />
ermöglichen, das zu erkennen, was er ohne dieses Buch<br />
vielleicht nicht in sich selbst gesehen hätte ...“<br />
Marcel Proust<br />
Um ein solches ‘optisches Instrument’ haben mich<br />
Praktiker der <strong>Freinet</strong>-Pädagogik gebeten. Nachdem viele<br />
Lehrer an Tagungen zur Einführung in die natürliche Methode<br />
der Mathematik teilgenommen und ebenso vie le<br />
entsprechende Versuche in ihrer Klasse gestartet haben,<br />
meine ich, dass der Moment gekommen ist, ein solches<br />
‚optisches Instrument‘ in Form eines Buches zu schaffen.<br />
Für sie schildere ich meine ‚Abenteuer‘ auf zwei Ebenen:<br />
mit Kindern und mit Erwachsenen.<br />
Meine Erfahrungen mit Kindern waren sehr umfangreich<br />
und intensiv: Ich habe die natürliche Methode der Mathematik<br />
mit Schülern von sechs bis neun Jahren Tag für<br />
Tag über drei Jahre hinweg entwickelt und praktiziert.<br />
Meine Ideen und Erfahrungen scheinen auch für ande re<br />
ganz brauchbar zu sein, denn sie sind jetzt wieder aufgenommen<br />
worden und werden noch weiter entwickelt.<br />
Außerdem habe ich in Frankreich, Belgien, Deutschland<br />
und bei internationalen Treffen mehr als 200 Semina re<br />
für Erwachsene durchgeführt. Und zusätzlich habe ich die<br />
natürliche Methode italienischen Lehrern in etwa sechzig<br />
Städten, vom Norden bis zum Süden, vom Westen bis<br />
zum Osten der Halbinsel - Sizilien und Sardinien nicht zu<br />
vergessen -, nahegebracht.<br />
16 17
Es handelt sich selbstverständlich um die natürliche<br />
Methode von Célestin <strong>Freinet</strong>.<br />
Er stammte aus einer unterprivilegierten Klasse. Das<br />
Unrecht, das diese Klasse erdulden musste, hatte ihn dazu<br />
gebracht, die Fragen von Schule, Erziehung und Unterricht<br />
zu überdenken. Sehr früh beeindruckte ihn die Tatsache,<br />
dass alle Mütter auf der Welt ihren Kindern ihre<br />
Sprache beibringen konnten, ohne jemals auf die Flut<br />
von schulischen Übungen zurückgreifen zu müssen, die<br />
in der Pädagogik seiner Zeit für jedes Lernen unverzichtbar<br />
waren. Und er fragte, ob man nicht diese ‚natürliche‘<br />
Methode auf alle Bereiche anwenden könnte. Aber er gab<br />
sich mit dieser theoretischen Vision nicht zufrieden. Er<br />
lieferte praktische Beweise, indem er einen Bericht vom<br />
Leselernprozess seiner eigenen Tochter veröffentlichte (10)<br />
Außerdem führte er Studien über die natürliche Méthode<br />
beim Spracherwerb, beim Zeichnen sowie beim Schreibenlernen<br />
(<strong>Freinet</strong> 1968) durch.<br />
Diese Arbeiten haben mich seit ihrer Veröffentlichung<br />
interessiert. Deshalb habe ich fünfundzwanzig Jahre lang<br />
in meinen Klassen (meist 1. und 2. Jahrgang gemeinsam) (11) ,<br />
also mit Kindern von sechs bis acht teilweise bis neun<br />
Jahren, die Ideen von <strong>Freinet</strong> und seiner Frau Elise umgesetzt,<br />
und zwar nicht nur im Bereich des Lesens und des<br />
(10) In C. <strong>Freinet</strong>: La Méthode Naturelle, I. L’Apprentissage de la Langue.<br />
Editiond Delachaux et Niestle, Neuchâtel, Schweiz 1968 Übersetzung<br />
(leicht gekürzt) in: Boehncke/Humburg: Schreiben kann jeder, Rowohlt,<br />
Hamburg 1980, S 32ff<br />
(11) In dieser Übersetzung werden die deutschen Bezeichnungen für<br />
die Klassenstufen verwendet: In Frankreich werden die Kinder wie in<br />
Deutschland mit sechs Jahren eingeschult, die Grundschule umfasst jedoch<br />
fünf Jahre. Die Klassenstufen haben dort folgende Bezeichnungen:<br />
C.P. (cours préparatoire): 1. KL, C.E. 1. (cours élémentaire 1): 2. KL, C.E.<br />
2. (cours élémentaire 2): 3. KL, CM. 1. (cours moyen 1): 4. KL, CM. 2.<br />
(cours moyen 2): 5. Kl. (Anm. d. Übers.)<br />
schriftlichen Ausdrucks, sondern auch im mündlichen<br />
Ausdruck, in Musik, im Sport bis hin zur Mathematik.<br />
Gleichzeitig konnte ich hautnah die engagierten Versuche<br />
meiner Frau in den Bereichen Lesen- und Schreibenlernen,<br />
Umwelterkundung sowie in Zeichnen und Malen<br />
- über 23 Jahre hinweg! - verfolgen.<br />
Da wir in Parallelklassen unterrichteten, hatten wir<br />
täglich die Möglichkeit zu vergleichen, zu diskutieren<br />
und gemeinsam nachzudenken. Das war mir von großem<br />
Nutzen für meine theoretische Forschung, deren Ergebnisse<br />
ich oft <strong>Freinet</strong> und seiner Frau Elise mit der Bitte um<br />
Kommentar vorlegte. Weil ich nämlich auf diese Weise<br />
von einer dreifachen Kritik profitieren konnte, hatte ich<br />
gute Aussichten, ein wenig klarer zu sehen.<br />
Außerdem hatte ich das Glück, diesem Weg der Forschung<br />
weiter folgen zu können, da ich in der Folge der<br />
68er Jahre zum Dozenten für Pädagogik an dem I.U.T. (12)<br />
für Sozialberufe in Rennes, in einem Ausbildungsgang<br />
für Sozialarbeiter und Sozialpädagogen, ernannt wurde.<br />
Am I.U.T. konnte ich neue Techniken entwickeln:<br />
Schreiben in der Gruppe, Co-Biographien, Hören mit Bildern<br />
usw. Dort habe ich auch gelernt, Studenten gruppen<br />
anzuleiten. Diese Erfahrung mit Erwachsenen hat es mir<br />
dann ermöglicht, den vielen Anfragen über <strong>Freinet</strong>-Pädagogik<br />
nachkommen zu können, die von Einrichtungen der<br />
Éducation Nationale (13) , der Éducation Surveillée (14) und<br />
der Universität (aus Frankreich und dem Ausland) gestellt<br />
wurden. Aber in den letzten Jahren habe ich mich vor allem<br />
für die natürliche Methode des Lernens interessiert.<br />
(12) Das I.U.T. (Institut Universitaire de Technologie ist eine<br />
Hochschuleinrichtung, die etwa den Fachhochschulen vergleich bar ist.<br />
(Anm. d. Übers.)<br />
(13) ‚Éducation Nationale‘: Kurzbezeichnung für das Schulwesen, nach<br />
dem Namen des zuständigen Ministeriums. (Anm. d. Übers.)<br />
(14) ‚Éducation Surveillée‘: Heimerziehung (Anm. d. Übers.)<br />
18 19
Es war ein sehr großes Gebiet, das ich - ausgehend von<br />
meiner persönlichen Erfahrung - angefangen habe theoretisch<br />
aufzuarbeiten. Aber ich hatte sehr schnell das Bedürfnis,<br />
mich dabei auf bestimmte Persönlichkeiten, wie<br />
zum Beispiel <strong>Freinet</strong>, Bachelard oder Ricardou bzw. auf<br />
bestimmte Bücher zu stützen. Besonders interessant für<br />
uns ist das Werk von Edgar Morin (1986), weil es ebenfalls<br />
von der Ganzheitlichkeit des Menschen aus geht. Er<br />
schreibt:<br />
„Das Wissen ist ein multidimensionales Phänomen in<br />
dem Sinne, dass es - auf nicht trennbare Weise - gleichzeitig<br />
physisch, biologisch, neurophysiologisch, mental,<br />
psychologisch, historisch, kulturell, sozial... ist“<br />
(Morin 1986, S. 12)<br />
Dass man eine weitere Größe, nämlich die der Komplexität,<br />
nicht umgehen kann, wussten <strong>Freinet</strong>-Lehrer längst<br />
durch eigene Erfahrung. Und wir können nur <strong>Freinet</strong> bewundern,<br />
der uns bereits vor fünfzig Jahren auf diesen<br />
Weg gebracht hat, obwohl der damalige Mode trend auf<br />
einen extremen Segmentarismus wies. 1950 schrieb er<br />
dazu:<br />
„Unsere Ärzte haben unsere Kinder in ihre Gewalt bekommen,<br />
sie haben sie isoliert, zurückgehalten, eingeschlossen,<br />
um sie besser untersuchen und ihr Verhalten<br />
analysieren zu können. Aber diese statische Studie des<br />
Menschen, die vielleicht gerechtfertigt wäre, wenn man<br />
ausschließlich die analytische Zusammensetzung des<br />
untersuchten Individuums betrachten würde, wird völlig<br />
unvollständig und irreführend, wenn man ein ganzheitliches<br />
Verständnis des lebendigen Wesens anstrebt.<br />
Wir werden über die fragmentarischen und einseitigen<br />
Beobachtungen der Wissenschaftler hinaus das Kind in<br />
seinem Werden in den Blick nehmen, um schließlich zur<br />
Untersuchung des Menschen mit seinem inneren<br />
Aufbau, in seinem Funktionieren, in seinem Leben, in seiner<br />
Dynamik zu kommen.“<br />
(<strong>Freinet</strong> 1966, S. 6)<br />
Ja, für uns, die Praktiker der <strong>Freinet</strong>-Pädagogik, ist ein<br />
Kind nicht die Summe verschiedener Teile, die losgelöst<br />
voneinander analysierbar sind, sondern etwas Globales,<br />
ein sich stetig veränderndes Ganzes. Wir müssen das Kind<br />
mit seiner ganzen Dynamik sehen.<br />
Es ist also der Begriff der Ganzheitlichkeit, den ich<br />
versuche in meinen Seminaren mit Erwachsenen deutlich<br />
zu machen. Ich denke, dass man sich bemühen muss, alle<br />
Elemente ins Bewusstsein zu rücken, die das Lernen unterstützen<br />
könnten. Ich gebe nicht vor Wissen zu ver mitteln;<br />
ich versuche vielmehr, die Teilnehmer durch den Wurf<br />
ins kalte Wasser zu provozieren, neue Ufer anzu streben.<br />
Denn nichts wird sich in der Pädagogik ändern -und zweifellos<br />
auch nicht anderswo -, solange sich die Praktiker<br />
nicht darum bemühen, ihre eigene Praxis theo retisch zu<br />
durchdringen. (Doch damit die Dinge sich wirklich ändern,<br />
wird eine Handvoll pädagogischer Agitatoren nicht<br />
ausreichen. Es ist notwendig, dass sich sehr viele Lehrer<br />
auf den Weg machen. Und dafür setzen wir uns ein.)<br />
Wenn man wissen will, was sich beim Lernen der Kinder<br />
ereignet, ist es sinnvoll genau zu beobachten, wie sich<br />
Lernen bei uns Erwachsenen abspielt. Das ist die Absicht<br />
meiner Seminare. Im allgemeinen erstrecken sie sich über<br />
drei Sitzungen: Mathematik, Schreiben/Lesen und Kunsterziehung.<br />
Manchmal ist eine zusätzliche Sit zung dabei,<br />
die sich dem mündlichen Ausdruck und dem Singen<br />
widmet.<br />
Ich fange dabei aus taktischen Gründen mit der Mathematik<br />
an: Da die Ergebnisse hier sehr unzurei chend sind,<br />
sind die Leute wahrscheinlich in diesem Fach besonders<br />
offen für neue Perspektiven.<br />
20 21
Setting bei Erwachsenen und Kindern<br />
In meinen Seminaren kümmere ich mich anfangs sehr<br />
wenig um fachliche (in diesem Fall mathematische) Inhalte:<br />
Ich versuche vor allem das ‚Verhalten des Menschen<br />
beim Lernen‘ herauszuarbeiten. Um das zu erreichen,<br />
bitte ich die Teilnehmer, eine mathematische Erfindung zu<br />
machen. Das bringt sie zunächst ganz durcheinander, weil<br />
sie sich nicht an das klammern kön nen, was sie bereits<br />
wissen, bzw. weil sie sich nicht auf hinlänglich erprobte<br />
Strategien zurückziehen können.<br />
Die Teilnehmer befinden sich so in einer für sie völlig<br />
neuen Lage, und sie reagieren auf diese ungewohnte<br />
Situation ganz offen und spontan. Sie zeigen sich so, wie<br />
sie wirklich sind, weil sie ihre Verhaltensweisen und Gefühle<br />
zu diesem Zeitpunkt nur wenig kontrollieren, denn<br />
sie nehmen diese selbst (noch) nicht wahr. Ich sehe es als<br />
meine Aufgabe an, ihnen diese Verhaltensweisen und Gefühle<br />
bewusst zu machen, denn es scheint mir für Lehrer<br />
sehr wichtig zu sein zu lernen, wie man solche Reaktionen<br />
erkennt und entschlüsselt. Dies fällt ihnen übrigens sehr<br />
leicht, weil es ihre eigenen Reaktionen sind. So sage ich<br />
z.B.:<br />
„Macht eine mathematische Erfindung!“<br />
Anschließend ahme ich die Bestürzung einiger Teilnehmer<br />
nach, indem ich die Hände über dem Kopf zusammenschlage:<br />
„Eine Erfindung? Das kann ich nicht!“<br />
Und ich fahre fort: „Aber klar doch! Aber ja doch! Ihr<br />
schafft das. Als erstes: Was ist eigentlich eine Erfindung?<br />
Es ist ganz einfach: Es ist irgendetwas! Also: Ihr geht von<br />
Ziffern, Zahlen, Punkten oder Buchstaben aus und macht<br />
damit irgendetwas. Und dieses ‚Irgendetwas‘, das kann<br />
jeder!“<br />
Ich füge hinzu: „Zermartert euch nicht den Kopf!<br />
Wenn ihr es jetzt noch nicht genau verstanden habt,<br />
dann versuchen wir es noch einmal.”<br />
Aber in der Regel braucht man diesen zweiten Anlauf<br />
nicht, weil jeder mitmacht. Schließlich sind diese Personen<br />
hier, weil sie es wollen. (Eigentlich arbeite ich sehr<br />
selten in einem ‚offiziellen‘ Rahmen und unter Pflichtbedingungen.<br />
Und so habe ich es sozusagen immer nur mit<br />
Freiwilligen zu tun, die immer mitarbeiten wol len.)<br />
Während dieser Arbeit gehe ich durch die Reihen und<br />
bitte einzelne Teilnehmer, diese oder jene Erfindung an<br />
die Tafel zu schreiben. Und ich füge hinzu: „Entschuldigt<br />
bitte, wenn ich nicht alle Erfindungen nehmen kann. Das<br />
ist schade, denn durch die Kommentare zur eigenen Erfindung<br />
lernt man am besten. Als Ausgleich werden morgen<br />
diejenigen Vorrang haben, die heute nicht ausge wählt wurden.<br />
Aber ich mache euch darauf aufmerksam, dass jeder,<br />
der heute nicht dran kommt, frustriert sein wird. Und es<br />
besteht die Gefahr, dass er keine Lust mehr hat etwas zu<br />
erfinden und so benachteiligt sein wird! Und eine letzte<br />
Anmerkung: Wenn ich bestimmte Erfin dungen eher auswähle<br />
als andere, so geschieht dies nicht, weil sie besser<br />
wären, sondern ich wähle diejenigen aus, die schneller<br />
ausgewertet werden können. Normaler weise würde ich<br />
von jedem eine Erfindung besprechen.“<br />
Bevor ich mit der Besprechung anfange, vergesse ich<br />
selten hinzuzufügen:<br />
„Ich mache euch schon im Voraus darauf aufmerksam,<br />
dass dieses Seminar nicht das halten kann, was es verspricht,<br />
weil wir nicht genug Zeit haben. Und die Zeit ist<br />
ein wichtiges Element der natürlichen Methode. Sie erlaubt<br />
uns, Themen später noch einmal aufzunehmen, auf<br />
Vergangenes zurückzugreifen, sich zurückzubesinnen, zu<br />
wiederholen, zu...., denn oftmals taucht dieselbe Idee im<br />
Laufe von zwei Tagen, einer Woche oder eines Monats<br />
mehrmals auf. Und genau diese wiederholten Betrach-<br />
22 23
tungen erleichtern das Lernen.“<br />
Natürlich ist das nicht immer so, denn manchmal<br />
wird eine Struktur sofort im Anschluss an ihre erste Vorstellung<br />
dazu genutzt, die darauf folgenden Erfindungen<br />
zu untersuchen. Und wenn noch Zeit bleibt, dann bitte ich<br />
am Ende einer Sitzung um eine zweite Serie von Erfindungen.<br />
Dabei stellen wir oft fest, dass die neuen Erfindungen<br />
durch das, was vorher passiert ist, stark geprägt<br />
sind. So weise ich auf meine Art auf die Bedeu tung der<br />
Zeit hin.<br />
Bevor ich dann anfange, die Erfindungen der Teilnehmer<br />
untersuchen zu lassen, erzähle ich, wie ich in meiner<br />
kombinierten Klasse (2./3. Schuljahr) vorgegan gen bin,<br />
als ich die Dreistigkeit besaß, drei ganze Schuljahre lang<br />
freie Mathematik zu betreiben. Die Kinder hatten ein Heft<br />
mit Erfindungen, in das sie ‚freie mathematische Texte‘<br />
niederschrieben, wenn und wann sie es wollten. Abends<br />
sammelte ich die Hälfte der Hefte aus der 2. Klasse und<br />
die Hälfte der Hefte aus der 3. Klasse ein. Aus jedem Heft<br />
schrieb ich eine Erfindung an die Tafel. Am nächsten Tag<br />
sammelte ich die andere Hälfte ein. So wurde innerhalb<br />
von zwei Tagen eine Erfindung von jedem Kind berücksichtigt.<br />
Das ist wichtig, um den Fluss der Produktion in<br />
Gang zu setzen und aufrecht zu erhalten.<br />
Einige Kollegen haben versucht, die Arbeit mit dieser<br />
‘verrückten‘ Methode auf einen Tag pro Woche zu beschränken.<br />
Aber das hat nicht funktioniert, weil der Fluss<br />
zu einem dünnen Rinnsal wurde. Es ist, wie wenn man<br />
den Mond nur an einem Tag pro Woche in Bewe gung<br />
setzen würde - die Folgen wären an den Gezeiten zu erkennen.<br />
Der Strom darf nicht versiegen. Wenn man den<br />
Versuch wirklich wagen will, dann sollte man sich lieber<br />
fünfzehn Tage vollständig darauf einlassen. Dann<br />
könnte man das Spiel gründlich spielen und nicht nur<br />
ein Lippenbekenntnis ablegen. Und wenn man zu dem<br />
Entschluss käme, so nicht mehr weiterarbeiten zu wollen,<br />
dann wäre es eine Entscheidung auf der Grundlage der<br />
konkreten eigenen Erfahrung.<br />
Was also den Fluss aufrecht erhält, ist die täglich wiederkehrende<br />
Untersuchung der Texte. Und das habe ich so<br />
gemacht: Ich habe den Zweitklässlern eine systemati sche<br />
Arbeit aufgegeben (z.B. Rechenkarteien), während ich mit<br />
den Drittklässlern arbeitete. Nach 45 Minuten wurde getauscht.<br />
Auffallend war, dass einige Kinder der 2. Klasse<br />
neben der Arbeit mit der Kartei aufgepasst und verfolgt<br />
haben, was die Großen taten. Und da sie sich von der<br />
Arbeit der Größeren sehr angezogen fühlten und sie aufmerksam<br />
verfolgten, profitierten sie auch davon. Und umgekehrt:<br />
Als die Kleinen an der Reihe waren, verfolg ten<br />
einige Große dies mit Neugier und Heiterkeit. Und das bot<br />
einigen von ihnen die Möglichkeit, ihr Wissen zu überprüfen<br />
und zu festigen. Übrigens fehlte es den Kleinen<br />
nicht an originellen Ideen, die es verdienten, aus gewertet<br />
und erforscht zu werden.<br />
Deshalb habe ich einer Kollegin (Monique Quertier),<br />
die in jenem Jahr einen Jahrgang (ein drittes Schuljahr)<br />
hatte, geraten, diesen in zwei Gruppen aufzuteilen. Der<br />
Erfolg war sofort sichtbar und zwar hauptsächlich deshalb,<br />
weil nicht zu viele Erfindungen auf einmal zu untersuchen<br />
waren. So hatte die Klasse mehr Zeit sich jeder<br />
einzelnen zu widmen. In meiner kombinierten 2./3. Klasse<br />
mit 28 Schülern haben wir jeden Tag 7 Erfin dungen aus<br />
jeder Gruppe untersucht. Das ist eine ver nünftige Anzahl.<br />
Und da die Hefte nur alle zwei Tage ein gesammelt wurden,<br />
hatte jedes Kind die Möglichkeit, eine Idee entweder<br />
aus seiner alltäglichen Wahrnehmung oder aus den Erfindungen<br />
des Vortages bzw. desselben Tages zu entwickeln<br />
oder aus denen der anderen Gruppe.<br />
24 25
Und manchmal passierte es, dass sich ein Kind in einer<br />
Sitzung sein Heft schnappte, um das, was wir gerade behandelten,<br />
noch einmal zu machen oder zu überprüfen.<br />
Oder ein Kind fing - ausgelöst durch unser Gespräch - an,<br />
etwas zu entwickeln, zu erweitern, zu umgehen, Umwege<br />
zu gehen, umzustellen, zu verlängern, zu ver dichten,<br />
weiterzuverfolgen....<br />
2. Elemente der natürlichen Methode -<br />
aufgezeigt an der Arbeit mit<br />
Erwachsenen<br />
Die grundlegende Neuigkeit und die Weisheit dieser<br />
Methode liegt im Prinzip der Komplexität. Sie gründet<br />
sich auf eine globale Aneignung des Wissens. Folglich<br />
tre ten, wenn man diese Methode praktiziert, tausende von<br />
verschiedenen Phänomenen an die Oberfläche, die so vielfältig<br />
und so ineinander verschachtelt sind, dass es unmöglich<br />
ist, sie voneinander isoliert und geordnet vor zustellen.<br />
Man muss sich also darauf einstellen, auf den folgenden<br />
Seiten von allen Aspekten etwas vorzufinden. Vor allem<br />
aber werden überall Emotionen, die ein unab dingbarer<br />
Katalysator für den Erwerb von Wissen sind, zu finden<br />
sein. Aber wir werden noch auf mehr stoßen: auf die Fröhlichkeit,<br />
auf das Bedürfnis zu erfinden, auf die Freude, die<br />
durch Wissen entsteht, auf Gruppen phänomene, auf die<br />
Dialektik von Weisheit und Verrückt heit, auf verschlungene<br />
Entdeckungswege, auf die Unterschiede von linker<br />
und rechter Gehirnhälfte, auf das Streben nach Macht<br />
durch Wissen, auf die Vorteile gemeinsamen Arbeitens,<br />
auf die Mannigfaltigkeit der Situationen und der Persönlichkeiten<br />
usw.<br />
All dies erfordert eine komplexe Darstellungweise. Ich<br />
hoffe, dass die Leser sie angesichts der Authentizität der<br />
Anekdoten akzeptieren können, mit deren Hilfe ich versuche,<br />
die Komplexität des Lebens möglichst genau zu<br />
beschreiben.<br />
26 27
Die Quelle der Erfindungen<br />
Welcher Art sind nun die Erfindungen, die bei der ersten<br />
Begegnung mit der natürlichen Methode gemacht<br />
wer den? Aus welcher Quelle können sie stammen? Auf<br />
den ersten Blick scheinen sie von überall her zu kommen.<br />
Schauen wir sie uns deshalb näher an!<br />
Visuelle Ästhetik<br />
Die Freude an der Symmetrie ist offensichtlich. Bei den<br />
Erfindungen dieses Typs ist sie ein wenig versteckt,<br />
da sich die Symmetrie nur auf die Lage der Buchstaben<br />
bezieht.<br />
Intellektuelle Ästhetik<br />
1. 2. 4. 8. 16.<br />
1. 4. 16. 64.<br />
Hörästhetik<br />
azi barzi corazza ozzara<br />
Unsymmetrisches:<br />
Für einige ist im Gegensatz dazu die Nicht-Symmetrie besonders<br />
interessant:<br />
28 29
Hier spürt man das Vorhandensein von bewussten<br />
oder unbewussten Konstruktionsregeln, die sofort die<br />
Auf merksamkeit der Teilnehmer erregen. Und tatsächlich<br />
wird so das Gehirn in Bewegung gesetzt.<br />
Manchmal reicht ein einziges Wort aus, um eine<br />
Erfindung auszulösen:<br />
Der Autor hat uns folgende Erklärung gegeben: „Es<br />
sind die Buchstaben des Wortes ‚EUROPA‘. Ich bin darauf<br />
gekommen, weil Rinaldo bei der Vorstellung des Semi nars<br />
von Europa sprach. Aber halt, jetzt fällt mir noch mehr<br />
ein. Vor einem Jahr hat meine Klasse an einem Wettbewerb<br />
der Europäischen Gemeinschaft teilgenom men und<br />
dabei einen Preis gewonnen. Also, eigentlich dachte ich,<br />
dass meine Erfindung nur etwas mit Rinaldos Beitrag zu<br />
tun hätte, aber in Wirklichkeit verbindet sich eine frühere<br />
Erfahrung mit diesem Wort. Durch die Erfin dung ist sie<br />
mir wieder bewusst geworden. Ohne sie hätte ich mich<br />
nicht daran erinnert.“<br />
Diese Erkenntnis hat mich am meisten erstaunt. Ich<br />
hatte etwas Ähnliches zuerst bei Schülern beobachtet,<br />
aber nicht vermutet, dass es auch bei Erwachsenen auftreten<br />
könnte. Ich hatte die Erwachsenen eher für Spieler, für<br />
oberflächlicher und für distanzierter gehalten. Wenn ich<br />
nun zu Beginn der Arbeit sage: „Macht irgend etwas!“,<br />
so kommt dabei selten etwas Beliebiges heraus. Und<br />
genau dies macht die Besonderheit aus. Denn in diesen<br />
Erfin dungen, selbst den schnellen oder den scheinbar banalen,<br />
steckt sehr viel Persönliches des Menschen. Und<br />
dies ist ein Hauptpunkt der natürlichen Methode. Wie im<br />
mutter sprachlichen Unterricht stütze ich mich auch hier<br />
auf den freien Ausdruck. Diejenigen, die dort vor mir<br />
sitzen, sind nicht mehr Schüler oder Seminarteilnehmer,<br />
sondern menschliche Wesen mit allem Drum und Dran,<br />
ein schließlich dem unbewussten Bedürfnis, sich mit allen<br />
Mitteln, die diese neue Sprache bietet, auszudrücken. Und<br />
es ist sogar überraschend zu sehen, wie sich das Be dürfnis<br />
einschleicht, etwas über sich mitzuteilen, wo es sich doch<br />
eigentlich nur um kalte, abstrakte mathemati sche Dinge<br />
handelt.<br />
Das funktioniert deshalb so gut, weil man hier, wie<br />
beim Zeichnen, seine Botschaft viel leichter tarnen kann.<br />
Worte würden da viel mehr offen legen. Natürlich versuche<br />
ich, nicht zu interpretieren. Wir sind hier in der Mathematik,<br />
nicht in der Psychoanalyse. Trotzdem kann ich es<br />
nicht vermeiden, von der psychologischen Dimension der<br />
Dinge zu sprechen, denn sie ist ein wichtiges Element,<br />
wenn nicht gar ein Hauptbestandteil der natürlichen Methode,<br />
weil sie alle Dimensionen des menschlichen Wesens<br />
berührt.<br />
So kommt es vor, dass einige Teilnehmer ganz spontan<br />
30 31
den Sinn und die grundsätzliche Bedeutung ihrer Erfindung<br />
erklären, ohne dass man darum gebeten hätte.<br />
Besonders ausgeprägt war dies bei einem Lehrerfortbildungskurs<br />
in Aix-en-Provence. Bei 10 von 13 Erfindungen<br />
wurde erklärt, welche besondere Bedeutung sie für<br />
ihre Autoren hatten. Vielleicht waren sie geübt in der (Psycho-)Analyse<br />
und deshalb so scharfsinnig. Vielleicht auch,<br />
weil das Klima in der Gruppe gut war: man konnte hier<br />
viel sagen.<br />
Hier ein Beispiel:<br />
Adrienne: „Oh! Man merkt, dass es rechts offen ist,<br />
und das stört mich.“<br />
Jean-Pierre: „Das ist eine Subtraktion, aber in Z und<br />
nicht in N. In N (der Menge der natürlichen Zahlen) wäre<br />
es unmöglich. Aber in Z (der Menge der ganzen Zahlen)<br />
kann man sagen: 2 - 6 = - 4“<br />
Rene (der Autor): „Ich mag die geraden Zahlen sehr<br />
gern.“<br />
Christine: „Oh! Ich überhaupt nicht. Ich mag die<br />
ungera den Zahlen lieber.“<br />
Paul: „De la musique avant toute chose.<br />
Et pour cela préfère l‘impair.“<br />
(Von der Musik vor allen Dingen.<br />
Und deshalb ziehe ich das Ungerade vor.)<br />
(Nachmittags bringt Helene das eben zitierte Gedicht<br />
von Verlaine mit. Das Beispiel zeigt, wie wichtig es ist,<br />
auch für Unerwartetes offen zu sein. Von der Mathematik<br />
kann man auf die Poesie, auf die Psychologie, die Choreographie,<br />
die Politik und tausend andere Dinge kommen.<br />
Und umgekehrt. Jedes Element des Lebens beruht auf<br />
Strukturen. Und man kann ständig von den Dingen zu den<br />
Strukturen und von den Strukturen zu den Dingen wechseln.<br />
Aber wehe, wenn man versucht, dieses Hin und Her<br />
zu verhindern, weil man seriös sein will - dann passiert<br />
nichts mehr.)<br />
Rene (der Autor): „Oh, aber wartet, ich weiß jetzt, was<br />
mit meinen Zahlen los ist. Es war der 2. 6. 64, als die See<br />
mich zum zweiten Mal dem Leben zurückgegeben hat,<br />
während alle meine Kollegen ertrunken sind.“<br />
Das ist doch nicht möglich; es ist unglaublich, dass<br />
diese einfachen geraden Zahlen dieses ganze Drama beinhalten!<br />
Man kann davon nur ergriffen sein.<br />
Ja, man muss begreifen, dass die Mathematik wie jede<br />
Sprache mehrere Dimensionen umfasst: Ausdruck, Kommunikation,<br />
Beschreibung, Argumentation, Meta-Linguistik,<br />
Poesie, Verlockung, Zusammenhalt. Je nach Person<br />
und ihren Bedingungen dominiert diese oder jene Dimension<br />
für eine gewisse Zeit. Und manchmal sind diese Bedingungen<br />
so günstig, dass der freie Ausdruck eine große<br />
Tiefe erreicht.<br />
Übrigens haben einige Autoren, wie z.B. S. Baruk und<br />
J. Nimier, über diese Beziehung zwischen Mathematik<br />
und Psychologie geschrieben. Aber im allgemeinen beachtet<br />
man die Beziehung kaum: Man interessiert sich nur<br />
für die Mathematik.<br />
Weil jedoch die Grundlage dieser Methode der schöpferische<br />
Ausdruck ist, muss man auf Äußerungen dieser<br />
Art immer gefasst sein.<br />
Hier ein Beispiel:<br />
32 33
Ich (Paul) frage:<br />
„Was sagt dir die Zahl 24? Spricht sie dich besonders<br />
an?“ Renée: „Ah! Nein, überhaupt nicht.“ Paul: „Bist du sicher?<br />
Hast Du nicht 24 Zähne oder viel leicht 24 Kinder?“<br />
Renée: „Nein, nein! Nichts dergleichen! - Ach Scheiße!<br />
Gestern wurde ich 24!“<br />
Bei dieser Gelegenheit erkläre ich, dass die Zahlen<br />
nicht so neutral sind, wie man glaubt. Zuerst erzähle ich<br />
von meiner eigenen Erfahrung. Eines Tages, ich weiß<br />
nicht mehr aus welchem Anlass, wurde ich gebeten, eine<br />
zufällige Zahl zu nennen: 1728. Und ich war erstaunt, als<br />
ich feststellen musste, dass sie aus meinem Geburtsdatum<br />
stammte: 28.7.1921. Und später habe ich festgestellt, dass<br />
Erfindungen sehr häufig mit dem Geburtsdatum zusammenhängen,<br />
und zwar oft, ohne dass sich die Autoren<br />
dessen bewusst sind. Einmal wollte ich die Probe aufs Exempel<br />
machen. Ich habe einen Kollegen des Universitätsinstituts,<br />
an dem ich arbei tete, gebeten mir eine Zahl zu<br />
sagen. Es war jemand, der alles von Freud gelesen hatte<br />
und der früher einmal Psychoanalytiker werden wollte.<br />
Überrascht antwortete er mir: „Was? Was? Eine Zufallszahl?<br />
Na gut: 4267.“<br />
Ich brach in Lachen aus, weil es ein Teil der Zahl war,<br />
die Freud in seinem Buch ‘Psychopathologie des Alltagslebens’<br />
zitierte. (Die Zahl aus dem Buch war 426718.) Der<br />
Patient hatte gesagt:<br />
„Wenn ich daran erkranke, wird es 6 Wochen dauern (7x6<br />
= 42).“<br />
Freud hatte versucht, es zu vertiefen:<br />
„Ich stelle fest, dass hier alle Ziffern bis auf die 3 und die<br />
5 vor kommen.“<br />
„Das ist mir klar. Wir sind 7 in der Familie und ich bin<br />
der Siebte. Meine Quälgeister, das sind mein Bruder an<br />
der 3. Stelle und meine Schwester an der 5. Stelle. Zweifellos<br />
hätte ich lieber sie sterben sehen als meinen Vater.<br />
Wenn mein Vater wei ter gelebt hätte, hätte er ein weiteres<br />
Kind haben können, das wäre dann das 8. Und für dieses<br />
wäre ich der Ältere gewesen“<br />
Und vielleicht ist es auch nicht ohne Bedeutung gewesen,<br />
dass mein Kollege nicht weiter als 4267 gegangen ist,<br />
denn er war der strahlende Älteste von Fünfen.<br />
Aber eine Seminarteilnehmerin (Marie) protestiert:<br />
„Oh la la! Ich bin nicht einverstanden. Jeder kann mit ein<br />
bisschen Phantasie etwas finden, das man über die Zahl<br />
426718 sagen kann.“ Paul: „Ja und auf welcher Grundlage?“<br />
Marie: „Natürlich über persönliche Gegebenheiten.“<br />
Paul: „Das meine ich ja gerade!“<br />
In meinen Seminaren habe ich manchmal dasselbe Experiment<br />
versucht. Aber es funktioniert selten, weil der<br />
innere Zensor aufpasst. Die Anekdote hat die Menschen<br />
wachsam gemacht. Die Spontaneität ist verflogen. Wir<br />
finden unsere Zahlen nämlich nur, wenn wir nicht auf sie<br />
achten.<br />
Da wir gerade bei der Resonanz von Ziffern und Zahlen<br />
sind, hier etwas, das mir ein Mädchen aus dem 1.<br />
Schuljahr sagte:<br />
„Oh! Ich mag die 6 gern. Die 6, die liebt die 8. Die 7<br />
möchte auch von der 6 geliebt werden. Sie versucht, sie<br />
zum Lachen zu bringen, indem sie ihre Mütze verkehrt<br />
herum aufsetzt. Die 6 lacht, aber trotzdem mag sie die 8<br />
lieber. Aber die 13 ist mir ein Greuel.“<br />
Wie kann sich dieses Mädchen mit einer solchen Sichtweise<br />
der Dinge im Rechnen wohl fühlen? Trotzdem gibt<br />
es einen Weg. Da der emotionale Druck bei ihm sehr stark<br />
ist, sogar so stark, dass es alles durcheinander bringt,<br />
muss man ihm viel Raum verschaffen. Wenn das Kind<br />
34 35
die Möglichkeit erhält, sich mit Hilfe des Schrei bens, des<br />
Sprechens, des Zeichnens, des Singens, der kör perlichen<br />
Bewegung usw. auszudrücken, ist es eher dafür offen, die<br />
(Um-)Welt in Ruhe und objektiv zu betrachten und so zu<br />
einer richtigen Wahrnehmung der Strukturen zu kommen.<br />
Das ist übrigens auch geschehen, und zwar durch einen<br />
langen Bericht über die Abenteuer seiner Katze, die sich<br />
als Störenfried ersten Ranges betätigte sowie durch eine<br />
eindrucksvolle Serie von phantasierei chen und humorvollen<br />
Zeichnungen. Das half ihm Abstand zu gewinnen.<br />
Auf die gleiche Weise entpuppte sich ein Junge als Mathematiker,<br />
nachdem er es geschafft hatte, sein Prob lem in<br />
mündlicher Form auszudrücken (Katharsis).<br />
Manchmal gibt es Erfindungen, die nur für die anderen<br />
überraschend sind - der Autor selbst weiß ja, wie sie<br />
zustande kommen.<br />
Hier ein Beispiel:<br />
Ein Berufsschullehrer: „Ich sehe hier eine Turbine.<br />
Aber sie wird wohl kaum funktionieren.“<br />
Pierre: „Ich, ich sehe, dass die Einsen auf dem Kopf<br />
ste hen.“<br />
Adrienne: „Du siehst sie verkehrt herum. Das ist komisch,<br />
ich sehe, dass sie richtig herum sind. Vielleicht<br />
hängt das damit zusammen, dass ich Linkshänderin bin.“<br />
Die Autorin: „Ich kann euch sagen, warum ich das ge-<br />
macht habe. Ihr seht, dass es elf Einsen sind. In der Schule<br />
hatte ich große Schwierigkeiten mit der Zahl 11. Eines<br />
Morgens sagte die Nonne zu mir: ‚Wenn du an diesem<br />
Nachmittag nicht weißt, was 11 ist, stecke ich dich unter<br />
das Pult/ Aber an diesem Nachmittag bin ich nicht zur<br />
Schule gegangen, weil ich krank geworden bin. Ich muss<br />
noch sagen, dass meine Eltern sich gerade scheiden ließen.<br />
Und 11, das ist nicht möglich, das kann kein Paar sein. Für<br />
ein Paar braucht man zwei Personen von unter schiedlicher<br />
Art!“<br />
Diese Interpretation der Autorin hat uns alle verstummen<br />
lassen. Eine lange Stille folgte. Ganz anders reagierten<br />
wir dagegen auf die Erfindungen von drei italieni schen<br />
Kollegen, die sich unabhängig voneinander mit der Drei<br />
(‚tre‘ auf italienisch) befassten.<br />
Ich habe darauf hingewiesen, dass sie aus Trieste,<br />
Mestre und Treviso kamen. In diesem Fall überwog das<br />
Lachen!<br />
Jetzt eine Erfindung von Helene. Sie weiß genau, was<br />
sie hier mit großer List versteckt hat:<br />
36 37
Christine: „Das ist doch klar, die Kreise, das sind Eier.“<br />
Rene: „Man könnte auch sagen, dass die Henne eine Maschine,<br />
ein Operator ist. Wenn die 1 durch die Henne<br />
durchgegangen ist, wird sie zur 3. Die 2 ergäbe 6. Eine 3<br />
ergäbe 9 usw.“<br />
Alexis: „Oder überhaupt nichts. Aber ja, die 1, die 2 und<br />
die 3 könnten Null ergeben, wenn sie durch die Henne gegangen<br />
sind.“<br />
Paul: „Ihr seht, wie Alexis ist: Wir haben etwas herausgefunden,<br />
was gut funktioniert, und er muss zu allem Opposition<br />
beziehen.“<br />
Alexis: „Stimmt, so bin ich im Leben. Wenn es zu gut<br />
läuft, langweile ich mich sehr schnell und dann versuche<br />
ich eben, neue Wege zu finden.“<br />
Paul: „Ihr seht, solche Typen wie Alexis sind für eine<br />
Gruppe nützlich, sie stiften Unordnung, und das bringt<br />
die Gruppe weiter.“<br />
Aber sehr schnell wussten wir bei dieser Erfindung nicht<br />
weiter. Also erteilten wir, wie üblich, der Autorin das<br />
Wort.<br />
Helene: „Ach ja, ihr habt euch total verrannt. Neun Jahre<br />
ist es erst her, dass ich mich mit der Mathematik wieder<br />
vertragen habe. Das verdanke ich einem Lehrer, der mir<br />
auch ein Freund war. Bis dahin zog ich mich immer zurück,<br />
wenn es um Mathematik ging. Also, die Karos sind<br />
keine Karos, sondern eine Mauer. Die Henne sitzt auf der<br />
Mauer. Sie legt nicht drei Eier, sondern sie dreht sich (wie<br />
es in einem Kinderlied <strong>heißt</strong>) ‚dreimal im Kreis und geht<br />
dann weg‘. Das wird durch die drei schweben den Punkte<br />
angezeigt. Und ich, ich war diese Henne, die wegging.“<br />
Und hier die Erfindung von Alain:<br />
Wir suchen lange, ohne etwas zu finden. Also gibt Alain,<br />
der ein sehr politischer Mensch ist, das Rezept, nämlich<br />
das von Lenin:<br />
„Ein Schritt vor, zwei Schritte zurück“, und dann dreht er<br />
es um:<br />
„Einen Schritt zurück, zwei Schritte vor“.<br />
Verblüffendes Lachen!<br />
Und schließlich hier noch ein Beispiel für Listiges:<br />
Niemand weiß weiter. Luciana, die Autorin, gibt uns die<br />
Lösung:<br />
Luciana + Luciana = Lucianona<br />
Im Italienischen ist ‘on’ eine Vergrößerungsform. Man<br />
könnte Lucianona mit ‚große Luciana‘ übersetzen. Man<br />
kann verstehen, dass wir auch in diesem Fall lachen mussten,<br />
ein Lachen, in das sich das Erstaunen über die Kühnheit<br />
der Idee, die Einfachheit der Erklärung und die Bewunderung<br />
über die originelle Luciana mischten.<br />
38 39
Subjektivität des Wissens<br />
In der natürlichen Methode spielt die Gruppe beim Wissenserwerb<br />
eine entscheidende Rolle. Um die Bedeu tung<br />
der Gruppenphänomene näher zu beleuchten, möchte ich<br />
einige Beispiele erzählen:<br />
Meg stört etwas:<br />
„Da ist ein Loch und das mag ich nicht.“<br />
Raymonde meldet sich auch zu Wort: „Ah! Typisch<br />
Clélia: Sobald sich eine Gelegenheit bietet, stellt sie sich<br />
zur Schau.“<br />
Clélia lacht: „Das ist richtig, so bin ich.“ Aber ich greife<br />
nachdrücklich ein:<br />
„Hört zu, es ist ihre Erfindung! Sie kann das tun, was<br />
sie möchte. Sie ist dabei VOLL - KOM - MEN frei. Man<br />
muss den Einzelnen vor jedem Werturteil, vor jeder Zensur<br />
schützen. Sonst könnte er nicht den Weg frei wählen,<br />
der sei nem wahren Willen entspricht bzw. zu dem ihn<br />
seine bis herigen Lebenserfahrungen befähigen. Er muss<br />
im Auf bau seines Wissens autonom sein und auf dem eigenen<br />
Fundament aufbauen.“<br />
In einer Klasse, in der gern gemalt wurde, habe ich dieses<br />
Phänomen oft beobachten können: Die verblüffende<br />
Originalität und die Qualität der Bilder war einzig und<br />
allein auf die Tatsache zurückzuführen, dass die Lehrerin<br />
dem Kind einen größeren Freiraum zugestanden hatte.<br />
Die Lehrerin war in ihrer eigenen Jugend so sehr eingengt<br />
worden, dass sie es nicht ertragen hätte, wenn ihre Schüler<br />
nicht wenigstens einen Bereich gehabt hätten, in dem<br />
sie völlig frei ihren persönlichen Eingebungen folgen und<br />
immer neue Erfindungen machen konnten. Ähnlich einem<br />
Spiel, das sich fortwährend weiterentwickelt. Ein Bereich,<br />
in dem sie Ideen aufgreifen können, die im Raum schweben<br />
oder aus irgendwelchen geheimnisvollen He fen aufsteigen,<br />
die niemand zu ergründen vermag.<br />
Kann man denn nicht so am besten sein Wissen erweitern?<br />
Schauen wir noch einmal das Beispiel von eben an.<br />
Schon in der zweiten Reihe eröffnet sich ein Weg:<br />
Nehmen wir an, dass Clélia oder die Gruppe Lust hät te,<br />
den Abstand der Buchstaben voneinander genauer zu untersuchen.<br />
Dann würde man feststellen, dass ausge hend<br />
vom ersten C als Ausgangspunkt das zweite C bei (-1, -1)<br />
gezeichnet wurde. Und wenn man es nun bei (-2, -1)<br />
einzeichnete?<br />
Und wenn man es bei (-3, -1) zeichnete, usw.?<br />
Das zeigt, dass das Motto der wissenschaftlichen Forschung<br />
‘Was wäre, wenn...?‘ zur Natur des Menschen<br />
gehört.<br />
40 41
Von hier aus kann man zur Berechnung von Winkelwerten<br />
gelangen. Man kommt offensichtlich zum Wert<br />
des Tangens:<br />
1, 1, 1, 1, 1 usw.<br />
1 2 3 4 5<br />
Und wenn man eine Grafik von der Folge der Tangens<br />
werte macht, erhält man eine Hyperbel usw....<br />
All diese Begriffe wären von Clélia aufgenommen<br />
worden, weil wir sie anhand ihrer Erfindung entwickelt<br />
hätten. Man hätte sich mit ihrer Person, mit ihrer Erfindung<br />
befasst. Sie wäre der Mittelpunkt der Arbeit gewesen.<br />
Und solange das Gespräch der Gruppe über ihre Arbeit<br />
angedauert hätte, hätte sie alles gehört; sie wäre total<br />
in das Geschehen eingebunden und ganz aufnahme bereit<br />
gewesen.<br />
Paul fragt: „Was ist, hatte Clélia das Recht, mit den<br />
Buchstaben ihres Vornamen zu arbeiten?“ Renée: „Ja,<br />
doch, sie durfte es.“<br />
Paul: „Und wie du siehst, hat sie keine Angst mehr vor<br />
dem Wort ‚Tangens‘, jetzt kennt sie es. Und außerdem hat<br />
sie eine richtig nette Mutter.“<br />
(„Eine richtig nette Mutter“ ist ein Wortspiel, denn<br />
aus dem französischen Ausdruck „une mére tant gentille“<br />
klingt das Wort „Tangens“ (franz. „tangent“) heraus,<br />
Anm. d. Übers.).<br />
Aber warum habe ich mir einen so plumpen Witz erlaubt?<br />
Weil ich plötzlich gemerkt habe, dass es zu ernst<br />
wurde. Ich habe gespürt, dass die Spannung unbedingt<br />
gelöst werden musste. Sonst hätten wir uns geärgert und<br />
wären blockiert und nicht mehr aufnahmebereit gewesen<br />
Und deshalb habe ich irgend etwas gesagt. (15)<br />
(15) Tatsächlich gibt es auf der Ebene des Unbewussten dauernd solche<br />
Assoziationen, die uns sehr viel mehr beherrschen, als man es glauben<br />
mag. Auf jeden Fall stehen sie mir immer zur Verfügung, wenn ich sie<br />
brauche.<br />
Danach sind wir nun ein wenig lockerer geworden und<br />
können auf ganz ernsthafte Dinge zurückkommen.<br />
„Die lebendige Zeitrechnung, die sich aus und über Zeichen,<br />
Symbole und Formen auswirkt, die zum Einzeller<br />
gehört, ist eine Zeitrechnung von sich, ausge hend von<br />
sich, in Funktion zu sich. Sie ist lebendig.“<br />
(Morin 1986)<br />
Nach Morin ist dies nicht auf Einzeller beschränkt:<br />
„Das lebendige Wissen kann sich nicht der Subjektivität<br />
entziehen, d.h. dem Akt, sich selbst in den Mittelpunkt der<br />
Welt zu stellen, um etwas kennenzulernen. Von dort rührt<br />
das nicht eliminierbare Problem her, das sich auf allen<br />
Ebenen, einschließlich der des Menschen, wieder findet,<br />
nämlich das der egozentrischen Charaktere, die sich<br />
ihrer selbst voll bewusst sind“.<br />
(Morin 1986, S. 46)<br />
Um wieder auf die Ebene unserer pädagogischen Realität<br />
herabzusteigen, möchte ich die Erfindung einer belgischen<br />
Kollegin vorstellen:<br />
42 43
Sie hat zwei Vornamen: Sonia und Sophie. Und ihr<br />
Nachname schreibt sich Chwartzmann anstelle von<br />
Schwartzmann. Es wird deutlich, dass die Besonderheit<br />
im Namen dieser Kollegin in der Erfindung gut zum Ausdruck<br />
kommt, denn es ist ein Hinweis auf die beiden S in<br />
ihren Vornamen und auf das fehlende S in ihrem Nachnamen.<br />
Und zweifellos ist der Begriff der Punktsymmetrie,<br />
den wir bei dieser Gelegenheit entfaltet haben, von<br />
ihr und von allen anderen Teilnehmern vollständig (d.h.<br />
effektiv und affektiv) gelernt worden. So wie es mit dem<br />
Begriff des Tangens geschehen wäre. Also sollte man es<br />
niemandem - weder sich, noch anderen - zum Vorwurf<br />
machen, wenn man von sich selbst ausgeht.<br />
Bevor man nicht selbst entsprechende Erfahrungen<br />
gemacht hat, kann man sich kaum vorstellen, wie außergewöhnlich,<br />
wie feinsinnig und wie unvorhersehbar Wege<br />
sein können. Wie sehr, hängt von den Erfahrungen ab, die<br />
die Menschen gemacht haben, aber auch von der Umgebung,<br />
in der sie eingebettet waren und immer noch sind.<br />
Denn wenn der Geist für die Entwicklung des Gehirns<br />
notwendig ist und das Gehirn für die Entwick lung des<br />
Geistes, so tragen beide zur Kultur bei, die ihrer seits von<br />
diesen beiden abhängt.<br />
Darüber darf man aber nicht vergessen, dass man bei<br />
der natürlichen Methode nie auf sich allein gestellt ist. Beteiligt<br />
ist nicht nur der Einzelne mit dem Reichtum sei ner<br />
gesamten Persönlichkeit, sondern auch die Gruppe mit<br />
ihren vielfältigen Reaktionen. Dazu möchte ich von zwei<br />
Erlebnissen berichten.<br />
Eines davon spielte sich in Aix ab:<br />
Jean Camille: „Hier sehe ich lauter Paare: 0 - nul (16) ;<br />
Ac - ac; X - x; XAC - xac. Das ist durchgestaltet.”<br />
Daran anschließend hält Jean-Michel einen ausführlichen<br />
Vortrag über die Musik des Barock (Bach), wie sie<br />
aufgebaut ist und immer wieder in ein Gleichgewicht zurückkommt<br />
... und dass die Tafelanschrift das sehr genau<br />
wiedergeben würde. Aber Jean-Camille hört nicht zu. Er<br />
ist von der 6 gefangen, die allein für sich steht und aus<br />
diesem Grunde die herrliche duale Ordnung des ganzen<br />
Systems zerstört. Das ärgert ihn so sehr, dass er sich den<br />
Kopf zermartert, um eine Lösung zu finden.<br />
Plötzlich schreit er los: „Ja! Ich hab‘s: Das ist eine<br />
Menge mit sechs Elementen, die Paare bilden. Und an<br />
diese Menge von sechs Elementen kann man die 6 als zugehörige<br />
Kardinalzahl anbinden.“<br />
In diesem Moment merke ich, wie etwas zum Vor schein<br />
kommt, das bis dahin noch nie dagewesen ist: eine totale<br />
Zustimmung der Gruppe (deren Teil ich ja auch bin) zur<br />
vorgeschlagenen Lösung. Die totale Übereinstim mung<br />
drückt sich in einer allgemeinen Freude aus, die Helene<br />
so formuliert:<br />
(16) ‘nul’ frz. für : nichtig, wertlos; keiner, niemand<br />
44 45
„Oh, la la! Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie sehr<br />
ich mich darüber freue, dass er es geschafft hat, uns die<br />
Perfektion des Systems aufzuzeigen. Es ist sehr gelungen.<br />
Doch dieses Mal lässt Jean-Camille die Wertschätzung<br />
seiner Person und die Anerkennung durch die Gruppe ganz<br />
kalt. Zu sehr ist er von dem, was er sieht, beein druckt.<br />
„Ja“, merkt Christine an. „Und außerdem sind die beiden<br />
Dachschrägen völlig symmetrisch.“<br />
Jetzt erhält der Autor, Daniel, das Wort: „Ihr habt mich<br />
mit euren Überlegungen unheimlich amüsiert. Ich habe<br />
einfach irgend etwas hingezeichnet ohne etwas zu denken.“<br />
Man könnte meinen, dass ich aus einer Mücke einen<br />
Elefanten mache und dass es die Erfindung von Daniel gar<br />
nicht verdient, dass man so viel Aufhebens von ihr macht.<br />
Doch das ist die Frage! Ich meine, dass wir hier auf etwas<br />
gestoßen sind, das eng mit unserer Lust an die ser Arbeit<br />
zusammenhängt. Bachelard drückt es so aus:<br />
„Das mathematische Denken erscheint wie ein Sehnen<br />
nach Vollständigkeit.“ ( Bachelard 1966, S. 33)<br />
Und genau das habe ich auch ein weiteres Mal erlebt,<br />
obwohl die Sitzung recht schwierig begann. In der Ecole<br />
Normale (Pädagogische Hochschule, Anm. d. Übers.) von<br />
Rennes fanden sich 35 Personen versammelt - anstelle<br />
der erwarteten 13. Zwei Diplom-Psychologen hörten die<br />
ganze Zeit nicht auf zu schwatzen, um deutlich zu machen,<br />
dass sie von einem Dilettanten in Sachen Theorie<br />
nichts lernen konnten. (Aber vielleicht sind die beiden der<br />
Grund dafür, dass mir das folgende Phänomen besonders<br />
bewusst wurde.)<br />
Hier die Erfindung:<br />
Am Anfang konnte niemand damit etwas anfangen.<br />
Es schien wirklich irgendetwas zu sein, irgendein Zufallsprodukt.<br />
Jemand sagte:<br />
„Ich erkenne genau die 0, die 2, die 3. Es ist schade,<br />
dass hier keine 1 ist, weil es sonst eine Folge wäre.“ „Aber<br />
schaut doch, sie ist da!“<br />
Also haben wir sehr aufmerksam hingesehen. Und wir<br />
haben sie auch entdeckt. Und so hat sich alles zu einer<br />
wundersamen Ordnung gefügt. „Die 1, 2, 3, 4, 5, 6 und 7<br />
kreuzen sich in der Mitte.“ „Und außerdem gibt es keine<br />
Null. Es sind Kreise, die immer größer werden.“ „Und es<br />
sind 7!“<br />
„Und sie drehen sich in der gleichen Richtung wie die<br />
Ziffern.“<br />
46 47
„Aber ja, die Kreuze drehen sich auch! Und in der gleichen<br />
Richtung wie die beiden anderen!“<br />
Jedenfalls stellte sich bei allen dieselbe totale Zufriedenheit<br />
ein. Wir hatten etwas Vollkommenes erhalten,<br />
was die gesamte Gruppe begeisterte. Dabei hat mich besonders<br />
beeindruckt, dass die beiden Schwätzer sich in<br />
die Falle des Entzückens hatten locken lassen. Und für die<br />
Dauer eines Augenblicks hatten sie vergessen, ihre Komödie<br />
zu spielen.<br />
Das Erstaunliche an dieser Geschichte ist, dass die Erfindung<br />
am Anfang ausgesprochen banal, gewöhnlich,<br />
gänzlich zufällig erschien. Es war wirklich ‚irgendetwas‘.<br />
Und die Suche nach einem einzigen kleinen Element hat<br />
ausgereicht, um die Menge auf dreifache Weise in ihrer<br />
Gesamtheit zu ordnen. Das Fehlen löste eine Art Leidensdruck<br />
aus. Da war eine Lücke, das störte die Harmonie.<br />
Aber einer der Teilnehmer hatte offensichtlich noch mehr<br />
als die anderen gelitten. Dies hatte seinen Blick geschärft<br />
und ihm ermöglicht, alle Anwesenden an die Grundlagen<br />
für ihr Denken zu erinnern.<br />
Das ist ein weiterer wichtiger Aspekt: Die Wahrnehmung,<br />
dass ein Glied der Kette fehlt, regt den Geist an.<br />
Und wenn wir es entdecken, entwickelt sich manchmal<br />
‘psychische Freude und Ekstase’.<br />
„Es gibt die quasi elektrische Entladung des ‚Ah‘, das<br />
Entspannung und Zufriedenheit bringt. Es gibt<br />
die ‚Freude‘ des Wissens. Es gibt die Trunkenheit<br />
und das Hochgefühl des Wissens. Es gibt das<br />
‚Entzücken‘ des Wissens. Es gibt, so müssen<br />
wir hinzufügen, den ‚psychischen Koitus‘ (Nietzsche),<br />
der durch die Lösung, die Idee oder das Lösungswort<br />
hervorgerufen wird, wobei die glückliche Fülle des<br />
Wissens sich in einer quasi orgastischen Freude entfaltet.“<br />
(Morin 1986, S. 134)<br />
Schauen wir uns nun an, was herauskommt, wenn man<br />
die Punkte der Zeichnung verbindet.<br />
Was den Instinkt für ein fehlendes Element betrifft,<br />
so sollte man ebenfalls an das Radio-Astronomie-Labor<br />
von Nancy denken, das die Folge 1,2,3,4,5,.. 7,8,9,10 in das<br />
Universum schickt und nun horcht, ob man nicht aus irgend<br />
einer Ecke des Universums die fehlende 6 emp fängt.<br />
Dabei unterstellt man, dass die außerirdischen Lebewesen<br />
denselben Hang wie wir zum Vollständigen, Regelmäßigen,<br />
Fehlerlosen, Tadellosen und zum voll kommen<br />
Zufriedenstellenden haben.<br />
In einer Klasse, in der jedes. Kind der Gruppe viele<br />
‘mathematische Objekte’ abliefert, steigen für jeden die<br />
Chancen, dass er sich interessante und effiziente Gesetzmäßigkeiten<br />
aneignen kann. Voraussetzung ist lediglich,<br />
dass man den menschlichen Denkapparat entsprechend<br />
füttert. Da nicht nur ein einzelner Geist arbeitet, sondern<br />
eine ganze Gemeinschaft, haben wir viel mehr Trümpfe in<br />
der Hand, um die unvermeidliche Komplexität so gut wie<br />
48 49
möglich zu beherrschen. Und obendrein weiß jeder, dass<br />
man die anderen sehr oft benötigt um aus der Klemme zu<br />
kommen. Denn oft ist der eigene Kopf nicht ganz so frei.<br />
Hier und da und vielleicht auch noch dort gibt es Reibungen<br />
und Widerstände, die ihren Ursprung mögli cherweise<br />
in der psychischen Vergangenheit, dem fami liären Hintergrund,<br />
den verkrusteten Gewohnheiten, den automatischen<br />
Taktiken, den durchlittenen Umständen, der Blindheit<br />
gegenüber anderen Möglichkeiten ... und vielleicht<br />
sogar in den Erfolgen hat, die man bereits erzielt hat, weil<br />
dadurch das Forschen auf den Bereich beschränkt wird, in<br />
dem man bereits Freude erfahren hat.<br />
Dank der Gruppe kann man glücklicherweise neue<br />
Perspektiven gewinnen, neue Strategien entwickeln, sei ne<br />
festen Gewohnheiten überprüfen. Sehr schnell wird man<br />
feststellen, dass die anderen die Welt ganz anders sehen.<br />
Sie haben nicht die gleichen Wahrnehmungsstruk turen.<br />
Anfangs lässt sich das nur schwer akzeptieren. Die anderen<br />
scheinen nicht normal zu sein. Aber dann ge wöhnt<br />
man sich daran. Langsam wird es sogar interes sant und<br />
man versucht genauso wahrzunehmen, wie sie es tun. Die<br />
neue Sache gefällt und man gefällt sich selbst dabei. Und<br />
so macht man daraus sogar eine neue Gewohnheit. Und<br />
wenn man Glück hat, bekommt man wieder einen neuen<br />
Anstoß. Und so wird man viel freier in seinem Kopf.<br />
Viel freier, also viel intelligenter; freier, um viel breiter<br />
und genauer wahrzunehmen; fähiger, einen großen Fang<br />
aus den Netzen zu holen, die man in den Ozean der Welt<br />
taucht. Diese Art der Arbeit in der Gruppe ist so neu,<br />
dass es sich lohnt, die verschiedenen Elemente genauer zu<br />
untersuchen.<br />
Das Lachen<br />
Eigentlich müsste der Titel für dieses Kapitel ‚Die intellektuelle<br />
Gesundheit‘ lauten. Aber das wäre zu ernsthaft<br />
und stimmte überhaupt nicht mit den Inhalten überein, die<br />
ich behandeln möchte.<br />
Das Lachen begleitet mich ständig auf meinen Seminaren.<br />
Ich kann wohl sagen, dass ich mich intensiv darum<br />
bemühe, weil ich eine bestimmte Zielvorstellung habe: Ich<br />
möchte im Seminar zeigen, dass man sich die Elemen te,<br />
die beim Lernen eine Rolle spielen, unbedingt bewusst<br />
machen muss, wenn man erfolgreich sein will. Aber wenn<br />
ich mich darauf beschränken würde, sie vortragend aufzuzählen,<br />
dann würde nichts passieren. Die Teil nehmer<br />
sollen aber davon Besitz ergreifen, dafür müssen sie ganz<br />
aufnahmebereit sein. Deshalb arrangiere ich eine Art<br />
Schau, ungefähr so, wie es ein französischer Fernsehmoderator<br />
(Bernard Pivot) anfängt. Er wollte, dass man<br />
sich für die Literatur interessiert. Also setzte er den Kreis<br />
sei ner Teilnehmer sorgfältig zusammen, so dass sich<br />
Gegen sätze zeigen, Oppositionen bilden und Gleichartigkeiten<br />
herauskristallisieren konnten. Kurzum, es wurde<br />
leben dig, weil es dialogisch (Ergänzung, Widerspruch und<br />
An tagonismus) war, ein typisches Merkmal für Lebendigkeit.<br />
Auch die Fernsehzuschauer wirkten mit, nahmen teil.<br />
Und das versuche ich auch: Die anwesenden Perso nen sollen<br />
Teilnehmer sein. Sie sollen sich sehr stark engagieren,<br />
sie müssen das Problem (er)leben, damit sie es später für<br />
sich annehmen können. Damit das möglich wird, müssen<br />
sie ohne Zurückhaltung dabei sein, sich darauf einlassen,<br />
sich einfach hingeben.<br />
Trotzdem braucht man sich keine Sorgen zu machen:<br />
Das Lachen wird sich auf jeden Fall durchsetzen - vor<br />
allem, wenn vier oder fünf Männer in der Gruppe sind.<br />
Tatsächlich fühlen sich die Männer in unserer Gesellschaft<br />
50 51
viel sicherer als die Frauen - (...vielleicht auch weniger in<br />
Konkurrenz?). Deshalb können sie sich darauf einlassen<br />
Witze zu machen, ohne hinterher zu sehr eine herabsetzende<br />
Bewertung fürchten zu müssen. Vielleicht sind sie<br />
einfach nur mit sich selbst zufrieden. Oder die Meinung<br />
der anderen rangiert für sie erst an zweiter Stelle. Aus<br />
welchem Grund auch immer, die Wirklichkeit ist einfach<br />
die: Wenn Männer anwesend sind, kommt es beinahe automatisch<br />
zum Rückzug in den Humor, zu einer Distanzierung<br />
und - wer weiß - vielleicht sogar zu einer Abwehr<br />
und einer Verteidigung. Jedenfalls ist das Witzemachen<br />
ein Kennzeichen der Gruppen mit Män nern. Aber glücklicherweise<br />
können auch die Frauen lachen. Sie fangen oft<br />
nicht als erste an, aber sie schaffen es, die Stimmung aufrechtzuerhalten.<br />
Und es macht mich glücklich, wenn ich<br />
sie so lachen sehe.<br />
Aber wodurch wird dieses Lachen ausgelöst? Manchmal<br />
reicht eine winzige Kleinigkeit aus:<br />
„Jean-Marc, warum hast du das gemacht, ABE + 150 =<br />
eintausendeinhundertzwanzig?“<br />
„Ich weiß nicht, ich war eigentlich noch nicht fertig.<br />
Aber Paul hat mir gesagt, ich solle das schon mal an die<br />
Tafel schreiben.“<br />
Hier deutet sich ein Angriff auf die ‘Macht’ an, und das<br />
bringt uns immer zum Lachen. Aber meistens sind es drollige<br />
Kommentare, die sich auf die eine oder die ande re Erfindung<br />
beziehen. Das geht übrigens ziemlich schnell los.<br />
Ob damit ausgedrückt werden soll, dass man sich nicht so<br />
schnell auf die ernsthafte Arbeit einlassen möchte? Oder<br />
will man damit seine Unabhängigkeit kundtun?<br />
Aber eigentlich sind die Leute ja gekommen um etwas<br />
zu lernen. Und wenn sich einer immer nur lustig macht,<br />
ist er über kurz oder lang schlecht angesehen, weil man ja<br />
schließlich weiter kommen und nicht auf einem so niedrigen<br />
Niveau bleiben will. Aber glücklicherweise berührt<br />
man mit der Mathematik immer etwas wirklich Ernsthaftes,<br />
und so werden es die Leute nicht zulassen, dass<br />
so ein kleiner Witzbold sie auf ihrem Weg behindert. Und<br />
falls er nicht aufhört, werden sie ihm mit wütenden Blicken<br />
zu verstehen geben, dass er nervt.<br />
Also muss ich ihn jetzt verteidigen und bausche die Situation<br />
noch ein bisschen auf:<br />
„Jean-Marc ist für uns sehr nützlich, weil er zur Gesundheit<br />
der Gruppe beiträgt. Auf der Ebene des Wissens<br />
taugt er vielleicht nicht viel. Aber dafür fallen ihm immer<br />
wieder irgendwelche Eulenspiegeleien ein.“<br />
So kann ich das Lachen anheizen. Ich habe keine<br />
Hemmungen, solche Töne anzuschlagen, denn im Allgemeinen<br />
kann derjenige, der sich gelassen so stark exponieren<br />
konnte, auch viel einstecken. Wir können nur noch<br />
seine Zufriedenheit und sein heiteres Gesicht bewundern.<br />
(Ein einziges Mal hatte ein Lehramtsstudent aus Draguignan<br />
nicht begriffen, dass ich nur Sprüche machte, obwohl<br />
sie aus meiner Sicht so übertrieben waren, dass man<br />
sie nicht ernst nehmen konnte. Ich hatte mich anschließend<br />
darum bemüht ihn zu beruhigen und ihm zu sagen,<br />
welche Meinung ich tatsächlich von ihm hatte. Mir war<br />
nämlich vorher entgangen, dass hier besondere Umstände<br />
vorlagen: Er hatte gerade sein Studium begon nen und befürchtete<br />
zu Recht, von seinen Kommilitonen als Kasper<br />
abgestempelt zu werden. Seither achte ich immer darauf,<br />
dass eine gelöste Stimmung erhalten bleibt.)<br />
Sobald ich mich also für den Tageshelden Jean-Marc<br />
eingesetzt hatte, konnte ich meine Theorien entwickeln:<br />
„Eines ist unbestreitbar: Eine gute Gesundheit begünstigt<br />
das Lernen. Jeder weiß aus eigener Erfahrung, dass<br />
man besser lernt, wenn man sich gut fühlt. Es handelt sich<br />
hierbei also, um es präziser zu sagen, um ‚eine gute Gesundheit’<br />
im ganzheitlichen Sinne. Das entspricht dem<br />
Bemühen der <strong>Freinet</strong>-Pädagogik, den Menschen in seiner<br />
52 53
Ganzheit zu erfassen. Seit 1949 spricht Célestin <strong>Freinet</strong><br />
in sei nem Buch: L‘éducation du travail‘ von der Notwendigkeit<br />
einer guten physischen Gesundheit (<strong>Freinet</strong> 1949).<br />
Darü ber waren wir befremdet:<br />
‘Was denn nun noch? Was haben wir als Lehrer mit<br />
der physischen Gesundheit zu tun? Das ist überhaupt nicht<br />
unsere Aufgabe. Wir müssen Lesen, Rechnen und Rechtschreibung<br />
unterrichten. Wir werden uns doch nicht zusätzlich<br />
in den sechs Stunden, die wir täglich Unter richt<br />
haben, auch noch mit der Gesundheit der Kinder be fassen.<br />
Das ist nicht unsere Arbeit. Das ist ausschließlich Aufgabe<br />
der Eltern.‘<br />
Aber uns ist bald bewusst geworden, dass - wenn ein<br />
Kind krank ist, wenn es schlecht geschlafen hat, wenn<br />
es zu viel oder zu wenig gegessen hat, wenn es müde ist,<br />
wenn es ..., - es einfach nicht gut lernen kann. Wenn es<br />
aber lacht, ist es ein sicheres Zeichen dafür, dass es sich<br />
wohl fühlt und gesund ist. Das weiß inzwischen nahezu<br />
jedes Kind. Aber das ist nur ein Aspekt der globalen<br />
Gesundheit. Es gibt nämlich auch die intellektuelle Gesundheit,<br />
die psychologische Gesundheit und die ‚soziale‘<br />
Gesundheit, die in ständiger Interaktion mitein ander verbunden<br />
sind. Wenden wir uns der ersten mit dem Beispiel<br />
einer ziemlich dramatischen Begebenheit zu:<br />
„Seit drei Tagen halten vier Personen im Leichenschauhaus<br />
eines Krankenhauses die Totenwache bei einem<br />
17-jährigen Jugendlichen, der sechs Monate nach dem Tod<br />
seines Vaters (der durch einen Autounfall starb) ebenfalls<br />
von einem Auto getötet wurde. Eine Fliege kommt, eine<br />
Person macht eine ungeschickte Geste, um die Fliege wegzujagen.<br />
Da bricht die Mutter des Kindes in Lachen aus.“<br />
Das Beispiel zeigt, dass der menschliche Geist es selbst<br />
unter den schlimmsten Umständen nicht schafft, in dauernder<br />
Anspannung zu verharren.<br />
Übrigens hat wohl jeder irgendwann einmal das irr-<br />
witzige Lachen erlebt, das einen einfach so während einer<br />
Trauerzeremonie überfällt. An dieser Stelle warne ich die<br />
Teilnehmer:<br />
„Wartet, wir werden schon bald ein Beispiel für dieses<br />
Phänomen hier erleben.“<br />
Dann leite ich zum Kapitel des Wahnsinns über. Aber,<br />
siehe da, kaum habe ich begonnen, fängt die Gruppe an zu<br />
lachen; denn ich habe mich verhaspelt, weil jemand gehustet<br />
hat, weil ein Stuhl gequietscht hat, weil jemand zu spät<br />
herein gekommen ist, kurzum aus einem nichti gen Anlass,<br />
der in keinem Verhältnis zur Intensität des Lachens steht,<br />
das er hervorgerufen hat. Es ist so ein drucksvoll, dass ich<br />
meine Schlussfolgerungen zum Besten geben muss:<br />
„Wie ihr seht, braucht man nicht lange zu warten. Die<br />
Geschichte, die ich euch erzählt habe, und das Stück Theorie,<br />
das ich euch vorgetragen habe, haben euch mit ihrer<br />
Ernsthaftigkeit und Schwere in eine Anspannung versetzt.<br />
Das konnte nicht so weitergehen. Und ihr habt den erstbesten<br />
Anlass genommen, um diese Anspannung zu lösen.<br />
Denn in Wirklichkeit war der Witz von Jean-Marc nicht<br />
toll. Jedenfalls rechtfertigte er kaum das große Lachen,<br />
mit dem ihr ihn quittiert habt. Aber es hat ausge reicht um<br />
mit dem Lachen anzufangen.“<br />
Natürlich protestiert Jean-Marc: „Pass auf, Paul, das ist<br />
das zweite Mal, das du mich festnagelst. Und außerdem ist<br />
deine Theorie falsch.“<br />
Dadurch verdoppelt sich das Lachen. Jetzt sind die Leute<br />
in so guter Stimmung, dass sie ihre ganze Aufmerk samkeit<br />
dem widmen können, was ich jetzt sagen möchte:<br />
„Man hat lange geglaubt, dass der Mensch ein ‚homo<br />
sapiens‘ ist. Aber viele Forscher (Atlan, Morin und noch<br />
andere) sagen, dass das wahre Wesen des Menschen das<br />
des ‚homo sapiens demens‘ ist; d.h., dass er zwischen zwei<br />
Extremen steht, zwischen dem Anspruch nach Weisheit<br />
(womit Wissenschaftlichkeit und Besonnenheit gemeint<br />
54 55
ist) und dem entgegengesetzten Hang zur Verrücktheit.<br />
Wenn man einem der beiden Pole sehr nahe kommt, dann<br />
wird man von dem anderen angezogen, so, als ob man<br />
etwas kompensieren oder neutralisieren oder ein Gleichgewicht<br />
herstellen müsste.<br />
Und da liegt genau der Irrtum der Schule, die das<br />
Kind nicht in seiner Ganzheitlichkeit akzeptiert, so, wie<br />
es <strong>Freinet</strong> immer getan hat. (Nebenbei bemerkt, hatte er<br />
viel Humor.) Die Schule hat eine klare Trennungslinie<br />
zwischen Denken und Blödsinn gezogen. Das erste ist für<br />
die Schule reserviert und das zweite für die Pause, für zu<br />
Hause, für den Sonntag, für die Ferien. Aber die Kinder<br />
können die Suche nach ihrem Gleichgewicht nicht so lan ge<br />
hinausschieben.<br />
Außerdem klassifiziert die Schule die Dinge danach, ob<br />
sie schulisch wertvoll sind oder nicht. Aber wenn sie das<br />
Kind auf diese Weise zwingt ernsthaft zu bleiben, muss es<br />
ersticken und leiden, kann es nicht entspannen und nicht<br />
aufnahmebereit sein; kurzum, es ist intellektu ell nicht gesund.<br />
Und dadurch werden die Schwierig keiten, das zu<br />
lernen, was man ihm vorsetzt, noch größer, zumal es oft<br />
eine Nahrung ist, die es nicht selbst gewählt hat. Vielleicht<br />
können wir jetzt den Kindern nachempfin den und ermessen,<br />
wie schlimm die ganze Situation für sie ist.<br />
Und deshalb muss der Lehrer, um effizient arbeiten zu<br />
können, selbst die Rolle des Gruppen-Clowns übernehmen,<br />
wenn niemand in der Gruppe diese Rolle übernimmt.“<br />
Und damit wir unsere Aufnahmefähigkeit nach die sem<br />
zu ernsthaften Vortrag wiederfinden, vergesse ich meistens<br />
nicht hinzuzufügen:<br />
„Zum Glück können wir hier in dieser Beziehung beruhigt<br />
sein. Wir haben hier ja einige, die ein bisschen Verrücktheit<br />
säen. Zumindest helfen sie uns dabei.“<br />
Nun möchte ich mein Verhalten in diesem Fall ein<br />
wenig erläutern; denn einige werden mich der Manipulation<br />
beschuldigen. Es stimmt, dass ich eine klare Vorstellung<br />
von dem habe, was ich den Leute bewusst machen<br />
möchte. Es stimmt, dass ich Erfahrung mit Gruppen<br />
habe, dass ich bestimmte Phänomene immer wieder habe<br />
auftauchen sehen, dass ich gelernt habe sie zu berücksichtigen,<br />
wenn sie auftreten, dass ich sie her vorrufen kann,<br />
wenn es notwendig ist. Kurzum, es stimmt, dass ich manipuliere.<br />
Aber ist das nicht das Los eines jeden Erziehers?<br />
Sie haben Ziele, sie haben Pflichten. Und liegt darin nicht<br />
genau das Ziel der Pädagogik, andere dazu zu bringen,<br />
sich ein Maximum an Wissen so effektiv wie möglich anzueignen?<br />
Wenn ich schon nicht umhinkomme, ein bisschen<br />
schuldig zu wer den, weil ich so leichter mein Ziel erreiche,<br />
dann gehört es für mich auf jeden Fall dazu, meine<br />
Manipulation zu gestehen:<br />
„Ihr seht, wie ich es gemacht habe. Habt ihr meine Taktik<br />
begriffen?“<br />
Aber manchmal wende ich eine weitere Taktik an.<br />
„Nun gut, da die Frage bereits gestellt wurde, werden<br />
wir jetzt von der Macht sprechen.<br />
56 57
Macht durch Wissen<br />
Wenn es eine Sache gibt, die während der vielen Kurse,<br />
die ich abgehalten habe, immer wieder aufgetaucht ist,<br />
dann war es die Frage nach der Macht durch Wissen. Eigenartigerweise<br />
(aber ist das überhaupt verwunder lich?)<br />
taucht sie wie selbstverständlich am Anfang auf, sobald<br />
einige Männer in der Runde sitzen. Bereits im Kapitel<br />
über das Lachen habe ich die Rolle der Männer angesprochen,<br />
aber auch an dieser Stelle muss man über sie reden<br />
und zwar vor allem über ihre intellektuelle Rivalität. Natürlich<br />
kann diese auch bei Frauen in Erscheinung treten,<br />
aber sie lässt sich wesentlich schwie riger herausarbeiten,<br />
weil sie sich nicht so klar und deutlich aufdrängt. Damit<br />
kein Missverständnis entsteht, möchte ich klarstellen, dass<br />
ich mich in diesem Punkt auch zu den Gefangenen des<br />
Systems zähle.<br />
Ein Ereignis in Perugia hat mir klargemacht, dass auch<br />
ich zu der Spezies ‘Mann’ gehöre: Ehe ich nach Italien<br />
fuhr, hatte ich mir die Mühe gemacht, dreimal den Assimil<br />
(ein Programm zum Lernen von Fremdsprachen,<br />
Anm. d. Übers.) zu lesen und dreimal die Kassetten anzuhören.<br />
Also kam ich ungefähr mit dem Italienischen<br />
zurecht. Aber meine Frau hatte nicht derart vorgesorgt; sie<br />
verließ sich auf die Übersetzer. Da diese aber nicht dauernd<br />
anwesend waren, stand sie sehr bald ohne Hilfe da.<br />
Dennoch, eines Tages sieht sie am Ende einer Sackgasse<br />
ein Schild: ‚Vigili del Fuoco‘. Beglückt, dass sie es endlich<br />
geschafft hat, etwas ganz alleine zu verstehen, stürzt sie<br />
auf mich zu, um mich zum Zeugen ihrer Entdeckung zu<br />
machen. Aber ehe sie auch nur den Mund öffnen kann,<br />
platze ich los: „Feuer wehr“. Auf diese Weise habe ich ihr<br />
- wahrscheinlich nicht das erste Mal - die Freude daran<br />
verdorben, dass sie sich ihr Wissen selbst erobert hatte,<br />
ohne dass sie irgend jeman dem, wer immer es auch sei, zu<br />
Dank verpflichtet wäre.<br />
In den Gruppen kommt es nicht selten vor, dass die<br />
erste Demonstration eines Wissensvorsprungs oft von<br />
Ausrufen oder Pfiffen der Bewunderung begleitet wird<br />
-manchmal freilich ironisch gemeint. Aber die Reaktion<br />
ist manchmal doch stärker: In Turin hat uns Georges<br />
unun terbrochen zum Lachen gebracht, indem er mit einer<br />
nahezu italienischen Begeisterung immer wieder an die<br />
Tafel gestürmt ist, um uns zu zeigen, dass er der erste war,<br />
der herausgefunden hatte, was ein bestimmtes Wort in Esperanto<br />
bedeutete. (17)<br />
Aber sehr bald werde ich gefragt: „Und du, was macht<br />
dir Freude?“<br />
Ich gebe es unumwunden zu: Wenn ich schon bereit<br />
bin, von einem Seminar zum nächsten zu gehen, möchte<br />
ich natürlich die Freude genießen und die Anerkennung<br />
auskosten, die man meinem herausragenden Wissen zollt.<br />
So wie es überall und jeden Tag Millionen von Forschern,<br />
Professoren und Intellektuellen tun. Und ich frage mich,<br />
ob ich mit dem Löwen als Sternzeichen nicht mehr als andere<br />
für diese Krankheit anfällig bin.<br />
So etwas kann man in einer entspannten Atmosphäre gut<br />
sagen. Aber manchmal entwickeln sich eher gegenteili ge<br />
Gefühle. Besonders deutlich erlebte ich dies in Le Bourget.<br />
In der Pause, nach einer längeren Ausführung über die<br />
Macht durch Wissen, schrieb ich - noch etwas erschöpft -<br />
einen Text in Stenographie an die Tafel, als eine Teilnehmerin,<br />
die sich bis dahin kaum beteiligt hatte, her einkam.<br />
Sofort überfiel sie ihre Nachbarin mit einem nicht enden<br />
wollenden Vortrag über die Stenographie, die sie per fekt<br />
beherrschte. Die Nachbarin interessierte es wenig. Und ihr<br />
war angesichts dieser anschaulichen Demonstration der<br />
(17) Da es hier vor allem darum geht, die natürliche Methode herauszuarbeiten,<br />
zögere ich nicht, auch Beispiele aus Workshops zum<br />
Fremdsprachen lernen usw. heranzuziehen.<br />
58 59
von mir zuvor gemachten Ausführungen genauso unbehaglich<br />
wie den anderen Anwesenden zumute.<br />
Offensichtlich kann man das Bedürfnis, sein Wissen<br />
oder seine Fähigkeiten zu zeigen, kaum unterdrücken.<br />
Bei der Veranstaltung in Verviers z.B. war jedem klar,<br />
dass man den Esperanto-Satz, den man sich selbst ausgedacht<br />
hatte, nicht auch noch selbst übersetzen sollte - man<br />
konnte die anderen probieren lassen. Aber eine Schulrätin<br />
konnte nicht an sich halten. Als der Text ihres Nachbarn<br />
(ebenfalls ein Schulrat) an der Reihe war, verkündete sie<br />
laut die Übersetzung, obwohl klar war, dass sie nicht selbst<br />
darauf gekommen war, denn sie hatte zuvor mit ihm darüber<br />
diskutiert. Sie wusste: Natürlich war das nicht recht,<br />
nicht anständig; so etwas tut man einfach nicht! Und ganz<br />
rot vor Verwirrung hat sie unter dem Lachen der anderen<br />
jammervoll eingestanden, dass sie nicht anders konnte.<br />
Die Frage nach dem Macht-Wissen wird übrigens rasch<br />
offensichtlich, wenn man Rätsel stellt. Man kann den<br />
Menschen zwar immer wieder sagen:<br />
„Natürlich behält derjenige, der die Lösung vorher<br />
kannte, diese für sich. Es ist verboten vorzusagen.“<br />
Es kommt selten vor, dass nicht wenigstens einer die<br />
Lösung vorsagt. Aber warum legt derjenige, der das Rätsel<br />
stellt, so viel Wert auf das Schweigen derjenigen, die<br />
das Geheimnis kennen? Weil sie sonst seine Freude schon<br />
im Keim ersticken würden. Damit diese Erfahrung auch<br />
richtig bewusst werden kann, stelle ich bei italieni schen<br />
Lehrern öfter ein Rätsel, das ich aus dem alten Assimil<br />
habe, der 40 Jahre alt ist:<br />
„AM, altini (Groß, weniger groß<br />
Tante uova, tanti nidi So viele Eier, so viele Nester<br />
Tanti nidi, tante uova So viele Nester, so viele Eier.<br />
A indovinarlo, prova.“ Versuch es herauszufinden.)<br />
Da es sehr alt ist, kennt es niemand mehr. Und ich spiele<br />
dann vollkommene Zufriedenheit und freue mich sichtlich<br />
über meine Überlegenheit: „Ich, ich weiß es.“<br />
Wenn ich die Lösung (die Eichel) bekannt gebe, sind die<br />
Reaktionen sehr unterschiedlich. Aber ich halte mich nicht<br />
lange damit auf, sondern frage sofort, ob nicht je mand ein<br />
anderes Rätsel kennt. In der Pädagogischen Hoch schule<br />
von Trento erhob sich ein Mädchen und sagte:<br />
„Aäagino, Pianino (Adagino, Pianino<br />
se ne vanno gehen fort<br />
nel giardino in den Garten.<br />
Quanti sono ? „ Wieviele sind es?)<br />
Die Leute sahen sich an und wollten gerade ihre Niederlage<br />
eingestehen, als eine Frau sich erhob und die Lösung<br />
sagte. (Die Antwort ist vier, weil man auch Ada, Gino, Pia<br />
und Nino sagen kann.)<br />
„Das stimmt“, sagte das Mädchen und setzte sich hin.<br />
Ich versuchte ihre Haltung zu imitieren:<br />
„Habt ihr gesehen, wie sie gesagt hat: ‚Das stimmt‘?<br />
Sie hat nicht gesagt: ‚Bravo!‘ und hat nicht in die Hände<br />
geklatscht. Nein, sie hat sich hingesetzt und ein enttäuschtes,<br />
unzufriedenes Gesicht gemacht, ungefähr so.<br />
Und das ist ganz normal so, denn diese Kollegin hat ihr<br />
den Boden unter den Füßen weggezogen. Sie hat sie ihrer<br />
Macht beraubt.“<br />
Inzwischen mache ich mir oft einen Spaß daraus, in<br />
Ermangelung eines anderen Rätsels dieses zu stellen, die<br />
Lösung aber der ersten Reihe vorzusagen. Die Reaktionen<br />
sind immer sehr aufschlussreich.<br />
Sie sind übrigens manchmal sehr heftig. In Cuneo hat te<br />
diejenige, die als erste ein Rätsel wusste, gerade erst angefangen,<br />
es zu stellen, als sich schon drei Frauen mel deten,<br />
um die Lösung zu sagen. Natürlich habe ich die Gunst der<br />
60 61
Stunde genutzt, um zu erläutern, was sich hier abspielte.<br />
Die erste wollte gerade die Macht über die drei anderen<br />
sowie über die Gruppe übernehmen. Das war nicht akzeptabel.<br />
Sie mussten die Macht sofort zerstören, indem sie<br />
zeigten, dass sie nicht nur die Lösung, sondern auch den<br />
genauen Wortlaut des Rätsels kannten.<br />
Diese Reaktion auf die Gefahr des Beherrscht-Werdens<br />
durch das Wissen der anderen, tritt immer wieder auf.<br />
Man braucht nur den Unterhaltungen in den Familien, im<br />
Restaurant, im Bus, im Zug usw. zu lauschen um festzustellen,<br />
dass es ein allgemeines Phänomen ist. Ich hatte<br />
übrigens die Gelegenheit festzustellen, dass es auch auf<br />
mich zutrifft. Stolz auf meine wenigen Italienischkenntnisse,<br />
amüsierte ich mich eine Weile mit dem Spiel, bei<br />
jeder sich bietenden Gelegenheit den Ausdruck ‚lo so, lo<br />
sapevo‘ (ich weiß es, ich wusste es) zu benutzen. Aber<br />
dann bemerkte ich, dass ich ihn nicht nur im Spiel benutzte<br />
. Und jetzt, wo ich sensibler darauf achte, höre ich<br />
überall sagen: „Ich weiß“ und außerdem noch:<br />
„Oh! Das weiß ich schon seit langem!“<br />
„Du sagst uns nichts Neues!“<br />
„Was bildest du dir ein?“<br />
„Wir brauchten dich nicht um das herauszufinden.“<br />
„Wir sind schon lange auf dem Laufenden.“<br />
„Das wissen wir doch alle schon.“<br />
„Du musst immer mit deiner Wissenschaft kommen.“<br />
Natürlich findet man dies auch bei Kindern wieder,<br />
diesen großen Rätselexperten.<br />
Ich denke da z.B. an Philippe (8 Jahre alt), der eine mathematische<br />
Erfindung gemacht hatte:<br />
„Ich habe sechs Schildkröten und vier Salatköpfe. Eine<br />
Schildkröte nimmt einen Salat oder zwei. Welche nimmt<br />
welche?“<br />
Also haben seine Mitschüler viele irgendwie zufällige<br />
Lösungen vorgeschlagen. Aber jedes Mal antwortete er<br />
mit nein. Schließlich gab die ganze Klasse auf: „Sag es<br />
uns, Philippe.“<br />
„Nun gut, es waren die dritte und der vierte.“<br />
„Aber wie sollten wir das rauskriegen, wenn du uns<br />
nicht genügend Auskünfte gibst?“<br />
„Ja richtig, aber ich, ich wusste es.“<br />
Dieses Kind hatte große Schwierigkeiten in der Beziehung<br />
zu seiner Mutter, die es erdrückte. Und es musste<br />
lange an der kunstvollen Konstruktion eines ganz persönlichen<br />
Wissens arbeiten, ehe es aufnahmebereit für die<br />
Beziehungen war, die zwischen den Dingen (Zahlen, Formen,<br />
Figuren usw.) bestehen. Ehe es Zugang zur objektiven<br />
Mathematik haben konnte, musste es durch seine<br />
subjektive Mathematik hindurchgehen. Und die Mathematik<br />
von Philippe war voll von Rätseln. (Hier auch wieder<br />
die Macht desjenigen, der die Rätsel stellt und durch<br />
die Macht seines Wissens herrscht.) Er war unter ande rem<br />
der Älteste in einer Geschwisterreihe und hatte ein starkes<br />
Bedürfnis, die wiederholten Machtverluste zu kompensieren.<br />
Es mag ein extremes Beispiel sein, aber so etwas<br />
kommt viel öfter vor, als man glaubt. (18)<br />
Wenn jemand ein herausragendes Wissen zeigt, das<br />
die Bewunderung herausfordert, zeichne ich sofort einen<br />
Strich an die Tafel und sage:<br />
(18) Eine so umwerfende Feststellung schockiert den Leser vielleicht.<br />
Aber wir haben eine über 30-jährige stete Erfahrung mit die sem<br />
psychologischen Phänomen, (vergl. auch Baruk 1985)<br />
62 63
„Also, dort waren wir vorher:<br />
Und hier sind wir jetzt:<br />
Jean-Luc hat die Aufmerksamkeit von allen auf sich<br />
gezogen.”<br />
Alsbald lässt ein Witzbold in der Menge einen Witz los.<br />
Ich zeichne sofort einen zweiten Pfeil und sage:<br />
„So das war‘s; die beiden sind beruhigt. Sie wissen<br />
genau, woran sie sind: Der erste kann sein Wissen darlegen<br />
und der andere ist zumindest begabt, andere zum Lachen<br />
zu bringen.“<br />
Wir arbeiten an der Untersuchung der Erfindungen<br />
weiter und ziemlich bald habe ich die Gelegenheit, einen<br />
dritten Pfeil zu zeichnen. Ich nutze die nun heitere und<br />
entspannte Atmosphäre der Gruppe aus, um den zweiten<br />
Teil meines Vortrages zu halten:<br />
Wir sind ‘homine capitalisti’, also Kapitalisten. Und im<br />
kapitalistischen System kommt man schnell dazu, sich die<br />
Frage nach dem eigenen Wert zu stellen: „Wie viel bin ich<br />
persönlich wert? Wer sagt es mir?“<br />
Oft ist mit diesen Fragen eine nicht unerhebliche Beunruhigung<br />
verbunden. Sie grenzt manchmal sogar an<br />
Angst. Und wie kommt man zu einer Antwort? Man lauert<br />
auf eine Bewertung der eigenen Produkte und des eige nen<br />
Handelns:<br />
„Ach! Wenigstens habe ich dies tun oder jenes sagen<br />
können!“<br />
Aber vor allem möchte man wissen, wie gut man im<br />
Vergleich zu den anderen ist. Und manchmal ist man er-<br />
leichtert, wenn man entdeckt, dass jemand noch schlech ter<br />
ist als man selbst. Man ist ängstlich darauf bedacht zu erkennen,<br />
welchen Stellenwert man in den Gruppen, denen<br />
man angehört, einnimmt. Und wenn jemand sich vor den<br />
anderen hervortut, dann wird er natürlich selbst sicherer.<br />
Und das beunruhigt sofort die anderen.<br />
Wenn man nun von diesem Pfeil ausgeht<br />
so ergeben sich zwei Möglichkeiten.<br />
Entweder kann man ein ‘homöostatisches‘ Gleichgewicht<br />
wieder herstellen, indem man sich auf die Höhe<br />
dieses Niveaus zieht.<br />
Und genau dies hat Michel getan, als er gezeigt hat, dass<br />
er die Gruppe zum Lachen bringen konnte. Damit kommt<br />
er vielleicht nicht an die Bemerkung von Jean-Louis<br />
heran. Aber am Anfang ist man noch nicht so wäh lerisch:<br />
Man hat es geschafft, sich von den anderen abzu heben.<br />
Das kann man auf jeden Fall als Plus verbuchen. Und man<br />
genießt es so sehr, dass man versucht sein könnte, solche<br />
Scherze während der restlichen Dauer der Sitzung immer<br />
wieder zu machen. Wie das Kind, das es durch Zufall geschafft<br />
hat, andere zum Lachen zu brin gen.<br />
Oder es gibt eine zweite Möglichkeit: Man kann das<br />
Gleichgewicht herstellen, indem man denjenigen zurecht-<br />
stutzt, der sich hervorgetan hat.<br />
Manchmal<br />
sind alle Mittel recht.<br />
Man schreit durcheinander: „Er hat geschummelt!“<br />
„Natürlich, er ist Mathe-Lehrer.“<br />
„Das ist nicht sein Verdienst.“<br />
„Er hat in einem Buch nachgeguckt.“<br />
„Er hat das studiert.“<br />
Aber ich versuche beim Anzeichnen der Pfeile großzügig<br />
zu sein. Die Möglichkeiten zum Erfolg sind so breit<br />
gefächert, dass viele schnell auf ihre Kosten kommen.<br />
Und die Leute lachen. Sie fordern ihren Pfeil ein. Und die Atmosphäre<br />
ist so gut, dass man wie ausgewechselt er scheint: Die<br />
64 65
Frage nach der Bewertung stellt sich nicht mehr. Man ist damit<br />
zufrieden, glücklich, entspannt und in perfekter Harmonie mit<br />
der übrigen Gruppe zu sein. Und folglich ist man auch empfänglich<br />
und ausgeglichen und kann die Dinge ruhig, objektiv<br />
und wissenschaftlich betrachten.<br />
Zumindestens läuft es im Allgemeinen so ab. Aber auf dem<br />
R.I.D.E.F. (19) in Dänemark habe ich etwas Beson deres erlebt.<br />
Da die Voraussetzungen günstig waren, habe ich verwegen ein<br />
Atelier ‚Dänisch lernen mit der natürli chen Methode‘ vorgeschlagen.<br />
Jeder Teilnehmer plapper te irgend etwas. Die Dänin<br />
Lina Nielsen hörte aufmerk sam zu und sobald sie ein dänisches<br />
Wort hörte, machte sie darauf aufmerksam und schrieb<br />
es an die Tafel. Zum Beispiel habe ich losgeplappert: „schtrine<br />
tom gram ver ström gur.“ „Ah, du hast ‚ström‘ gesagt, damit<br />
ist Strom (wie bei ‚Golfstrom‘) gemeint. Ich schreibe es an die<br />
Tafel.“<br />
Auf diese Weise hatte bald jeder der fünfzehn Teil nehmer<br />
sein eigenes Wort. Und dann haben wir in dieser Art weitergearbeitet.<br />
Am Ende der Tagung, genau in der letzten Sitzung,<br />
habe ich alles aufgezählt, was sich noch hätte ereignen können<br />
und auch zur natürlichen Methode gehört. Als ich dabei zum<br />
Thema des weiten und des engen Bewusstseins kam, rief Diva,<br />
die junge Brasi lianerin aus: „STRAMM!“<br />
Wir sind hochgeschreckt und haben uns verblüfft angesehen.<br />
Was ist los? Was hat sie gepackt? Warum hat sie so geschrieen?<br />
Und Diva hat es uns so erklärt:<br />
„Stram, das <strong>heißt</strong> eng. Es ist das erste dänische Wort,<br />
das ich am Anfang des Seminars gefunden hatte.<br />
Paul hat gesagt, dass es wichtig ist, dass jeder aus irgendeinem<br />
Grunde von der Gruppe anerkannt würde:<br />
durch seine Anständigkeit, die Hilfe, das Lachen, das<br />
(19) R.I.D.E.F.: ‘Rencontre Internationale des Educateurs <strong>Freinet</strong>’:<br />
Internationale Tagung der <strong>Freinet</strong>-Pädagogen. Sie findet alle zwei Jahre in<br />
wechselnden Ländern statt. (Anm. d. Übers.)<br />
Wissen, das Teilen usw. Aber ich habe mir während die ser<br />
ganzen Tage immer wieder gesagt: ‚Die anderen kön nen<br />
etwas, aber ich tauge zu nichts. Ich habe mich bei kei ner<br />
Gelegenheit hervortun können.<br />
Ich war sauer und zornig auf mich selbst. Und außer<br />
mir waren alle anderen lustig und entspannt. Sie waren<br />
alle von der Gruppe akzeptiert.<br />
Paul merkte aber nichts und fuhr mit seiner Zusammenfassung<br />
fort. Wir hatten nur noch eine halbe Stunde<br />
für die gemeinsame Arbeit. Einmal mehr hatte ich meine<br />
Gelegenheit verstreichen lassen. Auf alle Fälle war es zu<br />
spät, es war verpatzt.<br />
Aber als Paul das Wort ‘etroit’ (eng) aussprach, kam<br />
mir das dänische Wort wieder in den Sinn, und ich habe<br />
es, so laut ich konnte, aus mir rausgeschrieen, ohne dass<br />
ich mir dessen bewusst war, so glücklich war ich, dass ich<br />
jetzt auch für die Gruppe existierte.“<br />
Ihr könnt es ruhig glauben, dass wir es nicht nötig hatten,<br />
dieses Ereignis aufzuschreiben um es in Erinnerung<br />
zu behalten. Wir haben kapiert, dass sie wirklich gelitten<br />
hatte.<br />
Ich brauchte einige Zeit, um die Bedeutung dieser<br />
Angelegenheit zu verstehen. Ich habe mir lange Zeit eingebildet,<br />
dass es einen (unausgesprochenen) Konsens gibt,<br />
nämlich dass es sich in den Sitzungen lediglich um eine<br />
Simulation handelt. In meiner Vorstellung ist mir klar gewesen:<br />
Es ist alles nur zum Spaß. Und nun? Nun scheint es<br />
so zu sein, dass man nicht auf der Ebene des Spiels bleiben<br />
kann. Die Teilnehmer lassen sich sofort viel intensiver darauf<br />
ein, als ich es vermutet hätte.<br />
So war es z.B. auch bei Veronique, einer Teilnehmerin<br />
bei einem anderen Seminar. Sie kam in der Pause zu mir<br />
und sagte:<br />
„Das, was die Gruppe gerade herausgefunden hat, das<br />
hatte ich aber zuerst herausgefunden. Warum hast du es<br />
66 67
nicht allen gesagt?“<br />
„Weil du zu schnell warst. Das Phänomen, auf das ich<br />
aufmerksam machen wollte, war noch nicht aufgetreten.“<br />
„Ach, ich verstehe. Aber weißt du, für mich ist das ungeheuer<br />
wichtig. Es hat mich sehr stark belastet, dass Du<br />
meine Entdeckung nicht anerkannt hast. Offen sichtlich<br />
mache ich denselben Fehler auch in meiner eige nen Klasse.<br />
Von nun an werde ich mehr darauf achten.“<br />
Nach der Pause habe ich erzählt, dass Veronique zu<br />
mir gekommen sei, weil sie die Erste war, die das Gesetz<br />
gefunden hatte. Alles platzte vor Lachen. Ihr offensichtlich<br />
kindliches Verhalten war eine unmittelbare Illustration<br />
dessen, was gerade herausgearbeitet wurde. „Wartet,<br />
wartet, wir werden ihr das Wort geben.“<br />
Veronique hat dann noch einmal allen ihre starke emotionale<br />
Reaktion erklärt und ihre Absicht erläutert, noch<br />
aufmerksamer das zu verfolgen, was in ihrer Klasse passiert.<br />
In derselben Gruppe haben wir uns lange über den<br />
Ausspruch „Das ist ungerecht“ unterhalten, als ich die<br />
Leistung einer Teilgruppe herausgestellt hatte und der<br />
Rest sich benachteiligt fühlte. Ich führe die Seminare bewusst<br />
so durch, dass diese Erfahrungen möglich wer den.<br />
Die Teilnehmer erleben selbst, welche Verhaltens weisen<br />
beim Lernen in der Gruppe auftreten und welche Irrtümer<br />
man als Lehrer begehen kann.<br />
In meinen Seminaren versäume ich es nur selten, die<br />
Geschichte von der jungen Brasilianerin zu erzählen. Natürlich<br />
kann das nicht so intensiv nachvollzogen wer den.<br />
Trotzdem findet jeder bei sich selbst diesen starken Wunsch<br />
nach grundsätzlicher Anerkennung, diesen Wunsch nach<br />
einer guten sozialen Gesundheit (20) wie der.<br />
Dabei weise ich fast immer darauf hin, dass wir in Dänemark<br />
nur drei Stunden pro Tag an sechs Tagen gearbeitet<br />
haben. Dadurch hatte jeder einzelne nur wenig Zeit<br />
gehabt, sich seinen Platz in der Gruppe zu erobern. In der<br />
Klasse liegen die Dinge anders.<br />
Vor allem muss man sich darum bemühen, die Chancen<br />
der Kinder zu vergrößern, indem man jedes in seiner<br />
ganzen Person annimmt. Aber das fordert von den Pädagogen,<br />
dass sie auch andere Fähigkeiten akzeptieren und<br />
sich für neue Bereiche öffnen. Ich habe das auch in meiner<br />
Klasse festgestellt, als ich freie schöpferische Aktivitäten<br />
beim Sprechen, Singen und den Bewegungen zugelassen<br />
habe.<br />
Dabei habe ich einige Überraschungen erlebt. Was mich<br />
am meisten verwunderte, war Jean-Pauls Fortschritt beim<br />
Lesenlernen, nachdem er als der beste Clown aner kannt<br />
worden war. Es scheint, dass sich irgendetwas in ihm gelöst<br />
hat, irgendetwas, das vielleicht mit Angst zu tun gehabt<br />
hatte. Das erinnert mich an eine andere Ge schichte.<br />
Eine Schule aus Saint-fitienne war ins Schul landheim ans<br />
Meer gefahren. Dort wunderte sich die Lehrerin:<br />
„Wenn wir in Saint-Etienne sind, macht Patrick ungefähr<br />
fünfzehn Fehler im Diktat. Und hier macht er kaum<br />
noch welche. Das kann ich mir nicht erklären“.<br />
„Und wie ist er beim Segeln?“<br />
„Beim Segeln? Oh, da ist er der Meister, er gewinnt<br />
einfach alle Regatten.”<br />
„Aha! Könnte das nicht die Erklärung sein?“<br />
Da scheint ein wenig Hexerei im Spiel zu sein. Aber<br />
auf jeden Fall wissen die <strong>Freinet</strong>lehrer, die das Kind in<br />
(20) Die soziale Gesundheit betrifft vor allem die Reaktionen des<br />
Individuums auf die anderen in einer Gruppe, einer Gruppe, von der es<br />
angenommen sein möchte, bewundert, akzeptiert, aner kannt.<br />
68 69
seiner Ganzheitlichkeit wahrnehmen, dass jedweder Erfolg<br />
in einem Bereich eine Verbesserung der Leistungen<br />
in den anderen Bereichen nach sich zieht. Und mit der<br />
natürlichen Methode haben die Kinder so viele Gelegenheiten,<br />
selbstbewusst zu werden, dass der Lehrer sich sehr<br />
bald keine Sorgen mehr macht.<br />
So in seinem Selbstvertrauen gestärkt, entwickelt<br />
man eine neue Bereitschaft, an den vielen verschiedenen<br />
Aktivi täten der Gruppe teilzunehmen und sich Kenntnisse<br />
anzueignen. Dieses Phänomen war besonders bei<br />
dem Lehrerfortbildungskurs in Aix-en-Provence deutlich.<br />
Ein Teilnehmer, Jean-Marie, Ausbilder im Fleischerhandwerk,<br />
kam sich in seiner Gruppe, die von Intellektuellen<br />
dominiert wurde, ein wenig verloren vor. Nun hatte<br />
er herausgefunden, dass das Esperanto-Wort ‘la’ im Französischen<br />
‚la‘ und auch ‚les‘ bedeutet. Und - einmal auf der<br />
Fährte - hatte er entdeckt, dass die beiden französi schen<br />
Begriffe ‚de la‘ und ‚du‘ in Esperanto ‚de la‘ wer den.<br />
Und obwohl er in dieser Gruppe nicht so viele Eisen<br />
im Feuer hatte, so hat er doch einen Bereich gefunden,<br />
der ihm gefiel. Sein erster Fund hat ihm den Weg geebnet.<br />
Danach, selbstsicher geworden, konnte er beruhigt<br />
die Entdeckung der Pronomen in Angriff nehmen. Und<br />
da er dadurch offener wurde, konnte er sich auch für die<br />
Untersuchungen der anderen interessieren und sich ohne<br />
(psychische) Probleme die von der Gruppe erarbeiteten<br />
Ergebnisse aneignen.<br />
Aber bevor ich fortfahre, möchte ich noch einen besonderen<br />
Aspekt von ‚Macht durch Wissen‘ ansprechen: Ich<br />
möchte diejenigen erwähnen, die die Macht nicht mehr<br />
aufgeben wollen, wenn sie sie einmal erobert haben.<br />
Am I.U.T. hat mir ein Professor einmal gesagt:<br />
„Ich habe die Absicht, eine Vorlesung über Linguistik<br />
zu halten und mich dabei auf die Schifffahrtszeichen beziehen.“<br />
„Das ist ausgezeichnet. Die Studenten werden zufrieden<br />
sein, weil sie fast alle segeln.“<br />
„Ja, aber ich nehme die Zeichen der Flussschifffahrt.“<br />
„Aber hier bei uns in der Bretagne gibt es keinen<br />
schiffbaren Fluss.“<br />
„Das macht nichts. Ich weiß aber nur darüber Bescheid.“<br />
„Aber könnten Sie das nicht auf die Seeschifffahrt<br />
übertragen?“<br />
„Aber nein, schließlich habe ich nur über die Flussschifffahrt<br />
gearbeitet.“<br />
Zu diesem Professor kamen nur drei Studenten, später<br />
waren es nur noch zwei. Aber das machte ihm nichts: Er<br />
war genauso zufrieden, als ob er fünfzig gehabt hätte, weil<br />
er seine Rolle spielen konnte.<br />
Gruppenphänomene<br />
Oft sehe ich gleich zu Beginn einer Sitzung zwei Personen,<br />
die miteinander reden. Ich greife das sofort auf: „Halt,<br />
wartet: Hier passiert gerade etwas Wichtiges. Ihr beiden,<br />
ihr habt miteinander geredet. Könnt ihr uns bitte sagen,<br />
worüber ihr geredet habt?“ Da die Atmos phäre meistens<br />
entspannt ist, tun sie es. Und danach fahren wir fort. Aber<br />
sehr bald muss ich wieder unterbrechen, weil ein anderes<br />
Zwiegespräch stattfindet. Und kaum habe ich die beiden<br />
gebeten, den Inhalt ihres Gesprächs der Gruppe mitzuteilen,<br />
mache ich auf ein drittes Zwiegespräch aufmerksam,<br />
das ebenfalls gerade stattfindet. Endlich habe ich einen<br />
Anlass gefunden, meinen Vortrag loszuwerden:<br />
„Ihr seht, obwohl ich auf dieses Phänomen hingewie sen<br />
habe, obwohl wir mit dem Finger darauf gezeigt haben,<br />
hat euch all das nicht daran hindern können mit einander<br />
70 71
zu schwatzen. Oder genauer, ihr habt nicht ein mal bemerkt,<br />
dass ihr miteinander sprecht. Denn hier handelt<br />
sich um spontanes Verhalten. Und es gehört zur Arbeit<br />
von uns Praktikern, genau zu registrieren, was sich in unseren<br />
Klassen ereignet. Ihr wisst, dass das Seminar unter<br />
dem Thema: ‚Das Verhalten des Menschen beim Lernen‘<br />
steht. Ihr seid Menschen und ihr seid gera de beim Lernen.<br />
Es reicht vollkommen aus, wenn ihr euer eigenes Verhalten<br />
anseht, um interessante Fragestellun gen zu finden.<br />
Warum also redet man mit seinem Nach barn? Warum hat<br />
Laura mit Gabriella geredet? Ich möchte euch zwei Hypothesen<br />
vorstellen. Sagt mir bitte, welche der Wirklichkeit<br />
entspricht.<br />
Früher schien mir alles ganz klar zu sein: Man benutzt<br />
den anderen um seine Ideen zu verbreiten. Du Laura, du<br />
hast Gabriella angesprochen. ‚Ma se ne fregava completamente‘<br />
(Aber es war ihr völlig egal). Und alles, was du hättest<br />
sagen mögen, wäre ihr völlig egal gewesen. Denn in<br />
Wirklichkeit hast du deine Rede an dich selbst adres siert.<br />
Wenn man etwas nur denkt, wird es noch nicht ganz<br />
klar, ist es noch irgendwie konfus, ist noch alles durcheinander.<br />
Wenn man aber seine Gedanken ausspricht, dann<br />
sieht man sie sofort vor sich. Wir sprechen ja in linearer<br />
Weise, indem wir ein Wort an das andere reihen. Und ehe<br />
wir eine Botschaft aussenden, müssen wir sie vorher in<br />
unserem Kopf zusammensetzen. Man muss also zuerst<br />
Ordnung schaffen. Das Sprechen zwingt uns dazu, die<br />
Gedanken zu strukturieren, also zu einer Anstrengung,<br />
der man sich sonst nicht unterziehen würde. Unser Gehirn<br />
ist voll von vagen Ideen, die noch im Entstehen sind.<br />
Damit sie eine feste Gestalt annehmen können, müs sen sie<br />
ausgesprochen werden.<br />
Aber in unserer Gesellschaft wird man schnell für verrückt<br />
gehalten, wenn man mit sich selbst spricht. Also<br />
brauchen wir ein Alibi, einen Vorwand. Und deshalb<br />
brauchen wir unseren Nachbarn. Aber ist es egal, wer dieser<br />
Nachbar ist?<br />
Laura und Gabriella, habt ihr euch zufällig zusammengesetzt?“<br />
Ein lautes Gelächter erschallt, denn es ist offensicht lich,<br />
dass jeder seinen Platz genau ausgesucht hat, dass jeder<br />
versucht neben Personen zu sitzen, die er kennt, neben<br />
Personen, auf die er sich nötigenfalls verlassen kann. Eigentlich<br />
müssten wir an diesem Punkt ein wenig verweilen,<br />
um dieses Phänomen ‚Suche nach Nähe‘ genauer zu<br />
untersuchen, das einmal mehr das Grund bedürfnis nach<br />
Sicherheit belegt.<br />
Also, man hat jemanden, der es einem ermöglicht mit<br />
sich selbst zu sprechen, ohne dass man für verrückt gehalten<br />
wird. Es reicht aus, wenn man ein Ohr in unmittelbarer<br />
Nähe weiß. Jeder hat einmal die Erfahrung in einer<br />
Gruppe gemacht, dass man das Wort an jemanden richtet<br />
und mit einem Male sprechen alle gleichzeitig. Plötzlich<br />
ist die Aufmerksamkeit der Person, die euch zuzuhören<br />
scheint, abgelenkt, und ihr hängt in der Luft, ganz verlegen,<br />
ganz verblüfft. Und ihr sucht sofort jemanden in der<br />
Umgebung, der sich euch zuwendet, der euch gleichsam<br />
das Almosen seines Gesichtes gibt. Die gleiche Verlegenheit<br />
empfindet ihr, wenn ihr von zwei Personen gleichzeitig<br />
angesprochen werdet. Ihr wisst nicht, wem ihr euch<br />
zuwenden oder genauer gesagt, wen ihr anschauen sollt<br />
(denn es ist das Anschauen, das für das Zuhören bürgt).<br />
In Italien musste ich oft protestieren, weil alle zur selben<br />
Zeit mit mir redeten. Schließlich habe ich nur zwei<br />
Ohren. Manchmal fragte ich: „Stört es euch nicht, dass<br />
niemand euch verstehen kann?“ Sie lachten. Nein, das<br />
störe sie nicht, weil sie auf diese Weise ihre Botschaft<br />
unter dem Vorwand, sie sei für meine Ohren bestimmt, an<br />
sich selbst richten könnten. Aber jetzt, nachdem ich Antoine<br />
de la Garanderie gelesen habe, weiß ich auch, dass<br />
72 73
in der italienischen Kultur der mündliche Ausdruck eine<br />
besondere Bedeutung hat.<br />
Schließlich muss man die Dinge oft genug für sich<br />
selbst wiederholen, damit man sie sich gut aneignen kann.<br />
Das geschieht auch, wenn man allein arbeitet.<br />
Trotzdem gibt es eine zweite Hypothese, mit der das<br />
Phänomen des Zwiegesprächs erklärt werden kann: Man<br />
benutzt den anderen um seine Idee zu prüfen. Man weiß<br />
nicht genau, was sie taugt, man glaubt nur ein bisschen<br />
daran; aber man fragt sich, wie sie wohl bei anderen ankommen<br />
würde. Man sagt sich: „Das ist vielleicht eine<br />
etwas verrückte Idee.“ Und dann erzählt man sie dem<br />
Nachbarn und überprüft dabei, ob er sie richtig verstanden<br />
hat. Und wenn er nicht zu heftig darauf reagiert, wenn<br />
er nicht auf die eine oder andere Weise sein Missfallen<br />
äußert, wenn er nicht laut losschreit, kann man das Risiko<br />
eingehen, seine Idee laut vor der ganzen Gruppe zu<br />
äußern.<br />
In Aix wurde ich auf dieses Phänomen aufmerksam.<br />
Leider bin ich kein besonders aufmerksamer Beobachter,<br />
und so müssen mir die Dinge von selbst ins Auge springen.<br />
Aber damals haben sie sich richtig aufgedrängt. Es<br />
war unmöglich, sie nicht zu bemerken. Man stelle sich<br />
dreizehn Personen vor, die so gesessen haben: sechs auf<br />
der einen, sieben auf der anderen Seite.<br />
Ich weiß nicht mehr aus welchem Anlass, jedenfalls fingen<br />
alle zur selben Zeit an, immer zu zweit miteinan der zu<br />
reden, und wandten sich dabei paarweise einan der zu. Ich<br />
hätte vielleicht nichts bemerkt, wenn ich nicht die siebte<br />
Person gesehen hätte, die sich an die sechste wandte, die<br />
ihrerseits zur fünften gewandt war. Es gab offensichtlich<br />
ein außerordentlich spontanes, simultanes und allgemeines<br />
Thema für die gesamte Gruppe. Ich kam nicht umhin,<br />
der Sache auf den Grund zu gehen. Und was stellte sich<br />
heraus? Es war die Überprüfung von eige nen Hypothesen<br />
mit Hilfe anderer Personen.<br />
Manchmal passiert es in einer Gruppe, dass jemand<br />
eine Idee aufschnappt, die jemand seiner Umgebung leise<br />
mitgeteilt hat. Und er äußert sie laut, so als ob es seine<br />
eigene wäre. Manchmal freut sich der Autor der Idee darüber,<br />
dass er diesen ‚Laut-Sprecher‘ zu seiner Verfügung<br />
hatte. Und selbst, wenn niemand entdeckt, dass er der eigentliche<br />
Autor der Idee ist, beglückwünscht er sich innerlich<br />
selbst:<br />
„Mensch, das war doch meine Idee... manchmal habe<br />
ich ganz gute Ideen ... vielleicht bin ich gar nicht so<br />
schlecht... „<br />
Aber oft ist der ‘Laut-Sprecher’ von der guten Resonanz,<br />
die ‘sein’ Vorschlag erhalten hat, ein wenig überrascht<br />
und fühlt sich genötigt die Sache aufzuklären.<br />
74 75
„Ehrlich gesagt, war das nicht meine Idee, sondern die<br />
von Patricia.“<br />
In diesem Fall zeichne ich zwei Pfeile an die Tafel:<br />
einen für Patricia für die gute Idee und einen für den<br />
‚Laut-Sprecher‘, für seine Ehrlichkeit.<br />
Aber meist deckt er die Wahrheit erst dann auf, wenn<br />
die Idee schlecht ankommt: „Das ist schließlich nicht auf<br />
meinem Mist gewachsen, das hat Patricia gesagt.“<br />
Teilgruppen<br />
Manchmal bilden sich kleine Forschungsgruppen. Die<br />
Leute haben sich nicht irgendwie zufällig hingesetzt; denn<br />
es lässt sich leichter mit Leuten zusammenarbeiten, zu<br />
denen man sich hingezogen fühlt.<br />
Ich erinnere mich daran, dass einmal eine Gruppe von<br />
vier Personen zu meiner Rechten sehr schnell die Lösung<br />
einer grammatischen Regel in Esperanto fand. Aber zu<br />
dem Zeitpunkt tat ich noch so, als hätte ich nichts gehört.<br />
Ich wollte die Spannung des Suchens noch aufrechterhalten,<br />
damit das Phänomen noch genauer herausgearbeitet<br />
werden konnte. Und als ich dann die Hypothese einer<br />
Dreier-Gruppe zu meiner Linken aufgriff, schrie das<br />
Quartett los:<br />
„Aber das hatten wir doch schon vorher gesagt!“ „Das<br />
weiß ich auch, ich habe euch genau gehört; aber ich wollte<br />
noch ein wenig abwarten um zu sehen, ob sich noch andere<br />
Dinge entwickeln. Was ich nun bei euch sehe und was<br />
ich nicht erwartet habe, ist, dass nicht nur das Individuum,<br />
sondern auch eine Teilgruppe den Wunsch haben kann,<br />
von der ganzen Gruppe bestätigt zu werden. Ihr bildet<br />
eine Gruppe, denn ihr habt euch ziemlich wahrschein lich<br />
vorher schon gekannt, und nun seid ihr enttäuscht, weil ihr<br />
nicht als die Besten anerkannt worden seid.”<br />
Das wurde gut aufgenommen. Das entspricht übrigens<br />
einer Realität, die ziemlich oft vorkommt. Es gibt<br />
oft Rivalitäten zwischen Teilgruppen, die sich manchmal<br />
aufgrund irrationaler Beweggründe bilden, z.B.: Alle,<br />
die rechts sitzen, diejenigen, die hinten sitzen, usw. Hier<br />
kommt wieder der Wunsch zum Tragen, einer erfolgreichen<br />
Gruppierung anzugehören. Im Sport versucht man<br />
Partei für die Mannschaft zu ergreifen, die gewinnt, ob<br />
sie nun auf lokaler, örtlicher, regionaler oder nationaler<br />
Ebene spielt. Und wenn diese Mannschaft verliert, dann<br />
sagt man sich von ihr los. Wenn es einerseits <strong>heißt</strong>: „Wir<br />
haben gewonnen!‘, so kann es andererseits nur heißen:<br />
„Sie haben verloren!‘.<br />
Aber wenn man oft in verschiedenen Vorhaben zusammenarbeitet,<br />
nimmt die Zahl der Kontakte zu und<br />
das Phänomen der Teilgruppen verschwindet. Denn am<br />
Anfang ist die Affektivität besonders gegenwärtig, mäßigt<br />
sich dann aber im Laufe der Zeit.<br />
In Florenz hatte eine Frau die Lösung eines Problems<br />
gefunden. Aber dieses Mal hatte ich sie wirklich nicht<br />
gehört. Und nachdem ich den Verdienst der Entdeckung<br />
jemand anderem zugesprochen hatte, protestierte Giancarlo:<br />
„Aber Rosalia hatte es doch schon herausgefunden.“<br />
„Ach, und ihr kennt euch?“ „Oh ja, wir arbeiten an derselben<br />
Schule.“ Ein anderes Mal hatte ich, um Zeit zu<br />
sparen, die Erfindung einer Lehrerin verkürzt an die Tafel<br />
geschrie ben. In Wahrheit bestand ihre Erfindung aus einem<br />
Dutzend Zeilen. Sofort wurde ich heftig von ihrer<br />
Nachbarin, die sichtlich älter als sie war, angeschnauzt:<br />
„Aber warum schreibst du nicht ihre gesamte Erfindung<br />
auf?“<br />
„Ach, du kennst sie?“<br />
„Ja.“<br />
76 77
Viele lachten über die heftige Art, eine Jüngere in<br />
Schutz zu nehmen. Ich erläuterte, dass ich es getan hatte,<br />
weil ich schneller vorankommen wollte, weil nicht genügend<br />
Platz da war und weil das Wesentliche in dem, was<br />
ich an die Tafel geschrieben hatte, auf jeden Fall zum Ausdruck<br />
gekommen war.<br />
Aber ich habe sofort die Gelegenheit genutzt, das<br />
Thema der emotionalen Betroffenheit aufzugreifen. Es<br />
ge lingt mir immer es anzusprechen, weil es garantiert<br />
auf tritt. In Aix hat uns Hortensia ein eindrucksvolles Beispiel<br />
gegeben. Ihr Sohn hatte große Probleme, lesen zu<br />
lernen. In jener Zeit hatte er sich den kleinen Finger gebrochen.<br />
Man hatte ihn mit einer Schiene und Gips fixiert.<br />
Als eines Morgens seine Lehrerin mit dem gleichen Gips<br />
um den gleichen kleinen Finger in ihrer Klasse erschien,<br />
fing er plötzlich an zu lesen.<br />
Seine eigentliche Schwierigkeit war das ‘ch’. Denn er<br />
hieß Michael. Und das ‚ch‘ in diesem Wort wird wie das<br />
deutsche ‚k‘ ausgesprochen. Wenn es sich um irgendwelche<br />
beliebigen Worte wie ‚choeur‘ (Chor) oder ‚Chrysantheme‘<br />
(Chrysantheme) gehandelt hätte, wäre es nicht weiter<br />
von Bedeutung gewesen. Denn solche Worte kom men<br />
(in der französischen Sprache, Anm. d. Übers.) selten vor.<br />
Wörter dagegen wie ‚chats‘ (Katzen), ‚chiens‘ (Hun de),<br />
‚chevaux‘ (Pferde) und ‚chants‘ (Lieder) treten in Hülle<br />
und Fülle auf. Deshalb können sich die Kinder das ‚ch‘<br />
(gesprochen wie das deutsche ‚seh‘, Anm. d. Übers.) leicht<br />
merken. Aber das ‚ch‘, ausgesprochen wie ‚k‘, war für Michael<br />
in jedem Augenblick vorhanden, und zwar in seinem<br />
Vornamen. Und diesen Laut aufzugeben, das hät te<br />
bedeutet, auch ein wenig sich selbst aufzugeben. (21)<br />
Wie man sieht, dürfen die Lehrer die emotionale Betroffenheit<br />
nicht außer acht lassen, weil sie eine große Bedeutung<br />
für den Erwerb von Wissen hat.<br />
Hier ein anderes Beispiel aus meiner eigenen Kindheit:<br />
Wir waren in unserer Klasse 55 Jungen im Alter von 11<br />
bis 12 Jahren. Es ist ganz klar, dass ich die Namen von fast<br />
allen meinen Mitschülern vergessen habe. Trotzdem gibt<br />
es einen, an den ich mich sehr genau erinnere. Eines Tages<br />
erhielt ich eine Strafe: Ich sollte nachsitzen. Aber ich hatte<br />
versucht mich unbemerkt davonzustehlen. In diesem Moment<br />
ging ein Junge zum Lehrer und sagte zu ihm:<br />
„Le Bohec muss doch nachsitzen.“ „Ach ja, richtig! Le<br />
Bohec, du bleibst da.“ Nun gut, dieser Junge hieß Piaud.<br />
Eine ähnliche Sache passierte mit Briend. Er hat mir einen<br />
Fehler in meinem Diktat angestrichen, obwohl da keiner<br />
war. Und auch Briend behalte ich immer im Gedächtnis.<br />
Und jeder von euch könnte für sich selbst überprüfen,<br />
durch welche Elemente, welche Ereignisse, welche Um<br />
stände diese oder jene Sache in seinem Gedächtnis hängen<br />
geblieben ist. Und das sind nicht notwendigerweise negative<br />
Dinge. Man fühlt genau, „dass Emotionalität und Ler nen<br />
unzertrennlich sind. Und es ist nicht immer die Vernunft, die<br />
im Streit mit den Gefühlen Recht hat und die uns immer den<br />
besten Weg zur Erkenntnis führt“ (Morin 1986, S. 128)<br />
(21) Aber was war der eigentliche Anlass für Michaels Verän derung? Hat<br />
Michael sich vielleicht herausgehoben gefühlt, weil durch die gleichartige<br />
Verletzung eine neue Beziehung zu seiner Lehrerin entstanden ist? Wir<br />
werden es nie wissen. Es gibt viele Dinge, die im Dunkeln verborgen<br />
bleiben.<br />
78 79
Die Komplexität<br />
Die Komplexität ist eine wesentliche Eigenschaft der<br />
natürlichen Methode. Eine Schulklasse stellt ein Gebilde<br />
aus vielen komplexen Individuen dar. Sie unterscheiden<br />
sich manchmal so stark, dass es unmöglich erscheint sie<br />
zusammen arbeiten zu lassen. Schauen wir uns zum Beispiel<br />
an, welche Persönlichkeiten in der Gruppe in Aix<br />
zum Vorschein kamen:<br />
Alexis definiert sich selbst als Spielverderber. Er fürchtet<br />
vor allem die Wiederholung, das Auf-der-Stelle-Treten.<br />
Er ist immer bereit eine neue Sichtweise einzubringen,<br />
ein Untersuchungsfeld zu eröffnen, eine Überraschung zu<br />
bereiten....<br />
Helene, voll Energie, sagt immer, was sie denkt, und<br />
bezieht sich oft auf ihre Erfahrung bei der Alphabetisierung<br />
der Maghrebiner. Sie sieht alles klar; sie ist sehr<br />
wachsam und sehr empfindlich gegenüber jeder Art von<br />
Einflussnahme.<br />
Christine liebt die ungeraden Zahlen. Sie entpuppt sich<br />
auch als Oppositionelle. (Gibt es da einen Zusammenhang?)<br />
Tean-Camille ist leidenschaftlich von der Mathematik<br />
ergriffen. Am Anfang stand er in einem Wissenswettstreit<br />
mit Daniele. Dann hat er in einer Gruppe mit ihr gearbeitet.<br />
Sie fanden an den gleichen Dingen Gefallen. Daniele<br />
ist besessen vom Verbessern. Sie achtet nicht nur auf die<br />
Rechtschreibung der Tafeltexte in Esperanto, wobei sie<br />
selbst den kleinsten Fehler entdeckt; ja sie geht sogar so<br />
weit, dass sie die Texte in den Papieren ihrer Nachbarinnen<br />
nachsieht. Sie ist spitzfindig, rechthabe risch, kleinlich,<br />
streitsüchtig, formalistisch und wunder lich. Aber sie ist,<br />
so wie sie nun einmal ist, für die Gruppe sehr segensreich,<br />
weil sie immer dafür sorgt, dass auf einer sicheren Grundlage<br />
gearbeitet wird.<br />
Jean-Pierre bezieht sich bei der Untersuchung von<br />
Erfin dungen fast immer auf den Bereich der Musik. Hortensia<br />
ist begeistert, begeisternd. Sie hat ein schweres<br />
Leben gehabt und möchte viel nachholen. Sie möchte Erfolg<br />
haben. Sie lehnt es ab, dass man ihr Wissen gibt. Sie<br />
möchte es sich selbst erobern. Ihre Erfindungen sind voll<br />
von Häusern.<br />
Rene ist sehr still. Er engagiert sich in seinen Texten,<br />
ist sehr sensibel, sehr rücksichtsvoll gegenüber anderen<br />
Personen.<br />
Tean-Marc ist sehr geschickt mit den Händen. War sehr<br />
locker beim ‚Esperanto-Erfinden‘, obwohl er kein Intellektueller<br />
ist.<br />
Adrienne engagiert sich in allem, was sie tut, nimmt<br />
voll er Leidenschaft an Diskussionen teil. Sie ist Linkshänderin,<br />
was ihre Sicht der Dinge beeinflusst. Anne ist ein<br />
wenig zurückgezogen, auf Abstand, ein wenig ausgefallen<br />
mit ihrer Frisur. Aber man spürt, dass sie interessiert ist.<br />
Wenn all dies sich bereits in drei Sitzungen von je drei<br />
Stunden zeigen konnte, dann ist garantiert, dass sich diese<br />
individuellen Persönlichkeitsstrukturen im Laufe eines<br />
ganzen Jahres noch deutlicher herauskristallisiert hätten.<br />
Sicher hätten sich Korrekturen ergeben. Eine umfassende<br />
Zusammenarbeit - eine <strong>Kooperative</strong> des Wissens - hätte<br />
sich entwickeln können. Das bedeutet, dass eine Gruppe,<br />
die so reich an Persönlichkeiten ist, die sich gegenseitig<br />
ergänzen und die sich (glücklicherweise) widersprechen,<br />
großartige Fortschritte machen kann. Deswegen muss sich<br />
der Lehrer die Komplexität der Situationen und der Menschen<br />
bewusst machen. Aber er muss auch in der Lage<br />
sein dies zu tun. Dazu muss er eine gewisse Gelassenheit<br />
an den Tag legen.<br />
In Florenz hatte sich Marcello geweigert, sich an der<br />
Suche nach Gesetzmäßigkeiten in Esperanto zu beteili-<br />
80 81
gen, weil ich ihm nicht garantieren konnte, dass meine<br />
Übersetzungen in diese Sprache 100%ig richtig waren. Ich<br />
konnte ihm erzählen, was ich wollte: Selbst wenn ich eine<br />
Geheimsprache anbieten würde, könnte man darin etli che<br />
Sprachregeln entdecken. Aber er wollte nicht mitspie len:<br />
Unterricht, das ist etwas Ernsthaftes. Er war ein ‚direttore‘<br />
(ein Rang, der dem Bezirksschulrat in Frank reich entspricht).<br />
Er hatte eine Art Zwangsvorstellung von Wissen<br />
und Wissensvermittlung.<br />
Aber auch wir wissen, was wir wollen: Unser vorrangiges<br />
Bemühen ist es, die Kinder mit einem Maximum<br />
an Wissen, an Techniken und an Fähigkeiten zur Lebensbewältigung<br />
auszustatten, weil dies unerlässlich ist, um<br />
in unserer heutigen so schwierigen Gesellschaft zu überleben<br />
und um es ganz einfach zu leben. Aber nicht jeder<br />
wird ein ‚direttore‘. Deshalb darf man nicht aus schließlich<br />
den Stoff, der vermittelt werden soll, im Auge haben. Man<br />
muss auch versuchen zu verstehen, wie das Speichergerät<br />
Gehirn überhaupt funktioniert.<br />
Ich habe Marcello die Liste von all den Dingen gezeigt,<br />
die 8- bis 9-jährige Kinder dank dieser Methode, die die<br />
Lernprozesse in den Mittelpunkt stellt, lernen konnten.<br />
Aber er wollte nichts davon wissen. Er hatte seinen Standpunkt<br />
und den konnte er nicht verlassen. Vielleicht, weil<br />
er sein Gesicht nicht verlieren wollte. Aber das machte<br />
nichts: Nicht für ihn habe ich gearbeitet, sondern für die<br />
anwesenden Praktiker, die Tag für Tag mit diesen Problemen<br />
umgehen und die sich nicht so grandios darü ber hinwegsetzen<br />
können.<br />
Hier zwei weitere Erfahrungen, die man mit ‘die Gruppe<br />
für‘ und ‚die Gruppe gegen‘ überschreiben könn te. Zuerst<br />
also, was uns jemand in Ostia vorgestellt hat:<br />
Tiziano versucht sofort, eine Struktur zu entdecken.<br />
„Nach der 7 gibt es immer sieben Zeichen.“ Allgemeiner<br />
Protest: „Nein, beim zweiten Mal sind es vier .“ Und die<br />
Leute denken: „Was für ein Quatsch, Tiziano spinnt!“ Es<br />
sind ganz offensichtlich nicht sieben Zeichen. Aber Tiziano<br />
lässt sich nicht aus dem Sattel heben. „Aber doch,<br />
nämlich so:“<br />
Die Gruppe protestiert:<br />
„Das ist unmöglich. Das können wir nicht akzeptieren.<br />
Es ist zu sehr an den Haaren herbeigezogen.“<br />
Tiziano hört nicht auf die Proteste. Er starrt auf die<br />
Tafel. Plötzlich sagt er ganz beglückt:<br />
„Aber ja doch, schaut mal die Dreiecke an, es sind sieben!“<br />
Na ja, wir müssen es notgedrungen anerkennen. Aber<br />
wir sind doch noch ein bisschen böse auf diesen Provokateur,<br />
der mit seinen sieben Dreiecken einfach zu viel<br />
Glück hatte. Als es schließlich ruhig wird und niemand<br />
mehr etwas anderes sieht, gebe ich der Autorin das Wort:<br />
„Ich war noch nicht fertig, als Paul mich bat, es an die<br />
Tafel zu schreiben.“ Tiziano stößt ein Triumphgeheul aus:<br />
„Seht ihr, wenn wir sie hätten machen lassen, hätte<br />
sie noch drei weitere Zeichen hingeschrieben, und dann<br />
wären es bei der zweiten Serie auch sieben gewesen“<br />
Das Gelächter angesichts dieser Hartnäckigkeit von<br />
82 83
Tiziano, allem und jedem gegenüber recht zu behalten,<br />
ist groß gewesen. Wenn man Tiziano bedrängt, findet er<br />
immer wieder einen Ausweg, er windet sich immer wie der<br />
aus der Falle, die über ihm zuschnappen will. Ihn fängt<br />
man nicht so leicht. Wie eine Beute, die von einem Raubtier<br />
belauert wird, entwickelt er listige Strategien. Und<br />
unter diesen Umständen ist die Gruppe ein wenig wie ein<br />
Raubtier, weil sie versucht ihn zu erwischen, ihn einzufangen,<br />
ihn in die Enge zu treiben, ihn zu überra schen.<br />
Mir ist es wichtig, dieses Ereignis zu erzählen, weil es<br />
ziemlich oft auch im ‚Unterricht mit der natürlichen Methode‘<br />
vorkommt. Aber etwas Derartiges ereignet sich<br />
nicht nur dann, wenn es darauf ankommt, den anderen<br />
zu widerstehen oder ihnen zu entkommen, sondern auch,<br />
wenn ein Kind oder eine Handvoll von Kindern versucht<br />
Strategien zu entwickeln, um bisher ungeahnte Möglichkeiten<br />
zu entdecken.<br />
Das entspricht übrigens dem tastenden Vorgehen in der<br />
Geschichte der Menschheit.<br />
So haben die Menschen z.B. ‘natürlich‘ zuerst damit angefangen,<br />
die natürlichen Zahlen (N) zu erfinden: 1,2,3,4<br />
... Und sie haben einen wichtigen Schritt gemacht, als sie<br />
die Null erfunden haben. Und dann haben sie ihre Freiheit<br />
ausgeweitet, indem sie die ganzen Zahlen (Z) geschaffen<br />
haben: 4 - 5 zu berechnen, war in N nicht mög lich, wurde<br />
es aber in Z: 4 - 5 = -1. Dann ist man zu den rationalen<br />
Zahlen (Q), sowie zu den reellen Zahlen (R) gekommen.<br />
Und um das System zu perfektionieren, ist man bis zu den<br />
imaginären Zahlen gegangen: i2 = -1.<br />
Das Gleiche passierte in der Geometrie. Man war lan ge<br />
Zeit durch das Parallelenaxiom von Euklid blockiert.<br />
„Durch einen Punkt, der außerhalb einer Geraden liegt,<br />
kann man eine und nur eine Parallele zeichnen“<br />
Aber Lobatschewskij hat, ausgehend von gekrümmten<br />
Räumen, eine andere (die hyperbolische) Geometrie<br />
begründet, indem er sagte:<br />
„Man kann eine unendliche Zahl von Parallelen ziehen.“<br />
Und Riemann hat auch seine eigene (die elliptische)<br />
Geometrie entwickelt und gesagt:<br />
„Man kann keine einzige Parallele zeichnen.“<br />
Mit Sicherheit finden wir bei den Kindern die Tendenz,<br />
den Freiraum zu erweitern. Es kann übrigens sein, dass<br />
man eines Tages bemerkt, dass es auch eine Entwicklung<br />
des freien mathematischen Textes gibt und dass die Lehrer<br />
gut über die Geschichte der Mathematik informiert sein<br />
müssen. Dann wird es vielleicht eine Art Wiederholung<br />
der Phylogenese in der Ontogenese der Mathematik geben.<br />
Aber das ist eine gewagte Hypothese. Kommen wir lieber<br />
auf ein Beispiel aus der Arbeit mit Erwachsenen zurück,<br />
weil es so gut das Wesentliche dessen zusammenfasst,<br />
was wir bisher aufzeigen konnten. Wir waren ungefähr<br />
fünfzig Personen in einer Schule in Mestre, dem Festlandteil<br />
von Venedig. Sandro schrieb fol gendes an die Tafel:<br />
N8NS8L1M1T5M1T9C1<br />
Was konnte das bedeuten? Diese Frage drängte sich uns<br />
mit aller Gewalt auf. Die Stille war aufs äußerste gespannt.<br />
Sie dehnte sich immer länger. An welchem Ende konnte<br />
man denn die Sache packen? Gab es nicht wenigstens eine<br />
winzige Struktur zu entdecken, damit wir wieder aufatmen<br />
konnten? Jemand äußerte ins Blaue hinein die Idee<br />
von Autokennzeichen. Aber die Gruppe lehnte diese Idee<br />
kategorisch als ‘völlig blödsinnig‘ ab. Ein anderer sprach<br />
von einer Versicherungsnummer. Einhellige Ablehnung:<br />
Das hätte damit überhaupt nichts zu tun. Aber man fand<br />
immer noch nichts. Nein, keiner hatte irgendeinen Anhaltspunkt:<br />
Es ging langsam an die Nerven. Sandra fing<br />
84 85
an mit den Fingern zu zählen. Aber sie gab wieder auf. Die<br />
Spannung stieg. Plötzlich rief Grazieila los:<br />
„Ich habe es gefunden: NON SO LA MATEMATICA.“<br />
(Ich kann keine Mathematik!)<br />
Welche Freude! Beifall brach aus, man schüttelte ihr<br />
die Hand. Ausrufe der Befriedigung waren zu hören, ein<br />
Freudentaumel brach aus. Endlich hatten wir nicht nur<br />
eine vielversprechende Hypothese, sondern die ganze Lösung<br />
gefunden. Welche Befriedigung, welch eine Erfüllung,<br />
welche Entspannung! Als die Gemüter sich ein wenig<br />
beruhigt hatten, habe ich selbstverständlich das Wort<br />
ergriffen, um dieses überraschende Ereignis zu kommentieren.<br />
Ich unterstrich zuerst die Intensität des anfänglichen<br />
Schweigens und wies darauf hin, dass es mit Angst,<br />
aber auch mit Wut angefüllt war. Es ist nämlich so: Das<br />
menschliche Wesen mag es überhaupt nicht, dem Chaos<br />
ohnmächtig ausgeliefert zu sein. Und durch ihren Beitrag<br />
hat Grazieila uns alle befreit.<br />
Dieses Mal konnte man einfach nicht auf ihren Erfolg<br />
eifersüchtig sein. Im Allgemeinen lehnen es die Menschen<br />
ab, dass man ihnen hilft. Sie wollen die Lösung allein finden.<br />
Aber hier hatten wir es nicht mehr mit einer leichten<br />
Beunruhigung zu tun, die stimuliert, sondern mit einer<br />
rich tigen Angst um die Lösung. Und es war der ganzen<br />
Gruppe wichtig, Grazieila ihre Anerkennung zu zollen.<br />
Hier handel te es sich nicht mehr um eine Simulation oder<br />
ein Spiel. Es war eine echte Handlung, ein Stück wirklichen<br />
Lebens mit all seinem Schwung und ohne jede<br />
Zurückhaltung.<br />
Nur Sandro, der Autor, nahm nicht an der gemeinsamen<br />
Freude teil.<br />
„Mm, nun, ich bin mit Grazieila überhaupt nicht<br />
zufrieden!“<br />
Alles lachte natürlich, weil es klar war, dass man ihm<br />
auf brutale Weise seine Macht entrissen hatte. Es gab nun<br />
zwei Personen, die sich einander gegenüber standen: die<br />
Gruppe und Sandro. Und er hatte verloren. Oder genau er:<br />
Er war wieder auf das Niveau der anderen herunter geholt<br />
worden.<br />
Aber für Sandra war das zuwenig: Sandro sollte auch<br />
noch für die Minuten der Spannung zahlen, die er allen<br />
zugemutet hatte. Also fing sie wieder an, mit den Fingern<br />
nachzuzählen.<br />
„Hej, das geht nicht, Sandro. Du hast eine 8 für den<br />
Buchstaben O eingesetzt, obwohl es die 13 ist.“<br />
Also musste Sandro detailliert erklären, dass er wegen<br />
eines Bleistifts, den er in der rechten Hand hatte, nur seine<br />
linke Hand zum Zählen benutzen konnte und dazu seine<br />
Finger nacheinander auf die linke Wange gelegt hatte. Und<br />
so hat er zunächst bis 5, dann wieder bis 5 und dann bis 3<br />
gezählt. Und dabei hat er die erste 5 vergessen.<br />
Wie soll man das allgemeine Lachen beschreiben, das<br />
sich augenblicklich ausbreitete? Das Lachen war entspannend,<br />
erholsam und stellte das Gleichgewicht wieder her.<br />
„Ah, nun ist alles aufgeklärt! Es ist ja nicht weiter verwunderlich,<br />
dass wir keine Lösung gefunden haben, weil<br />
die Ausgangsdaten falsch waren.“<br />
„Das beruhigt: Wir sind also doch nicht so dumm!“<br />
Und weil Sandro sein Ungeschick, seinen Mangel an<br />
Gemeinsinn so demütig zugegeben hat, grollt man ihm<br />
nicht mehr. Die Gruppe verzieh ihm freimütig, weil er sich<br />
schuldig bekannt und Humor bewiesen hatte.<br />
Lachen entdramatisiert, wenn sich jemand bedroht<br />
fühlt. Und diese Möglichkeit wird gerne von demjenigen<br />
genutzt, der sich bereits so sehr von den anderen abgehoben<br />
hat, dass er die zornigen Blicke der restlichen Versammlung<br />
auf sich ruhen fühlt.<br />
„Hoppla, das wird gefährlich. Ich muss von diesem<br />
gefährlichen Weg herunterkommen.“ Und er macht einen<br />
86 87
Witz auf seine eigene Kosten. Aber ich mache erneut<br />
dar auf aufmerksam, dass so etwas meist nur am Anfang<br />
pas siert. Bald entwickeln sich Kooperation, ein Gruppengefühl<br />
und die Freude des Entdeckens.<br />
Und noch etwas: Auf einem Seminar in Treviso hatte<br />
Jeannette (eine französische Teilnehmerin) nicht akzeptiert,<br />
dass der Buchstabe O durch die 13 repräsentiert<br />
wurde und nicht von der 15, wie sie es errechnet hatte.<br />
Sie hatte nicht bedacht, dass es die Buchstaben j und k im<br />
italienischen Alphabet nicht gibt.<br />
Ich bin auf ihren Widerstand eingegangen, um daran<br />
einen wichtigen Punkt aufzuzeigen: Wir arbeiten mit einer<br />
bestimmten Gruppe in einer bestimmten Wirklich keit. Die<br />
heutige Wirklichkeit wird bestimmt von allen anwesenden<br />
Personen, und eine von ihnen ist Französin. Von dieser<br />
Wirklichkeit hängt ab, welchen Weg die Gruppe geht. Natürlich<br />
ist zu diesem Zeitpunkt nicht alles möglich. Trotzdem<br />
kann man beruhigt sein: Wir haben noch tausende<br />
von Entdeckungen in der Mathe matik zu machen. Und<br />
jede Gruppe hat ein so reichhalti ges Potential, dass man<br />
nicht ungeduldig werden muss: Die Ernte wird reich sein,<br />
vorausgesetzt, wir haben noch genügend Zeit, so wie dies<br />
im schulischen Unterricht der Fall ist.<br />
Im nächsten Abschnitt wenden wir uns dem Einsatz<br />
der natürlichen Methode in der Schule im Mathematikunterricht<br />
zu. Oben haben wir diese Methode am Beispiel<br />
des Lernens von Erwachsenen beschrieben, damit deutlich<br />
wird, was dort eigentlich passiert. So haben wir ihre<br />
Grundlagen, Prinzipien und Vorgehensweisen wenigstens<br />
ansatzweise kennengelernt. In meinen Seminaren nehmen<br />
wir uns nach drei Sitzungen die Zeit alle Punkte zu rekapitulieren,<br />
die bei unserer gemeinsamen Erfahrung zum<br />
Vorschein gekommen sind. Wir praktizieren dann die<br />
natürliche Methode des ‚Theoretisierens der natürli chen<br />
Methode‘.<br />
Hier kurz zusammengefaßt die sechs Aspekte, die man<br />
dabei berücksichtigen muss:<br />
• eigene Praxis<br />
• Gruppenphänomen<br />
• Informationsquellen<br />
• Physische Besonderheiten<br />
• Psychische Eigenarten<br />
• Rahmenbedingungen.<br />
Diese Punkte, die in Kapitel 7 noch ausführlicher erläutert<br />
werden, können eine Orientierungshilfe sein, wenn<br />
man über die natürliche Methode nachdenkt. Und wer<br />
diese Methode praktiziert, wird sie zwangsläufig in Kooperation<br />
mit anderen Praktikern erforschen.<br />
Schauen wir uns nun an, wie es bei den Kindern aussieht.<br />
88 89
3. Die natürliche Methode im<br />
Mathematikunterricht<br />
Inzwischen kann man von einer verbreiteten<br />
unterrichtli chen Praxis der natürlichen Methode des<br />
Mathematik unterrichts sprechen. Die Kräfte, die sie tragen,<br />
sind wie der stärker geworden.<br />
Vor 20 Jahren, als die natürliche Methode gerade dabei<br />
war Wurzeln zu schlagen, trat die moderne Mathematik in<br />
Erscheinung. Für den damals noch zarten Keim war dies<br />
eine Art Katastrophe. Einige von uns hatten sich schon<br />
auf den Weg gemacht; es waren aber zu wenige, um sich<br />
bei denjenigen Lehrern Gehör verschaffen zu können, die<br />
wegen der Einführung der modernen Mathe matik von<br />
Panik ergriffen waren. Und so wurde diese Idee wieder<br />
auf Eis gelegt.<br />
Inzwischen ist nicht nur die Angst vor der modernen<br />
Mathematik verblasst, weil die heutigen Lehrer sie beherrschen<br />
und keine Berührungsängste mehr haben, sie selbst<br />
hat auch an Bedeutung verloren.<br />
Dafür ist die natürliche Methode wieder aufgetaucht<br />
und bereit für einen neuen Aufschwung: Widmen wir ihr<br />
endlich all die Aufmerksamkeit, die sie verdient.<br />
Wie ich bereits angedeutet habe, ist die Idee dazu auf<br />
‘natürliche‘ Weise entstanden: Meine Frau und ich hatten<br />
die natürliche Methode bereits in den Bereichen Französisch,<br />
Lesen/Schreibenlernen, mündlicher Ausdruck,<br />
Musik, Körperausdruck, Texte verfassen und Zeichnen/<br />
Malen in den Klassenstufen 1 bis 3 erprobt und sind zu<br />
der Über zeugung gekommen, dass sie sich für all diese<br />
Bereiche hervorragend eignet.<br />
Und da ich mich immer darum bemüht habe, den Dingen<br />
auf den Grund zu gehen, habe ich ohne Unterlass an<br />
der Entwicklung meiner kleinen Theorie gearbeitet.<br />
Und ich hatte das Glück, sie mit <strong>Freinet</strong> und seiner Frau<br />
Elise diskutieren zu können. Ich habe ihnen viel geschrieben,<br />
um meine Hypothesen vorzustellen und um kriti sche<br />
Anregungen zu bekommen. So viel, dass ich mich eines<br />
Tages auf der theoretischen Ebene sicher genug fühlte, um<br />
mir folgende Fragen stellen zu können: „Wenn man mit<br />
dieser Methode so viel lernen und soviel Wissen erwerben<br />
kann, warum sollte man sie nicht auch im Fach Mathematik<br />
anwenden? Oder besitzt die Mathematik Eigenschaften,<br />
die dies ausschließen? Was muss man tun, damit die<br />
natürliche Methode auch der Mathematik gerecht wird?“<br />
Nun, um dies herauszufinden, blieb mir als <strong>Freinet</strong>-Lehrer<br />
nur eines übrig, nämlich es zu versu chen. Und das wagte<br />
ich mit Beginn des Schuljahres 1965. (22)<br />
Das Erstaunlichste ist, dass die natürliche Methode nun<br />
gerade in der Mathematik, dem Fach, in dem lange keiner<br />
daran dachte sie anzuwenden, ihre besten Resultate<br />
erzielt.<br />
Doch nachträglich ist das leicht einzusehen. Denn<br />
jeder Erkenntnisprozess beginnt damit, Hypothesen aufzustellen,<br />
um so die Komplexität der Welt zu strukturieren.<br />
Und einige erweisen sich als so wirksam, dass sie den<br />
Rang von Gesetzen erhalten. So wie auf der Ebene des Kindes<br />
die Ansammlung von wenigen Worten wie ‚maman‘<br />
(Mutter), ‚maison‘ (Haus), ‚murier‘ (Maulbeer baum) und<br />
‚michel (Michael) das Herauslösen des Konsonanten ‚m‘<br />
erlaubt. Und wenn später das Kind bei dem letzten Wort<br />
eines Satzes wie ‚Hier, je suis allê â la mer‘ (gestern bin<br />
ich ans Meer gegangen) zögert, weiß es sehr genau, dass<br />
es sich nicht um den Strand, das Land oder ein Fest handeln<br />
kann, weil es mit einem Zeichen beginnt, dessen phonetischen<br />
Wert es kennt ‘hier, je suis alle ä la mer‘ (gestern<br />
bin ich zum Meer gegangen.) Dies ist also die Taktik des<br />
(22) Ihr seht, wie alt diese Idee ist. Und trotzdem ist sie noch ganz frisch,<br />
ganz neu, ganz erfrischend.<br />
90 91
menschli chen Geistes: Im Angesicht des Chaos, das ihn<br />
verunsi chert, versucht er Strukturen zu entdecken, die<br />
ihm hel fen es ein wenig besser zu beherrschen.<br />
Und genau gesagt, kümmert sich die Mathematik nur<br />
um Strukturen. Oder noch genauer, sie ist Strukturierung<br />
per se. Genau bei dem Bereich kann man am besten<br />
das ‚natürliche‘ Funktionieren des menschlichen Wesens<br />
durchdringen, das immer versucht, sich wirkungsvolle<br />
Instrumente zur Beherrschung der Komplexität zu schaffen.<br />
Wie sieht es nun in der Praxis aus? Wie oben bereits<br />
angedeutet, habe ich ‘Erfindungshefte’ ausgegeben, die<br />
ich jeden zweiten Tag wieder einsammelte. So konnte wenigstens<br />
die Hälfte meiner Schüler täglich eine ihrer Erfindungen<br />
an der Tafel wiederfinden. Bei größeren Abständen<br />
zwischen den Erörterungen der Erfindungen hätten<br />
die Kinder womöglich ihr Interesse verloren. „Wozu nützt<br />
das, wenn ich etwas erfinde, wenn es doch für nichts ist?“<br />
Wenn es aber den Zwang gegeben hätte, jeden Tag etwas<br />
abliefern zu müssen, dann wäre der Druck auf die jungen<br />
Schultern zu groß gewesen. Es wäre kein freier Text mehr<br />
gewesen. Aber so wurde der Fluss durch die Regelmäßigkeit<br />
aufrecht erhalten. Und wir hat ten sogar eine Überfülle<br />
von Erfindungen, ohne dass ich jemals um irgendetwas<br />
hätte bitten müssen.<br />
Und so schrieb ich innerhalb von 2 Tagen eine Erfindung<br />
von jedem Schüler an die Tafel. Man könnte mich<br />
natürlich fragen, nach welchen Kriterien ich die Auswahl<br />
getroffen habe. Am Anfang war ich vor allem bemüht, ein<br />
möglichst großes Spektrum an Möglichkeiten aufzuzeigen.<br />
Aber ziemlich schnell habe ich bemerkt: Wichtig ist<br />
es überhaupt anzufangen!<br />
Tatsächlich bin ich mir sehr schnell bewusst geworden,<br />
dass meine Sicht der Dinge meistens viel zu kümmerlich<br />
war. Denn bei dem Scharfsinn, den die Kinder<br />
jetzt entwickelten, konnte man unmöglich vorhersehen,<br />
was sich ereignen würde. So habe ich mir beim Anblick<br />
eines einfachen Rechteckes mit Mittelachse und Diagonale<br />
gesagt: „Das ist doch trivial. Damit werden wir uns<br />
höchstens zwei Minuten aufhalten.“<br />
Aber wir beschäftigten uns eine ganze Stunde damit.<br />
Doch auch das Gegenteil kam vor. Bei manchen Konstruktionen<br />
habe ich mir innerlich die Hände gerieben. Die<br />
Enttäuschung kam prompt, das Gespräch darüber verlief<br />
im Sande. Trotzdem musste irgendeine unendlich kleine<br />
Spur erhalten geblieben sein, denn irgendwann kam jemand<br />
unweigerlich darauf zurück. Aber niemals so, wie<br />
ich mir das vorgestellt hätte. Glücklicherweise war ich bei<br />
diesen ersten Versuchen hinreichend offen um alles aufzunehmen,<br />
was vorgestellt wurde. Ich hatte gelernt Vertrauen<br />
zu haben, und die Kinder zeigten mir den Weg!<br />
Und es ist absolut sicher, dass wir alle davon profitieren:<br />
Die Kinder auf der mathematischen, ich auf der pädagogischen<br />
und didaktischen Ebene.<br />
92 93
Beispiele mit 7-8 Jahre alten Schülern<br />
Erste Erfahrungen<br />
Kommen wir nunmehr zur genaueren Betrachtung der<br />
Kindererfindungen. (23) Ein Bereich, der von den Kindern<br />
besonders geschätzt wird, ist das Erfinden von Zeichen.<br />
Ich habe mich gleich darüber gefreut: „Diese Aktivität<br />
wird es uns ermöglichen, sehr schnell die Ziffern zu beherrschen.<br />
Die Zeit wird wie im Fluge vergehen.“<br />
Ich hatte zu jener Zeit noch eine alte und reaktionäre<br />
Konzeption: Das ‚notwendige Wissen‘ erschien mir als<br />
bittere Pille, die die Schüler schlucken sollten. Wäre es<br />
nicht das beste, sie mit genügend Zucker zu umhüllen,<br />
damit die Kinder sie ohne allzu viele Grimassen schnell<br />
herunterschlucken könnten?<br />
Es war wirklich so, als ob die Dinge unter die Lupe<br />
genommen würden. Aber als ich später erfahren habe,<br />
dass Piaget (sinngemäß) gesagt hat (fraget 1988, S.25):<br />
„<strong>Verstehen</strong> <strong>heißt</strong> <strong>Wiedererfinden</strong>!“, da ist mir bewusst geworden,<br />
dass meine Kinder genau das taten. Und in der<br />
darauf folgenden Zeit habe ich gemerkt, dass sich dahin ter<br />
etwas viel Fundamentaleres verbarg. Ich nehme den Satz<br />
von Anaxagoras auf:<br />
„Am Anfang stand das Chaos, dann kam der menschli che<br />
Verstand, der Ordnung in dem Chaos schuf.“<br />
Nun gut, jetzt weiß ich, dass Kinder, wenn sie sich in<br />
(23) Präzisierungen: Rigide Lehrpläne stellen uns nicht vor Probleme. Die<br />
Kinder, die am meisten motiviert sind, schlucken sie am schnellsten. Aber<br />
in dieser neuen (kopernikanischen) Konzeption des Unterrichts kann sich<br />
eine neue Dimension eröff nen: nämlich der Aufbau ihres Wissens durch<br />
die Kinder selbst und dem genau passenden Beitrag der Lehrer zu diesem<br />
sich ver mehrenden Wissen. Wenn dieses verallgemeinert würde, könnten<br />
angemessene, weniger rigide Lehrpläne in Kraft treten.<br />
einem Chaos von Fremdsprachen, von Zahlen, von Figuren<br />
oder sonstigen Phänomenen befinden, ein künstliches<br />
MODELL konstruieren. Bei den Sprachen z.B. baden<br />
mei ne Schüler im Bretonischen ihrer Großeltern, im Englisch<br />
der Matrosen-Väter, im Italienisch der Steinbruch-<br />
Groß eltern, im Deutsch des Gymnasiums, auf das die älteren<br />
Geschwister gingen. Und sie denken sich ihr ‚Japanisch‘<br />
aus. Das <strong>heißt</strong>: ein Sprachmodell, das sie sich selbst<br />
erar beitet haben.<br />
Als ich sah, dass sie sich auf dieselbe Weise auch mathematische<br />
Modelle geschaffen haben, begriff ich, dass dies ein<br />
natürlicher Prozess des Lernens ist. (Wenn ich nicht dreißig<br />
Jahre lang in den gleichen Altersstufen geblieben wäre, in den<br />
Klassen mit mehreren Abteilun gen [1./2. Klasse, dann 1./2./3.<br />
Klasse, schließlich 2./3. Klasse], hätte ich das niemals wahrnehmen<br />
können.) Für die Pädagogik und Didaktik scheint mir<br />
dies ein Punkt von größter Wichtigkeit, ein Hauptpunkt, ein<br />
nahezu kopernikanischer Wendepunkt zu sein.<br />
„Der Mensch lernt nicht, indem er Reize von der Umwelt empfängt.<br />
Im Gegenteil, er wirft seine Hypo thesen und seine Theorien<br />
wie ein Netz über die Welt.“<br />
(Didier Eribon)<br />
Der Bericht meiner Erfahrungen ist ein Auszug aus<br />
einer vergriffenen Broschüre: ‚Eine Erfahrung mit freier<br />
Mathematik im 2. Schuljahr‘ (Le Bohec 1967/68). Da<br />
fan ge ich mit dem Ausdenken von Zeichen an.<br />
94 95
Erfinden von Zeichen<br />
Wir haben nach einem Zeichen für Nichtgleichheit gesucht<br />
und - welch ein Zufall - drehten sich die Erfindun gen<br />
alle um das offizielle Zeichen:<br />
Ausgehend von dem Mund, der sich auf der Seite des<br />
größten Kuchens öffnet, haben die Kinder dieses Zeichen<br />
sehr gut behalten. Für die Multiplikation und die Divi sion<br />
haben wir die klassischen Zeichen erhalten.<br />
Erfinden von Ziffern<br />
Man muss auf alles gefasst sein; so habe ich eines<br />
Tages im Forschungsheft von Jacques den folgenden Einfall<br />
gefunden:<br />
Seine Ziffern beruhten auf den arabischen Ziffern.<br />
Die anderen Kinder haben dies bemerkt und sich für eine<br />
Weile ausschließlich damit beschäftigt.<br />
Hier einige ihrer Erfindungen (die ersten Zahlen):<br />
Patrice:<br />
96 97<br />
Remi:<br />
J.F.:<br />
Ich bedauere, dass ich hier nur einige Dokumente dieser<br />
Untersuchung, dieser intensiven Erfindung von Ziffern<br />
vorstellen kann.<br />
Wir sind hierbei zu einer Schlussfolgerung von einem<br />
beträchtlichen Niveau gekommen, dass nämlich gute Zeichen<br />
einfach, schön und vor allem unterschiedlich sein<br />
müssen.<br />
Also hat jeder der zehn Schüler der 2. Klasse seine Ziffern<br />
geliefert und wir haben die ‚Ziffern‘ der Klasse erhalten.<br />
Hier sind sie:<br />
Von hier aus haben sich verschiedene Wege angeboten.<br />
Wir haben die arabischen Ziffern untersucht und ihre<br />
Vortrefflichkeit anerkannt: Sie sind einfach, schön und unterschiedlich,<br />
vorausgesetzt man schreibt sie gut. Ja, die<br />
Menschheit hat gut daran getan sie anzunehmen.<br />
Patrice ist vom gemeinsamen Weg abgewichen. Er<br />
wollte eifrig sein: Er hat zwanzig verschiedene Ziffern<br />
für die ersten zwanzig Zahlen erfunden. Aber die anderen<br />
Kinder haben ihm klargemacht, dass er keine besonderen<br />
Zeichen für 11,12,13, usw: benötigte, da er ja bereits 1,2,3<br />
usw. erfunden hatte.<br />
Jean-Frangois hingegen hatte Zeichen für die ersten<br />
zehn Zahlen erfunden. Über die Kritik der Klasse begriff
er, dass er für die Zehn kein neues Zeichen zu erfinden<br />
brauchte, weil es schon die Eins gab.<br />
Es reichte aus, ein Zeichen für die Null zu erfinden. In<br />
seiner Zehn musste man seine Eins wiederfinden. Damit<br />
war bereits das Prinzip von Zahlensystemen angeschnitten.<br />
Mehrere Kinder haben sich daran gemacht, die ersten<br />
hundert Zahlen mit den Ziffern der Klasse aufzuschrei ben.<br />
Dadurch wurde die Rolle, die die Zehner spielen, bewusst;<br />
eine besondere Rolle, wie in dieser Reihe der Dreißiger<br />
deutlich erkennbar ist.<br />
Diese ‘Konstruktion des Nebeneinander’ ermöglichte<br />
es uns zu erfassen, auf welchem Gesetz unsere alltäglichen<br />
Zahlen beruhen. Das war eine Möglichkeit, so nebenbei<br />
zu bestätigen, was im Vorjahr nur ziemlich konfus<br />
wahr genommen worden ist. Mit einem Unterschied;<br />
Dieses Mal haben die Kinder über ihre eigenen Ziffern<br />
nachge dacht; das war offensichtlich viel anziehender und<br />
er laubte, die alten Dinge unter einem völlig neuen Blickwinkel<br />
zu sehen.<br />
Diese Aktivität des Symbolisierens, die so aufregend<br />
für den Verstand ist, scheint mir sehr interessant und sogar<br />
unabdingbar zu sein. Durch tastende Versuche kann das<br />
Kind diese Aktivität verstehen, denn durch das Symbolisieren<br />
wird es zum Symbolisierer. Wenn das Kind<br />
dies intensiv geübt hat, hat es keine Ängste mehr vor<br />
den Symbolen der anderen. Das scheint mir ein Hauptpunkt<br />
zu sein, denn ein Grund für eine Blockade in der<br />
Mathematik sind oftmals die Zeichen: Sie stehen sozusagen<br />
Schlange, und die letzten drängeln sich schon vor, ehe<br />
die ersten wirklich ‚angekommen‘ sind. So entsteht ein<br />
großes Durcheinander.<br />
Wir müssen also zu einer Entmystifizierung der Symbole<br />
kommen. Um dabei zu helfen, schreibe ich manchmal<br />
die Namensliste meiner Schüler auf folgende Weise<br />
an die Tafel:<br />
Wir haben an diesem Beispiel, dem Erfinden von Zeichen<br />
und Ziffern, gesehen, dass man alles von den Kindern<br />
akzeptieren kann und dass ihre Erfindungen fast<br />
immer zur Entdeckung interessanter Möglichkeiten und<br />
Berei che führen.<br />
Der Kalender<br />
Wir hatten einen Abreißkalender. Jeden Tag nahm das<br />
Kind, das in dem betreffenden Monat das ‚Kalenderamt‘<br />
inne hatte, ein Blatt ab und heftete es an ein Anschlagbrett.<br />
98 99
Januar<br />
1 2 3 4 5 6 7<br />
8 9 10 11 12 13 14<br />
15 16 17 18 19 20 21<br />
22 23 24 25 26 27 28<br />
29 30 31<br />
Am Anfang hatten wir die Monate Oktober, November<br />
und Dezember horizontal so wie beim Monat Januar angeheftet:<br />
1-2-3 usw.<br />
Aber um nicht immer dasselbe zu machen, haben wir<br />
ein anderes Anheftsystem auf der Sperrholztafel eingeführt.<br />
Das hier ist der Monat Februar.<br />
1 8 15 22<br />
2 9 16 23<br />
3 10 17 24<br />
4 11 18 25<br />
5 12 19 26<br />
6 13 20 27<br />
7 14 21 28<br />
Bisher dominierte das ‚Januar-System‘ (als horizontale<br />
Präsentation). Man braucht immer etwas Dominierendes,<br />
denn man benötigt einen zuverlässigen Bezugspunkt.<br />
Wenn nämlich ein Gleichgewicht zwischen horizontaler<br />
und vertikaler Präsentation bestünde, gäbe es keinen Bezugspunkt<br />
mehr, sondern nur noch Verwirrung. Und deshalb<br />
blieb der Monat Januar dauernd angeheftet. (Es hätte<br />
ebensogut der Oktober oder Dezember sein kön nen.)<br />
Aber die Einführung des ‚Februar-Systems‘ eröffnet<br />
die Möglichkeit einer anderen Ausstellungsweise. Man tut<br />
gut daran diese Saat auszusäen, weil es die Kinder daran<br />
hindert, endgültig auf ein System festgelegt zu sein. Es<br />
ist sinnvoll, eine zweite Möglichkeit einzuführen, weil im<br />
Alltag beide Darstellungsformen unterschiedslos präsentiert<br />
werden und sich beide Sichtweisen ergänzen.<br />
Aber es gab auch andere Systeme. Hier diejenige, die<br />
Patrice für den Monat März wollte:<br />
Erste Feststellung:<br />
Man hätte bis zum April warten sollen, dann wäre es<br />
vollkommen symmetrisch gewesen.<br />
Zweite Feststellung:<br />
Links kann man die steigende (und fallende) arithmeti sche<br />
Folge zweiter Ordnung sehen:<br />
mit den Differenzen:<br />
Und rechts ist es das gleiche:<br />
mit den Differenzen:<br />
Außerdem steht da noch:<br />
Das kennen wir doch! Wir können sicher sein, dass die<br />
Kinder diese Folge der Quadratzahlen entdeckt hätten,<br />
wenn man diese Präsentation immer an der Tafel gelassen<br />
hätte.<br />
100 101
Für den April wollte Robin das Fünfer-Quadrat haben.<br />
Dennoch konnte man aber weder das Quadrat der 4 noch<br />
das der 3 bilden. Sondern nur das der 2 und das der 1:<br />
5 2 + 2 2 + 1 2 = 30<br />
Für den Monat Mai hat Pierrick gesagt:<br />
„Wir werden zuerst das Quadrat der 1 anheften, dann<br />
das Quadrat der 2, dann das der 3 und so weiter bis zur<br />
10.“ Aber wir haben gesehen, dass man gar nicht so weit<br />
kommt. Es ergab:<br />
1 2 + 2 2 + 3 2 + 4 2 + 1 2 = 31<br />
Auch hier wäre es im April besser gegangen:<br />
1 2 + 2 2 + 3 2 + 4 2 = 30<br />
Das wäre klarer gewesen.<br />
Im Juni gab es folgendes:<br />
Beim Erforschen dieser Struktur haben wir entdeckt, dass<br />
eine Teilsummenfolge ist:<br />
usw. (24)<br />
Pierrick untersuchte gründlich folgenden Kalender:<br />
Dann sagte er:<br />
„Das ist es! Ich habe etwas entdeckt. 8 ist eine ganze<br />
Reihe und 1 dazu.”<br />
Patrice fuhr fort:<br />
„15, das sind 2 Reihen von der 7 plus 1<br />
22, das sind 3 Reihen von der 7 plus 1<br />
29, das sind 4 Reihen von der 7 plus 1“<br />
Und ich frage dann: „Und 1?“ Die Antwort lässt nicht auf<br />
sich warten:<br />
„Das sind 0 Reihen von der 7 plus 1“<br />
Wir nehmen jetzt die Cuisenaire-Stäbe und messen mit<br />
dem schwarzen Siebener-Stab 8, 15, 22, 29 ab. Und jedes<br />
Mal sehen wir, dass ein kleines weißes Stück übrig bleibt.<br />
(24) In der Zahlentheorie als Dreieckszahlen bekannt.<br />
102 103
Es ist also die Familie ‘Rest 1, wenn man in siebener<br />
Schritten abmisst. Oder auch, um einen ‚modernen‘<br />
Ausdruck zu gebrauchen, die Restklasse 1 (mod 7), gesprochen:<br />
‚Restklasse 1 modulo 7‘. Oder man kann auch<br />
sagen:<br />
Das ist die Klasse ‘Rest 1’ oder ‘Klasse r 1 ’.<br />
2-9-16-23 sind dann entsprechend aus der Restklasse 2<br />
(mod 7) oder aus r 2 (mod 7).<br />
Wie man sieht, sind das alles Dinge aus dem täglichen<br />
Leben. Es genügt die Augen zu öffnen, um sie zu sehen.<br />
Ein Kennzeichen der <strong>Freinet</strong>-Pädagogik ist, dass man<br />
alles, was man im Mathmatikunterricht braucht, draußen<br />
im Leben findet.<br />
Wenn Sie zum Beispiel zur Post gehen und daran vorbeigehen<br />
ohne sie zu beachten, weil Sie zerstreut sind,<br />
dann müssen Sie den Weg wieder zurückgehen, um Ihren<br />
Brief in den Briefkasten zu werfen. Sie befinden sich dann<br />
mitten in der Addition von Vektoren.<br />
Aber dadurch, dass die Woche als eine Einheit im Kalender<br />
stark herausgestellt wurde, kommen wir von ganz<br />
allein zur Basis 7. (25) Daraus ergeben sich:<br />
Die nicht- dezimalen Zahlensysteme<br />
Man kann sie über den Kalender angehen, weil er<br />
Teil unseres Lebens ist. Aber es gibt andere Dinge, die<br />
eben falls interessant sind, zum Beispiel das Fischen von<br />
Seeohren.<br />
Die nicht dezimalen Zahlensysteme sind leicht. Es ist<br />
(25) Wir wissen, dass das Wort ‘semaine’ (Woche; altfranzösisch:<br />
sepmaine, italienisch: settimana) aus dem Kirchenlatein kommt: septimana<br />
- weibliche Form von septimanus: zur Sieben gehörig.<br />
sogar kinderleicht, weil die Kinder sie sehr gut lernen.<br />
Besser als die Erwachsenen, die so sehr auf das Dezimalsystem<br />
konditioniert sind, dass sie den Kopf verlieren,<br />
wenn sie aus ihrem Käfig herauskommen sollen. Man<br />
kann ohne Gefahr mit diesen Systemen spielen, weil man<br />
einen verlässlichen Bezugspunkt durch das Leben besitzt:<br />
das Dezimalsystem. Es löst sich nicht plötzlich auf. Es<br />
ist gut, wenn die Kinder sich in allen Zahlensystemen zu<br />
Hause fühlen. Das ist leicht, wenn man vom Leben ausgeht.<br />
Müssen sich übrigens nicht auch die kleinen Engländerinnen,<br />
die Kanadier und die Amerikaner in ihrem<br />
Leben damit befassen? Aber in Frankreich ist es besonders<br />
leicht, wenn man vom Fischen nach Seeohren oder<br />
nach Austern zurückkommt.<br />
Man breitet das Gepflückte auf dem Tisch aus. Man hat<br />
zum Beispiel 36 Seeohren. Man macht lauter Dutzende<br />
daraus. Und das ergibt:<br />
Man hatte drei Zehner und 6 einzelne Seeohren und<br />
macht daraus 3 Dutzend und Null. Man kann an die Tafel<br />
schreiben:<br />
Folglich schreibt man 36 als 30 im Zahlsystem mit der<br />
Basis 12. (26)<br />
(26) Das ist eine Schreibweise, die ich erfunden habe. Ich glaube, man<br />
müsste eigentlich 3012 schreiben, womit 30 im 12er System gemeint ist.<br />
104 105
Wenn man 65 Minuten hat, dann gibt das:<br />
oder<br />
Also schreibt man 65:<br />
Kommen wir auf den Kalender zurück:<br />
Wenn der Monat 4 Wochen und 3 Tage hat, kann man<br />
schreiben:<br />
Im Dezimalsystem schreibt man vereinbarungsgemäß<br />
ohne Angabe der Basis, also 31 und nicht:<br />
Und der Kalender, der vertikal geordnet ist, ist noch bes ser<br />
lesbar für das Siebenersystem, weil die Wochen und die<br />
Einzeltage genau ihrem Platz haben.<br />
Das macht:<br />
Das sind:<br />
Diese Feststellung ist sehr interessant, weil die Kinder,<br />
die eine Hundertertafel in vertikaler Anordnung erfin den,<br />
besser verstehen, warum dann da steht:<br />
106 107
Und das erlaubt ihnen, die Hundertertafel in horizontaler<br />
Anordnung noch besser zu verstehen. Man muss das Zahlensystem<br />
der 10 entmystifizieren und darf nicht glauben,<br />
dass es vom Himmel gefallen oder gar ein Geheimnis sei.<br />
Übrigens kann man in den Zahlensystemen reichlich herumprobieren<br />
lassen; denn handelt es sich dabei nicht um<br />
die Division?<br />
„Nein, die Division für die Wochen, die geht so“: (27)<br />
„Ja, gewiss, aber wir haben gesehen, dass es auch so geht:<br />
Und auch dieses:<br />
ist die Division.“<br />
(27) Die französischen Abkürzungen haben folgende Bedeutung: D :<br />
Dividend, d : Divisor, q : Quotient, r : Rest (Anm. d. Übers.)<br />
Dann beruht also das Dezimalsystem auf der Division?<br />
Aber ja! Und es ist sogar, scheint mir, die Division einer<br />
Zahl durch die Potenzen von 10:<br />
Natürlich kommt man schnell zur Stellenwerttafel mit 3<br />
Spalten, mit 4 Spalten usw.<br />
Das ergibt: und<br />
Erklärung:<br />
Das Probieren ist sehr interessant. Man muss dabei<br />
viel dividieren, und der ‘Rest’ erhält dabei einen neuen<br />
Stellenwert.<br />
Ich will das hier nicht weiter vertiefen; nur noch zwei<br />
kurze Anmerkungen:<br />
1. Für uns ist es ganz klar, dass 1969 so aussieht:<br />
2. Die Kanadier benutzen in ihrem Alltag das duale<br />
System:<br />
108 109
Zahlenfelder<br />
Die Arbeit mit den Zahlenfeldern war eine Offenbarung<br />
für mich. Nie hätte ich so etwas gedacht! Sie beweist,<br />
dass Kinder ein beachtliches Defizit an Lernzuwachs<br />
haben, wenn der Lehrer sich darauf beschränkt das anzubieten,<br />
was er weiß, und der Gruppe nur erlaubt, sich<br />
aus schließlich auf den ausgetretenen Pfaden zu bewegen,<br />
die er kennt. Man zieht also großen Nutzen daraus, wenn<br />
man der kindlichen Kreativität vertraut, die glücklicherweise<br />
über die des Lehrers und dessen enge Grenzen hinausgeht.<br />
Eines Tages erhalten wir von Serge aus Buzet (9 Jahre) ein<br />
Erfinder-Heftchen über Rechtecke. Die Kinder haben sich<br />
diese Idee sofort zu Eigen gemacht und angefangen mit<br />
Rechenkaros zu experimentieren. Und als Jacques plötzlich<br />
Zahlen hineinschreibt, beginnt das vielschichtige und<br />
originelle Abenteuer mit den Zahlenfeldern.<br />
Wir haben diese Erfindung von Jacques untersucht und<br />
haben herausgefunden, dass es die Spalte der ungeraden<br />
und die Spalte der geraden Zahlen gab. (Das Auspro bieren<br />
mit geraden und ungeraden Zahlen gefällt den Kindern<br />
sehr.)<br />
Das hier hat Robin gemacht: Er hat die hundert ersten Zahlen<br />
aufgeschrieben, als ob er eine Hundertertafel anfertigen<br />
wollte, und er hat alle Felder mit geraden Zahlen rot angemalt.<br />
Und das ergibt lauter weiße und rote Streifen.<br />
Vollkommen zufrieden mit seinem Erfolg fängt Robin<br />
noch einmal an.<br />
Aber dieses Mal sind es 36 Felder.<br />
Man sieht, es ist einfach, die Anordnung nach geraden<br />
und ungeraden Zahlen ergibt ein Streifenmuster.<br />
Christian ist von der Schönheit der Erfindung von Robin<br />
angezogen und springt auf den Zug, der von Jacques ins<br />
Rollen gebracht worden ist. Und was entdeckt man plötzlich?<br />
Die Struktur des Schachbretts.<br />
110 111
Wie ist das möglich?<br />
Also, bei dem Quadrat ‘10 mal 10’ und dem Quadrat ‘6<br />
mal 6’ sind die geraden Zahlen in Streifen angeordnet.<br />
Hier ist das anders. Eine offene Frage steht im Raum, aber<br />
noch weiß keiner eine Antwort; wenigstens nicht sofort:<br />
„Warum ist das so?“ Der Lehrer schweigt.<br />
Dann hat Robin dieses erfunden:<br />
Beim Betrachten dieser Erfindung entdeckt man, dass es<br />
mit einem weißen Feld beginnt und mit einem roten aufhört,<br />
weil die Paare (weiß-rot) genau aufgehen. Und überhaupt:<br />
Die Paare, die kennt man schon, weil man ja schon<br />
mal die Cuisenaire-Stäbe in den Fingern hatte.<br />
oder 3 ( b + r ) = 3 ( r + b )<br />
[b: blanc (weiß), r: rouge (rot) ]<br />
Welch außergewöhnlicher Zufall! Hier haben wir weitere<br />
„weiß-rote“ Paare, die sich am 15. Februar mit den<br />
Paaren verknüpfen, die wir am 15. Oktober entdeckt<br />
hatten.<br />
Wir haben bemerkt, dass es für das ‚7 mal 7‘ Quadrat<br />
von Christian drei vollständige Paare gibt und dass eines<br />
übrig bleibt. Das vierte Paar ist in zwei Teile aufgeteilt,<br />
während für 6 und 10 die Paare ganz bleiben. Und nun?<br />
Also, wenn die obere Reihe eine gerade Anzahl von<br />
Kästchen enthält, dann erhält man Streifen, und wenn es<br />
eine ungerade Anzahl ist, hat man ein Schachbrett, weil<br />
derjenige, der allein übrig bleibt, die ganze nächste Reihe<br />
durcheinander bringt.<br />
Aber in Christians Konstruktion steckte noch mehr.<br />
Und so haben Robin und Michel sofort losgeschrien:<br />
„Aber Herr (28) ..., die Erfindung von Christian ist das<br />
gleiche wie beim Kalender. Das ist genauso.“<br />
„Wie das?“<br />
„Weil es in der ersten Reihe des Kalenders auch 7 Blätter<br />
gibt.“<br />
„Ach ja, das ist richtig.“<br />
Und die Kinder entdecken, dass auch hier, wie beim<br />
Kalender, die 8 unter der 1 steht, weil es eine Reihe ‘plus<br />
V ist.<br />
(28) In Frankreich reden die Schüler ihre Lehrer lediglich mit ‚Monsieur‘<br />
und ihre Lehrerinnen mit ‚Madame‘ bzw. ‚Mademoiselle‘ an. (Anm. d.<br />
Übers.)<br />
112 113
Wir finden die Äquivalenzklassen wieder: 8-15-22 sind<br />
aus der gleichen Restklasse 1 (mod 7) bzw. repräsen tieren<br />
die Klasse r 1 (d.h., bei Division durch 7 bleibt der Rest 1).<br />
Man kann dazu schreiben: 1 = 8 = 15 = 22 (mod 7)<br />
Das bedeutet:<br />
1 ist äquivalent zu 8 ist äquivalent zu 15 ist äquivalent<br />
zu 22 unter (mod 7).<br />
Wir finden hier genau das wieder, was wir schon beim<br />
Kalender herausgefunden hatten.<br />
Man sieht, dass man sich nicht angespannt darum bemühen<br />
muss, dass die Kinder sich etwas einprägen, denn<br />
es ergeben sich immer wieder Verknüpfungen mit den<br />
alten Erkenntnissen, wenn man einfach weitergeht.<br />
Und ich prophezeie, dass man sich bald damit begnügen<br />
wird einfach weiterzugehen, ohne jemals zu versuchen,<br />
die Dinge in die Köpfe hineinzupressen. Am Ende einer<br />
solchen vier Grundschuljahre andauernden Erfahrung<br />
wäre die Ausbeute, mit der man in die 5. Klasse übergehen<br />
könnte, riesig. (Und warum fährt man nicht später in<br />
Sekundarstufe I und Sekundarstufe II mit dieser kontinuierlichen<br />
Reorganisation des erworbenen Wissen fort?)<br />
Hier ein Beispiel eines Zahlenfeldes.<br />
Die Klasse r1, dazu gehören 1-5-9-13 (Restklasse 1<br />
(mod 4)).<br />
Die Klasse r2 , dazu gehören 2-6-10-14<br />
(Restklasse 2 (mod 4)), die hat sich Fanfan ausgedacht.<br />
Die Klasse r3, dazu gehören 3-7-11-15, hat sich Patrice<br />
ausgedacht.<br />
Die Klasse r0 (von Robin), das ist 0-4-8-12-16.<br />
Die Kinder brauchen nicht lange, um ein Gesetz dieses<br />
Zahlenfeldes zu entdecken: Die Klasse r0 ist immer am<br />
Ende.<br />
Zum Beispiel: Für r6 gehören: 0-6-12-18-24-30-36 zur<br />
Restklasse Null (mod 6), weil die obere Reihe voll ständig<br />
ist und danach nichts mehr folgt.<br />
Analog hat man oben in dem ‘4 mal 4’- Quadrat eine<br />
Reihe von 4, das macht 4. Zwei Reihen, das macht 8 usw.<br />
Ich sage den Kindern, dass die Klasse r0 einen besonderen<br />
Namen hat, es ist die ‚Klasse der Vielfachen‘. Hier<br />
sind die Vielfachen der 4: 0-4-8-16 und hier sind die Vielfachen<br />
der 6 : 0-6-12-18.<br />
Jacques sagt dann:<br />
„Ich habe es verstanden, man fängt immer mit der Null<br />
an.“<br />
Nun folgt das große Abenteuer mit den Vielfachen, das<br />
auch denjenigen Lehrern, die großen Wert auf die Multiplikationstafeln<br />
legen (was bei mir nicht der Fall ist),<br />
Freude gemacht hätte.<br />
Bestimmte Kinder stoßen bis zu den Vielfachen von<br />
12, von 16, von 19 usw. vor, nichts kann sie aufhalten.<br />
Aufschlussreich ist die Tatsache, dass all dies von ihnen<br />
114 115
selbst kommt und dass sie mit rasendem Eifer arbeiten.<br />
Man sieht, wie wir von der Halbierung der Rechtecke<br />
von Serge zu den Zahlenfeldern, zu den geraden und ungeraden<br />
Zahlen sowie zu den Vielfachen gekommen sind.<br />
Aber jetzt kommen wir noch einmal zu unseren letz ten<br />
Entdeckungen zurück:<br />
„Halt, das ist doch das, was Jacques gemacht hat.“<br />
„Halt, 2-4-6-8 sind doch Vielfache von 2.“<br />
„Und 1 - 3 - 5 - 7 ?“<br />
„Das ist r1, die Klasse von Jacques, die Restklasse 1<br />
(mod 2).“<br />
Während der ganzen Zeit geht die Entwicklung wei ter.<br />
Bleiben wir bei den Zahlenfeldern stehen? Keine Angst,<br />
bald werden wir in ganz andere Bereiche vor stoßen. Aber<br />
fürs Erste malen die Kinder ihre Streifen waagerecht an<br />
und schreiben keine Zahlen mehr hinein.<br />
Jemand fragt:<br />
„Wie viele Quadrate sind das ?”<br />
„Sucht doch selbst!“<br />
„Nun gut! 12 Quadrate in der obersten Reihe. 5 Streifen,<br />
das macht 60.“<br />
„Ja, weil man 5 mal 12 gleich 60 (5 • 12 = 60) sagen<br />
kann.“<br />
So haben sie selbst, ohne dass irgend jemand sie gefragt<br />
hätte, die Formel Für die Berechnung der Fläche des<br />
Rechtecks gefunden.<br />
Am Anfang meiner Lehrertätigkeit machte ich eine<br />
einmalige Einführung in ein Thema. Anhand einer einfachen<br />
Demonstration, die in meinen Augen wirklich einleuchtend<br />
war, mussten die Kinder es verstanden haben.<br />
(Wer an diesem Tag nicht da war, hatte halt Pech gehabt.)<br />
Jetzt dagegen meine ich, dass sie es erst nach unzähligen<br />
Versuchen vollständig geistig verarbeitet und gelernt<br />
haben.<br />
Aber nun zu Patrice. Er macht ein Zahlenfeld, das über<br />
beide Seiten seines Mathematikheftes geht. Und die ses<br />
Mal verwendet er keine Farbe.<br />
Robin folgt ihm auf dem Fuße: Er füllt ein Blatt mit<br />
einem Zahlenfeld aus. Er rechnet: 20 Streifen ä 33, das<br />
macht 660 Karos.<br />
Ich kann es nicht fassen: 660 Karos auf einer einzigen<br />
Seite!<br />
Aber man muss sich von den Tatsachen überzeugen<br />
lassen.<br />
Natürlich kann ich 20 • 33 = 660 ausrechnen. Aber ich<br />
wusste nicht, was das in der Realität bedeuten konnte, weil<br />
ich nur im Abstrakten gearbeitet habe. Aber die Kinder,<br />
die wissen, was 20 mal 33 Karos bedeutet!<br />
Da wir das Rechenblatt jetzt ohne farbige Kennzeichnungen<br />
betrachten, können wir die Kommutativität der<br />
Multiplikation entdecken, indem wir auch die senkrechten<br />
Reihen anschauen.<br />
116 117
So gibt es einen Fortschritt in Richtung Abstraktion,<br />
weil wir auf die Hilfe der Farbe verzichten.<br />
Eines Tages werden wir das reine Rechteck in seiner<br />
ganzen Einfachheit erreichen. Es kann sein, dass die Formel<br />
‘A = a • b‘ so bereits während der Grundschul laufbahn<br />
des Kindes eingeführt wird. Aber das geschieht ohne jeden<br />
Schaden, weil es vorher ein doppeltes tasten des Versuchen<br />
gegeben hat: Versuche mit Symbolen und Versuche mit<br />
Rechtecken. Und dann kann das Gesetz vollständig akzeptiert<br />
und verinnerlicht werden.<br />
Ich habe geschummelt. Robin hat mir nicht 20 Reihen<br />
mit 33 gezeigt, sondern 19 Reihen mit 33. Ich hatte gedacht,<br />
dass das über seine Kräfte ginge, und ich habe ihm<br />
gesagt, er solle die Linien verlängern um eine zwan zigste<br />
Reihe zu haben. Dann konnte er rechnen: 10 • 33 und dann<br />
20 • 33.<br />
Aber jetzt finde ich in seinem Heft:<br />
Ich rufe aus:<br />
„Was? Du kennst diese Operation mit zweistelligen<br />
Zahlen?“<br />
Eigentlich haben wir sie nur einmal auf die Schnelle gesehen,<br />
als Patrice mich gefragt hat, wie man das macht.<br />
„Ja, ich hatte das verstanden und jetzt mache ich damit<br />
weiter.“<br />
Und dann hat er gesucht:<br />
Natürlich haben einige Mitschüler es sofort selbst versucht,<br />
so dass wir aufgehört haben, uns mit den Zahlenfeldern<br />
zu beschäftigen.<br />
Nun ist der Moment gekommen, die Rolle des Lehrers<br />
näher zu betrachten. Anstatt die Herde mit allen Kräften<br />
auf der Weide der Zahlenfelder festzuhalten, die doch so<br />
reich ist, lässt er sie gehen. Braucht man dazu ein Übermaß<br />
an Unbekümmertheit? Aber nein! Er weiß jetzt, dass<br />
sie darauf zurückkommen werden, wie wir auf die geraden<br />
und ungeraden Zahlen (im Zusammenhang mit der<br />
Restklasse (mod 2)) zurückgekommen sind.<br />
Mit der Arbeit von Serge aus Buzet haben wir begonnen<br />
und dann sind wir (ohne das zu wiederholen, was<br />
er gemacht hat) nacheinander auf das Schachbrett, die<br />
geraden und ungeraden Zahlen, die Äquivalenzklassen,<br />
die Viel fachen, die Moduln, die Paare, die Streifen, die<br />
Zahlen felder, die Fläche des Rechtecks gekommen, und<br />
jetzt sind wir bei der Multiplikation. (29)<br />
(29) „Das Wichtige“, sagt Machery, „ist, dass die Ordnung, die die<br />
Wissenschaft aufstellt, immer vorläufig ist. Sie muss immer weiter bearbeitet<br />
werden, indem man sie mit anderen Arten von Ordnungen konfrontiert.<br />
Dieses Fortschreiten von einer Ordnung zur anderen, das durch<br />
aufeinander folgende Abbruche gekennzeichnet wird, ist das, was den<br />
Prozess des Wissens definiert.“<br />
118 119
Ich möchte noch kurz erwähnen, dass wir auch die<br />
Gelegenheit hatten uns die Potenzen anzusehen, weil einige<br />
Kinder die Flächen mehrerer Quadrate ausrechneten.<br />
Ich sagte ihnen nebenbei, dass es Potenzen wie diejenigen<br />
seien, die wir am Anfang des Jahres kennengelernt<br />
hatten.<br />
Aber niemand hat sich dafür interessiert, niemand hat<br />
hierbei innegehalten. Ich habe nicht weiter nachgehakt,<br />
weil ich jetzt Vertrauen habe: Ich weiß, dass es auch in<br />
Zukunft Rückblenden geben wird.<br />
Sachprobleme<br />
Angesichts mancher Problemformulierungen (bei Sachaufgaben)<br />
empfinden zu viele Kinder oft unüberwindbare<br />
Schwierigkeiten. Es kommt natürlich daher, dass man notwendige<br />
Lernschritte überspringen wollte.<br />
Die Kinder müssen immer unvermittelt in die Formulierung<br />
und in den Gedanken einer anderen Person einsteigen,<br />
die übrigens immer ein Erwachsener ist. Man<br />
nimmt immer noch nicht die erste Stufe der natürlichen<br />
Methode zur Kenntnis, die <strong>heißt</strong>: Die eigene Praxis ist<br />
unabdingbar!<br />
Ebenso, wie man durch Symbolisieren zum Symbolisierenden<br />
wird und sich so in der Welt der Symbole wohl<br />
fühlt, wird man durch Berichten zum Bericht erstatter und<br />
dringt in die Beschreibung der Probleme der anderen ein.<br />
Aus diesem Grunde unterscheiden wir (bei Sachaufgaben)<br />
vier Bereiche von tastenden Versuchen:<br />
• die Informationen,<br />
• die Fragen, die man sich stellen kann,<br />
• das Lösungsverfahren, das man einsetzt, und<br />
• die Antworten, die man erhält.<br />
Man kann es auch anders sagen. Ein Bericht ohne<br />
Zahlen ist eine Geschichte. Mit Zahlen wird es eine verschlüsselte<br />
Geschichte. Aber das ist an sich noch kein Problem.<br />
Damit es ein Problem gibt, braucht man eine oder<br />
mehrere Fragen. Dann bleibt nur noch, sich das Mittel<br />
auszudenken, um die Antworten zu finden. Wenn man<br />
sich die Aussagen der Kinder anschaut, kann man vier<br />
Fehlerbereiche finden: unzureichende Information, unpassende<br />
Fragen, falsche Lösungsverfahren, nicht adä quate<br />
Antworten.<br />
Manche dieser Beschreibungen decken sehr gut die<br />
Persönlichkeit des einzelnen Kindes auf. Zum Beispiel<br />
die Geschichten von Patrick (2. Klasse, 7 1/2 Jahre). Seine<br />
Problembeschreibungen sind tastende Versuche, und er<br />
lacht als erster über ihre Unvollkommenheit. Die ganze<br />
Klasse lacht mit, und eine gelöste Stimmung breitet sich<br />
aus. Aber das ist nicht der einzige Erfolg von Patricks<br />
Beschreibungen.<br />
Doch schenkt uns nicht jede Blume Honig? Diese Arbeit<br />
ist besonders dann ergiebig, wenn man von den eigenen<br />
Erfahrungen und Erlebnissen ausgeht. Wenn Patrick<br />
mathematische Probleme beschreibt, dann müs sen auch<br />
wir von ihnen ausgehen, damit er Fortschritte machen<br />
kann. Also müssen wir seine Erfindungen und seine Gedanken<br />
bearbeiten.<br />
„Ich habe ein Glas, ich zerbreche es, ich muss ein anderes<br />
kau fen.“<br />
Wir diskutieren und wir schreiben: 1 - 1 + 1 = ?<br />
Um die Antwort zu finden, reicht die Wahrnehmung<br />
120 121
aus, dass hier durch eine Bündelung (1-1) eine Null<br />
entsteht.<br />
Antwort: (1 - 1) + 1 = 1.<br />
„Ich habe eine Dose mit einem Loch. Ich fülle Wasser hinein.<br />
Das Wasser kommt durch das Loch heraus.“<br />
Unzulängliche Information: „Aber wie viel Wasser<br />
tust<br />
du hinein?”<br />
„1 Liter.“<br />
„Ja gut. Also das macht: 1-1=0 oder 0 + 1 - 1 = 0<br />
Dies träfe ebenso auf eine viel höhere Anzahl von<br />
Litern zu.”<br />
„Ich habe einen Hund. Ich verkaufe ihn. Es bleibt nichts<br />
übrig.“<br />
1-1 = 0<br />
„Ich habe eine Katze. Sie frisst Mäuse.“<br />
Unzureichende Informationen: Wir können auch nicht<br />
mehr herausbekommen, weil er darüber nicht mehr weiß.<br />
Dass sich die Problemsituationen von Patrick auf<br />
so kleine Zahlen beziehen, ist nicht weiter wichtig. Das<br />
Wichtige ist vielmehr, dass auf diese Weise der Begriff der<br />
gebenüber-liegenden (negativen) und der neutralen Zahl in<br />
der Addition und Subtraktion angesprochen und letztlich<br />
verstanden wird. Aber nein, das ist nicht das Wesentliche!<br />
Das Allerwichtigste ist, dass Patrick so viel Spaß daran<br />
hat, seine Beschreibungen vorzustellen. Sein größter Erfolg<br />
und die Quelle seiner Freude ist es, wenn er seine Mitschüler<br />
dazu bringt, Tränen zu lachen. So sorgt er für ihre<br />
geistige Gesundheit.<br />
Den Clown braucht er nicht zu spielen. Er ist ein Clown.<br />
Er hat wenig Sinn für Realität und versteht nicht viel von<br />
dem, was in den Mathematikstunden abläuft. Eigentlich ist<br />
er ein sehr gestörtes Kind. Er ist Links händer und schrieb<br />
zunächst sogar in Spiegelschrift (30) . Die Beziehung zu seiner<br />
Mutter ist sehr schwierig: Sie kann sich nicht bei ihm<br />
durchsetzen, da er andauernd nur höhnisch lachend davonläuft,<br />
wenn sie etwas von ihm will. Auch mir macht er<br />
Kummer, weil er nichts lernt. Und so setze ich ihn an die<br />
Rechenkartei, mit der er eini ge kleine Fortschritte machen<br />
kann. Aber er möchte gerne an den Besprechungen teilnehmen,<br />
die seinen Freunden so gut gefallen. Und damit er<br />
das darf, erledigt er seine Mindestzahl an Karteikarten.<br />
Wird er so aus seiner extremen Konfusion herauskommen?<br />
Ich bin sicher und habe auch schon erste Fort schritte<br />
beobachten können.<br />
Zunächst bildet sich ein solides Fundament, das zwar<br />
nur aus wenigen Elementen besteht, aber fest im Boden<br />
verankert ist. Sobald er diesen Boden unter seinen Füßen<br />
spürt, kann er auf Entdeckungsreisen gehen. Außerdem<br />
ist er ja nicht allein. Seine Mitschüler stehen auf ganz<br />
unterschiedlichem Leistungsniveau. Einige sind höchstens<br />
einen Schritt weiter als er. Sie werden vielleicht<br />
sei ne Aufgabe mit dem kaputten Glas aufgreifen und die<br />
(30) Nebenbei möchte ich darauf hinweisen, dass ich von Patrick in dem<br />
Buch ‚La Méthode Naturelle, III. Aprentissage de l’E’criture’ (<strong>Freinet</strong><br />
1968) gesprochen habe.<br />
Er, ein totaler Linkshänder, schaffte es, mit der rechten Hand zu schreiben,<br />
und das nur, weil das erste Auto seines Vaters den Schaltknüppel auf<br />
der rechten Seite hatte. Er träumte davon, eines Tages damit zu fahren,<br />
und wollte deshalb schon jetzt damit anfangen seine rechte Hand zu<br />
trainieren. Offensichtlich hatte er zusätzliche Energien und eine besondere<br />
Willensstärke. Wie konn te diese zu seinem Vorteil auf das Lernen<br />
umgelenkt werden?<br />
122 123
Fragestellung auf viele Gläser erweitern. Dann macht er<br />
sich vielleicht ihre Fragen zu eigen und kann seine ausgefahrenen<br />
Wege verlassen.<br />
Darüber sollte man nachdenken, da es vielen Kindern<br />
ähnlich geht. Wie viele Kinder (gerade in großen Klassen)<br />
haben keinen Boden mehr unter den Füßen und werden<br />
permanent mit Beschreibungen traktiert, mit denen sie<br />
nichts anfangen können, weil sie niemals einen eigenen<br />
Schritt auf dieses unbekannte Gebiet hatten wagen können?<br />
Wenn es um die Formulierung von Problemen bei<br />
Sachaufgaben geht, muss man immer wieder probieren.<br />
Hier zwei Beispiele für unvollständige Formulierungen:<br />
„Ich will von Tregastel und nach he Havre gehen. Und<br />
von Paris. Wie viel?“<br />
„Ich habe einen Garten von 60 m Länge.“<br />
Aber die meisten Überraschungen gibt es bei den<br />
Lösungsversuchen.<br />
Hier ein freier mathematischer Text von Patricia, den<br />
mir jemand gezeigt hat:<br />
„Wir müssten eigentlich 26 sein, weil Christelle weg ist.<br />
Aber mit den vier Neuen sind wir 21.<br />
26 + 25 + 21 = 72“<br />
Man könnte sagen, dass das kein Problem ist, weil<br />
dabei keine Frage auftaucht. Es handelt sich hier eher um<br />
eine Aufzählung. Aber was einen wirklich vor Probleme<br />
stellt, das ist die Rechenoperation.<br />
So etwas passiert oft mit Kindern, die die Maske des<br />
Schülers aufsetzen und versuchen, das (gekünstelte) Spiel<br />
‚Schule‘ zu spielen, indem sie mit Zahlen operieren. Sie<br />
tun genau das, was Schule von ihnen fordert. Wirklich?<br />
Nein, sie reproduzieren das, was sie bei den ersten mathematischen<br />
Problemstellungen erfahren haben. Der Mathematikunterricht<br />
ist so aufgebaut, dass man in Stufen voranschreiten<br />
und vom Einfachen zum Komplizierten gehen<br />
muss. Deshalb bekommen die Kinder zuerst Aufgaben,<br />
die nur eine einzige Addition erfordern. Und was macht<br />
es schon, wenn es ein fiktives Problem ist? Schließlich<br />
genügt es doch, die Zahlen, die in der Sachbeschreibung<br />
enthalten sind, einfach zu addie ren, um das richtige Ergebnis<br />
zu erhalten. Wie sollen die Kinder erkennen, dass<br />
das nicht immer so weiter funktio nieren kann?<br />
Glücklicherweise hat uns Célestin <strong>Freinet</strong> darauf aufmerksam<br />
gemacht, dass man in die Komplexität eintauchen<br />
muss, um die Komplexität zu beherrschen. Man kann<br />
nämlich nicht sofort schwimmen, wenn man gelernt hat,<br />
die Schwimmbewegung im Trockenen auf einem Hocker<br />
zu machen. Aber wie kann man den Kindern hel fen, aus<br />
diesem schematischen Funktionieren herauszu kommen?<br />
Anscheinend baut sich Patricia kein eigenes geistiges<br />
Abbild der beschriebenen Situation auf, die es ihr ermöglichen<br />
würde, diese zu begreifen. Sie beschränkt sich darauf,<br />
in ihrem Kopf die verschwundene Christelle, die vier<br />
Neuen sowie die Mitschüler, die bereits im vorhergehenden<br />
Schuljahr in der Klasse waren, zu sehen. Die von ihr<br />
nicht verarbeitete Realität benutzt sie, um eine erstaunliche<br />
Theorie auszuarbeiten:<br />
21 + 25 + 26 = 72<br />
Wie hätte ich persönlich in einer solchen Situation reagiert?<br />
Ich bin überzeugt, dass das von den Umständen und<br />
von meiner Eingebung abhinge. Ich wäre von der momentanen<br />
Situation ausgegangen, das <strong>heißt</strong> von dem, was sich<br />
124 125
aus den Reaktionen der Gruppe entwickelt hät te. Wenn<br />
ich zum Beispiel gemeint hätte, es wäre Zeit, die Realität<br />
genauer ins Auge zu fassen, dann hätte ich mich damit<br />
auf Bachelards Aussage gestützt, dass die Realität nur zur<br />
Überprüfung unserer Entwürfe diene.<br />
Ich hätte dann zweifellos, ohne mit der Wimper zu zucken,<br />
gesagt:<br />
„Gut, es gibt 72 Schüler in dieser Klasse.“<br />
Wahrscheinlich hätten die Schüler, die gewohnt waren,<br />
die Worte ihres provozierenden Lehrers nicht für bare<br />
Münze zu nehmen, so reagiert:<br />
„Aber nein, das stimmt nicht, wir sind nicht 72 Kinder<br />
in der Klasse.“<br />
„Trotzdem, 21 + 25 + 26, das macht 72.“<br />
„Ja.“<br />
„Was nun?“<br />
Und ich hätte sie in ihrem Saft schmoren lassen. Denn<br />
eine Erklärung wäre unnütz oder zumindest verfrüht gewesen.<br />
Sie selbst mussten entdecken, dass die Zahlen 21,<br />
25 und 26 zwar der Realität entsprachen, dass aber die<br />
Operation nicht zutreffend war.<br />
Auf jeden Fall hätte ich die Autorin gegenüber jedem<br />
herabsetzenden Urteil in Schutz genommen.<br />
„Es ist nicht nur ein freier Text, den Patricia gemacht<br />
hat, sondern es sind zwei. Im zweiten hat sie einfach spaßeshalber<br />
eine Operation mit den Zahlen 21, 25 und 26<br />
gemacht. Sie ist frei, das zu schreiben, was sie mag.“<br />
In einem anderen Fall hätte ich es vielleicht für notwendig<br />
erachtet, erneut an der Veranschaulichung zu<br />
arbeiten:<br />
„Halt, dein Text interessiert mich! Lies ihn mir noch<br />
einmal vor, Patricia, wenn du willst.“<br />
„Gut, ihr wart 26:<br />
Und dann ist Christelle weggegangen:<br />
In eurer Klasse gibt es vier Neue.”<br />
So mache ich es, wenn ich klarer sehen will. Aber<br />
manchmal gehe ich auch anders vor:<br />
126 127
Ihr wart<br />
Natürlich wäre dann mein Beitrag nur gering und sehr<br />
knapp gewesen. Aber vielleicht hätte sich ein Teil davon in<br />
irgendeiner Gehirnecke eingenistet. Und wenn nicht, dann<br />
ist es auch okay! Ich hätte eben daneben getroffen. Und<br />
das nicht das erste Mal.<br />
Aber ich hätte eine Rolle gespielt, die es den Kindern<br />
erlaubt, sich gegenseitig etwas beizubringen; denn Belehrungen<br />
aktivieren unseren Verstand nicht. Erst, wenn man<br />
etwas selbst erklären kann, dann hat man es verstan den.<br />
Rechnen mit Unbekannten<br />
Das hätte ich nicht erwartet: Jacques hat mit seinen Additionen<br />
das Rechnen mit Unbekannten eingeführt. Diese<br />
einfache Veränderung hat uns neue Perspektiven eröffnet.<br />
(31)<br />
(31) Das ist immer so: Es ist immer ein kleiner Blick über den Zaun, der es<br />
erlaubt aus der Welt herauszutreten, in der man lebte, und eine neue Welt<br />
zu betreten. Und in einer erfinderischen Klasse gibt es viele Gelegenheiten<br />
zu solchen Blicken, entweder bei einem Fehler oder bei einer Übertragung<br />
oder wenn jemand zwei Dinge zusammenfügt, die man noch nicht<br />
zusammen gesehen hat. So ist sichergestellt, dass man sich niemals im<br />
Kreise dreht: man kriegt immer irgendwie die Kurve.<br />
Hier ist es:<br />
In der vorderen Spalte steht: h + h = 9 . Da es keine<br />
Ziffer für 4 1/2 gibt, muss es vorher einen Übertrag geben.<br />
Dann müsste es heißen: 1 + 6 + x = 18 .<br />
In diesem Fall müsste x = 11 sein. Das geht aber nicht,<br />
denn x kann höchstens 9 sein.<br />
Damit die Gleichung lösbar wird, muss die 6 durch<br />
eine 8 ersetzt werden.<br />
Hier noch etwas anderes:<br />
Das geht nicht, weil man bei i + i einen Übertrag benötigt,<br />
damit es 9 werden können. Und da h + h = 2 ist, ist<br />
dieses nicht möglich.<br />
„Aber nein“, sagt Robin (der Autor), „h ist 6.“<br />
„Ja gut. Also ist i gleich 4. Aber h + h, also 6 + 6, das<br />
ergibt nicht 25.“<br />
Aber der Autor lässt sich durch diese Unzuläng lichkeit<br />
nicht aus der Ruhe bringen.<br />
„Aber nein, i ist gleich 9, und für h + h gibt es einen<br />
Übertrag.“<br />
Doch bei 1 + h + h = 25 muss Robin sich geschlagen<br />
geben. Aber Robin konnte der Kritik gleich zweimal etwas<br />
entgegenstellen (wie oben Tiziano, der auch zweimal der<br />
Kritik ausweichen konnte). Solche Diskussionen, die den<br />
Dingen auf den Grund gehen, schärfen die Intelligenz und<br />
ermöglichen es, die Operationen gut zu verstehen.<br />
128 129
Die Kinder lieben das Rechnen mit Unbekannten, weil<br />
es immer zu Überraschungen führt. Hier noch eine:<br />
Ausklammern eines gemeinsamen Faktors<br />
In jenem Jahr war ich sehr aufgeschlossen und bereit,<br />
jede Struktur, die vorgestellt wurde, besonders hervorzuheben.<br />
Aber trotz aller Offenheit hatte ich nicht damit gerechnet,<br />
das Bestimmen eines gemeinsamen Teilers zu<br />
behandeln. Doch eines Morgens schrieb Michel Robin:<br />
Das bedeutet: 10 orange (Cuisenaire-) Stäbe .+ 10 blaue<br />
Stäbe + 10 braune (marron) Stäbe. Das <strong>heißt</strong> also:<br />
zehn Zehner + zehn Neuner + zehn Achter.<br />
(Ein oranger Stab hat den Wert 10, ein blauer den Wert<br />
9 und ein brauner den Wert 8.)<br />
Vorausahnend, dass dieses interessant werden könnte,<br />
habe ich die 2. Klasse aufgefordert, sich um Michel aufzustellen,<br />
der die Cuisenaire-Stäbe nach den Farben sortiert<br />
getrennt gelegt hatte.<br />
Uns sind zwei Möglichkeiten deutlich geworden, wie<br />
man die Situation darstellen könnte.<br />
Pierrick gab den Anstoß:<br />
„Warum können wir sie nicht einander berühren lassen?“<br />
„Gut, macht es!“<br />
Nun konnte man (wie vorher) sagen: 10 o + 10 b + 10 m,<br />
aber auch 10 ‘Drillinge’ (32) (o + b + m).<br />
Voll Begeisterung habe ich gerufen:<br />
„Aber das ist doch das Ausklammern eines gemeinsamen<br />
Faktors (frz: ‚facteur commun‘).“<br />
Aber die Kinder haben nur gelacht:<br />
„‘Le facteur’ (dtsch: ‘Briefträger‘) ist doch Herr Prigent.“<br />
„Nein, Roger Le Goff ist ‚le facteur‘.“<br />
Da kam mir eine gute Idee:<br />
„Wer ist euer Briefträger?“<br />
Und wir haben herausgefunden, dass Roger der<br />
(32) zum Thema ‘Drillinge’ vgl. folgendes Kapitel<br />
130 131
gemeinsame Briefträger von Patrice, Pierrick, Michel, Patrick<br />
und Christian ist.<br />
Und Herr Prigent ist der gemeinsame Briefträger von<br />
Remi, Jacques, Pascal, Jean-François und Robin.<br />
Wir haben es so aufgeschrieben:<br />
Roger {Patrice + Pierrick + Michel + Patrick + Christian)<br />
und Herr Prigent (Remi + Jacques + Pascal + Jean-<br />
Frangois + Robin).<br />
Und wir haben es so gelesen: ‘facteur de’ (im Dt. entweder<br />
‘Briefträger von‘ oder ‚Faktor von‘).<br />
Und für 10 o + 10 b + 10 m ist der gemeinsame ‚facteur‘<br />
die Zahl 10. Und das schreibt man 10 (o + b + m).<br />
So haben wir, ausgehend von Robins Erfindung, einen<br />
ziemlich schwierigen mathematischen Begriff erarbeitet.<br />
Entscheidend war dabei, dass wir unsere Aufmerksamkeit<br />
sowohl auf die Cuisenaire-Stäbe als auch auf das Umfeld<br />
der Kinder gerichtet haben.<br />
In jenem Jahr habe ich gelernt, die Erfindungen der<br />
Kinder zu achten. Nichts ist wirklich umsonst und oft mals<br />
habe ich feststellen können, dass kleine Verrückt heiten in<br />
eine großartige Einsicht einmünden. Es gibt kei ne Dinge,<br />
die x-beliebig sind, sondern alles hat einen Sinn.<br />
(Ich betone das, weil diese Einstellung eher unüblich<br />
ist. Pardon, natürlich gilt das nicht für die ‚Ecole moder ne‘<br />
(33) was die Bereiche Französisch, Musik und Kunst anbelangt.<br />
Aber im Mathematikunterricht ist diese Ein stellung<br />
auch hier bisher nicht üblich.)<br />
Doch müsste man dann nicht befürchten, derjenige zu<br />
sein, der nicht sehen kann, dass es in allen Erfindungen<br />
der Kinder, auch den scheinbar verrücktesten, etwas Tieferes<br />
zu entdecken gibt?<br />
(33) ‘ficole moderne’ <strong>heißt</strong> die <strong>Freinet</strong>-Bewegung in Frankreich<br />
Was mich betrifft, so habe ich meine Wahl getroffen.<br />
Ob sie richtig war? Ich bin so vermessen es anzunehmen.<br />
Ich bilde mir sogar ein, dass man dem tastenden Versuchen<br />
auch auf der gedanklichen Ebene den Vorrang geben<br />
muss.<br />
Bachelard hat geschrieben: „Die Wirklichkeit ist dazu<br />
da, uns zum Denken zu bewegen.“ (Bachelard 1970) Demnach<br />
wäre die Wirklichkeit nicht das Wichtige; vielmehr<br />
geht es um das Denken. Man kann dabei genauso gut von<br />
einer Träumerei, von einer Erfindung eines Kindes, von<br />
einem Witz, von einer Zeichnung, von einem Irrtum, von<br />
einer realen oder künstlichen geometrischen Konstruktion<br />
ausgehen wie vom Leben. Das Wichtige ist, dass man<br />
denkt.<br />
An was hat Robin gedacht, als er 10 o + 10 b + 10 m geschrieben<br />
hat? Vielleicht assoziierte er mit seiner Men ge<br />
eine persönliche Erfahrung? Oder er erfasste zumin dest<br />
ein Glied der Kette. Es kommt nicht darauf an, was es<br />
wirklich war; denn die Klasse ermöglichte es ihm, sei nen<br />
Gedanken einen Schritt weiter zu entwickeln.<br />
Weil ich hier das Erarbeiten eines Begriffs untersuche,<br />
möchte ich betonen, dass ich, als Lehrer, keinen festen<br />
Plan hatte. Ich wusste überhaupt nicht, wo wir ankommen<br />
würden. In diesem Fall habe ich durch meinen spontanen<br />
Gedanken dazu beigetragen, dem Begriff näher zu<br />
kommen.<br />
Dies konnte ich tun, weil mir das Ausklammern geläufig<br />
war. Aber es gibt sicher vieles, was ich übersehe, weil<br />
ich nicht gut genug Bescheid weiß.<br />
Doch das ist kein Drama. Wenn man mit gleichgesinnten<br />
Kollegen zusammenarbeitet, lernt man schnell dazu.<br />
Vor allem dann, wenn man entdeckt, dass bei Kindern<br />
bestimmte Dinge regelmäßig in ähnlicher Form wieder<br />
132 133
auftauchen. Und man lernt sehr schnell die Haltung einzunehmen,<br />
die für alle bereichernd, die hier angemessen<br />
ist, nämlich: sich in die Gruppe zu integrieren, sich auf<br />
eine Ebene mit seinen Schülern zu stellen und der Freund<br />
zu sein, der ein wenig mehr weiß. Und nicht mehr der<br />
Lehrer, der mit seiner ganzen Weisheit hundert Meilen<br />
von seinen Schülern entfernt, völlig allein denkt. Dazu<br />
muss man aber immer und immer wieder nach passenden<br />
Informationen für die Gruppe suchen, damit sich ihr Forschungsgebiet<br />
ausweiten kann.<br />
Ich möchte ein letztes Wort über das Wortspiel ‚facteur<br />
de PTT (Briefträger‘) und ‚facteur de‘ (‚Faktor von‘) sagen.<br />
Wir haben darüber gelacht; das <strong>heißt</strong>, wir haben damit ein<br />
Gefühl verbunden, und dieser emotionale Bezug hilft uns<br />
dabei, uns besser an die Begriffe zu erin nern.<br />
Wenn ich auf die drei Jahre Erfahrung zurückblicke,<br />
wird mir bewusst, dass die Beziehung zwischen Emotionen<br />
und gelernten Begriffen um so fassbarer wurde, je<br />
mehr wir der Phantasie, dem Unerwarteten, dem Ungewöhnlichen<br />
den nötigen Raum gaben. Sie setzte sich in<br />
der Vergangenheit gleichsam wie auf einem Inselchen<br />
fest, zu dem man leicht wieder zurückkehren kann. Alles<br />
ist erlaubt, gültig, vernünftig, was ein affektives Begreifen<br />
ermöglicht. Solange Fröhlichkeit die Basis ist, findet man<br />
die Brücke mit viel mehr Freude wieder. So wird man von<br />
dieser glücklichen Erinnerung vorangetrieben. Jedenfalls<br />
muss man als Lehrer dafür sorgen, dass die unterschiedlichsten<br />
Assoziationen, affektive, räumliche, situative,<br />
poetische, künstlerische, musikalische usw., entstehen<br />
können.<br />
Meiner Meinung nach besteht die Aufgabe in der 2.<br />
Klasse nicht darin, die Schüler dazu zu bringen, sich endgültiges<br />
Wissen anzueignen, sondern ihnen zu helfen,<br />
verschiedenartige und solide Brückenköpfe für selbständige<br />
geistige Eroberungszüge zu errichten.<br />
Beispiele mit 8-9 Jahre alten Schülern<br />
Drillinge<br />
Hier jetzt einige Arbeiten aus der 3. Klasse (8 bis 9<br />
Jahre) (Le Bohec 1970):<br />
Fangen wir mit dieser Erfindung an:<br />
Eigentlich ist dies keine ‘echte’ Erfindung. Der linke<br />
Block ist eine einfache Kopie einer vorhergegangenen Arbeit.<br />
Aber einige Kinder brauchen das. Ich habe bereits<br />
von den visuellen Typen gesprochen, die die Dinge sehen<br />
müssen, damit sie wirklich begreifen können. Die auditiven<br />
Typen dagegen müssen sich die Worte immer wiederholen,<br />
um sie richtig zu erfassen. Aber das geht noch weiter.<br />
Das menschliche Wesen muss manchmal die Dinge<br />
noch einmal selbst tun, die es gesehen oder gehört hat.<br />
Gerade hatte ich mir gesagt: „Prima! Das ist einfach<br />
und klar! Das haben sie sicher verstanden.“ Ja, sie hatten<br />
es verstanden. Aber trotz alledem hatten sie das Bedürfnis,<br />
es selbst noch einmal nachzuvollziehen. Das machen<br />
auch Erwachsene so. Und ist dies nicht eine gute Methode,<br />
um sich die Dinge zu eigen zu machen?<br />
In der zweiten Spalte wird die Struktur mit anderen<br />
Zahlen wiederholt. Es kommt oft vor, dass man eine<br />
134 135
Struktur rekonstruieren muss, um sie für sich aufgreifen<br />
und weiter bearbeiten zu können. Dann löst man sich nach<br />
und nach von der störenden Wirklichkeit, um zu einer klärenden<br />
Abstraktion zu gelangen. Aber oftmals tritt auch<br />
das Gegenteil ein, wie wir gleich sehen werden:<br />
Am zweiten Schultag im neuen Schuljahr hatte ich<br />
Zahlen aus der Klasse an die Tafel geschrieben:<br />
18, 6, 24,13,11, 23,1, 6, 7,13.<br />
Das sind die verschiedenen Kardinalzahlen der Men gen<br />
von Jungen, Mädchen, Schülern insgesamt, kleinen, großen,<br />
alten, neuen, großen Mädchen und großen Jungen.<br />
Ich habe zu den Kindern gesagt: „Schaut mal zur Tafel,<br />
ob ihr nicht Zahlen seht, die zusammengehören.“ Nach und<br />
nach haben wir so Gruppen mit je drei Zahlen gebildet:<br />
18-6-24; 13-11-24; 23-1-24; 6-7-13.<br />
Die Kinder haben diese Zahlentripel ‘Dreier’ (34) genannt.<br />
(Man sagt auch ‘Trio’ oder ‘Drilling’ dazu.)<br />
Am nächsten Morgen haben wir mit 18 + 6 = 24 weitergearbeitet.<br />
Zuerst sollten die Jungen aufstehen (18),<br />
dann dazu die Mädchen (6). Jetzt standen alle Schüler<br />
(24). Wir konnten schreiben:<br />
(34) Die Kinder wählten das Wort ‚Dreier‘ (frz.: ‚tierce‘) wohl des halb,<br />
weil es in Frankreich gleichzeitig der Name einer beliebten Pferdewette ist.<br />
Im deutschen Sprachraum ist der Begriff ‚Drilling‘ geläufiger.<br />
wenn: 18 + 6 = 24<br />
dann: 24 - 18 = 6<br />
und: 24 - 6 = 18<br />
und damit das Aufstehen und das Hinsetzen der Kinder in<br />
mathematischen Zeichen nachvollziehen.<br />
Dann machten wir das gleiche mit unseren Cuisenaire-<br />
Stäben:<br />
wenn: 5 + 4 = 9<br />
dann: 9 - 5=4<br />
und: 9 - 4=5<br />
Bevor ich zur Verallgemeinerung überging, hatte ich<br />
die Kinder gebeten sich Wörter auszudenken. Eric hatte<br />
z.B. das Wort ‚cochon‘ (Schwein) gewählt und daraus den<br />
Schluss gezogen:<br />
wenn: co + chon = cochon<br />
dann: cochon - chon = co<br />
und: cochon - co = chon<br />
Wie man sich denken kann, war das ein großer Erfolg.<br />
Eric machte weiter:<br />
wenn: e + ric = eric<br />
dann: eric - e = ric<br />
und: eric - ric = e<br />
136 137
Jetzt haben alle mit ihren Vornamen gearbeitet. Aber<br />
Eric kritzelte mit Eifer hin<br />
Körper + Schwanz = Schwein.<br />
Das gab ein Lachen und Gejohle! Diese Arbeit hatte so<br />
viel Spaß gemacht und war so ansteckend, dass sich eine<br />
wahre Sintflut von Drillingen ergoss: Die Schüler wiederholten<br />
es immer wieder um es zu begreifen.<br />
Drei Tage später sind wir auf den Schulhof gegangen,<br />
weil Jean-Paul bemerkt hatte, dass die beiden Geländer<br />
der Freitreppe zum Klassenzimmer wegen des Gefälles<br />
auf dem Schulhof unterschiedlich hoch waren.<br />
Wir haben zwei Bindfäden genommen, die genauso<br />
lang waren wie die große Stütze. Dann haben wir einen auf<br />
die Länge der kleinen Stütze verkürzt. Der abge schnittene<br />
Faden war die Differenz:<br />
So konnten wir aufschreiben: 102 cm + 20 cm = 122 cm,<br />
folglich: 122 - 20 = 102 und: 122 - 102 = 20.<br />
Zufällig hatte Denis die drei Gleichungen untereinander<br />
geschrieben:<br />
102 + 20 = 122<br />
122 - 20 = 102<br />
122 - 102 = 20<br />
Große Verblüffung! Wir hatten die Drillinge wiedergefunden.<br />
Als Patrick sagte: „Wir hätten die Stützen mit Holzstöcken<br />
messen können“, habe ich die Gelegenheit genutzt<br />
und drei Holzlatten von 122 cm, 102 cm und 20 cm gesägt.<br />
Die kleine habe ich gelb, die mittlere rot und die große auf<br />
der einen Seite orange und auf der anderen Seite rot + gelb<br />
(102 + 20) angemalt. Diese Latten sind zu Orientierungspunkten<br />
für die ganze Klasse geworden.<br />
Wir konnten schreiben: Klein + Mittel = Groß<br />
138 139<br />
oder<br />
Die Kinder haben das so gut verstanden, dass wir in<br />
der 3. Klasse sogar schreiben konnten:<br />
So hatten wir schon am Anfang des 3. Schuljahres die<br />
Hälfte von dem durchgenommen, was man in Frankreich<br />
in der Grundschule verlangt. Die andere Hälfte ist:
Wenn wir irgendwelche Sachaufgaben zu lösen hatten,<br />
konnten wir schon das Lösungsverfahren einer Unbekannten<br />
anwenden. Zum Beispiel:<br />
„Ich wollte ein kleines Auto kaufen, das 27 Francs kosten<br />
sollte. Aber ich hatte nur 18 Francs. Wie viel fehlen<br />
mir?“<br />
Um die Antwort zu finden, genügt es die letzte Gleichung,<br />
in der die Unbekannte isoliert ist, zu nehmen: Es<br />
fehlen mir x = 9 Francs.<br />
Man erkennt hier, wie viele unterschiedliche Bereiche<br />
eröffnet und erforscht werden müssen, damit Begriffe sich<br />
in einem realistischen, erfinderischen, abstrakten, phantasievollen<br />
und planenden Kopf festsetzen können.<br />
Beim Berichten über meine Erfahrung fällt mir auf,<br />
dass ich in diesem zweiten Jahr der natürlichen Methode<br />
noch zu sehr eingegriffen habe. Mir wurde schnell bewusst,<br />
dass ich selbst manchmal das Hindernis für die<br />
harmonische Entwicklung der Gruppe war. Und so habe<br />
ich gelernt, mich so lange wie möglich zurückzuhalten.<br />
Mein Anteil ist also kleiner geworden. Er ist nach wie vor<br />
da, aber er hat sich - genau betrachtet - verändert. Ich habe<br />
meine unmittelbaren kognitiven Eingriffe aufgege ben und<br />
kümmere mich jetzt mehr um die Voraus setzungen für<br />
einen allgemeinen Wissenszuwachs. Mein Beitrag besteht<br />
vor allem darin, für die Schüler da zu sein, eine Information<br />
beizusteuern, zu einem Schritt über das Erreichte hinaus<br />
anzuregen, den Ängstlichen zu helfen, die Dominanten<br />
zu dämpfen, die gemurmelten Hypo thesen zu hören,<br />
die Beiträge im positiven Sinne heraus zustreichen usw.<br />
‘Fehler’ werden zu Qualitäten<br />
Ich bedaure, dass ich hier nur einige wenige Beispiele<br />
aus meiner Praxis anführen kann. So habe ich fast gar<br />
nicht vom Zählen gesprochen, aber in diesem Bereich<br />
scheinen die Lehrer auch weniger Probleme zu haben.<br />
Hier geht alles seinen normalen Gang und ich neige eher<br />
dazu, ungewöhnliche Beispiele herauszuheben, weil sie<br />
die wirklich neuen Elemente aufzeigen. Tatsächlich pflegen<br />
wir jahrhundertealte Formen im Rechenunterricht,<br />
der einmal aus den ‚Notwendigkeiten des Lebens‘ entwickelt<br />
wurde, wobei immer Erwachsene bestimmten, was<br />
‚not wendig‘ sei.<br />
Aber wenn man einmal die Position der Kinder einnimmt,<br />
die selbstverantwortlich über ihre Schritte und<br />
Aktivitäten entscheiden, dann wird man vielleicht feststellen,<br />
dass man auch die ‚Notwendigkeiten des Seins‘<br />
berücksichtigen muss. Und in diesem Bereich haben wir<br />
noch viel zu entdecken. Dabei können einem z.B. physische<br />
und psychische Besonderheiten bewusst werden, wie<br />
im folgenden Beispiel:<br />
140 141
Wahrscheinlich hat jeder sofort das Bedürfnis, das Bild<br />
um 90 Grad zu drehen, damit sich die Zahlen einander<br />
entsprechen.<br />
Und so ist es sicher kein Zufall, dass ich einige Zeit<br />
später dieses im Heft von Remi finde:<br />
Tatsächlich ist Remi derjenige, der die Ideen der anderen<br />
weiterentwickelt. Seine Erfindungen sind selten originell.<br />
Aber er greift die Ideen von anderen auf, entwickelt<br />
sie weiter und fügt immer etwas Neues hinzu. Hier sieht<br />
man, dass man eine 3/8 -Umdrehung nach rechts machen<br />
muss bzw. eine von 135 Grad.<br />
„Oder eine 3/8 - Umdrehung nach links oder eine von<br />
... oder eine von ... 360 - 135 = 225 Grad“ sagt Eric, der<br />
von Natur aus rechthaberisch ist und immer nach Möglichkeiten<br />
sucht, um selbst die eindeutigsten Aussagen zu<br />
erschüttern.<br />
So ist Remi anfangs ausschließlich als ‚Verstärker‘ für<br />
vorhandene Ideen aufgetreten - bis zu dem Tage, an dem<br />
er die Zahlenfelder entdeckte. Er arbeitete sehr lange in<br />
die sem Bereich und wurde aufgrund seiner Erfahrung der<br />
Spezialist und Bezugspunkt der Klasse für Flächenberechnung,<br />
für Probleme sich kreuzender Wege usw. Was<br />
mich überraschte, war die Besessenheit, mit der er einige<br />
Felder schwarz (35) anmalte:<br />
Also, Remi hat seinen Kreis mit 8 Achteln gezeichnet.<br />
Und Ghislaine hat seine Idee aufgenommen. Was sage<br />
ich? Nein, sie hat die Erfindung von Remi genau abgeschrieben.<br />
Schauen wir sie uns an:<br />
(35) Ob man das Schwarzmalen mit der schwierigen Beziehung zu seinem<br />
Vater in Verbindung bringen kann? Er war mit 8 Jahren das älteste von<br />
vier Kindern. Ich weiß es nicht. Aber er empfand offensichtlich eine große<br />
Freude, viele helle Felder ‚anzuschwär zen‘.<br />
142 143
Denn Ghislaine hat nicht viele Ideen. Die meiste Zeit<br />
begnügt sie sich damit abzuschreiben. Ohne Zweifel tut<br />
sie es auch, um sich die Ideen besser einzuprägen.<br />
Aber Ghislaine ist Linkshänderin. Innen im Kreis ist es<br />
ihr offenbar noch gelungen, gegen ihren Hang zur Linksdrehung<br />
die Zahlen richtig zu kopieren. Dort ist die Kopie<br />
richtig. Aber dann war sie zweifellos von der bis herigen<br />
Anstrengung ermüdet und ging wieder ihren eigenen, natürlichen<br />
Weg. Dementsprechend drehen sich die äußeren<br />
Zahlen in der anderen Richtung.<br />
Aber genau das stellte die Klasse vor ein schwieriges<br />
Problem: Wir können in beiden Richtungen drehen, so<br />
viel wir wollen, wir schaffen es nicht die Zahlen zusammenzubringen.<br />
Nun, inzwischen kenne ich die natürliche<br />
Methode gut genug um zu wissen, dass ich möglichst<br />
lange nicht eingreifen darf. Also warte ich jetzt: mit dem<br />
Effekt, dass es meist nicht mehr notwendig ist.<br />
Endlich entdeckt jemand eine Lösung: Man muss zuerst<br />
eine Drehung um 180° in den Raum hinein vollziehen.<br />
Danach kann man die entsprechenden Drehungen in<br />
der Ebene machen.<br />
Jetzt staunen die Mitschüler:<br />
„Oh, Ghislaine, Ghislaine! Was für schwierige Probleme<br />
hast du dir ausgedacht.“<br />
Eigentlich hat sie sich in Wirklichkeit nur geirrt, als sie<br />
etwas abgeschrieben hat. Aber Ghislaine ist sehr zufrieden,<br />
dass es so gut aufgenommen worden ist. Sie kann es<br />
durchaus brauchen, einmal im Mittelpunkt zu stehen, da<br />
sie die ältere Schwester eines sehr hübschen und gescheiten<br />
Mädchens ist, das sie mit ihren Schulleistungen bereits<br />
eingeholt hat. Weil die Jüngere von den Eltern mehr<br />
geliebt wurde, hatte diese keine psychischen Probleme<br />
und konnte folglich ihre intellektuellen Fähigkeiten voll<br />
ausschöpfen. Vor allem gab es ja jemanden, den sie überholen<br />
konnte. Das Erlebnis mit Ghislaines Erfindung hat<br />
mich nachdenklich gemacht. Ich habe daraus gelernt, dass<br />
jeder, so wie er ist, seinen Platz in der Gruppe hat. Und<br />
dass der ‚Erfinder‘, der ‚Weiterentwickler‘, der ‚Gestörte‘,<br />
der ‚mit dem Durchblick‘ und sogar derjenige, der falsch<br />
abschreibt, gleichermaßen nützlich ist. Deshalb kann man<br />
sagen: „In einer Forschungsgruppe werden die Fehler zu<br />
Qualitäten.“<br />
Man könnte es bedauern, dass das Ansehen, das das<br />
Mädchen gewann, nicht auf einer wirklichen Erfindung<br />
beruhte, sondern auf einem - nicht aufgedeckten - Irrtum.<br />
Doch das ist nicht wichtig.<br />
Nach und nach fand dieses Mädchen über kleinere Bestätigungen,<br />
über unfreiwillige Erfolge und über wachsende<br />
allgemeine Anerkennung in der Klasse, psychologisch<br />
gesprochen, immer mehr Zugang zur Mathematik.<br />
Der Beweis: Ausgerechnet sie, die sich so regelmäßig<br />
irrte, ist Buchhalterin geworden, nachdem sie alle dafür<br />
notwendigen Prüfungen mit Auszeichnung bestanden hat.<br />
Man könnte, ausgehend von diesem Beispiel, noch weiter<br />
forschen, aber das würde hier zu weit führen. Statt dessen<br />
möchte ich noch von anderen Erfahrungen aus meiner<br />
Klasse berichten.<br />
144 145
Vektoraddition<br />
Nach einer Reihe von tastenden Versuchen und Entdeckungen<br />
sind wir so nahe an die Vektoraddition herangekommen,<br />
dass ich mir gesagt habe: „Nun gut, warum<br />
eigentlich nicht?“<br />
Hier sind drei Punkte:<br />
Zum besseren Verständnis folgender Hinweis: Ich hat te<br />
in meiner Klasse eine kritische Äußerung meines Sohnes<br />
Herve wiedergegeben, nämlich: „Du willst mir doch nicht<br />
einreden, dass jemand, der von A nach B gehen will, Spaß<br />
daran findet, über C zu gehen.“<br />
Sofort rief Patrice:<br />
„Nein, Sie hatten recht und nicht Ihr Sohn! Da wollte<br />
meine Mutter vor einigen Tagen ein. Waffeleisen in der<br />
Eisenwarenhandlung kaufen. Aber weil sie etwas zer streut<br />
war, ging sie daran vorbei ohne es zu merken. Als sie an<br />
der Apotheke ankam, hat sie sich gefragt:<br />
‘Was mache ich überhaupt hier? Ich muss zurückgehen.‘<br />
“<br />
So gibt es zwei verschiedene Wege, wenn man von<br />
einem Punkt zu einem anderen gehen will: den direkten<br />
und den zerstreuten Weg. Sehen wir uns das einmal an:<br />
Wir denken uns 3 Punkte<br />
und 6 Tiere (bei jedem Punkt sollen 2 sein) und sehen<br />
uns an, welche Wege sie laufen können:<br />
Wir starten von B.<br />
Die Schildkröte geht nach C.<br />
Der Bär geht nach A.<br />
Wir starten von C.<br />
Der Fuchs geht nach B.<br />
Das Huhn geht nach A.<br />
Sofort sprudelten die Bemerkungen los:<br />
„Aber warum ist bei dem zerstreuten Weg in der Mitte<br />
derselbe Buchstabe?“<br />
Wir haben gesucht und herausgefunden, dass man direkt<br />
gehen kann, um von einem Punkt zu einem ande ren<br />
zu gelangen.<br />
Aber wenn man über einen dritten Punkt dorthin geht,<br />
wird die Spitze des ersten Vektors zur Basis des zweiten<br />
Vektors.<br />
146 147
Sofort bemerkt Philippe aus der 1. Klasse:<br />
„Also, mein Vater ist Busfahrer. Er fährt die Strecke<br />
Lannion - Tregastel über Perros. Aber manchmal fährt er<br />
auch direkt von Lannion nach Tregastel.“<br />
Wir schauen uns das an:<br />
→ → →<br />
Es stimmt: LT = LP + PT<br />
Wir müssen lachen, weil hier PT (im frz. ausgesprochen<br />
wie das Verb ‚peter‘ = pupsen, Anm. d. Übers.) und<br />
die ähnlich klingenden Endungen von Tregastel direct‘<br />
und ‚Perros-Guirec‘ vorkommen. Das Lachen tut gut, es<br />
lockert ein bisschen auf und das macht uns frei für neue<br />
ernsthafte Untersuchungen.<br />
Dieses Mal hat nicht Patrice das Abstrakte mit der<br />
Wirklichkeit verbunden, sondern Philippe. Zweifellos hat<br />
es beim Wort ‘direkt’, das zum täglichen Sprachgebrauch<br />
seines Vaters gehört, bei ihm gefunkt.<br />
Im Zusammenhang mit dieser Arbeit habe ich eine<br />
noch ganz andere Erfahrung gemacht und dabei etwas für<br />
mich Neues begriffen. Ich habe diese Geschichte näm lich<br />
einer Gruppe von Lehrern erzählt und zur Illustra tion drei<br />
Stühle in einer Reihe aufgestellt, als Marcelle plötzlich<br />
rief:<br />
„Halt, die Vektoraddition, die habe ich nie kapiert. Ich<br />
habe richtig Komplexe bekommen. Aber vielleicht kann<br />
ich es jetzt endlich verstehen, denn die Kinder haben es ja<br />
auch verstanden.”<br />
Und sie stand auf, um sich neben den Stuhl A zu stellen.<br />
Sie ging zuerst von A nach B:<br />
Dann kam sie zu A zurück, um dieses Mal zuerst zu<br />
C und dann zu B zu gehen. Bei dieser Tätigkeit trieb sie<br />
kei ne Mathematik, sondern Sport.<br />
Aber sie war damit nicht zufrieden. Sie kam zu A zurück,<br />
und das nächste Mal bewegte sie sich nur in der Vorstellung,<br />
ohne dass sie sich wirklich bewegte, und sagte:<br />
„Von A kann ich zu B gehen. Und von A gehe ich erst<br />
nach C und dann nach B.“<br />
Und jedes Mal zeigte sie mit dem Finger auf den<br />
Stuhl, zu dem sie ‘geht’. Dieses Mal stellte sie sich die<br />
Bewegun gen im Geist vor. Aber sie war noch nicht in der<br />
Mathematik.<br />
Als niemand es mehr erwartet hatte, ging sie zur Tafel<br />
und zeichnete folgendes:<br />
Sie gab sich also nicht mehr damit zufrieden, sich die<br />
Bewegungen selbst vorzustellen, sie stellte sie anderen<br />
vor.<br />
Und dieses Mal hatte es geklappt, sie war in der Mathematik,<br />
weil sie die Wirklichkeit symbolisch darstellte.<br />
148 149
Zunächst waren da die Stühle als Zeichensymbole der<br />
Wirklichkeit. Dann hatte sie mit Pfeilen operiert und<br />
das Chaos in ihrem Kopf ordnete sich durch diese Darstellungsform.<br />
Aber sie gab sich damit nicht zufrieden,<br />
sondern schrieb langsam unter ihre Pfeilskizze:<br />
dann, immer noch genauso langsam:<br />
Und plötzlich schrieb sie wie eine aufgezogene Feder,<br />
mit vollem Schwung:<br />
„Ich hab‘s, ich habe die Sache verstanden, man schreibt<br />
den Buchstaben, der fehlt, in die Mitte.“<br />
Jetzt war es ihr ganz klar geworden: Sie hatte die Wirklichkeit<br />
ganz vergessen und stieg vollständig in das Spiel<br />
der Mathematik ein. Dieses Erlebnis hat mich sehr beeindruckt.<br />
Tatsächlich ist die Vektoraddition über die Füße<br />
in den Kopf von Marcelle gelangt. Sie musste diese Sache<br />
auf konkrete Weise tun, bevor sie sie auf intellektu elle<br />
Weise tun konnte.<br />
Man kann noch lange darüber nachdenken, besonders,<br />
da sich unvorstellbar viele Menschen von der Mathematik<br />
ausgeschlossen fühlen, weil man es ihnen nicht erlaubt<br />
hat, ihren individuellen Weg zu verfolgen. Wir Lehrer<br />
sind immer in Eile und meinen, sofort auf der Stufe der<br />
Abstraktion arbeiten zu müssen.<br />
Außerdem - taugen denn nur diejenigen etwas, die in<br />
der Lage sind, diesen Schritt sofort zu tun? Wenn wir so<br />
weitermachen, produzieren wir in der Schule viele Scherben.<br />
Vielen Menschen wird Wissen vorenthalten, weil die<br />
für den Erwerb notwendigen Etappen bis ins Un erträgliche<br />
verkürzt werden. Dabei bietet die Forschungs gruppe, die<br />
Arbeitsgruppe in der natürlichen Methode, jedem so viele<br />
Möglichkeiten, seinen eigenen Weg zu ver folgen, und<br />
zwar unabhängig von der individuellen Aus prägung der<br />
Persönlichkeit. Dann ist es unerheblich, ob er emotional<br />
gestört ist und sein Gleichgewicht wieder finden muss,<br />
indem er seine eigene Mathematik konstru iert, ob er rein<br />
intuitiv entdeckt, ob er überwiegend mit Objekten arbeitet,<br />
ob er ein Empiriker, ein Theoretiker oder ein Realist<br />
usw. ist.<br />
Jeder kann, solange er will, auf der Ebene bleiben, die<br />
ihm angemessen und nützlich erscheint. Die Wahrscheinlichkeit<br />
ist groß, dass die anderen ihn in Gebiete hinüberziehen,<br />
zu denen er aus den unterschiedlichsten fami liären,<br />
schulischen und gewohnheitsmäßigen Gründen niemals<br />
Zugang gehabt hätte und die dennoch für ihn vollkommen<br />
angemessen sind. Die Gruppe hilft auch bei Fortschritten,<br />
Wiederholungen, Rückgriffen und vor allem bei Erinnerungen.<br />
Durch die Gruppe erhält der ein zelne vielfältige<br />
Bezugspunkte für sein Thema. Die Mit schüler erinnern<br />
ihn an bestimmte Hefte, an Notizen an der Pinnwand usw.<br />
Vor allem aber erinnern sie ihn an vielschichtige Erlebnisse<br />
voller Lachen, Freude, Überra schungen und intensiver<br />
Forschungen, und wie man weiß, prägen sich solche<br />
gefühlsstarken Augenblicke besonders ins Gedächtnis<br />
ein.<br />
150 151
Bei ihren Erfindungen schreiben die Kinder freie mathematische<br />
Texte. Damit klar wird, was dabei pas siert,<br />
lesen wir nach, was man in der Literatur-Theorie dazu<br />
sagt:<br />
„Um schreiben zu können, muss der Schriftsteller sich eingestehen,<br />
dass er nur sehr wenig weiß, denn er schreibt,<br />
indem er das zuvor Geschriebene transformiert. In diesem<br />
Sinne ist das Schreibblatt ein Theater der Metamorphose<br />
... Das Schreiben ist der Akt einer Person, die, indem sie<br />
das Geschriebene wieder ausra diert, es schafft, nach und<br />
nach das zu denken, was sie zuvor noch nicht gedacht<br />
hat. Kurzum, Schriftsteller schreiben nicht, indem sie abschreiben;<br />
Schriftsteller sind vor allem diejenigen, die den<br />
spezifischen Beitrag des Geschriebenen zur Herauskristallisierung<br />
ihrer Gedan ken akzeptieren.“<br />
(Ricardou: Revue Textes En Main 1984)<br />
Es ist ganz klar, dass ein Kind im Alter von 6 bis 9<br />
Jahren nicht so vor seiner Heftseite sitzt wie der Schriftsteller<br />
vor seinem Blatt. Außerdem radiert es seine Ergebnisse<br />
selten aus. Trotzdem ‚schreibt‘ es jeden Tag, obwohl<br />
es natürlich nicht jeden Tag eine neue Idee hat. Übrigens<br />
wird dies von ihm auch überhaupt nicht gefordert. Es ist<br />
vollkommen frei. Es steht ihm auch frei, sooft es will, eine<br />
Idee wieder aufzunehmen, mit deren Erforschung es angefangen<br />
hat. Eine Idee, die seine eigene bleibt, selbst wenn<br />
sie von der Klasse gedreht und gewendet wird. Lassen wir<br />
es doch regelmäßig für einige Zeit das noch einmal schreiben,<br />
was es schon einmal geschrieben hat. So schafft das<br />
Kind es, „langsam ... das zu denken, was es noch nicht<br />
gedacht hat“. Auf diese Weise hätten wir in unseren Klassen<br />
kleine ‚mathematische Schriftsteller‘, die ‚den spezifischen<br />
Beitrag des Geschriebenen‘ zur Bildung ihres Denkens<br />
akzeptiert haben.<br />
Dieses Phänomen des ‚Wiederschreibens‘ existiert<br />
wirklich. Es genügt, unsere Dokumente aus der Klasse<br />
daraufhin zu überprüfen. Zum Beispiel hat Remi in einem<br />
einzigen Trimester (in Frankreich ist das Schuljahr in Trimester<br />
aufgeteilt, Anm. d. Übers.) 44-mal die Struktur<br />
von Rechenkaros genutzt, um 20-mal Zahlen hineinzuschreiben,<br />
12-mal hat er sie für Flächenberechnungen<br />
benutzt, 7 mal hat er Mengen und Teilmengen behandelt<br />
und fünfmal hat er Untersuchungen über Wege ange stellt.<br />
Das ‚Wiederschreiben‘ entspricht auch diesem selt samen<br />
Bedürfnis des Menschen (wir haben es bereits erwähnt),<br />
eine Sache noch einmal zu machen um sich ihrer zu bemächtigen.<br />
Damit wird zusätzlich (eigentlich brauchte es<br />
nicht eigens erwähnt zu werden) das motorische Gedächtnis<br />
angesprochen.<br />
Wie wir gesehen haben, ist die Kopie manchmal fehlerhaft.<br />
Aber selbst, wenn es nur eine winzige Nuance<br />
wäre, so liegt darin schon eine Öffnung. Aber auch, wenn<br />
sie peinlich genau gleich ist, so entwickelt sich in Gedanken<br />
schon eine kleine Veränderung, d.h., man radiert<br />
inner lich schon das aus, was man gerade schreibt. Kurze<br />
Zeit später schreibt man es dann mit dieser Veränderung<br />
auf und vertieft es auf diese Weise.<br />
Abenteuer mit Vektoren<br />
Ich fühle genau, dass es unmöglich ist, all das im<br />
einzel nen auszuführen, was mir die natürliche Methode<br />
gebracht hat. Aber ein Erlebnis mit Vektoren und Koordinaten,<br />
das uns im 1., 2. und im 3. Schuljahr auf so vielfältige<br />
Weise beschäftigte, kann ich wirklich nicht unerwähnt<br />
152 153
lassen. Das erste Jahr der Erfahrung hatte mir die Augen<br />
geöffnet. Endlich hatte ich begriffen, dass die Mathematik<br />
überall ist, weil es überall unentdeckte Strukturen gibt.<br />
Außerdem hat bei dem folgenden Erlebnis sicher eine<br />
Rolle gespielt, dass die Komposition eines Bildes für mich<br />
persönlich eine Quelle ästhetischer Freude ist.<br />
So war ich stark beeindruckt, als mir ein Schüler eine<br />
Zeichnung zeigte, auf der Bogenschützen eine Burg angreifen.<br />
Besonders fiel mir ins Auge, wie der Flug der<br />
Pfeile angeordnet war, und so schlug ich ihm vor:<br />
„Das ist interessant! Du könntest auch nur die Pfeile<br />
zeichnen.“<br />
Und Remi, immer begierig nach neuen Strukturen,<br />
hat sich diese Idee sofort zu Eigen gemacht. Hier ist seine<br />
Arbeit:<br />
Ich sagte spontan: „Oh, man könnte sie fast für Vektoren<br />
halten.“<br />
Diese Aussage hat Anklang gefunden. Gemeinsam<br />
haben die Kinder festgestellt, dass die Vektoren horizon tal<br />
(bis auf einen), parallel und von unterschiedlicher Länge<br />
waren. Die Idee ist von der Klasse sofort aufgegrif fen<br />
worden.<br />
Hier ist eine Zeichnung von Patrice:<br />
Auch hier gibt es zwei Wege:<br />
Eine heftige Diskussion entbrennt:<br />
„Aber nein, das ist nicht gleich: AB + BC ist viel län ger<br />
als AC“<br />
Ich greife sofort ein, leider viel zu schnell. Ich hatte damals<br />
noch nicht begriffen, dass man für die Festigung des<br />
Wissens vorher eine gedankliche Bearbeitung braucht.<br />
So habe ich durch mein Eingreifen verhindert, dass sich<br />
Fragen entwickeln konnten und dass das Pro blem genau<br />
genug erkannt wurde. Mein Beitrag war nur eine schwache<br />
Antwort, mit der ich den Elan der Kinder durch eine<br />
wenig hilfreiche Information gebremst habe. Hätte ich<br />
etwas länger gewartet, so wäre sie vielleicht aufmerksamer<br />
aufgegriffen worden.<br />
Ich sage also: „Aber hier handelt es sich um<br />
Vektoren.“<br />
Damit fällt alles in sich zusammen. Was hat dieses<br />
Wort mit ihnen zu tun?<br />
Ich werde mir meines pädagogischen Irrtums bewusst<br />
und bitte den Temperamentvollsten an die Tafel.<br />
„Schreibe: AB + BC - - - gut - - - und jetzt AC,<br />
schreibe jetzt: AB + BC = AC.”<br />
Aber er sträubt sich und sieht mich von der Seite an.<br />
„Nein, das ist nicht gleich.“<br />
Ich antworte ihm: „Du hast recht.“<br />
Nun versteht niemand mehr etwas. Aber glücklicherweise<br />
bleibe ich still, obwohl es in mir brodelt. Stille breitet<br />
sich aus, aber es ist keine gewöhnliche Stille, keine Stille<br />
des Unbeteiligtseins. Diese hier ist geladen mit Nicht-<strong>Verstehen</strong>,<br />
mit Warten und sogar mit einer stummen Aggressivität<br />
gegen mich. Aber ich halte sie aus. Schließ lich sagt<br />
Michel zu seinem Mitschüler: „Vielleicht ist es, weil du<br />
154 155
keine Pfeile auf die Buchstaben gemacht hast.“<br />
Jetzt erkläre ich: „AB ist eine Länge. Aber ist ein<br />
Vektor. Es ist der Weg, den man zurücklegt. Man weiß,<br />
wo man losgeht und wo man ankommt. Der Weg +<br />
ist die gleiche Sache wie , weil man vom selben Ort<br />
losgeht und man beim selben Ort ankommt.“<br />
Jetzt ist es in Ordnung, jetzt wird es akzeptiert. Denn<br />
anstatt Vektor zu sagen, kann man auch Weg sagen und<br />
‘Weg’, das kennt man: das gehört zum täglichen Leben.<br />
Aber nun fragt Pierrick, der Rechthaber:<br />
„Und wenn man hingeht und wieder zurück?“<br />
„Dann gibt das Null. Es ist, als ob man sich nicht bewegt<br />
hätte.“<br />
Das versetzt alle in Erstaunen. Was? Man hat den doppelten<br />
Weg zurückgelegt und das macht Null? Aber plötzlich<br />
legt Michel (7 Jahre alt) los: „Und wenn man das so<br />
machen würde?“<br />
„Das ergibt eine Addition von Vektoren. Das macht „<br />
„Oh, das ist wie bei der Mutter von Patrice. Hier gibt es<br />
auch die zerstreuten Wege und den direkten Weg.“<br />
„Ja, aber in diesem Fall müsste die Mutter von Patrice<br />
wirklich sehr zerstreut sein.“<br />
Doch wer meint, damit wäre das Thema erschöpft, der<br />
irrt. Das war erst der Anfang von Michels ‚Vektoranfall‘.<br />
Er fragt:<br />
„Und wenn man es so macht?“<br />
„Schauen wir es uns an und schreiben die Buchstaben<br />
dazu.“<br />
Michel sagte: „<br />
„Ist das alles?“<br />
„Nein, es gibt noch<br />
Wir haben: „<br />
„Ja“, sagt Jacques, „weil es Gegensatzpaare gibt. Man<br />
kann Bündel mit Null machen:<br />
Herve, ein Mathematikstudent, der zufällig in meiner<br />
Klasse ist, sagt: „Das ergibt den Nullvektor.“<br />
Sofort ruft Patrice noch einmal aus:<br />
„Also Sonntag, da haben wir den Nullvektor gemacht.<br />
Wir standen in Morlaix vor einer Apotheke und suchten<br />
den Bahnhof. Wir gingen hierhin und dorthin um dorthin<br />
und hierhin. Und schließlich landeten wir wieder vor der<br />
156 157
Apotheke. Wir haben den Nullvektor gemacht.”<br />
„Also bei mir ist es auch so“, hängt sich Remi B. an,<br />
„wenn mein Vater morgens zum Fischen geht, bin ich<br />
noch in meinem Bett. Und abends, wenn er vom Fischen<br />
zurückkommt, bin ich wieder im Bett. Er sagt, ich hätte<br />
mich nicht bewegt. Aber ich habe mich doch bewegt, denn<br />
ich bin auf den Platz beim Krankenhaus gegangen, dann<br />
zur Kreuzung und zur Schule. Und am Abend gehe ich<br />
den Weg zurück. Ich habe den Nullvektor gemacht. Und<br />
so mache ich jeden Tag den Nullvektor, weil ich nach Haus<br />
zurückgehe.“<br />
„Nicht nur du. Wir machen auch den Nullvektor.“<br />
Das konsequente Verhalten von Patrice erstaunt mich.<br />
Fast immer ist er derjenige, der uns in die Wirklichkeit<br />
zurückführt.<br />
Währenddessen fliegt Michel auf seinen abstrakten<br />
Wolken weiter und lässt sich dabei nicht beirren:<br />
„Und wenn man zwei Runden macht?“<br />
„Nullvektor.“<br />
„Und drei Runden?“<br />
„Nullvektor.“<br />
Pierrick natürlich: „Und 1000 Runden?“<br />
Die ganze Klasse: „Nullvektor!“<br />
Aber Michel fährt stur fort, seine Furchen weiterzuziehen.<br />
„Und wenn ich eine Runde und außerdem eine Seite<br />
des Rechtecks mache?“<br />
„Das macht „<br />
„Und dann eine weitere vollständige Runde und eine<br />
andere Seite?”<br />
„ “<br />
„Also dreht sich das jedes Mal um eine Seite weiter?“<br />
„Ja!“<br />
„Und wenn ich das, was ich gesagt habe, zweimal<br />
mache?“<br />
„Oh, la la! Das wird kompliziert. Schaut mal!‘<br />
„Das ist gar nicht schwer. Man muss nur den direkten<br />
Weg von Anfang bis zum Schluss ansehen.<br />
Also:<br />
Pierrick: „Also ich wusste es auch ohne Zeichnung,<br />
wegen der NullBündel. =<br />
2 ‚<br />
„Nun gut“, sagt Michel. „Und das hier?“<br />
158 159
Pierrick: „Da gibt es Gegensatzpaare. Ich mache zwei<br />
Bündel mit Null, also gibt das:<br />
Man könnte es auch gut sehen, wenn man den direk ten<br />
Weg vom Anfangs- bis zum Endpunkt zurücklegt.<br />
Wir hätten damit Zeit gewonnen. Aber Michel ist unersättlich.<br />
„Und das?“<br />
„Gut, lasst es uns rechnen, aber vergesst nicht die Pfeile<br />
zu setzen!“<br />
„Das gibt:<br />
„Das gibt:<br />
Die Reaktion war: „All das für: - ! Das lohnt doch<br />
den Aufwand nicht.“<br />
Pierrick, der Verschmitzte: „Also ich musste nicht<br />
rechnen. Ich habe einfach den direkten Weg von A nach<br />
B betrachtet.“<br />
Da ich merke, dass jetzt viele abschalten, komme ich<br />
auf die Wirklichkeit zurück, oder genauer: Ich stelle nun<br />
die abstrakte Erfindung symbolisch dar. Und um den<br />
ernsthaften Charakter der Sache zu unterstreichen, lasse<br />
ich alle Tische der Klasse zusammenrücken.<br />
Daniel und ich gehen beide von Punkt A aus los. Ich<br />
bewege mich dem angezeichneten Schema entsprechend,<br />
während Daniel den direkten Weg geht. Schließlich treffen<br />
wir uns im selben Punkt B.<br />
Jacques bemerkt: „Ich bin der Boss, weil mein Tisch<br />
der Punkt A ist.“<br />
Ich formuliere genauer: „Ja, du bist derjenige am Startpunkt.“<br />
Und genau das war der Startschuss für unsere Erfahrung<br />
mit dem Koordinatensystem. Aber wenn damals<br />
nicht jeder seine eigenen Koordinaten in Bezug auf Jacques<br />
berechnet hätte, wäre dieses System wohl farblos<br />
geblieben.<br />
0 = Platz von Jaques<br />
160 161
Wieder tauchten die Begriffe ‘zerstreuter Weg’ und ‘direkter<br />
Weg’ auf.<br />
M (Michel) war z.B. (+ 2 / + 1) von Jacques<br />
entfernt:<br />
Nun habe ich x und y eingeführt: (M: x = +2, y = +1),<br />
weil es sich anzubieten schien. Aber wieder einmal bin ich<br />
zu schnell gewesen. Ich hätte ihnen die Zeit lassen müssen<br />
es wiederzuerfinden.<br />
Insgesamt war es jedoch der Start für ein erstaunliches<br />
Abenteuer mit den Geraden, den Steigungen von Gera den,<br />
den Symmetrien bezüglich Jacques, dann bezüglich eines<br />
anderen Kindes (36) ... , Relationen wurden herge stellt. Die<br />
Kinder haben sich auf die Tische gestellt, um die jeweiligen<br />
Punkte darzustellen, und das hat sicher zum Erfolg<br />
des Unternehmens beigetragen, weil es so auch eine körperliche<br />
Erfahrung war.<br />
(36) Bei dieser Arbeit stellt Patrice fest: „Ich (P) bin im Verhältnis zu<br />
Robin (R) symmetrisch zum ‚Unsichtbaren Menschen‘.“<br />
4. Wie entwickelt sich mathematisches<br />
Wissen?<br />
Denkmodelle<br />
Ich höre nun mit dem Bericht über diese Erfahrung<br />
auf, um das charakteristische Verhalten von Michel, Patrice<br />
und Pierrick ein wenig genauer zu untersuchen. Vor<br />
allem war ich überrascht zu sehen, mit welcher Verbissenheit<br />
der junge Michel aus der 2. Klasse seine Untersuchung<br />
der Vektoren betrieb. Er wollte immer mehr wissen<br />
und schlug, um das zu erreichen, Dinge vor, die er selbst<br />
für schwierig hielt. Er trieb uns (oder mich?) in die Enge.<br />
War es Provokation oder echte Neugier? Jedenfalls schien<br />
er sich in diesem neuen Bereich sehr wohl zu fühlen; er<br />
kümmerte sich in keinem Moment um die Wirklichkeit<br />
und interessierte sich nur für das abstrakte Spiel, das Spiel<br />
der Mathematik.<br />
Im Gegensatz dazu war Patrice von der Wirklichkeit<br />
besessen. Er war derjenige, der sofort das Beispiel von<br />
der zerstreuten Mutter geliefert hatte, die zurückgehen<br />
musste. Oder das Beispiel des Bahnhofs von Morlaix, den<br />
sie nicht gefunden hatten. Man könnte sagen, dass er jemand<br />
war, der unsere Grundlagenforschung systematisch<br />
auf die Wirklichkeit übertrug.<br />
Ich denke, dass man bei diesem Phänomen, das vielleicht<br />
von einer grundsätzlichen theoretischen Bedeutung<br />
ist, verweilen muss. Für mich war es allerdings eher eine<br />
Bestätigung als eine Entdeckung; denn ich habe das Gleiche<br />
bereits im mündlichen Ausdruck wahrgenom men.<br />
Ich erinnere mich daran, dass die Kinder, die täglich mit<br />
verschiedenen Fremdsprachen konfrontiert waren (bretonisch,<br />
italienisch, englisch, deutsch), sich einmal eine<br />
künstliche Sprache ausgedacht hatten: das ‚koupela kabach’<br />
und später einen Dialog in ‚japanisch‘. Bei dieser<br />
162 163
Gelegenheit haben sie bestimmte Prinzipien der Sprache<br />
erfasst. Später habe ich das Phänomen auch in einer anderen<br />
Klasse (3. Schuljahr) wiedergefunden, als die Kinder<br />
über das mutmaßliche Netz eines bekannten Körpers und<br />
das bekannte Netz eines unbekannten Körpers gearbeitet<br />
haben.<br />
Auch in Michels Fall ging es wieder um die Konstruktion<br />
von MODELLEN. Das ist mir bei der Lektüre von<br />
Bachelard (1966) richtig bewusst geworden. In der modernen<br />
Wissenschaft konstruiert man zunächst ein Modell,<br />
das man anschließend über die Wirklichkeit stülpt. Sie<br />
wird auf diese Weise besser erkennbar. In diesem Sinne<br />
stellt Bachelard die These auf:<br />
„Die Parallelen existieren erst seit dem Euklidischen<br />
Postulat - vorher noch nicht.“<br />
( Bachelard 1966, S. 139)<br />
Das <strong>heißt</strong>, vorher waren sie noch irgendwo im Chaos.<br />
Erst als Euklid aus einer Intuition heraus sein Postulat<br />
aufstellte, begannen sie zu existieren. Und zweitausend<br />
Jahre lang konnte man glauben, dass dieser geometrische<br />
Satz zu den Fundamenten des menschlichen Denkens gehörte.<br />
Bis Lobatschewskij eine sehr reiche nicht-euklidische<br />
Geometrie entwickelte, als er versuchte, das euklidische<br />
Postulat, ausgehend vom Gegenteil, zu beweisen und<br />
damit die allgemeine Gültigkeit der Geometrie von Euklid<br />
in Frage stellte.<br />
„Der heutige Physiker erkennt, dass er die Gepflogenheiten<br />
des Denkens, die aus der Präge nach der unmittelbaren<br />
Erkenntnis und nach der Nützlichkeit entstanden<br />
sind, hinter sich lassen muss, um die geistige Beweglichkeit<br />
für Entdeckungen wiederzufinden“ (ebd, S. 39).<br />
Diese Idee Bachelards wird es uns erlauben, zwischen<br />
zwei Methoden der <strong>Freinet</strong>-Pädagogik zu unterscheiden,<br />
nämlich zwischen dem ‚lebendigen Rechnen‘ (37) , das sich<br />
aus Alltagssituationen entwickelt, und der ‚natürli chen<br />
Methode der Mathematik‘, die auf dem Prinzip des schöpferischen<br />
Ausdrucks beruht.<br />
Die Idee, zunächst ein künstliches Modell aufzustel len,<br />
hat lange Zeit mein verkalktes Gehirn empört. Aber ich<br />
habe bemerkt, dass es auch im Alltag üblich ist. Wenn uns<br />
zum Beispiel jemand ein neues Kartenspiel beibrin gen<br />
will, dann lässt er uns zunächst ein Spiel spielen, in dem<br />
es um nichts geht. In diesem Moment sind wir noch nicht<br />
in der Wirklichkeit, wir simulieren sie zunächst. Erst danach<br />
können wir anfangen, wirklich zu spielen. Zweifellos<br />
könnte man viele Beispiele finden, in denen zunächst das<br />
Modell da sein muss, ehe es eine entspre chende Wirklichkeit<br />
geben kann.<br />
Aber ich möchte auf die Wege des Denkens zurückkommen,<br />
denn unser Thema ist die Frage, wie Wissen<br />
entsteht.<br />
Über die Theorien von Einstein hat G. Halton folgendes<br />
geschrieben:<br />
„Zu diesen elementaren Gesetzen der Natur führte kein<br />
anderer Weg als der Weg der Intuition, gepflastert mit Erfahrung.“<br />
(L‘Invention Scientifique P.H.F)<br />
Einstein selbst sagte dazu: „Das Merkwürdigste ist,<br />
dass das funktioniert.“<br />
Die Eingebung hilft uns, uns etwas vorzustellen, etwas<br />
zu konstruieren, etwas zu entwerfen. Und dann schauen<br />
wir nach, ob unsere Konstruktion der Realität entspricht:<br />
Wir verifizieren.<br />
(37) Das ‘lebendige Rechnen’ war für die <strong>Freinet</strong>-Lehrer lange Zeit<br />
das wichtigste methodische Konzept, das sie dem sinnentleerten<br />
Schulbuchrechnen entgegenstellen konnten. (Anm. d. Übers.)<br />
164 165
Erinnern wir uns: In unseren Beispielen war Michel<br />
derjenige, der am Modell arbeitete, während Patrice die<br />
Aufmerksamkeit auf die Realität gerichtet hatte. Es war<br />
also eine Gruppenarbeit, wo jeder entsprechend seinen eigenen<br />
Neigungen seinen Teil einbringen konnte.<br />
Diese Sichtweise über Bedeutung und Stellenwert der<br />
Wirklichkeit könnte <strong>Freinet</strong>-Lehrer ein zweites Mal in<br />
Aufregung versetzen. Das erste Mal wurden sie von <strong>Freinet</strong><br />
schockiert, als er das ‚lebendige Rechnen‘ ins Spiel<br />
gebracht hat. Wie hielten uns damals alle sehr zurück,<br />
denn wir haben es nicht für möglich gehalten, dass Alltagssituationen<br />
genug mathematisches ‚Material‘ beinhalten,<br />
mit dem die Schüler rechnen könnten.<br />
Aber wir hatten Unrecht. Nach und nach haben wir<br />
gemerkt, dass die Lösungswege, die durch tastendes Versuchen<br />
konstruiert wurden, besser in den Köpfen der<br />
Kinder verankert waren als diejenigen, die wir über ständige<br />
Wiederholungen und Übungen hineinzupressen versuchten.<br />
Wir sind also in das ‚lebendige Rechnen‘ eingetaucht,<br />
auch deshalb, weil wir uns ohnehin auf das wirkliche<br />
Leben eingelassen hatten, anstatt im fiktiven Leben<br />
der Schule zu verharren.<br />
Aber außer (oder genauer: neben) Célestin <strong>Freinet</strong> gab<br />
es seine Frau Elise, die zu ihm in einem dialogischen Verhältnis<br />
stand. Durch ihre Beiträge wurde ich sehr ange regt.<br />
Auch umgekehrt war es so. Sie hat sogar meine Position,<br />
die allen so ketzerisch schien, sehr intensiv ver teidigt. Damals<br />
schrieb sie mir:<br />
„Hier sind <strong>Freinet</strong>, Pierrot, Jean ... gegen dich. Und<br />
ich bin auch eher auf ihrer Seite. Aber mach weiter; denn<br />
du könntest gegenüber uns allen Recht behalten.“<br />
Wirklich, wenn ich wenigstens teilweise Recht behalten<br />
sollte, dann auch deswegen, weil Elise <strong>Freinet</strong> es nicht<br />
versäumte, manchmal ‚in die entgegengesetzte Richtung‘<br />
zu arbeiten. Doch auch <strong>Freinet</strong> selbst hat seinen Anteil<br />
daran, denn es war seine natürliche Methode, die ich in<br />
der Mathematik anwenden wollte. Auch hier ist es klar:<br />
Man kann nur mit der Gruppe Recht haben. Und die Pragmatiker<br />
(Célestin <strong>Freinet</strong>?) sind genauso notwendig wie<br />
die ‚Konzeptualisten‘ (Elise <strong>Freinet</strong>?).<br />
Aber die Dinge sind niemals einfach. Anstatt zwischen<br />
verschiedenen Individuen ausgetragen zu werden, bestehen<br />
Widersprüche oftmals innerhalb ein und desselben<br />
Individuums.<br />
So habe ich mich zum Beispiel wahnsinnig gefreut,<br />
als ich festgestellt habe, dass das Binärsystem auch in der<br />
Wirklichkeit, nämlich in den kanadischen Maßsystemen,<br />
existierte. Aber mein Freund Delbasty sagte:<br />
„Aber nein, im Binärsystem legt man willkürlich fest,<br />
dass man jede Zweiergruppe durch eine Einheit mit höherem<br />
Stellenwert ersetzt. Für die anderen Systeme gilt<br />
das analog.“<br />
Obwohl ich in meiner Klasse gerade den Gedanken<br />
zugelassen hatte, dass die Abstraktion möglicherweise<br />
Vorrang hat, fühlte ich, wie sich durch Delbasty‘s Aussage<br />
etwas in mir auflehnte. Vielleicht deshalb, weil ich<br />
gerade frisch bekehrt und noch ganz beeindruckt war von<br />
dieser neuen Art, mich der Welt zu stellen. Ist es möglich,<br />
dass meine Kindheit - wie die von <strong>Freinet</strong> (einem Bauernkind)<br />
- sehr stark vom Realismus geprägt war, während<br />
Delbasty - wie Elise <strong>Freinet</strong> - ein Lehrer kind war? Nein,<br />
natürlich nicht, damit machten wir es uns zu leicht.<br />
Ich möchte noch nicht locker lassen, weil wir hier einen<br />
zentralen Punkt berühren. Ich erinnere mich näm lich an<br />
ein weiteres Erlebnis, bei dem sich alles in mir sträubte. Es<br />
war in der sechsten Klasse. Der Lehrer hatte zwei Geraden,<br />
die von einer weiteren Geraden geschnit ten wurden,<br />
an die Tafel gezeichnet.<br />
166 167
Mein Freund Yves war damals bereit, die Parallelität<br />
der Geraden zu beweisen, obwohl sie in der Zeichnung<br />
skandalöserweise nicht parallel waren. Er war ein besse rer<br />
Mathematiker als ich, denn er akzeptierte die Gegen-Wirklichkeit,<br />
war bereit, sich von den optischen Gegeben heiten<br />
zu lösen. Immerhin war mein Denken strategisch genug,<br />
um mit Hilfe meines Freundes nach und nach auch in diese<br />
neue und bizarre Art des Spielens eindrin gen zu können.<br />
(War mein Denken eigentlich von Anfang an strategisch,<br />
oder ist es erst durch meinen Vater Und meinen älteren<br />
Bruder so geworden? Damit stellt sich die grundsätzliche<br />
Frage nach der Vermittelbarkeit von Fähigkeiten.)<br />
In der Arbeitsgruppe ‘natürliche Methode des Mathematikunterrichts‘<br />
(38) in der französischen <strong>Freinet</strong>bewegung<br />
war die Entwicklung des Wissens schnell ein zentrales<br />
Problem, denn wir haben angefangen uns gemeinsam<br />
fortzubilden. Wir haben gespürt, wie sehr un sere<br />
Freundschaft, unsere Sympathie, das Annehmen des Anderen<br />
dieses Unternehmen erleichtert hat.<br />
(38) Die hier angesprochene Arbeitsgruppe zur natürlichen Methode in<br />
der Mathematik gibt seit 1989 in unregelmäßigen Abständen unter dem<br />
Titel „naturellement math“ (natürliche Mathematik) Arbeitsberichte heraus<br />
(vgl. Bibliographie). Eine weitere davon unabhängig arbeitende <strong>Freinet</strong>-<br />
Arbeitsgruppe zur natürlichen Methode in der Mathematik hat sich im<br />
Department Pas de Calais gebildet (vgl. Seite 231)<br />
Vor allem hat es uns erlaubt, ohne allzu große Anstrengungen<br />
neue Standpunkte zu beziehen.<br />
Aus all diesen Erfahrungen habe ich gelernt, wie hilfreich<br />
die Reflexion der persönlichen Lernbedingungen<br />
für die Förderung eines fruchtbaren Klassenklimas sein<br />
kann.<br />
Jetzt, nach all diesen Erfahrungen und Überlegungen<br />
habe ich das Bedürfnis, es auf den Punkt zu bringen.<br />
Vier unterschiedliche Positionen<br />
Es scheint mir, dass man vier verschiedene Positionen bezüglich<br />
der Mathematik beziehen kann:<br />
• die intuitive oder konkrete Mathematik auf der Basis<br />
einer vorhandenen oder vergangenen Wirklichkeit<br />
• die mathematische Strukturierung realer<br />
Situationen<br />
• das reine mathematische Spiel<br />
• die angewandte Mathematik<br />
Intuitive oder konkrete Mathematik<br />
Um diese Position zu verdeutlichen, möchte ich drei<br />
Beispiele nennen:<br />
1. Jeannette hat vier gleich große Gemäldereproduk tionen<br />
und möchte sie so an der Wand befestigen, dass alle den<br />
gleichen Abstand haben. Sie probiert einfach ohne ein<br />
Messinstrument zu benutzen. Mit einem Mal stimmt<br />
es, sie hat es geschafft, sie genau richtig aufzuhängen.<br />
Man könnte denken: „Sie hat viel Erfahrung im Messen.<br />
Sie hat viel Übung.“<br />
168 169
„Überhaupt nicht!“<br />
„Also, dann hat sie einen Sinn für Harmonie!“<br />
2. Fabrice ist 6 ^ Jahre alt. Er kann weder gut lesen noch<br />
rechnen, aber sehr gut Fußball spielen. Wenn der Ball<br />
auf ihn zugesprungen kommt, stürzt er ihm nicht entgegen<br />
wie seine Kameraden, wenn sie einen steilen<br />
Pass erhalten, sondern er geht rückwärts und steht<br />
genau an dem Ort, an dem der Ball auf den Boden<br />
trifft. Man könnte sagen:<br />
„Aber das ist keine Mathematik, das ist<br />
Bewegungslehre.“<br />
Das ändert nichts daran, dass er die Geschwindigkeit<br />
des Balles, den Ort seines Aufpralls und sogar dessen<br />
Eigendrehung gewusst, wenn nicht gar errechnet,<br />
zumindest aber geraten hat. Und wenn er einem Mitspieler,<br />
der vorläuft, den Ball zuspielt, dann schickt er<br />
den Ball dorthin, wo sein Kumpel sein wird, und nicht<br />
dorthin, wo er: gerade ist; dabei schätzt er auch noch<br />
die Laufgeschwindigkeit seines Kumpels ab, um zu<br />
wissen, mit wie viel Kraft er den Ball schießen muss.<br />
3. Rosine ist Gymnasiastin. Der Lehrer schreibt eine<br />
Aufgabe an die Tafel. Sie gibt sofort die Antwort. Er<br />
wendet sich ihr zu:<br />
„Kannten Sie dieses Problem?“<br />
„Nein, ich habe es zum ersten Mal gesehen!“<br />
„Also, wie haben Sie es gemacht?“<br />
„Ich weiß nicht. Einfach so.“<br />
„Ach“, sagt er herablassend, „das ist Intuition.“ Und<br />
er kehrt zu seinem Schreibtisch zurück.<br />
Zu dieser Zeit sieht dieses Mädchen, wie ihr Vater<br />
sich abmüht, ein Permutationsgesetz herauszufinden.<br />
Sie fragt ihn:<br />
„Was suchst du?“<br />
„Ach, ich möchte gern wissen, was passiert, wenn ich<br />
hier weitermache/’<br />
„Das ist doch klar. Du musst dort ankommen.“<br />
„Vielen Dank. Du hast mir geholfen. Jetzt weiß ich, in<br />
welcher Richtung ich suchen muss.“<br />
Es scheint, dass wir tief in das Meer des Unbewussten<br />
eingetaucht sind. Was an der Oberfläche erscheint,<br />
ist höchstens ein Zehntel der Wirklichkeit. Man glaubt,<br />
dass man die Dinge beherrscht, aber so viele Vorgänge<br />
gesche hen außerhalb unseres Bewusstseins. Das ist vielleicht<br />
die Erklärung für das, was eine andere Lehrerin,<br />
Monique Quertier, die die natürliche Methode drei Jahre<br />
lang gründlich erprobt hat, am meisten erstaunt hat:<br />
„Die Gruppe, die stillbeschäftigt arbeitet, lernt genau so<br />
viel wie die Gruppe, die mit mir arbeitet, wenn nicht gar<br />
mehr.“<br />
(Quertier, 1990)<br />
,Wir müssen der Tatsache ins Auge sehen: Intuition<br />
gibt es immer, auch im Mathematikunterricht. Besonders<br />
in der Forschungsgruppe kann sie sich frei entfalten und<br />
ihre Möglichkeiten ausspielen. So ist es nicht verwunderlich,<br />
dass z.B. Kinder wie Rosine im traditionellen<br />
Mathe matikunterricht nur mittelmäßige Leistungen erzielen,<br />
weil man dort immer den gesamten Lösungsweg beschreiben<br />
muss. In einer Gruppe von zwei oder mehreren<br />
Forschern wäre sie jedoch sehr wertvoll gewesen.<br />
170 171
Die mathematische Strukturierung von Situationen<br />
Für das Problem, die Gemälde passend aufzuhängen<br />
(vgl. S. 169), hätte ich beispielsweise eine Formel benutzt.<br />
Wenn L die Gesamtlänge der Wand und die Breite<br />
eines Bildes ist, dann ist die Länge der Abstände folgendermaßen<br />
zu berechnen:<br />
Denn ich weiß: Wenn auf jeder Seite ein Abstand sein<br />
soll, dann gibt es einen Abstand mehr als Gegenstände<br />
( 4 + 1=5 ).<br />
Ich weiß es, weil man es mich gelehrt hat, weil man<br />
es mich hat wiederholen lassen, weil man mich viele Probleme<br />
dieser Art hat lösen lassen. (Ich habe in meinem<br />
Kopf ein ganzes Arsenal von Problemtypen, die in Wirklichkeit<br />
Lösungsverfahren sind: Wasserhähne, Züge, Intervalle,<br />
Alleen, vorläufige Annahmen, Gewinnanteile,...)<br />
Und ich weiß es vor allem auch, weil ich es mehrfach<br />
im praktischen Leben überprüft habe. So habe ich durch<br />
die Arbeit mit meinen Schülern die Bedeutung des Paarbegriffs<br />
entdeckt:<br />
‘Abstand - Bild’ bilden ein Paar. Es gibt vier Abstand-<br />
Bild-Paare und es bleibt ein Abstand übrig.<br />
Aber dies wurde niemals auswendig gelernt, das wur de<br />
wieder erfunden und damit endgültig gewusst. Es ist die<br />
gleiche Art von Mathematisierung, wie wir sie so oft im<br />
‚lebendigen Rechnen‘ finden:<br />
Kosten einer Reise zur Partner-Klasse, Zahl der Kinder,<br />
Zahl der Begleitpersonen, Gruppenermäßigung,<br />
Alter, Entfernung, Tarifkilometer, Fahrpreisermäßigung<br />
an bestimmten Wochentagen, Finanzierung usw.<br />
Das tägliche Leben ist eine ständige Quelle solcher<br />
Probleme. Es sind echte Probleme, die sich tatsächlich<br />
stellen, also ‚notwendige‘ Probleme, und es ist ratsam, mit<br />
den Kindern die Lösung solcher notwendigen Proble me<br />
zu trainieren, wenn man aus ihnen gute Rechner machen<br />
will.<br />
Aber dies reicht nicht aus. (39) Selbst diejenigen Schü ler,<br />
die auf diesem Niveau gut zurecht kommen, müssen auch<br />
noch auf einer dritten Stufe ankommen können.<br />
Mathematisches Spiel<br />
Das Wesentliche beim mathematischen Spiel ist die<br />
offen sichtliche Zweckfreiheit, wodurch es für viele Leute<br />
frag würdig wird. Denn wozu soll es gut sein?<br />
Nun, vielleicht liegt es einfach in der Natur des Menschen<br />
zu spielen. Dazu muss ich auch gleich Bourbaki<br />
zitieren:<br />
„... Die Mathematik erscheint wie ein Reservoir abstrakter<br />
Formen - die mathematischen Strukturen - und offensichtlich<br />
haben sich bestimmte Aspekte der experimentellen<br />
Wirklichkeit mit bestimmten Formen vermengt.“ (40)<br />
(39) Nach Changeux und Connes (1989, S. 122 ff) gibt es drei Ebenen:<br />
• die des Rechnens (= dumme Mathematik),<br />
• die der Interaktion zwischen der ausgeführten Rechnung und den<br />
persönlichen Problemen,<br />
• die der Kreation (Changeux) bzw. der Entdeckung (Connes).<br />
Diese beiden Autoren gießen Wasser auf unsere Mühlen.<br />
(40) Mir scheint diese Aussage bemerkenswert, obwohl es sich bei<br />
der Bourbaki-Gruppe um Anhänger des Formalismus handelt.<br />
172 173
Welche Überraschung! Nicht die abstrakten Formen<br />
haben sich in die Realität eingemischt, sondern es ist die<br />
Realität, die sich manchmal in die Formen einmischt. Bestimmte<br />
Denker, wie z.B. der von Vektoren besessene Michel,<br />
fühlen sich in dem Bereich reiner Strukturen vollkommen<br />
wohl. Und auch Pierrick findet die Lösungen im<br />
Abstrakten, ohne sich auf die Realität zu beziehen: „Durch<br />
die Gegensatzpaare habe ich es vorher gewusst.“<br />
Leider wird nur dieser Denkertyp von der Schule als<br />
wertvoll anerkannt. Dass sie anerkannt werden, ist rich tig,<br />
denn sie sind auch etwas wert. Aber spielen die ande ren<br />
nicht eine genauso vollwertige Rolle? Sie könnten sogar<br />
auf ihre Weise in die Kategorie ‚Spieler mit dem Abstrakten‘<br />
gelangen, wenn man ihnen die Zeit und die Wege zugestehen<br />
würde, die sie dafür benötigen. Aber die Schule<br />
kümmert sich überhaupt nicht um diese Kinder. Sie lässt<br />
sich von Piaget auf seine Stufen der Intelligenz festlegen.<br />
Und sie tut nichts dafür, dass sie schneller erreicht<br />
werden.<br />
Nun, ist das mathematische Spiel wirklich nur reines,<br />
zweckfreies Spiel? Ist nicht jede Aktion die Frucht eines<br />
vorausgegangenen gedanklichen Spiels? Dieses unbewusste<br />
‘Entwerfen’ ist eine weit verbreitete Sache. Man<br />
könnte es zweifellos durch fortlaufende Schreibtransformationen<br />
(vgl. auch S. 153) sichtbar machen, d.h. ins<br />
Bewusstsein heben.<br />
Um diese Hypothese zu verdeutlichen, möchte ich das<br />
Bild des Skiläufers Jean-Claude Killy in Erinnerung bringen.<br />
Er stand oben am Start und beschrieb zuerst mit der<br />
Hand die ideale Strecke auf der Piste, die zum Sieg führen<br />
müsste. Genauso zeichnete eine Weltmeisterin im Kunstflug<br />
vor dem Start ihre Flugfiguren mit der Hand in die<br />
Luft.<br />
Und, wo ich schon dabei bin, noch ein Text, der in einer<br />
meiner Schreibwerkstätten entstanden ist.<br />
„Ehe er seine Bewegung ausführte, hat der Turner sie in<br />
aller Genauigkeit in seinem Geist vorbedacht. Jetzt geht<br />
es darum, dass sein Körper es schafft, sich genau dieser<br />
Abstraktion anzupassen ohne sich - soweit das möglich ist<br />
- an irgendeinem Teil dieser so überaus genauen und so<br />
vollkommenen gedanklichen Konstruktion zu verlet zen.<br />
Es sei denn, man riskiert eine Verletzung des Den kens,<br />
wenn nicht gar der Seele.“<br />
Angewandte Mathematik<br />
Patrice ist das lebendige Beispiel für diejenigen, die<br />
sich um die Anwendung der abstrakten Mathematik auf<br />
die Wirklichkeit bemüht haben. Es ist unnötig, das an<br />
dieser Stelle zu vertiefen: Wir wissen seit langem, dass<br />
die Grundlagenforschung und die angewandte Forschung<br />
eng miteinander verbunden sind. Praktiker und Theoretiker<br />
brauchen einander. Aber wenn es manchmal zu einer<br />
Blockade in gewissen Wissenschaften, wie z.B. in der<br />
Neuro-Biologie, kommt, dann kann das daran liegen, dass<br />
es noch keine geeigneten Modelle gibt. Wir brauchen also<br />
Erfinder, Dichter, Künstler, kurzum phantasievolle Menschen,<br />
die natürlich trotz allem aufpassen müssen, dass sie<br />
nicht den Boden unter den Füßen verlieren!<br />
174 175
Zusammenfassung<br />
Jetzt möchte ich für diejenigen, die eine optische Veranschaulichung<br />
benötigen, folgendes Schema vorstellen:<br />
Es handelt sich um vier unterscheidbare Bereiche, in<br />
denen man Anerkennung im Umgang mit der Mathematik<br />
finden kann. Aber es ist nicht zwingend, dass man<br />
in einem verbleibt. Wenn doch, dann liegt es vielleicht in<br />
seiner ureigenen Natur. Aber es kann auch am Einfluss<br />
der familiären Umgebung liegen. Manche sind bis zur<br />
Übertreibung Pragmatiker oder Idealisten. Aber ein Kind<br />
kann, dank der Arbeit in der Gruppe, Bereiche und Verhaltensweisen<br />
entdecken, die es noch nicht kannte und die<br />
ihm dennoch entsprechen.<br />
Jedenfalls, selbst wenn das Kind in seinem dominan ten<br />
Bereich bleiben sollte, so hat es die Chance, in den anderen<br />
Bereichen tastende Versuche zu machen und so seine<br />
Fähigkeiten zu erweitern.<br />
5. Rückblickende Überlegungen<br />
Was ist aus den Schülern geworden?<br />
Auch ich kann aus meinem Himmel des freien Schreibens<br />
herabsteigen und zur Wirklichkeit zurückkehren;<br />
denn ich habe Neuigkeiten über meine ehemaligen Schüler<br />
erfahren, als ich mich ein wenig länger in meiner früheren<br />
Heimat (41) aufgehalten habe.<br />
Dieses Buch hat mich veranlasst, persönlichen Kontakt<br />
mit den beiden markantesten Persönlichkeiten des Abenteuers<br />
‚natürliche Methode in der Mathematik‘ aufzunehmen.<br />
Und so hörte ich eines Abends anstelle der dünnen<br />
Stimme, die ich in meinem Gedächtnis gespeichert hatte,<br />
eine tiefe und volltönende Stimme am Telefon. Und als ich<br />
am nächsten Tag auf einer Baustelle einen Kerl von dreißig<br />
Jahren, genau so groß wie ich, auf mich zukom men<br />
sah, konnte ich es gar nicht fassen. Ich war so über rascht,<br />
dass ich nicht wusste, wie ich mich gegenüber einem so<br />
ernsthaften und so verantwortungsvollen Mann verhalten<br />
sollte; denn es ist zu schön, um wahr zu sein, und trotzdem<br />
ist es wahr: Patrice ist jetzt Baustellenleiter.<br />
Und als ich ihn daran erinnert habe, dass er immer sofort<br />
die Strukturen, die andere erfunden hatten, auf die<br />
(41) Bis dahin hatte ich immer gezögert mich meiner Heimat zu nähern,<br />
um nicht zu sehr unter Heimweh zu leiden. Ich hatte mich vorher nur von<br />
Zeit zu Zeit darum bemüht, Neuigkeiten über den einen oder anderen<br />
meiner vierhundert Schüler zu erfahren. Ich hatte sie besonders genau<br />
gekannt, nicht nur, weil sie zwei oder drei Jahre in meiner Klasse waren,<br />
sondern weil sie so viele Möglichkeiten zu ihrer Verfügung hatten, sich<br />
durch den freien mündlichen, schriftlichen, mathematischen, körperlichen,<br />
gesun genen und grafischen Ausdruck als Personen darzustellen, so<br />
dass ich sie nicht nur als Schüler in Erinnerung habe, sondern als junge<br />
Persönlichkeiten mitten in ihrer Entwicklung.<br />
176 177
Wirklichkeit anwandte, hat er mir geantwortet:<br />
„Es stimmt, ich mag gerne Ideen umsetzen!“<br />
Er war es ja damals auch, der ein ganzes, sehr langes<br />
Abenteuer mit regelmäßigen Körpern dadurch initiiert<br />
hatte, dass er mit viel Energie aus 5 mm starkem Karton<br />
eine Schachtel baute, die tatsächlich wie eine Schachtel<br />
aussah. Und er hat gesagt:<br />
„Die Konstruktion ist einfach, das ist nur Geometrie.“<br />
Und als ich ihn nach seiner Beziehung zur Mathematik<br />
fragte, sagte er mir, dass er im Laufe der Jahre und<br />
der Lehrpläne Höhen und Tiefen erlebt habe. Aber er hat<br />
ein hervorragendes technisches Abitur (42) abgelegt. Dieses<br />
Kind, das schon sehr früh eine gewisse Neigung zum<br />
Pragmatismus erkennen ließ, hat also diesen Weg weiterverfolgt.<br />
Man könnte mir vorwerfen, dass ich übertreibe, dass ich<br />
die Fakten zu sehr verdrehe. Aber ich habe auch mit Michel<br />
telefoniert. Bei ihm hatte ich erwartet, dass er sei ne Schulzeit<br />
nicht mit Erfolg beenden würde. Michel hatte als der<br />
verwöhnte Jüngste einer Familie mit drei Kindern, davon<br />
eine Schwester mit hervorragenden Leistungen, keinerlei<br />
elterlichen Druck bezüglich seiner Schullauf bahn erfahren.<br />
Und so hat er nach der mittleren Reife auf gegeben.<br />
Nach einer Zeit der Entspannung hat er beschlossen sich<br />
weiterzubilden und hat zunächst den Abschluss (C.A.P.)<br />
(43) als Mechaniker für Dieselmotoren abgelegt. Aber vor<br />
allem hat er, auf dem eingeschlagenen Weg weitergehend,<br />
ein Kapitänspatent erworben. In bezug auf Mathematik<br />
hatte er keine Probleme: es ging vor allem um Nautik, um<br />
(42) In Frankreich kann das Abitur in verschiedenen Zweigen der<br />
gymnasialen Oberstufe abgelegt werden, darunter auch in Technik. (Anm.<br />
d. Übers.)<br />
(43) Der Berufsabschluss des C.A.P. (Certificat d‘Aptitude Professionelle)<br />
wird an einer Vollzeit-Berufsschule erworben. (Anm. d. Übers.)<br />
die richtige Route, um Punkte und Verlängerungen. Die<br />
Aufgaben der Fahrtroutenbe stimmung und das Studium<br />
von nautischen Karten faszi nierten ihn. Er war es ja auch,<br />
der sich schon mit 7 Jahren (bei den Vektoren) für die Probleme<br />
der Fahrstrecken interessierte!<br />
Ich weiß, man wird sagen, dass es bei den beiden reiner<br />
Zufall war, dass sie ihren Beruf auf ihren Neigungen<br />
aufbauen konnten. Das kann durchaus sein. Unbestreit bar<br />
bleibt aber, dass Kinder sehr früh bestimmte Nei gungen<br />
haben, selbst, wenn man sie nicht bemerkt.<br />
Es ist ein ungeheures Glück, sein Leben auf seinen tiefsten<br />
Neigungen aufbauen zu können. Trotzdem sagt die<br />
Familie von Patrice, dass er immer noch so verträumt ist.<br />
Patrice, ein Träumer? Wo er doch sein eigenes Haus selbst<br />
gebaut hat? Aber ja doch, er ist auch ein Träumer, denn<br />
eine Persönlichkeit ist komplex, sie ist vielfältig. Es kann<br />
bei derselben Person sowohl Verpflichtungen in der Wirklichkeit<br />
geben als auch Zeit und Raum für Träume.<br />
Und Michel, als Kapitän von Ausflugsschiffen zu den<br />
Inseln? Hat ihm seine Fähigkeit zum mathematischen<br />
Spiel dabei geholfen? Wer weiß! Ein Steuermann muss<br />
zweifelsohne einen mathematischen Verstand haben. Die<br />
tatsächliche Fahrstrecke eines Schiffes, das Besteck (zum<br />
Bestimmen des Standortes), die Gezeiten, die Strömun gen<br />
... Dabei kommt mir sofort eine dumme Frage in den Sinn.<br />
Ich würde gern wissen, ob er auf eine seiner Erfindungen<br />
zurückgegriffen hat, um das Phänomen der Gezeiten, die<br />
sich jeden Tag um 50 Minuten verschieben, zu verstehen,<br />
nämlich: „Und wenn ich einmal ums Rechteck herumgehe<br />
und dann noch auf einer Seite?“ (vgl. S. 158). Denn genau<br />
darum geht es bei der Phasen verschiebung.<br />
Sicher werde ich es nie wissen. Trotzdem wird man bestätigen,<br />
dass es wichtig und sogar unabdingbar ist, den<br />
Kindern möglichst viele Versuche in alle denkbaren Richtungen<br />
zu ermöglichen.<br />
178 179
Und Pierrick, dieser Provokateur, der alles so genial<br />
mathematisieren konnte, sortiert heute Verkehrsschilder.<br />
Man darf sich keine Illusionen machen. Die Zeit, in der<br />
man sein Überleben seinen fundamentalen Fähigkeiten<br />
verdankt, ist noch nicht gekommen. Aber manchmal kann<br />
es vorkommen. Dann ist es keine abstrakte (ent fremdete)<br />
Arbeit mehr, bei der das Individuum nur noch ein austauschbares<br />
Rädchen eines unüberschaubaren Getriebes<br />
ist, sondern, wie Marx es sagte, eine konkrete Arbeit, die<br />
sich auf der Kraftlinie des Individuums abspielt. Außerdem<br />
wissen wir jetzt, dass man sich zum Überleben andauernd<br />
bewegen, umsiedeln, verändern, anpassen, wiederanpassen<br />
.... muss. Und die natürliche Methode im Mathematik-Unterricht<br />
entwickelt solche Fähigkeiten. Wenn<br />
man viele Gebiete erforscht hat, kann man sich auch in<br />
neu auftauchenden Gebieten wohl fühlen. Außerdem gibt<br />
es über den Beruf und über das Überleben hinaus noch<br />
das Leben selbst sowie die Freude am Leben. Und die darf<br />
sich ruhig schon in der Schule entfalten.<br />
Lösungsverfahren und Strategie<br />
Ich möchte noch bei meinen früheren Schülern bleiben;<br />
denn über sie können wir etwas Wichtiges verstehen: nämlich<br />
den Unterschied zwischen algorithmischen Lösungsverfahren<br />
und strategischem Denken. Im Lösungsverfahren<br />
ist an alles gedacht, alles ist von vorn herein festgelegt.<br />
Man muss es nur noch Schritt für Schritt ausführen. Die<br />
Strategie weiß im Großen, was sie will, aber sie ist offen<br />
und auf Entwicklung angelegt. Sie tritt dem Unvorhergesehenen,<br />
dem Neuen kühn entgegen. Das Lösungsverfahren<br />
und die Strategie sind also einan der entgegengesetzt<br />
und ergänzen einander.<br />
Patrice hatte also sein Haus gebaut. Er war gut dafür<br />
ausgerüstet, weil er wusste, was zu tun war. Das Lösungsverfahren<br />
war von vornherein in seinen Hand lungen festgelegt.<br />
In diesem Sinne lief es automatisch‘ ab. Patrice<br />
konnte die Menge des Holzes, des Zements, der benötigten<br />
Steine, der zu bewegenden Erdmassen aus rechnen.<br />
Er konnte einen Plan lesen, Mörtel anrühren, eine Mauer<br />
aufrichten ..., kurzum, er konnte ein Haus bauen.<br />
Aber er (44) war auch derjenige, der den Plan für das<br />
Haus entworfen hatte. Er hat zunächst lange von seinem<br />
Haus geträumt. Dann hat er sich an die Arbeit an einem<br />
Zeichenbrett gemacht. Dort gab es keine Vorgaben, denn<br />
Strategie wird von Zielen geleitet und nicht von Operationen.<br />
Nach und nach hat er es geschafft, ziemlich genau<br />
zu bestimmen, was seine Frau und er wollten. Aber wie<br />
konnte diese Vorstellung realisiert werden?<br />
Es war nicht einfach, weil es harte Sachzwänge gab.<br />
Sie hatten sich ein bestimmtes Viertel ausgesucht und sie<br />
wollten Sonne im Wohnzimmer, aber im Süden lag ein<br />
Hochhaus. Sie hätten gerne ein zweites Stockwerk gehabt,<br />
aber der Bauleitplan hat es nicht zugelassen. Sie hätten<br />
einen Keller ausheben können, aber die Kosten standen<br />
dem entgegen: zu viel Granit im Erdreich. Die Lösung:<br />
Das Haus sollte nur halb unterkellert und nach Nordwesten<br />
ausgerichtet sein. Beim Schieferdach, der Zahl und der<br />
Lage der Zimmer, der Heizung, dem Zugang zur Garage<br />
usw. lagen die Dinge nicht anders. Sie wussten genau, was<br />
sie gern gehabt hätten. So aber mussten sie mit Zufällen<br />
und Hindernissen jonglieren. Trotzdem sind sie mit ihrem<br />
Haus wesentlich zufriedener, als sie es erwartet hatten,<br />
(44) In diesem Fall gab es, anders als bei dem theoretischen Physiker und<br />
dem experimentellen Physiker, die zwei unter schiedliche Personen sind,<br />
nur einen einzigen Kopf unter der weißen Mütze des Maurers<br />
180 181
weil sie auch positive Aspekte, die nicht vorherzusehen<br />
waren, entdeckt haben. Man muss wohl erst in einem<br />
Haus leben, um alle angenehmen Seiten zu entdecken.<br />
Offen sein, entwicklungsfähig sein, dem Unvorhergesehenen<br />
und dem Neuen die Stirn bieten: Das ist eine ausgezeichnete<br />
Strategie für das Leben. Ist das nicht bes ser, als<br />
mit aller Macht festgelegte Lebensabläufe durch zuziehen?<br />
Doch können wir uns ändern? Es kann moti vieren, wenn<br />
man sich an der Wirklichkeit stößt; es kann aber auch entmutigen.<br />
Vielleicht kann man das Glück als die Fähigkeit<br />
definieren, bei unüberwindbaren Hinder nissen den Traum<br />
zu verändern oder loszulassen.<br />
Aber Michel, der Seemann, hatte keine Wahl. Kann<br />
man das Meer ändern? Nein, es ist unvorhersehbar. Man<br />
muss den Wind, Dutzende von Gezeiten, die Kraft der<br />
Ebbe, die geographische Stelle berücksichtigen, um das<br />
Schiff zu bewegen, man muss die Untiefen kennen und<br />
die Sicherheitsgrenzen, die man nicht überschreiten darf.<br />
Derjenige, der für ein Boot verantwortlich ist, muss andauernd<br />
in Hab-Acht-Stellung und immer bereit sein, die<br />
Informationen, die ankommen bzw. den Zeichen der Natur<br />
entnommen werden müssen, zu verarbeiten. Und dabei<br />
werden Hypothesen, die oft bestätigt wurden, zu Quasi-<br />
Gesetzen. Sie bilden festgelegte Abläufe, auf die man sich<br />
stützen kann, um Entscheidungen zu treffen. Aber Misstrauen<br />
ist angebracht, denn bei der See gibt es nichts, was<br />
sicher oder endgültig ist. Welche Verant wortung, Steuermann<br />
eines Ausflugdampfers zu sein!<br />
Man muss also fähig sein, gleichzeitig Strategien zu<br />
entwickeln und Algorithmen auszuführen. Wie der Mathematiker,<br />
der eine Gleichung entwirft und diese dann<br />
‚automatisch‘ auflöst.<br />
Nun gut, ich glaube, dass die natürliche Methode im<br />
Mathematikunterricht besser als in irgend einem anderen<br />
Bereich einen Beitrag zur Entwicklung von Strategien und<br />
Lösungsverfahren leistet. Denn es gibt Risiken, wechselndes<br />
Glück, Unvorhergesehenes, Vorstöße auf neue Gebiete,<br />
Störungen, Phasenverschiebungen, Verän derungen<br />
im Blickwinkel, das Eintauchen in Worte, Anagramme,<br />
Rhythmen, Reime, Antireime, Eruptionen in der dritten<br />
Dimension oder gar in der vierten, das Unendliche, das<br />
nicht Abzählbare ... Und das bei Mit spielern, die die unterschiedlichsten<br />
Charaktere haben: dem Erweiterer, dem<br />
Erfinder, dem Nachmacher, dem Aufnehmenden, dem<br />
Herumstreifenden, dem Störer, dem Phasenverschieber,<br />
dem Entwickler, dem Phantasten, dem Ausdenker, dem<br />
visuellen oder dem auditiven Typ, dem Oppositionellen,<br />
dem Herrscher usw.<br />
Und jedes Mal muss man sich bewusst machen, was<br />
passiert, was sich ereignet, was auftaucht: eine neue Regel<br />
beispielsweise oder zwei Regeln, die gleichzeitig zu beachten<br />
sind... Man muss Lösungen, Auswege, Flucht wege<br />
finden, wie es Tiziano und der kleine Robin ver sucht<br />
haben. Oder wie es eine Beute in dem Moment tut, in<br />
dem sie gefangen wird. Und all das nur, um Intelligenz<br />
zu entwickeln. Aber auch Spiel, Neugier und freies Experimentieren<br />
können sich in der Geborgenheit der Gruppe<br />
entfalten.<br />
Beim Begriff Intelligenz fällt mir ein Ausdruck ein,<br />
den ich erst jetzt verstehe. Bei den Wettbewerben um<br />
nationa le Stipendien gab es früher ‚verwickelte‘ Probleme,<br />
das waren ‘Probleme für die Intelligenz‘ (45) . Und als Kandidat<br />
fand man überraschende Aufgaben vor. Anstelle<br />
des klassischen: „Ein Zug fährt um 8.45 Uhr los...“ oder<br />
eines „Ein Kaufmann kauft ein Fass, das 228 Liter fasst,<br />
(45) ‘problemes ficelles’ ist gleichbedeutend mit ‘problemes d’intelligence’<br />
(Anm. d. Übers.)<br />
182 183
...“ hatte man jetzt Anrecht auf eine sehr lange Aussage:<br />
„Jacques hat erzählt, dass ...“<br />
Schon allein der Anfang bringt einen vom Wege ab.<br />
Keine Möglichkeit mehr, die Problemlösungsformel, die<br />
man so gut kennt, automatisch anzuwenden. Man muss<br />
nachdenken, sich der Gegebenheiten vergewissern, den<br />
richtigen Lösungsweg finden usw.<br />
Nun gut, es ist klar: Um die Schüler auszuwählen, die<br />
zu längeren Studien fähig sind, versucht man, ihre Fähigkeit<br />
zu strategischem Denken zu testen. Dagegen hat man<br />
für das ‚Certificat d‘Etudes Primaires‘ (46) überprüft, ob<br />
die Kandidaten die Lösungswege, die zu bestimmten Problemtypen<br />
gehören, sicher gelernt haben.<br />
So trichterte man uns früher Lösungswege, nichts als<br />
Lösungswege ein. Jetzt muss man sie selbst konstruieren<br />
und seine Fähigkeiten zur Strategie, die in unserer Zeit so<br />
notwendig geworden sind, weiter entwickeln. (47) Noch nie<br />
lebten wir in einer Welt, die sich so schnell verändert. Wir<br />
sind dauernd gezwungen, neuen Situationen die Stirn zu<br />
bieten. Auf diese Welt müssen wir die Kinder vorbereiten.<br />
Wir können mit Morin sagen,<br />
„dass jede Entwicklung des strategischen Denkens als<br />
eine emanzipatorische Entwicklung zu mehr Autonomie<br />
des Menschen gegenüber seiner Umwelt angesehen wer<br />
den kann.“<br />
(Morin 1986, S. 63)<br />
(46) Das ‚Certificat d‘Etudes Primaires‘ war ein Examen in Frankreich,<br />
das etwa dem Hauptschulabschluss entspricht. (Anm. d. Übers.)<br />
(47) Dieser Umschwung ist in Frankreich viel einschneidender als<br />
in Deutschland, weil das gesamte Schulsystem auf die Vermittlung<br />
eines enzyklopädischen (und damit auch abfragbaren) Wissens<br />
ausgerichtet war (und größtenteils noch ist). Das gilt auch für die<br />
weiterführenden Schulen. (Anm. d. Übers.)<br />
Die Autonomie der Menschen, das ist etwas, was uns<br />
<strong>Freinet</strong>-Lehrer kraftvoll mobilisieren kann. Und das ver<br />
suchen wir mit Hilfe neu gewonnener Erfahrungen vor<br />
anzutreiben.<br />
„Aber missachtet ihr dabei nicht zu sehr die Wirklichkeit?<br />
Seid ihr überhaupt noch <strong>Freinet</strong>-Pädagogen?“<br />
Achtung, an dieser Stelle möchte ich einen wichtigen<br />
Punkt hervorheben, nämlich den Aspekt der Neuerung,<br />
welche die natürliche Méthode im Mathematik-Unterricht<br />
darstellt. Denn so, wie die nicht-euklidische Mathematik<br />
die euklidische nicht überflüssig, sondern sie zu einem<br />
Spezialfall macht, so bleibt fast alles, was bis heute verwirklicht<br />
worden ist, gültig. Sonst wäre es eine zu große<br />
Umwälzung.<br />
Trotzdem muss man folgendes sehen: So, wie das<br />
Einstein’sche System nicht die Folgerung aus dem<br />
Newton’schen System ist, sondern etwas gänzlich ande res<br />
darstellt, ist die natürliche Méthode keine Ver besserung<br />
des ‚lebendigen Rechnens‘, sondern beinahe das Gegenteil.<br />
Natürlich nehmen auch wir jede passende Gelegenheit<br />
wahr, um Ereignissen aus dem Leben einen Platz im<br />
Mathematikunterricht einzuräumen. Denn gera de diese<br />
Ereignisse mit ihren vielschichtigen Konnota tionen gewährleisten<br />
ein Maximum an Lernen und Behalten. Übrigens<br />
baut unser Unterricht genau darauf auf: Jede Stunde<br />
ist, für sich selbst genommen, ein Ereignis. Dennoch ist<br />
es in gewisser Weise ein internes Ereignis innerhalb eines<br />
geschlossenen Systems.<br />
Aber manchmal dringt eben die Umgebung, die Umwelt<br />
in die Welt des Klassenzimmers ein. Und manchmal<br />
tut man gut daran, dem die ganze Aufmerksamkeit<br />
zu widmen und darauf einzugehen. Zum Beispiel der<br />
Empfang oder das Abschicken eines Paketes, die Anlieferung<br />
von Weintrauben durch einen kleinen Winzer, die<br />
Sonne, die nach dem Unterrichtsbeginn aufgeht, usw. Ich<br />
184 185
selbst habe das lebendige Rechnen ausgiebig praktiziert.<br />
Überall habe ich Anlässe dafür wahrgenommen: in der<br />
Anordnung der Tische im Klassenraum, das Aufteilen der<br />
Schokolade, die wir aus der Schweiz erhalten haben, die<br />
Anzahl der Blätter für die Schulzeitung ...<br />
Aber es war immer ich, der Lehrer, der die mathematischen<br />
Strukturen gesehen und aufgegriffen hat. Und<br />
genau das ist der Unterschied. Einige der Kinder waren<br />
sehr empfänglich für meine Begeisterung. Sie teilten sie<br />
ganz offensichtlich. Aber ich glaube, dass mir in Wirklichkeit<br />
vier oder fünf Schüler genügten, damit ich den<br />
Eindruck hatte, es funktioniert. Und so machte ich mir<br />
etwas über die tatsächlichen Fortschritte vor.<br />
Das alles hat sich geändert, als ich die kopernikanische<br />
Wende vollzogen habe: vom Kinde auszugehen. Und<br />
wenn ich dann die Schülerarbeiten anschaue, stelle ich mit<br />
Erstaunen fest, dass wir sehr oft von einer ‚Erfindung‘<br />
ausgehend in den praktischen Bereich eingetaucht sind.<br />
Hier zum Beispiel bei Jean-Paul.<br />
Bei dieser Gelegenheit haben wir uns Eimer, Fässer<br />
und Tonnen für den Cidre auf seinem Bauernhof angesehen.<br />
Danach hatte das Atelier ‚Messen von Volumen‘ noch<br />
größeren Zulauf als davor.<br />
Ähnlich war es bei Yvon, dem Sohn eines Tischlerunternehmers<br />
im Bauhandwerk.<br />
Er hat gezeichnet und geschrieben:<br />
Natürlich habe ich die Gelegenheit ergriffen und die<br />
Schüler zum Lachen gebracht, indem ich gebückt herumgegangen<br />
bin: Ich war ein Mini-Lehrer. Aber dann sind<br />
wir auf Millimeter zurückgekommen. Trotzdem habe ich<br />
die Situation nicht sofort benutzt, um den Kindern Begriffe<br />
und Ergebnisse zu vermitteln, d.h. sie in den Verantwortungsbereich<br />
und Denkhorizont des Lehrers zu<br />
ziehen.<br />
Nein, Anlass für Maße und Messen war eine ganz andere<br />
Situation: als nämlich jemand Kartonschilder aus<br />
einer Apotheke mitbrachte und alle sich darauf stürzten,<br />
um mit Hilfe einer Säge einen riesigen Würfel daraus zu<br />
bauen. Außerdem lernten sie viel über Maße und Messen<br />
durch den Gebrauch von Millimeterpapier für Flächenberechnungen<br />
(mit immer kleiner werdenden Kästchen). Im<br />
Anschluss daran hat Yvon übrigens einen Plan von sei nem<br />
Haus mitgebracht. Das hat uns wieder zur Wirklichkeit<br />
zurückgeführt oder genauer zur Darstellung einer konstruierten<br />
bzw. zu konstruierenden Wirklichkeit.<br />
Wenn ich in meinen Dokumenten nachschlage, erstaunt<br />
mich, wie sehr ich meine Anwesenheit schon zurückgenommen<br />
habe. Man hält mir oft vor:<br />
„Du erklärst ziemlich schlecht. Und du bist Lehrer?“<br />
186 187
Aber die Kinder haben es sich längst selbst erklärt. Für<br />
mich bestand keine Notwendigkeit mehr, ihnen irgendeine<br />
Information, wie perfekt auch immer, zu geben, weil sie<br />
nämlich eine Information geblieben wäre.<br />
Ich habe übrigens eine Bestätigung für dieses Phänomen<br />
erhalten, als mir Monique Quertier begeistert Arbeiten<br />
(Erfindungen) aus dem Bereich der Geometrie von ihrer 3.<br />
Klasse gezeigt hat. „Die Kinder haben alles wie derentdeckt:<br />
Sie haben ausgehend von den freien mathemati schen Texten<br />
alle Definitionen wiederentdeckt.“<br />
Hier einige dieser Texte:<br />
Florian: Die Streifen:<br />
Kamal:<br />
(Ist das eine Raute?)<br />
Confik: Confik:<br />
(Rate: Quadrat oder Raute?)<br />
Chrystel:<br />
Céline:<br />
(A geht zu...<br />
B geht zu ...)<br />
188 189
Cedric:<br />
Die Frage nach dem didaktischen Material<br />
Ich habe Patrice später auf einer anderen Baustelle<br />
getrof fen. Er hat mir erzählt, dass er Architekt hätte werden<br />
können, aber er mag die Konstruktionen lieber selbst<br />
aus führen. Trotzdem wird er wohl Unternehmer werden.<br />
Dort kann er seine vielen Kompetenzen anwenden, die<br />
auf seiner Kreativität und seiner herausragenden Fähigkeit<br />
beruhen, alle notwendigen Arbeitsschritte zu berücksichtigen.<br />
Denn er ist kreativ: Er kann, wenn es nötig ist, eine<br />
Betonplatte rutschen lassen und anschließend Stützen errichten,<br />
die sie halten sollen. Oder er fängt mit der Renovierung<br />
einer Fassade von oben an. Aber das geschieht<br />
nicht aus einem Spiel oder aus reiner Lust her aus, sondern<br />
weil es in dieser Situation besonders zweckmäßig ist. Er<br />
tut es, damit die Zimmerleute und die Dachdecker gleichzeitig<br />
anfangen können. Er liebt es, Strategien auszuarbeiten:<br />
„Es ist interessant, weil jede Baustelle unterschiedlich<br />
ist.“<br />
Aber ich war sehr erstaunt, als er mir gesagt hat,<br />
dass eine seiner grundlegenden Fähigkeiten auf meinen<br />
Unterricht zurückzuführen sei. Er meinte die Fähigkeit,<br />
sich die zweidimensionalen Formen auf den Blaupausen<br />
der Architekten sofort dreidimensional vorstellen zu können.<br />
Diese erstaunliche Fähigkeit erlaubt es ihm, seinem<br />
Trupp ohne Verzug die Arbeiten zu erklären, die getan<br />
werden müssen.<br />
Ich hatte vermutet, dass er sich dabei auf unser Abenteuer<br />
mit der Konstruktion von festen Körpern bezieht. Er<br />
brachte aber eher meinen ‚Bänderkäfig‘ mit seiner Fähigkeit<br />
in Verbindung.<br />
Um den Kindern zu ermöglichen, auch im Raum zu<br />
experimentieren, hatte ich eine Struktur erfunden, die<br />
die Symbolisierung von Körpern erlaubt. Stellen Sie sich<br />
einen Würfel vor: die Decke und der Boden, eine 25 cm<br />
x 25 cm große gelochte Platte. Beides sind vorgefertigte<br />
Teile; die vier Pfosten: Winkeleisen aus dem Stabilbaukasten.<br />
Zwischen der Decke und dem Boden konnte man<br />
völlig frei weiße Gummibänder spannen, indem man sie<br />
in den Löchern befestigte. Man konnte ohne eine vorgefasste<br />
Idee nach dem Zufallsprinzip arbeiten und manchmal<br />
entdecken, dass es z.B. einem Zirkuszelt ähnelte, einer<br />
Manege oder einer Rakete. Und manchmal reichte es aus,<br />
die Position von zwei oder drei Bändern zu verän dern, um<br />
einen Körper von großer Klarheit zu erhalten: einen senkrechten<br />
Zylinder, eine vertikale Pyramide, einen schiefen<br />
Kegel...<br />
Jeder Schüler der 3. Klasse musste sich mindestens einmal<br />
damit beschäftigen, sollte probieren und sehen, ob er<br />
nicht zufällig ein faszinierendes Forschungsfeld ent deckte.<br />
Und es waren Pierrick, der Kreative, und eben Patrice, die<br />
sich als die Eifrigsten entpuppten.<br />
Mit dieser Enthüllung stellt sich die Frage nach der (materiellen)<br />
Ausgestaltung einer günstigen Lernum gebung.<br />
Allerdings sollte man nicht zu große Hoffnungen in die<br />
Unterstützung durch das Material setzen.<br />
190 191
„Man wird feststellen, dass die Unterstützung niemals vollständig<br />
trägt. Das sieht man, wenn ein Kind sich mit Hilfe<br />
von strukturiertem Material ein eng begrenztes Thema<br />
erarbeitet. Zunächst glaubt man, dass dank des Materials<br />
dieser Begriff gründlich erworben und bestimmte Fortschritte<br />
erzielt worden sind. Tatsächlich stimmt das aber<br />
oft überhaupt nicht, und die gleichen Schwierigkeiten wie<br />
vorher tauchen wieder auf, sobald die Handlungen mit<br />
dem Material aufgegeben werden.“<br />
(Jean-Claude Pomes)<br />
Das haben Lehrer sehr oft feststellen müssen.<br />
Man muss also Werkzeuge bereitstellen, die die Handlung<br />
nicht auf ein bestimmtes Thema eingrenzen: Lineal,<br />
Dreieck, Zirkel, Winkelmesser, Karten, Bänderkäfig,<br />
Cuisenaire-Stäbe, Computer mit der Programmiersprache<br />
LOGO,...<br />
Das ist ein Thema, über das wir noch weiter nachdenken<br />
müssen.<br />
Ich persönlich meine, dass die Kinder verpflichtet werden<br />
sollten, solche Werkzeuge zumindest einmal zu benutzen,<br />
damit sie von ihrer Existenz wissen und damit<br />
umgehen können, wenn sie sie brauchen. Aber man sollte<br />
ihnen nicht vorschreiben, wie und wie lange sie damit<br />
arbeiten.<br />
So kann Patrice, der Realist, mit dem Bänderkäfig versuchen,<br />
reine Körper zu konstruieren. Pierrick, der Erfinder,<br />
wird auf die Decke und auf den Boden verschiedene<br />
Formen zeichnen, um zu sehen, was dabei rauskommt,<br />
wenn er die Fäden spannt. Jacques, der Mathematiker,<br />
wird sich Kurven für oben und unten ausdenken. Und er<br />
wird es Christian, dem Handwerker, überlassen, sein Programm<br />
zu verwirklichen. Aber Gael, der allergisch gegenüber<br />
der Arbeit mit Materialien ist, wird in das LOGO des<br />
Computers eintauchen. Er wird diesen Apparat zunächst<br />
in einer eingeengten Weise benutzen, aber die anderen<br />
werden ihn durch ihr Beispiel wahr scheinlich ermutigen,<br />
sein Arbeitsfeld zu erweitern ....<br />
In der Erziehung werden wir der Komplexität der<br />
Dinge nicht gerecht, wenn wir nicht versuchen, möglichst<br />
viele Elemente der umgebenden Situation einzubeziehen.<br />
Und unsere Möglichkeiten in diesem Gebiet sind, wie das<br />
Beispiel des didaktischen Materials zeigt, sehr viel größer,<br />
als man es vermuten könnte.<br />
Die Kraft, die uns antreibt<br />
„Das menschliche Wesen weiß nicht, was es wünschen<br />
soll. Es sind die anderen, die es für ihn festlegen, indem<br />
sie es selbst wünschen.“<br />
(Girard, 1978)<br />
Doch diese Aussage von dem blinden Eifer zur Anpassung<br />
stimmt plötzlich nicht mehr, wenn man sich auf seine<br />
eigenen Wurzeln und Bedürfnisse zurückbe sinnt, wie<br />
es durch den freien mathematischen Text möglich wird.<br />
Deshalb habe ich mich hier wie in den anderen Gebieten<br />
dafür eingesetzt, dass die Kinder ihre individu ellen Wege<br />
suchen und gehen konnten, indem ich jeden einzelnen,<br />
soweit es möglich war, z.B. vor jedweder Bewertung geschützt<br />
habe. Und vor allem vor meiner eigenen. Entsprechend<br />
dem Prinzip der Gleichbehand lung habe ich mich<br />
bemüht, jeden zweiten Tag von jedem Kind eine Erfindung<br />
vorzustellen. Und ich habe versucht, mich parallel<br />
dazu durch Lektüre und Gespräche zu bereichern und<br />
mich in die Lage zu versetzen, so viel wie möglich von<br />
den Kindern wahrzunehmen.<br />
Natürlich quälte mich beim ersten Mal der Wunsch<br />
nach sichtbaren Ergebnissen und nach mehr Festigung<br />
192 193
des Wissens, aber ich habe meiner Angst widerstanden,<br />
indem ich mir Grenzen gesetzt habe. „Ich verbiete dir, vor<br />
Weihnachten Angst zu haben.“<br />
Und zu Weihnachten: „Nun, du bist kein Mann, wenn<br />
du nicht bis Ostern durchhältst.“<br />
Nun, es hat sich als richtig erwiesen, dass ich in diesem<br />
ersten Jahr ausgehalten habe, denn zu Ostern hatten<br />
wir nicht nur den Lehrplan erfüllt, sondern waren weit<br />
darüber hinausgegangen. Und vor allem hatten die Kinder<br />
großen Hunger auf Mathematik. Um das deutlich zu<br />
machen, stelle ich jetzt ein Dokument vor, das Jean Astier,<br />
ein Lehrer aus dem Departement Var, geliefert hat (siehe<br />
Abbildung auf der folgenden Seite). Er schreibt als Erläuterung<br />
dazu:<br />
„Dieses Dokument wurde von einem vierjährigen Mädchen<br />
namens Céline allein, d.h. ohne Einmischung<br />
durch irgendeinen Erwachsenen angefertigt. Ich habe<br />
es erst lange Zeit, nachdem es angefertigt worden ist,<br />
gefunden...<br />
So paradox das auch scheinen mag, die Mathematik ist<br />
ein Ort des persönlichen Ausdrucks. Sie ermöglicht,<br />
dass grundlegende Ausdrücke, die an die Lebens<br />
geschichte der Person gebunden sind, auftauchen. Der<br />
Beweis dafür ist, dass sich Céline für Paare entschieden<br />
hat. Warum hat sie Paare gemalt? Hat das mit der<br />
momentanen Beziehung zu tun, die zwischen ihren<br />
Eltern herrscht? Oder mit der zwischen ihr und ihrer<br />
Mutter? Ich kann es nicht genau sagen, aber ich bin mir<br />
sicher, dass sie in ihrer Aussage nicht nur durch die<br />
zufällige Begegnung mit einem perforierten Blatt<br />
Endlospapier geleitet war.“<br />
(Jean Astier)<br />
Als ich dieses Dokument gesehen habe, wurde ich vor<br />
Verblüffung ganz aufgeregt. „Was? Schon in diesem Alter?<br />
Und was man alles darin erkennen kann: das Binärsystem,<br />
Entscheidungsbäume, Ahnenforschung, andere<br />
Zahlensysteme usw.“ In meiner Klasse hätte ich natürlich<br />
selig geschwiegen und mich zurückgehalten. Ich wäre<br />
194 195
sicher nicht nach vorne gestürzt, sondern hätte einfach zugehört<br />
und mich damit zufrieden gegeben, die Aus sagen<br />
der Kinder zu wiederholen und zu unterstreichen. Das folgende<br />
Beispiel erhielt ich von Philippe Bertrand, Lehrer<br />
im Departement Finistére.<br />
(Man könnte versuchen, das dem LOGO - Igel beizubringen)<br />
Katelle (3. Klasse) hat das kleine Zeichendreieck mehr<br />
als 100 Mal drehen lassen (welche Ausdauer!) und dann<br />
vorgeschlagen, dass sie dies alles dem Igel auf dem Computer<br />
(in der Programmiersprache LOGO) beibrin gen<br />
will.<br />
Ein drittes Dokument aus der Klasse von Joseph Portier,<br />
Lehrer im Departement Manche:<br />
Die Arbeit dieses 5 Jahre alten Kindes ist erstaunlich.<br />
Sein Lehrer, Joseph Portier, hat sofort erkannt, dass in der<br />
Konstruktion der Begriff der Ähnlichkeitstransformation<br />
sowie die Funktionen y = ax und auch y = ax2 angelegt<br />
196 197
sind. Und das in diesem Alter! Sebastien hat nur unter<br />
Schwierigkeiten lesen gelernt. (Anscheinend wie Einstein,<br />
den man als ein wenig zurückgeblieben eingeschätzt hatte.<br />
Aber im Bereich der mathematischen Produktion war er<br />
erstaunlich kreativ)<br />
Natürlich könnte man einwenden, dass dieses Kind sich<br />
dies alles nicht allein ausgedacht haben kann. Das stimmt;<br />
denn es ging in eine gemischte Klasse einer Zwergschule,<br />
und die anderen Schüler, die alle viel größer waren, stellten<br />
ebenfalls viele freie mathematische Texte her. Aber<br />
was macht das?<br />
(Übrigens schauen wir uns selbst an, wir haben auch<br />
nicht alles allein erfunden. Es gibt zweifellos auch eine<br />
mathematische ‚Zwischentextlichkeit‘) (48)<br />
Das was zählt, ist, dass das Kind aktiv bereit ist, die<br />
Idee aufzugreifen.<br />
Und wenn diese Idee Anerkennung findet - einfach dadurch,<br />
dass die Gruppe sich damit beschäftigt -, ist damit<br />
in dem üppigen Garten des Unterbewussten ein Keim gelegt,<br />
der viele Entwicklungsmöglichkeiten in sich trägt.<br />
Dieses Phänomen wird z. B. in dem großen Jubel von Sebastien<br />
sichtbar, der auf dem Bild über all den Raketen<br />
schwebt, die zum Abflug bereit sind.<br />
Sehr aufschlussreich könnte es sein, sich nach dem<br />
Grund für die zweite Fünf zu fragen. Denn es ist immer<br />
die ungewöhnliche Einzelheit, die den meisten Sinn stiftet,<br />
wie die Psychoanalytiker meinen. Die Antworten, die<br />
man von den Kindern erhält, sind oft überraschend und<br />
immer sehr lehrreich.<br />
(48) ‘Zwischentextlichkeit’ ist eine Theorie, die davon ausgeht, dass man<br />
niemals etwas völlig Neues schreibt, dass sich alles, was man schreibt, in<br />
den Texten wiederfindet, die bereits geschrieben wurden. Kurzum, die<br />
Texte zitieren einander, stehen miteinander in Verbindung.<br />
Wie hier in einem Beispiel aus einem 1. Schuljahr, das<br />
von Anne-Yvonne Charpentier, einer Lehrerin in Rennes,<br />
gezeigt wurde:<br />
Oh, dieses ungewöhnliche ‚SS‘. Das Kind wohnt in<br />
einem Hochhaus mit 18 Stockwerken. Das ‚SS‘ (Abkürzung<br />
von ‚sous-sol‘ - Keller) könnte ein anderes Kind aus<br />
einem anderen Hochhaus anregen, statt dessen 0, -1, -2<br />
zusagen.<br />
Hier eine Linie:<br />
Die Lehrerin hatte gesagt:<br />
„Ihr wisst, ihr könnt auch etwas anderes als gerade<br />
Linien (49) zeichnen. Ah! Und was hast du gemacht,<br />
Rozenn?“<br />
„Eine linke Linie“ (gezeichnet mit der linken Hand).<br />
(49) ‘lignes droites’ <strong>heißt</strong> auf deutsch: gerade Linie; droite <strong>heißt</strong> außerdem<br />
auch rechts (Anm. d. Übers.)<br />
198 199
Perig (5 1 / 2 Jahre):<br />
„Was ich oben hingezeichnet habe, ist die Aufgabe. Das<br />
bedeutet, dass man alle Dreiecke und alle Quadrate durchstreichen<br />
soll.“<br />
Nun gut, ich sehe darin ganz einfach eine Programmierung,<br />
eine Reihenfolge von Handlungen, die auszuführen<br />
sind.<br />
„Wo hast du gelernt, so etwas zu tun, Perig?“<br />
„Nirgends, so etwas denke ich mir oft aus.“<br />
Selbst, wenn es nicht ganz stimmt, öffnet sich trotz dem<br />
die Welt der Programmierung für ihn. Er hat das Prinzip<br />
verstanden und schafft sich selbst Programme, die verwirklicht<br />
werden können.<br />
Perig: „Wenn man klein ist, kritzelt man rum. Später<br />
kritzelt man weniger. Und dann, wenn man viel größer ist,<br />
zeichnet man richtige Sachen.“<br />
Die Pfeile zeigen den Fortschritt.<br />
Bei der Arbeit mit der natürlichen Methode gibt man<br />
sich sehr oft damit zufrieden, bestimmte Themen nur anzureißen.<br />
Da man aber intensiv und viel arbeitet (jeden<br />
Tag für die Dauer von zwei oder drei Jahren), kommt es<br />
durch die steten Wiederholungen immer wieder zu einer<br />
Festigung und Vertiefung des Gelernten. Die verschiedenen<br />
Bereiche werden unter ständig neuen Aspekten regelmäßig<br />
wiederholt. Die Kinder halten aber nur dann inne,<br />
um einer Frage intensiver nachzugehen, wenn sie dazu<br />
innerlich bereit sind. Wenn sie dafür reif sind. Zu ihrer<br />
Stunde. Und wenn man manchmal dieselben Vorlieben<br />
wiederfindet, dieselbe Begeisterung, dieselben Investitionen,<br />
dann ist das nicht mehr der Einfluss des Lehrers.<br />
Und so wie „die Wissenschaft nicht nur das gegenseitige<br />
200 201
Durchdringen der Dinge in den Blick nimmt, sondern<br />
auch und vor allem das gegenseitige Durchdringen des<br />
Verstandes“ (Bachelard, 1970), so verwirklicht unsere<br />
pädagogische und didaktische Konzeption des Mathematikunterrichts<br />
dieses Versprechen, den Geist im Zustand<br />
einer dauerhaf ten Gärung zu halten.<br />
6. Die Weiterentwicklung der Idee<br />
Wenn es jemanden gibt, der kaum in Gefahr gerät, in<br />
einen dogmatischen Schlaf zu versinken, dann ist es der<br />
Lehrer, besonders, wenn er nach der natürlichen Methode<br />
arbeitet. Denn das wird nicht ohne Schwierigkeiten abgehen.<br />
Er muss an diesen Weg wirklich glauben. Er muss<br />
die Notwendigkeit wirklich fühlen. Hätte ich persönlich<br />
nicht eine lange Erfahrung mit dem freien geschriebenen<br />
Text gehabt, dann hätte ich nicht so stark an die Kraft des<br />
‚freien mathematischen Textes‘ glauben können (der übrigens<br />
viel freier als der geschriebene ist, weil das familiäre<br />
Umfeld weniger davon versteht und deshalb auch nicht<br />
eingreifen kann).<br />
Die Erfolge (50) werden den Lehrer jedoch recht bald in<br />
seiner Entscheidung bestärken, den Versuch fortzuset zen.<br />
Aber kommen wir zurück zu unserer Frage: Wie sieht<br />
die Zukunft der natürlichen Methode in der Mathematik<br />
aus? Man kann davon ausgehen, dass sie in Frankreich<br />
Fuß gefasst hat, so wie es einige Erfahrungsberichte im<br />
(50) Ich möchte nebenbei bemerken, dass ich Gelegenheit hatte, diese<br />
Methode in weiteren Bereichen anzuwenden. Bei einem internationalen<br />
Seminar in Deutschland hatte ich sogar die Gelegenheit, bis zum freien<br />
‚musikalischen Text‘ vorzustoßen. Weil es zwölf elektronische Klaviere<br />
gab, mit denen man auch leise für sich spielen konnte, eröffneten<br />
sich ungeheure Möglichkeiten im Fach Musik, das auf diese Weise<br />
demokratisiert werden konnte. Jeder kreierte zunächst für sich allein<br />
einen freien ‚musikalischen Text‘, den wir dann den anderen laut<br />
vorspielten. Einen davon wählten wir aus und jeder spielte ihn nach, um<br />
ihn aufzunehmen und so weiter ... Auch in diesem Bereich kann sich jeder<br />
ein umfangreiches Wissen erarbeiten, indem er von den Erfindungen der<br />
Gruppe ausgeht und aus ihrem Reichtum schöpft. Die deut schen Kollegen,<br />
gleichzeitig Musiker und Pädagogen, setzten sich, ebenso wie die Finnen,<br />
voll und ganz dafür ein.<br />
202 203
Buch bezeugen. Aber kann man sich mit diesem ‚Standbein‘<br />
zufrieden geben? Der große französische Mathematiker<br />
Rene Thom hat gesagt, dass man die Mathematik<br />
eigentlich nur bis zum Alter von vierzehn Jahren zu<br />
unterrichten brauche. Alles, was danach kom me, werde<br />
nur von 5 % der Franzosen verstanden. Aber wenn wir<br />
es schaffen, dass wenigstens 75% der Kinder unter vierzehn<br />
Jahren nicht unter der Mathematik leiden müssten<br />
und sogar Freude daran fänden, dann ist dies doch den<br />
Einsatz wert.<br />
Bis jetzt erstreckt sich unsere Erfahrung in Frankreich<br />
vor allem auf die unteren Klassenstufen, von der Vorschule<br />
(‘maternelle’) bis zum 3. Schuljahr (also vom 3. bis zum<br />
9. Lebensjahr). Es gab auch einige Versuche im 4. und 5.<br />
Grundschuljahr und in der Sexta. Aber die natürli che Methode<br />
ist auch für wesentlich höhere Stufen geeig net.<br />
Schon jetzt wird deutlich, dass diese Methode vom Lehrer<br />
fordert, selbst seine Kenntnisse weiterzuent wickeln.<br />
„Schüler zu bleiben, muss der geheime Wunsch eines<br />
Lehrers sein. Tatsächlich wechseln sogar Wissenschaftler<br />
von einer Schule in die andere. Die Dialektik von Lehrer<br />
und Schüler kehrt sich oft ins Gegenteil um. Es gibt dort<br />
Elemente einer dialogischen Pädagogik, und man ahnt<br />
weder deren Kraft noch deren Neuheit, wenn man nicht<br />
aktiv in einer wissenschaftlichen Schule mitarbeitet.“<br />
(Bachelard 1970, S. 23)<br />
Natürlich werden zunächst vor allem diejenigen Lehrer<br />
und Lehrerinnen anfangen, die Freude an der Mathematik<br />
selbst haben und außerdem über genügend Selbstbewusstsein<br />
verfügen. Aber die natürliche Methode funktioniert<br />
nur, wenn sich die Lehrer auch für eine ande re<br />
Freude öffnen, nämlich der Freude des diplomatischen<br />
Geschicks. Denn jetzt steht nicht mehr die Freude an der<br />
Macht durch Wissen im Vordergrund, sondern die Freude<br />
über die Fortschritte der Kinder, die sich gerade aus unserer<br />
Zurückhaltung ergibt. Das Wissen ergießt sich nicht<br />
mehr von oben nach unten; es wird sozusagen horizontal<br />
erworben. Der Lehrer dient nur noch als Katalysator. Es<br />
ist ein Sieg über sich selbst, den man erringen muss.<br />
Ich persönlich bin in meinen Handlungen nicht immer<br />
eindeutig gewesen. Aber ich war immer darum bemüht, es<br />
zu sein. Zusammen werden wir uns bessern.<br />
Wir müssen uns also selbst weiterbilden und uns zusammen<br />
weiterbilden, damit wir die Erfindungen der Kinder<br />
optimal aufnehmen können. Und wenn es nötig sein<br />
sollte, würden wir dafür sogar lernen, dass<br />
„das Dromedar, das auf der Hypotenuse konstruiert<br />
wurde, gleich der Summe der Dromedare ist, die auf den<br />
beiden anderen Seiten konstruiert wurden.“<br />
(Bachelard 1970, S. 93)<br />
Die gegenseitige Fortbildung der Lehrer<br />
Doch warum warten? Sprechen wir doch jetzt gleich<br />
von unserer gegenseitigen Fortbildung, von unserer<br />
Verwand lung in Personen, die fähig sind alle Reichtümer<br />
zu wit tern, die sich hinter der kleinsten Erfindung verbergen.<br />
Aber auch über unsere Verwandlung in Personen, die<br />
in der Lage sind, den aufkeimenden Wunsch nach einer<br />
gründlichen Untersuchung zu zügeln und sich auf aufmerksames<br />
Zuhören zu beschränken. Zuhören kann allerdings<br />
auch heißen, einmal eine interessante Bemerkung,<br />
die in der Gruppe gemacht wurde, wiederholen zu las sen.<br />
204 205
Sehen wir uns einige Beispiele an:<br />
Regelmäßig arbeiten Kinder mit solchen Tabellen:<br />
Natürlich denkt der Lehrer sofort an Flächenberechnung,<br />
an die Kommutativität der Multiplikation usw. Aber<br />
er sagt nichts. Und hier trägt Jacques (2. Klasse) Zahlen<br />
ein.<br />
Warum eigentlich nicht, nach allem? Der Lehrer hätte<br />
vielleicht eine Vorstellung, was man daraus machen<br />
könnte, aber er begnügt sich damit, die Überlegung eines<br />
Kindes aufzunehmen:<br />
„Ja, das ist wahr, er hat eine Tabelle mit Zahlen<br />
gemacht.“<br />
(Der Lehrer hat das Wort ‘Tabelle’ geliefert. Er ist nicht<br />
der Stumme aus dem Serail. Er kann zumindest das Vokabular<br />
liefern.)<br />
Natürlich lässt sich das verallgemeinern:<br />
Also, der Lehrer freut sich: Er sieht Äquivalenz klassen.<br />
Alle Zahlen der ersten Spalte gehören zur selben Klasse,<br />
denn, wenn man sie durch 4 teilt, bleibt immer der Rest<br />
1. Es ist eine Restklasse (mod 4), die entsteht, wenn man<br />
durch 4 teilt. Aber der Lehrer sagt nichts. Dann hört er<br />
Gilbert sagen: „4 + 4 = 8 und 8 + 4 = 12“ Er lässt ihn<br />
wiederholen. Und fügt hinzu: „Ja richtig, diese Spalte ist<br />
interessant. Aber es gibt auch andere Spalten.“<br />
Dieses Verhalten könnte man kritisieren. Hat er das<br />
Recht, den zweiten Satz hinzuzufügen? Aber wir brauchen<br />
dabei keine Skrupel zu haben. Wir werden uns nicht<br />
durch den Absolutheitsanspruch einer Verhaltensnorm<br />
handlungsunfähig machen lassen. Wenn man Lust hat es<br />
zu sagen, dann sagt man es. Ich selbst denke, dass es unsere<br />
Aufgabe ist, von Zeit zu Zeit einen weiteren Schritt<br />
anzuregen. Aber man kann es in aller Gelassenheit tun;<br />
denn wenn die Gruppe noch nicht reif ist, dann wird sie<br />
diesen Impuls nicht aufnehmen. Es kann jedoch zufäl lig<br />
passieren, dass er sich unbewusst in irgendeinem Gehirn<br />
festsetzt. Dann wird er Früchte tragen. Wenn der Lehrer<br />
auf jeden Fall schweigen müsste, dann wäre er vielleicht<br />
doch überfordert. Er muss (und darf) sich schließlich so<br />
verhalten, wie es seiner Persönlichkeit und seiner momentanen<br />
Sicht der Dinge entspricht. Und wenn er auf<br />
Gleichgesinnte trifft, dann beschließt er viel leicht, ebenso<br />
wie sie, so lange wie möglich nichts zu sagen. Und vielleicht<br />
findet er auch Gefallen daran. Aber ob es so läuft,<br />
hängt immer von der Situation ab. (Manchmal, vor allem<br />
am Anfang, darf man nicht zögern einzugreifen, damit es<br />
überhaupt losgeht.)<br />
In der folgenden Zeit bricht die ‘Tabellenkrankheit’<br />
aus. Es tauchen alle möglichen Arten von Tabellen auf.<br />
Der Lehrer weiß, dass die Zweier-Tabelle für gerade und<br />
ungerade steht, dass die Siebener-Tabelle dem Kalender<br />
entspricht und dass die Zehner-Tabelle das Dezimal system<br />
206 207
zeigt. Und mit der Neuner-Tabelle kann man auch den Beweis<br />
für ‚geteilt durch neun‘ verstehen, da er auf den Restklassen<br />
(mod 9) basiert.<br />
Und dann bringt Philippe einen Kalender mit. Aber<br />
warum denn? Gibt es nicht schon einen in der Klasse?<br />
Und hat der Lehrer nicht bereits gesagt, dass er wie die<br />
Siebener-Tabelle ist? Offensichtlich haben sie nichts von<br />
dem aufgenommen, was er gesagt hat.<br />
Aber als Philippe seinen Kalender mitgebracht hat,<br />
haben wir plötzlich alles verstanden. Wir sind nämlich<br />
auf die Idee gekommen, ihn mit der Siebener-Tabelle von<br />
Christian zu vergleichen. Welch ein Ereignis!<br />
Aber dann sagt ein Realist:<br />
„Monsieur ..., das Tastentelefon ist eine Dreier-<br />
Tabelle.“<br />
Also schauen wir uns den Apparat an. Und wir stellen<br />
fest, dass die Null eine eigene Reihe hat. Der Lehrer sagt:<br />
„Ah, dort ist die Null!“<br />
Als ob sie woanders sein könnte! Aber Philipp La vis<br />
bringt uns eine Erfindung aus seiner Vorschulzeit mit:<br />
In dieser Sitzung wollten die Kinder die Ziffern zählen.<br />
Die spontane Antwort:<br />
„Das sind 9.“ Dann, einige Zeit später: „Nein, das sind<br />
10.“ Des Rätsels Lösung: Die einen zeigten zuerst auf die<br />
1 und zählten eins, zwei usw. Die anderen dagegen zeigten<br />
zuerst auf die 0, zählten aber ebenfalls eins, zwei, usw. (51)<br />
Damit der Unterschied zwischen Nummern und Zahlen<br />
deutlich wird, haben wir die Zahlen in Operationen<br />
eingebunden:<br />
Das Ergebnis sind hier die Restklassen (mod 5) (wenn<br />
man durch 5 teilt) (52) .<br />
Wir haben also die Restklassen: r0 , r1 , r2 , r3 , r4.<br />
Und dieses Mal steht die Restklasse r0 am Anfang und<br />
nicht am Ende.<br />
„Aber Monsieur ..., dann ist die Null auf dem Telefon<br />
nicht auf ihrem Platz.“<br />
(51) Die Kollegen aus dem Departement Pas-de-Calais haben uns erklärt,<br />
dass es sich in dieser Situation nicht um Zahlen, sondern um Nummern<br />
handelt. (Wie bei der Waschmaschine oder wie im Fahrstuhl ...) „Es sind<br />
erst dann Zahlen, wenn sie in Operationen eingebunden werden.“<br />
(52) Ich habe diese Klammer hinzugefügt, weil einige Freunde mir gesagt<br />
haben, dass sie noch nichts von dem ‚modulo‘ verstanden haben. Und wie<br />
viele mathematische Blockaden sind wegen einer einfachen Frage nach<br />
dem verwendeten Vokabular dauerhaft auf gebaut worden! Also, man<br />
muss zumindest für einige Zeit einen Ausdruck und seine Bedeutung<br />
gleichzeitig verwenden, damit der Begriff hinreichend gefüllt wird und<br />
nicht verloren geht. Übrigens haben die Kinder spontan Begriffe wie<br />
‚tierce‘ (Dreier, Drilling) und ‚der zerstreute Weg‘ ausgedacht. Warum<br />
eigentlich nicht? Denn man versteht sie und man versteht sich gegenseitig.<br />
Zumal, wenn es sich um ein Wort von Jacques mit seinem trocke nen<br />
Humor oder von Jean-Marc, diesem krausköpfigen Spaßvogel, handelt. Wir<br />
haben noch genügend Zeit, die mathematischen Ausdrücke zu übernehmen<br />
(die der Lehrer unterdessen regelmäßig einbringt).<br />
208 209
„Ja. Fragt sich jemand warum?“<br />
Mit dieser Arbeit über Äquivalenzklassen ist der Lehrer<br />
zufrieden; sie verschafft ihm Sicherheit. „Super! Wir verlieren<br />
keine Zeit; wir arbeiten bereits an der Division!“<br />
Und hier etwas, das sich die stille, kreative Joelle ausgedacht<br />
hat:<br />
In der Fachsprache: Oben ist eine Menge und darunter<br />
sind zwei komplementäre Teilmengen.<br />
Man kann sie wie folgt bezeichnen:<br />
Also jetzt kommt der große Wendepunkt.<br />
Wir haben bei Remi:<br />
oder bei Denis:<br />
oder noch bei Eric:<br />
Also jetzt schaudert es dem Lehrer; denn Loïc Demeuré,<br />
der im Nationalen Studienzentrum für Tele kommunikation<br />
arbeitet, hat ihm ein Buch über die Bool‘sche Algebra und<br />
die Karnaught-Tafeln gegeben, und die letzte Zeichnung,<br />
das ist doch der Anfang vom zweiten (Karnaught‘schen)<br />
Diagramm!<br />
Und weiter geht es mit den Schnittmengen:<br />
Wir landen schließlich bei Entscheidungsbäumen,<br />
Baumdiagrammen, ... Schaut Euch den Entscheidungsbaum<br />
der vierjährigen Céline an (Seite 195)! Sie hat ihn<br />
beim Warten auf einen Arbeitsauftrag geschaffen. Man<br />
muss ihn nur noch im Alltag anwenden (angewandter Rationalismus).<br />
Und das haben wir auch getan.<br />
Man tut es z.B., wenn man die Schüler spontan nach<br />
bestimmten Merkmalen sortiert: Man leidet unter dem<br />
Chaos der Klasse, man muss Ordnung stiften, also trifft<br />
man Unterscheidungen: Jungen und Mädchen; die Kinder<br />
aus dem 2. Schuljahr und die aus dem 3. Schul jahr; diejenigen,<br />
deren Namen mit einem ‚Le‘ beginnen (bei uns in<br />
210 211
der Bretagne: Le Gal, Le Merrer, Le Pennec), diejenigen,<br />
die blaue Augen, ein Fahrrad oder eine Katze haben.<br />
Man kann Célines Hilfsmittel auch bei Permutationen<br />
oder in der Ahnenforschung ... nutzen. Ich höre hier auf,<br />
weil die Leser sicher schon lange verstanden haben, dass<br />
es hier unendlich viele Möglichkeiten gibt. Erwähnen<br />
möchte ich noch, dass Jean Astier und Philipp Lavis dadurch,<br />
dass sie uns Erfindungen ihrer Kinder vorge stellt<br />
haben, viel gelernt bzw. wieder gelernt haben. Sie waren<br />
deshalb so empfänglich für unsere Kommentare, weil es<br />
sich um Dokumente aus ihren Klassen, also aus ihrem<br />
Leben handelte. Deshalb können wir zuversichtlich sein.<br />
Selbst wenn man kein großer Mathematiker ist (für den<br />
Grundschulunterricht reicht es meist aus), werden die Kollegen<br />
uns helfen, weiterzukommen. „Wir sind nicht mehr<br />
allein.“ Es ist jedenfalls sehr wichtig, dass sich die Lehrer<br />
sicher fühlen!<br />
Aber vielleicht wäre für den Leser eine Erklärung der<br />
Karnaught-Tafeln nützlich. Auf eine erste Karte (es sind<br />
insgesamt 4) schreibt man oben die Menge der 16 ersten<br />
Zahlen von 0 bis 15 hin.<br />
Man dreht die Karte um 180° und schreibt von neuem<br />
die 16 Zahlen oben hin.<br />
Und unten für W*, also für die komplementäre Teilmenge:<br />
Bei der Schnittmenge der acht Teilmengen sieht man<br />
das Licht nur durch ein einziges Loch; wir finden nur eine<br />
einzige Zahl bei jeder möglichen Kombination:<br />
Ich weiß nicht, ob dies bei dem Leser den Wunsch auslösen<br />
wird, diese Karten herzustellen. Aber bei mir hat es<br />
zunächst einiges Nachdenken ausgelöst:<br />
Ausgangspunkt war, dass ich etwas von meinem Wissen<br />
mitteilen wollte. Aber dazu musste ich es erst wieder<br />
in die Erinnerung holen. Über etwas zu sprechen zwingt<br />
zwar dazu, Ordnung in seine Gedanken zu brin gen, doch<br />
habe ich es diesmal nicht geschafft, das Ganze in Gedanken<br />
zu rekonstruieren.<br />
Also habe ich ein Modell gebaut mit je 8 Löchern oben<br />
und unten. Aber dieses Modell erwies sich als Sackgasse;<br />
ich musste ein zweites Modell konstruieren mit je 16 Löchern.<br />
Diesmal hat es geklappt.<br />
Nun fällt mir auf, dass meine Erfindung eine in sich<br />
geschlossene Erfindung war: Ich hatte ein Ziel, ich wollte<br />
mein Wissen rekonstruieren. Aber die Erfindungen der<br />
Kinder sind offen. Kinder wollen keine Werkzeuge oder<br />
Modelle schaffen. Dennoch lassen sich - wenn man ihre<br />
212 213
Erfindungen auf die Realität anwendet - Elemente dieser<br />
Realität darin wiederfinden, auch wenn das nicht beabsichtigt<br />
war. Die Vielzahl von Wegen, die sich durch die<br />
Erfindungen öffnen, führen natürlich weit über den Bereich<br />
der reinen Mathematik hinaus. Dies wird uns anhand<br />
des folgenden Auszugs aus unserer Zeitschrift ‚naturellement<br />
math‘ (vgl. Bibliographie) klar:<br />
„Ich habe kürzlich in einer 3. Klasse zwei Stunden mit<br />
natürlicher Methode in Mathematik angeleitet. Und es<br />
dämmerte mir, dass die natürliche Methode ein erstaunliches<br />
Werkzeug für die Erforschung und Annäherung an<br />
die Welt ist. Innerhalb einer Stunde haben wir Themen<br />
wie ‚Stabiles‘ von Calder (53) Unterstände an Haltestellen,<br />
Architektur, Logos und Bildhauerei ange schnitten. Unser<br />
Gespräch beschränkte sich nicht auf Zahlen und Reihen,<br />
sondern erstreckte sich auch auf die Sprachforschung, die<br />
Anagramme, die Beziehungen zwi schen den Wörtern usw.<br />
Und all das in einer Schul stunde. Stellt euch daneben mal<br />
ein ganzes Schuljahr vor, eine ganze Schulzeit!.“<br />
Um der Rolle eines Lehrers gerecht zu werden, der den<br />
Schülern Impulse zu freierem Denken gibt, zeichnete ich<br />
am Anfang dieses Schuljahres mit geschlossenen Augen<br />
nach dem Zufallsprinzip vier Linien auf ein Blatt Papier<br />
und nannte das ‚die ebene Abwicklung einer unbekannten<br />
Sache‘. Dann faltete ich das Blatt an den Linien und<br />
formte mit ein bischen Tesafilm daraus einen Körper. Weil<br />
er ziemlich unförmig war, sagte ich: „Das ist eine Statue”<br />
und stellte sie auf den Schrank. So sind wir auf die „ ‚Sta-<br />
(53) Calder, Alexander, geb. 1898, amerikanischer Bildhauer. Seine<br />
„Stabiles“ (abstrakte Metallplastiken) und großräumigen „Mobiles“ sind in<br />
Frankreich Allgemeingut (Anm. des Heraus gebers).<br />
biles‘ von Calder (54) “ gekommen; also auf die Kunst, die<br />
ganz und gar Freiheit ist.<br />
Aber Nathan, der eher Realist ist, dachte an den Unterstand<br />
einer Bushaltestelle. Er wollte das Netz eines bekannten<br />
Körpers finden und hat dies gezeichnet:<br />
Er war sehr erstaunt, dass das keinen Unterstand ergab.<br />
Aber die Klasse griff seine Idee auf, und vierzehn Tage<br />
lang hat sie sich in der Produktion von regel mäßigen Körpern<br />
regelrecht gesuhlt.<br />
Daniel und ich, wir hätten uns darüber aufregen können.<br />
Aber ich habe ihm von der Dialektik erzählt: „Wenn<br />
man sich auf eine Sättigung zu bewegt, baut man gleichzeitig<br />
eine Frustration auf. Es ist deine Aufgabe, die erste<br />
Abweichung zu erspähen, die nach einer Reihe von Erfindungen<br />
stattfinden wird. Es wird ausreichen, wenn du das<br />
Auftauchen dieser neuen Sache unterstreichst. Und wenn<br />
die Gruppe zur Sättigung tendiert, wird sie umkippen.<br />
Vielleicht wird es nur die halbe Gruppe tun oder nur ein<br />
einziges Kind, das bei den anderen nur mit gemacht hat,<br />
weil alle es getan haben, das aber jetzt plötz lich feststellt,<br />
dass dieser neue Bereich ihm voll und ganz entspricht.<br />
Ich wollte den Freiraum vergrößern, aber ich hatte<br />
nicht bemerkt, dass Sabrina schon ganz allein einen<br />
neu en Schritt gewagt hatte, indem sie ‚Eine Abwicklung<br />
des Würfels‘ mit rechten Winkeln (!) gezeichnet hat. Wir<br />
schauen oft nicht genau genug hin. Und wir hören auch oft<br />
nicht gut genug zu. Bei dem Unterstand von Nathan z.B.<br />
habe ich nicht innegehalten, als ein Junge überlegte: „Man<br />
(54) vergl. Fußnote Seite 214<br />
214 215
aucht doch nur zwei davon herzustellen.“<br />
Seine Idee ist nicht verfolgt worden, weil ich sie nicht<br />
hervorgehoben habe. ‘Natürlich‘ verpatzt man viele Dinge.<br />
Aber das ist nicht weiter schlimm, wenn man Vertrauen<br />
in die kognitive Kraft der Gruppe hat, die viel reicher an<br />
Ideen, viel weitsichtiger und viel intelligenter ist als der<br />
arme Lehrer, der durch seine Denkschemata und seine<br />
Ängste blockiert ist. Und außerdem können Irrtümer des<br />
Lehrers oft sogar aufgefangen werden.<br />
Das hat Monique Quertier in unserer Mathematik-Zeitschrift<br />
„naturellement math“ so beschrieben:<br />
„Ich war über diese Erfindung so bestürzt, dass ich nicht<br />
wagte, etwas zu sagen; ich habe es nicht gewagt den<br />
Kindern zu sagen, dass ich sie im letzten Monat den<br />
Lehrsatz von Pythagoras habe zeichnen lassen und dass<br />
wir ihn genau auf diese Weise gezeichnet haben. Sie<br />
hat ten damals alles mitgemacht. Sie hatten mir höflich<br />
zugehört. Aber es ist über ihre Köpfe hinweggegangen.<br />
Jetzt wissen sie es, weil sie es selbst wiederentdeckt<br />
haben.“<br />
(naturellement math 1989)<br />
Ich glaube, dass man folgendes oft feststellen kann:<br />
Erst wenn etwas ihre eigene Sache ist - und nicht die des<br />
Lehrers - dann bleibt es haften.<br />
Die Rolle des Lehrers<br />
Beschäftigen wir uns nun mit der Rolle des Lehrers,<br />
die sich auf dem Hintergrund unserer Erfahrungen abzuzeichnen<br />
beginnt. Zu diesem Zweck arbeiten wir an einem<br />
Modell. Nehmen wir an, dass wir es uns eines Tages ausnahmsweise<br />
erlauben, zu den Erfindungen an der Tafel<br />
diejenige eines befreundeten Lehrers hinzuzufü gen.<br />
Was kann man dazu sagen? Eigentlich nichts. „Es sind<br />
drei Ziffern. Sie sind alle gleich. Sie bilden ein gleichseitiges<br />
Dreieck.“<br />
Und das ist dann alles. Da hört es auf. Wenn aber jemand<br />
zufällig von einer 2 spricht, dann spitzt der Lehrer<br />
die Ohren:<br />
„Was sagst du, Marc?“<br />
„Ich sagte: 1 + 1=2.“<br />
„Oh! Sehr interessant. Und wo schreibst du deine 2<br />
hin?“<br />
Offensichtlich kann sie überall sein. Aber wenn sie am<br />
unteren Ende der Raute ist, wäre das prima.<br />
Wenn dadurch nichts in Gang kommt, kann man vorschlagen,<br />
das Absteigen der Einsen fortzusetzen.<br />
216 217
Wenn man Erfahrung hat, wenn man gelernt hat, Vertrauen<br />
in die Zukunft zu haben, dann wird man an dieser<br />
Stelle aufhören. Tatsächlich hat diese Erfindung alles, um<br />
zu gefallen. Und die Chance ist groß, dass sie wieder aufgegriffen<br />
wird.<br />
Man könnte auch noch weitergehen und kühn die drei<br />
rechten Einsen verdecken. Damit schießt man aber möglicherweise<br />
über das Ziel hinaus. Kommt man damit nicht<br />
in Versuchung, eine Grenze zu überschreiten? Aber gibt<br />
es überhaupt Grenzen außer denen, die man sich selbst<br />
setzt?<br />
Jedenfalls, entweder es reagiert jemand, oder es reagiert<br />
keiner. Wenn niemand darauf eingeht, dann des halb,<br />
weil heute in diesem Moment mit den Kindern dieser<br />
Gruppe die Zeit noch nicht reif ist.<br />
Also, nach meiner momentanen Meinung besteht die<br />
Rolle des Lehrers darin, so lange wie möglich zu schweigen.<br />
Aber auch darin, ganz vorsichtig einen Blick über den<br />
Zaun vorzuschlagen, wenn sich eine Richtung anbietet.<br />
Und in dem obigen Beispiel bietet sich etwas an, denn<br />
es handelt sich um den Anfang des Pascalschen Dreiecks,<br />
das die Kinder schon vom 2. Schuljahr an konstruieren<br />
können, selbst wenn sie nicht wissen, dass es die Tafel der<br />
Binominalkoeffizienten der Reihe (a+b) 0 , (a+b) 1 , (a+b) 2 ...<br />
(a+b) n ist.<br />
(55) Anmerkung des Herausgebers: Das linke Schema ist in der<br />
Mathematik als Pascalsches Dreieck bekannt. Auf die übliche<br />
Darstellungsweise muss hier aus Platzgründen verzichtet werden.<br />
(55)<br />
Es wird deutlich, dass man viele Möglichkeiten in seinem<br />
Kopf haben muss, um von Zeit zu Zeit einen Blick<br />
über den Zaun vorschlagen zu können. Und am Anfang<br />
wer den diejenigen, die sich auf die natürliche Methode in<br />
der Mathematik stürzen wollen, genau dadurch ein bisschen<br />
abgeschreckt. Sie haben das Gefühl, dass sie selbst<br />
nicht erkennen könnten, wohin eine Erfindung führen<br />
könnte. Aber meistens fassen sie schnell wieder Mut,<br />
wenn sie mit Freunden über den Erfindungen der Kinder<br />
arbeiten können. Sie eignen sich dann schnell das notwendige<br />
Wissen an.<br />
Aber schauen wir uns an, was Joelle noch erfunden<br />
hat:<br />
„Halt, das ist etwas ganz Neues! Jetzt handelt es sich<br />
nicht mehr um komplementäre Teilmengen, denn da ist<br />
kein Querstrich. Nein, das hier ist etwas Anderes. Aber,<br />
ach ja! Es ist eine neue Richtung, weil es sich um die Beschreibung<br />
einer Kurve handelt.“ Und da die Kinder seit<br />
langem die Erfahrung mit dem Koordinatensystem haben,<br />
kann man vorschlagen: „Und wenn man x und y an die<br />
Stelle von b und n schriebe?“ Also dieses Mal ist meine<br />
Anregung ein Volltreffer. Und alle stürzen sich dar auf und<br />
konstruieren die entsprechende Kurve.<br />
218 219
„Das ist sonderbar, es sieht beinahe wie ein Drachen aus.“<br />
Und jetzt bricht eine wahre Sturzflut von Plänen und<br />
Kurven herein. Am Anfang sind sie offensichtlich noch<br />
rein willkürlich. Dann staunen wir über das, was Denis<br />
gemacht hat:<br />
„Das ist komisch. Das ist ganz gerade. Aber wenn man<br />
das machte? Oder jenes?“<br />
Schließlich landet man auf ganz natürliche Weise bei<br />
y = x, bei y = ax und bei y = ax + b. Und das im 3. Schuljahr<br />
mit acht- und neunjährigen Schülern!<br />
Aber jeder Schritt vorwärts, den der Lehrer vorschlägt,<br />
muss ein sehr vorsichtiger Schritt sein, weil er genau weiß,<br />
dass er - wenn er zu forsch vorangeht - die Kinder in seine<br />
‚Welt‘ hinüberzieht und sie gefangen nimmt. Er lenkt sie<br />
von ihren eigenen Wegen ab. Dann geht es nicht mehr um<br />
die Angelegenheiten der Kinder, sondern um seine. Er enteignet<br />
sie sozusagen und betrachtet sie als sein Eigentum.<br />
Also, anstatt die Kinder auf seine Gebiete zu drängen, ist<br />
es besser, sie ihre eigenen erforschen zu lassen, da sie ihrer<br />
Realität mehr entsprechen.<br />
Dennoch darf man nichts übertreiben.<br />
Das ist natürlich nie einfach; es handelt sich niemals<br />
um die Alternative ‚alles oder nichts‘. Deswegen ist die<br />
Pädagogik so schwer. Jeder Lehrer soll in aller Ruhe seine<br />
eigene persönliche Struktur entwickeln, die seiner Realität<br />
entspricht. Er soll von dem ausgehen, was da ist, und<br />
abwarten, was sich in Interaktion mit anderen, die ihn<br />
unterstützen, entwickelt. Der Weg des Lehrers muss ein<br />
freier Weg sein. Es geht nicht darum, sich in die Pflicht zu<br />
nehmen, sich anzustrengen und sich zu bezwingen, sondern<br />
nur darum, sich treiben zu lassen.<br />
Augenscheinlich ‘funktioniert’ jeder entsprechend seinem<br />
eigenen Charakter. So wird Philip, der Wortspiele<br />
liebt, in der Klasse sofort jede sprachliche Fährte verfolgen.<br />
Joseph ist empfänglich für die physikalische Dimension<br />
der Erfindungen. Germaine ebenso, offenbar weil sie<br />
Physiklehrerin ist. Mich berührt vor allem die Tatsache,<br />
dass die Mathematik nur vorläufigen Charakter hat. Deshalb<br />
interessiert mich alles, was Bachelard über die wissenschaftliche<br />
Tätigkeit geschrieben hat.<br />
Ich habe festgestellt, dass das, was im freien mathematischen<br />
Text an Neuem erscheint, nicht einfach aus einer<br />
Rückbesinnung auf die Realität entsteht. Etwa so, als ob<br />
das ‚innere Studienbüro‘ es nach der Feststellung einer<br />
kleinen Unstimmigkeit notwendig hätte, eine alte Idee<br />
wieder aufzunehmen, um sie zu vervollkommnen. Nein,<br />
es ist viel komplexer. Die Impulse für eine Erfindung,<br />
die von irgendeinem Ereignis (zum Beispiel der letzten<br />
Mathematikstunde) ausgehen, lösen in den Tiefen des<br />
menschlichen Wesens gleichzeitig eine geheimnisvolle unbewusste<br />
Arbeit aus. Und die theoretische Konstruktion,<br />
220 221
die in der Erfindung zum Ausdruck kommt, ist oft nur ein<br />
schwacher Abglanz dieser Arbeit. Aber man muss wie ein<br />
Schriftsteller ‘immer und immer noch einmal schreiben,<br />
damit das, was man zunächst nicht denken konnte, ins<br />
volle Bewusstsein rückt.‘<br />
Aber kommen wir zu der Frage zurück, wie unsere Idee<br />
verbreitet werden kann. Es scheint mir, dass das wesentliche<br />
Problem tief in der Natur der heutigen Lehrerschaft<br />
verwurzelt ist. Um den Lehrerberuf ergrei fen zu dürfen,<br />
muss man alle kreativen Impulse in Schach halten können.<br />
(Dabei wird unterstellt, dass man welche gehabt hat bzw.<br />
dass sie nicht seit der Vorschulzeit im Keim erstickt worden<br />
sind.) Musste man nicht, um das zu akzeptieren, eine<br />
bestimmte Charaktereigenschaft und vielleicht sogar eine<br />
bestimmte Veranlagung haben? Und schließlich, wer hat<br />
sich jemals darum gekümmert, in uns die Fähigkeit zum<br />
strategischen Denken zu entwickeln? Und mit welchem<br />
Recht können wir ihr Fehlen bei den Schülern beklagen,<br />
wenn wir persönlich auch keine Erfahrung damit haben?<br />
Dennoch brauchen wir nicht zu pessimistisch zu sein.<br />
Man muss übrigens anerkennen, dass sich zumindest in der<br />
Vorschule viel bewegt hat und dass die 68-er Bewe gung<br />
sich durchaus um die Kreativität gekümmert hat. Davon<br />
ist sogar noch etwas übrig geblieben. Außerdem müssen<br />
die Lehrer ja, um ihr Studium abschließen zu können, ihre<br />
Merkfähigkeit und ihre Intelligenz unter Beweis stellen.<br />
Das bedeutet: auswählen, Sackgassen gehen, auf Risiko<br />
spielen .... Also ist die Intelligenz eine strategische Kunst.<br />
Wahrscheinlich trägt jeder wenigstens einen Keim dieser<br />
Fähigkeit in sich, er müsste nur ent wickelt werden. Außerdem<br />
gab es ja noch die gesamte Kindheit und Jugendzeit, in<br />
der man bestimmte Taktiken entwickeln musste, um seine<br />
eigenen Wünsche zu verfol gen. Also können wir Vertrauen<br />
haben. Vor allem auch, weil Kreativität und Flexibilität<br />
heutzutage von der Gesellschaft gefordert werden.<br />
Was uns also betrifft, so sollten wir fortfahren, an uns<br />
selbst zu arbeiten und uns zu entfalten, so wie wir es auch<br />
die Kinder tun lassen: in einer sympathischen Gruppe und<br />
mit einem Lehrer, der es schafft, lange genug zu schweigen.<br />
Wenn wir dabei von den Dokumenten aus unseren<br />
Klassen ausgehen, kommen wir sowohl in der Mathematik<br />
und ihrer Didaktik als auch in der Pädagogik weiter.<br />
Natürliche Lehrpläne<br />
Wir haben uns kürzlich damit beschäftigt, über ‚natürliche<br />
Lehrpläne‘ zu arbeiten. Ich habe den Ausdruck aufgenommen,<br />
um Fragen zu provozieren.<br />
„Aber das sind doch einander widersprechende<br />
Begriffe!“<br />
Wir haben angefangen zu ermitteln, was regelmäßig<br />
in den freien Texten in Mathematik wiederkehrt. (56) Wir<br />
haben unsere Erfahrungen mit Kindern im Alter von 3<br />
bis 11 Jahren gemacht. Sie sind jetzt so umfangreich, dass<br />
man bereits Konstanten aufzeigen kann. Aber ich möchte<br />
hier nur zwei Elemente beschreiben. Denn noch ist nichts<br />
bisher wirklich bestätigt worden. Wir müssen uns vor<br />
allem vor der gegenwärtigen Schulverwaltung hüten. Es<br />
wäre ihr zuzutrauen, dass sie sich auf unsere ‚Lehrpläne‘<br />
stürzt, sich ihrer bemächtigt und sie zur Norm macht, die<br />
(56) Die Anregung zu dieser Untersuchung haben wir durch ein Buch von<br />
Clanche. Er hat sechstausend freie Texte aus verschiede nen Klassen der<br />
Grundschule (6 bis 11 Jahre) untersucht. Er hat festgestellt, dass bestimmte<br />
Arten von Texten regelmäßig in einem bestimmten Alter wiederkehren.<br />
Wenn dies bestätigt wäre, könnte man die Lehrer besonders sensibel dafür<br />
machen. (Clanche 1988)<br />
222 223
von jedem einzuhalten ist. Doch die notwendige kopernikanische<br />
Revolution, die es zu erfüllen gilt, besteht darin,<br />
von den Produktionen der Kinder und den Erfahrungen<br />
der Lehrer auszugehen. Wir werden darauf warten, bis<br />
die Schulverwaltung von der Freude am diplomatischen<br />
Geschick gekostet hat, d.h. von der Freude, ausschließlich<br />
Katalysator zu sein.<br />
Zwei Bereiche von Erfindungen<br />
1. Entwurf von Buchstaben und Figuren<br />
2. Tabellen<br />
a) mit Einschwärzen<br />
b) mit Farbe<br />
c) mit Zahlen<br />
d) mit Vorschriften für Wege<br />
e) mit Koordinaten<br />
f) mit Additionen in allen Richtungen<br />
Diese Erfindungen tauchen unter einem Dutzend anderer<br />
Erfindungen regelmäßig immer wieder auf. Die Vorliebe<br />
für die Karos lässt sich sehr gut erklären, denn die Hefte<br />
und Notizbücher sind voll davon.<br />
zu 1.: Entwurf von Buchstaben und Figuren<br />
Auf unseren Treffen im Rahmen der <strong>Freinet</strong>-Bewegung<br />
haben wir viel Zeit darauf verwendet, gemeinsam herauszufinden,<br />
was sich aus derartigen Tabellen entwickeln<br />
224 225
kann. So können wir sehen und hören, in welche Richtungen<br />
die Kinder ihre Schritte gerade lenken. Damit<br />
sind wir vielleicht auch in der Lage, einen Schritt vorzuschlagen,<br />
der darüber hinausgeht, aber dennoch den<br />
Umständen angemessen ist. Dabei ist zum Beispiel das<br />
herausgekommen:<br />
Offensichtlich ist dies eine Anweisung, um den Buchstaben<br />
M (Anfangsbuchstabe des Autors Michelle) zu erhalten.<br />
Man findet dieses Spiel oft in den Kinder zeitschriften.<br />
Aber die Kinder erfinden sie auch von sich aus. Diese Erfindung<br />
kann uns sehr weit voranbringen. Zum Beispiel<br />
zur Programmierung von Zufallsfiguren. Ich habe neun<br />
nummerierte Punkte ohne eine Ordnung hingezeichnet.<br />
Welche Figur kommt dabei heraus?<br />
Ich ziehe Verbindungslinien. Es ist komisch und interessant,<br />
und ich habe Lust, weitere Linien zu zeichnen.<br />
Aber sehr schnell landet man bei der Programmierung<br />
von regelmäßigeren Figuren wie z.B. Briefumschlag, fünfstrahliger<br />
und sechsstrahliger Stern usw.<br />
Und von da aus kann man, wie wir es bereits gesehen<br />
haben, zu einem anderen Zufallsstadium übergehen<br />
und dann zur Kurve y = ax usw....<br />
und zu anderen Dingen, an die wir noch nicht gedacht<br />
haben.<br />
zu 2.: Tabellen<br />
a) Mit Einschwärzen (vgl. S. 224)<br />
Wenn man am Rand entlangfährt, kann man die schwarz en<br />
und weißen Flächen zählen.<br />
- Man kann auch an Kreuzworträtsel denken<br />
- oder an die eckigen Bilder im Fernsehen<br />
- oder an Mosaiken usw.<br />
b) Mit Farbe<br />
Man findet Rhythmen, man wendet sich der Kunst zu,<br />
dem Straßenpflaster, den Mosaiken usw.<br />
c) Mit Zahlen (vgl. S. 224)<br />
Mit Zahlen kommt man zur Flächenberechnung, zu Tabellen<br />
mit Zeilen- und Spaltenbenennungen, zu Äquivalenzklassen<br />
usw.<br />
d) Mit Vorschriften für Wege (vgl. S. 225)<br />
Man kann zur Berechnung des Weges eines elektronischen<br />
226 227
Igels (Programmiersprache LOGO) kommen. Was passiert,<br />
wenn darüber noch eine Reihe wäre und unten eine<br />
weniger? Vorbereitung auf die Arbeit mit LOGO, auf viele<br />
Möglichkeiten mit dem elektronischen Bildschirm. Aber<br />
es ist wichtig, dass die Kinder vorher an dieser Art von<br />
Modellen, an ihrem Modell arbeiten, wie Katelle dies mit<br />
ihrem Dreieck getan hat (vgl. Seite 196).<br />
e) Mit Koordinaten (vgl. S. 225)<br />
Man kann sich leicht mögliche Entwicklungen in Bezug<br />
auf Punkte, Pläne, Kurven usw. vorstellen.<br />
f) Mit Additionen in allen Richtungen (vgl. S. 225)<br />
Man kommt zur Erforschung des ‘magischen Quadrates’,<br />
der waagerechten und senkrechten Überprüfung im<br />
Rechnungswesen usw.<br />
Zur Einschätzung dessen, was gerade vorgestellt worden<br />
ist, möchte ich die Worte von Jean-Claude Pomes<br />
zitieren:<br />
„Tatsächlich scheint mir, dass sich die ‚persönliche Mathematik‘<br />
bzw. die ‚innere Mathematik‘ genauso wie die<br />
‚natürliche Mathematik‘ in der <strong>Freinet</strong>-Pädagogik im<br />
Schnittpunkt zweier Prozesse, die beide dialektisch verschränkt<br />
sind, befindet:<br />
zum einen eine tastende Tätigkeit, die von den Kindern<br />
ausgeht, wobei eine theoretische Linie entsteht, die danach<br />
strebt, sich auszudifferenzieren;<br />
zum anderen der entgegengesetzte Weg eines Er ziehers,<br />
der - ausgestattet mit Elementen einer Theorie (hier der<br />
mathematischen Theorie) - versucht, diese der Praxis nahezubringen,<br />
um ihnen Sinn und Leben einzuflößen.“<br />
(Pomnies o. Jg.)<br />
Doch ehe sie sich trauten anzufangen, hatten einige<br />
Lehrer noch Fragen, wie z.B.:<br />
„Werden die Erfindungen ausreichen? Werden wir mit<br />
dem ganzen Lehrplan durchkommen?“<br />
Ich habe ihnen geraten, in Etappen vorzugehen. Sie<br />
sollten sich zunächst in dem Rahmen bewegen, in dem sie<br />
sich im Hinblick auf die Vorgaben der Lehrpläne sicher<br />
fühlen können, und dabei versuchen, eine kleine Erfahrung<br />
zu wagen. So haben sie nach und nach festge stellt,<br />
dass man auf jeden Fall über den Lehrplan hinaus kommt.<br />
Das hat sie überzeugt. Man könnte diese Erfahrung auch<br />
so beschreiben:<br />
„Der schnellste Weg von einem Punkt zu einem anderen<br />
ist die gekrümmte Linie.“<br />
Denn wenn wir ihr im Laufen folgen, kommen wir viel<br />
schneller ans Ziel, als wenn wir uns auf dem Rücken liegend<br />
auf der direkten Verbindung treiben lassen. Wenn<br />
Kinder, die ‚mathematisch unterernährt‘ sind, sich in diesem<br />
Bereich gründlich engagieren, lernen sie natürlich<br />
viel mehr und viel schneller.<br />
Die Freude, die sie entdecken, wird die psychologischen<br />
und intellektuellen Barrieren abbauen.<br />
Dennoch hat man das Recht, sich eine andere Frage zu<br />
stellen: „Und wenn die Schülergruppe bestimmte Bereiche,<br />
die eigentlich wichtig wären, ausklammert?“<br />
In der Vorschule gibt es damit keine Probleme: Es gibt<br />
so viel in allen Bereichen zu erforschen, dass man nicht an<br />
genügend Tagen Unterricht hat, um auch nur ein Inventarverzeichnis<br />
der Gebiete zu erstellen. Aber die Grundschule<br />
hat eine doppelte Verantwortung, Einerseits muss<br />
sie die Kontinuität der Erfahrungen gewährleisten. Andererseits<br />
muss sie sich darum kümmern, in neue Bereiche<br />
einzuführen.<br />
Bis zum Alter von neun Jahren geht das ohne Anstrengungen.<br />
Es genügt, wenn man die Intuition sich entfalten<br />
228 229
lässt und die Vielfältigkeit unterstützt, damit sie sich mehr<br />
festigt. Und dass man die Kinder vor einer Bewertung<br />
schützt. Das Wichtige in dieser Altersstufe ist es, den<br />
Schwung entstehen zu lassen bzw. ihn wieder zu erwecken<br />
und ihn sich ausdehnen zu lassen und ihn zu erhalten.<br />
Aber ab 9 Jahren gehört das Eingreifen vielleicht zu<br />
unserer Verantwortung. Denn wenn man diese Kinder<br />
frei lässt, so lässt man sie nicht wirklich frei, sondern man<br />
überlässt sie ihrer Konditionierung. Und wenn man sie<br />
zunächst aus ihrer schulischen Betäubung hat herausholen<br />
können, muss man danach den Freiraum vergrößern,<br />
indem man sie, wenn nötig auch ein wenig gekünstelt, in<br />
Bereiche einführt, die man ihnen nicht vorenthalten darf,<br />
wenn man nicht verantwortungslos sein will. Man kann<br />
nur frei sein, wenn man wählen kann. Aber um wählen<br />
zu können, muss man es kennen, muss man es auspro biert<br />
haben, muss man zumindest eine erste wirkliche Erfahrung<br />
gemacht haben. Deshalb muss man sich im 5. Schuljahr<br />
darum kümmern, viele neue Situationen erle ben zu<br />
lassen, damit der schöpferische Ausdruck weiter hin ausreichend<br />
Nahrung erhält.<br />
So sehen wir es zumindest gegenwärtig. Aber wir<br />
haben in dieser Altersstufe noch nicht genügend Ver suche<br />
gemacht, um ganz sicher zu sein, dass es wirklich notwendig<br />
ist, der ‚Freiheit auf die Sprünge zu helfen‘.<br />
Verschiedene Richtungen<br />
Es stimmt, dass wir noch mitten im Versuch sind. Was<br />
die Konzeption der natürlichen Methode in der Mathematik<br />
betrifft, so gibt es in Frankreich zwei unterschiedliche<br />
Richtungen. Es gibt diejenige, die hier vorgestellt worden<br />
ist und deren Betonung auf dem ‘ansteigenden’ Weg der<br />
Kinder liegt. Und es gibt die <strong>Freinet</strong>-Gruppe aus dem<br />
Departement Pas-de-Calais. Ihre Richtung basiert ebenfalls<br />
auf der natürlichen Methode, aber dort wird wesentlich<br />
mehr Wert darauf gelegt, dass der Lehrer sich zuvor<br />
mathematisch weiterbildet. Damit wird die absteigende<br />
Funktion des Wissens des Lehrers (vgl. dazu Pomes S.<br />
204 oben) betont.<br />
Da wir uns noch nicht begegnet sind, ist es schwierig<br />
genau zu wissen, welches die Positionen der einen und der<br />
anderen sind. (57) Damit der Leser mehr darüber er fahren<br />
kann, stelle ich hier einen Auszug aus dem ‚CH‘TI QUI<br />
(vgl. Bibliographie), dem Bulletin du Nord et du Pas-de-<br />
Calais vor:<br />
„DIE ROLLE DES LEHRERS“<br />
Was würdet ihr damit machen?<br />
Eine Seminarteilnehmerin berichtet: „Fortbildungskurse<br />
sind gut... Man hat Zeit miteinander zu diskutieren,<br />
sich auszutau schen, und so zeige ich Michel<br />
eine Arbeit, die im Dezember von einigen Großen<br />
aus der Vorschule erstellt wurde: der Gebrauch<br />
einer Verschlüsselung ‚um sich zu zählen‘.<br />
(57) Ein Treffen hat nach der Fertigstellung dieses Manuskriptes<br />
stattgefunden. Dabei haben beide Seiten eine weitgehende Übereinstimmung<br />
festgestellt. Insofern geben die Ausführungen in diesem<br />
Kapitel einen früheren Erkenntnisstand des Autors wieder. Hier<br />
bestätigt sich einmal mehr eine Grundthese von Paul Le Bohec, dass die<br />
Erkenntnisse niemals endgültig, sondern immer nur vorläufig sind und nur<br />
so lange gelten, bis sie durch bessere ersetzt worden sind.<br />
Die Diskussion hat dem Autor auch zu einer Präzisierung einiger<br />
Vorstellungen zur natürlichen Methode verholfen. Sie werden voraussichtlich<br />
in der Zeitschrift der deutschen <strong>Freinet</strong>-Bewegung „Fragen<br />
und Versuche“ veröffentlicht. (Anm. d. Hrsg.)<br />
230 231
„Also Michel, was kann ich damit anfangen?‘<br />
Michel: „Analysieren wir die Ausgangssituation. Suchen<br />
wir die möglichen Wege.“<br />
Ausgehend von drei Arbeiten, die sich auf folgendes gründen,<br />
zeigt Michel alle Wege auf, die man verfolgen könnte.<br />
„Es sind Karten der Art“:<br />
„Sie sind ökonomisch.“<br />
„Bildung von Äquivalenzklassen.“<br />
„Den Klassen einen Namen geben usw., usw.: Gesetzesdimension,<br />
funktionale Dimension, usw.“<br />
Mich beunruhigt nicht der Inhalt, sondern die Position des<br />
Lehrers.<br />
Ich hebe hervor:<br />
• Man muss jeder Klasse einen Namen geben.<br />
• Man muss einen einfachen Repräsentanten für die<br />
Klasse finden.<br />
• Wir werden anschließend die Karten des Typs O I I<br />
bearbeiten.<br />
• Die große Reichweite von O I I zeigen (indem man<br />
z.B. darum bittet, das zu zeichnen, was dieses Schild<br />
repräsentiert).<br />
• In diesem Fall kann (nicht könnte!) man es schaffen,<br />
auf die Unterschiede in den einzelnen Klassen hinzuweisen.<br />
Unbestreitbar, das bereichert das mathematische Wissen<br />
des Lehrers. Und es ist schon schön, dass man dabei<br />
von einer Erfindung eines Kindes ausgehen konnte.<br />
Obwohl:<br />
Wer hat die Anfangskarte geliefert bzw. erfunden?<br />
Die Hauptfrage, die ich mir stelle, ist jedenfalls:<br />
„Worum geht es? Darum, was der Lehrer damit<br />
machen kann, oder darum, was die Kinder damit machen<br />
könnten?“ Die Antwort wurde mit der Eingangsfrage bereits<br />
gegeben:<br />
„Michel, was kann ich damit anfangen?“<br />
Wenn es darum geht zu sehen, welchen zusätzlichen<br />
Schritt man vorschlagen könnte, dann kann man dieses<br />
Vorgehen als sehr legitim bewerten. Dies scheint mir aber<br />
hier nicht der Fall zu sein. Und man erschaudert bei dem<br />
Gedanken, dass Vorschulkinder möglicherweise zu einer<br />
232 233
solchen Strukturierung gezwungen werden. Hoffen wir<br />
für sie, dass sie als Gegengewicht das Recht zu vielen Aktivitäten<br />
informeller Art haben. Und hoffen wir ebenso<br />
für Michel, dass er in seiner Gruppe Kollegen begegnet,<br />
die ihn in die andere Art des Denkens, in den Charme<br />
des Unbeholfenen, in die Freude über das Allgemeine, das<br />
Nichtdefinierbare, über das Unstrukturierte, das Diffuse,<br />
über das Unentschiedene, über das Unklare, über das Verschleierte,<br />
über das Unfühlbare ... einführt.<br />
7. Grundsätzliches<br />
In dem vorliegenden Buch haben wir die Konzeption<br />
der natürlichen Methode auf das Erlernen der Mathematik<br />
angewandt. Aber sie hat - wie oben mehrfach angedeutet<br />
- auch andere Anwendungsbereiche. Versuchen wir nun<br />
zum Abschluss, ihre wesentlichen Dimensionen herauszuarbeiten<br />
(vgl. auch Kapitel 2).<br />
Dimensionen der natürlichen Methode<br />
1. Eigene Praxis (des Lehrers) ist unabdingbar.<br />
Wer seinen Schülern diese Methode nahebringen will,<br />
muss Erfahrungen damit gemacht haben und sie selbst<br />
praktizieren.<br />
2. Gruppenphänomene (58)<br />
Die Gruppe spielt eine bedeutende Rolle. Sie soll zu allererst<br />
ein Ort des Gespräches, ein Ort des Zuhörens und der<br />
Ort sein, an dem man frei Hypothesen äußern kann, ohne<br />
herabsetzende Bewertungen befürchten zu müssen. Damit<br />
soll nicht verhindert werden, dass Kritik geübt wird, eine<br />
objektive Kritik, die sehr schnell die Fakten und nicht die<br />
Menschen ins Visier nimmt. Das darf auch nicht eine spontane<br />
Kritik verhindern, die die Bewusstseinsentwicklung<br />
beschleunigt. Die Gruppe fungiert auch als Resonanzkörper.<br />
Sie verstärkt die unbedeutenden Ideen, sie stärkt die<br />
Schüchternen. Sie ermöglicht ein drucksvolle Ereignisse,<br />
die das Wissen tief in das Ge dächtnis einprägen.<br />
(58) Wir haben so viel Zeit benötigt, um ihre Existenz zu ent decken, dass<br />
wir in diesem Bereich noch am meisten zu erforschen haben.<br />
234 235
Der Strom der Erfindungen wird aufrechterhalten und<br />
vervielfacht durch das Zuhören, den Respekt, die Akzeptanz,<br />
die Überraschung, das Warten und die Freu de über<br />
die Ideen der anderen. Jedes Gruppenmitglied findet unerwartete<br />
Gesichtspunkte in Hülle und Fülle. Jeder, der<br />
es möchte, wird sie ansehen, um spielerisch die Welt mit<br />
den Augen des anderen zu sehen. Aber man kann ebenso<br />
in seiner Vorstellung versunken bleiben, aus der man erst<br />
zurückkehrt, wenn man seine Untersuchung beendet hat.<br />
Aber man wird immer durch das Verhalten der anderen<br />
aufgefordert, aus seiner Versenkung wieder aufzutauchen.<br />
Es sind keine besonderen Anstrengungen nötig, um<br />
jemanden aus seinen eingefahrenen Strukturen herauszuholen.<br />
Jeder geht einfach in seinem Lernprozess weiter,<br />
ohne sich Gedanken um mögliche Konsequenzen zu machen.<br />
Denn jede ausgewählte Erfindung wird durch die<br />
‚Analyse‘ der Gruppe bearbeitet, zerlegt und abgeklopft.<br />
Sie wird von der Gruppe aufgenommen, geteilt und erobert<br />
und somit positiv genutzt. Das hat zur Folge, dass<br />
jeder aus seinen Gewohnheiten, seinen Struk turen, seiner<br />
Besessenheit und seinen Grenzen heraustre ten kann, aber<br />
erst, wenn er dafür reif ist.<br />
Auf der anderen Seite passiert es auch, dass jemand,<br />
der eher oberflächlich, ein wenig flatterhaft oder instabil<br />
ist, einmal etwas länger bei der einen oder anderen seiner<br />
Ideen verweilt; denn die positive Reaktion der Gruppe<br />
lässt ihn ahnen, welche intensive Freude damit verbun den<br />
ist.<br />
Kurzum, man erkennt den Respekt vor den Persönlichkeiten<br />
und eine gegenseitige Bereicherung. Der Lehrer<br />
hat dabei eine wichtige Rolle, damit die Arbeit in der<br />
Gruppe positiv wird und bleibt. Er muss die Freiheit der<br />
Individuen beschützen, die Dominierenden in Schach halten,<br />
die Schwachen hören. Er muss lernen, nicht selbst nach<br />
vorn zu stürzen, die Freude am ‚diplomatischen Geschick’<br />
zu erwerben. Kurzum, er muss gebildet sein und fähig,<br />
sich selbst weiterzubilden, sich mit anderen weiterzubilden,<br />
damit er die Gruppenphänomene wahr nehmen, sie<br />
besser überschauen und nutzen kann.<br />
3. Informationsquellen<br />
Niemand ist in der Lage, das Wissen der gesamten Menschheit<br />
wiederzuerfinden. Aber überall findet sich Wissen angesammelt<br />
- man muss nur darauf zurückgreifen.<br />
Die erste Wissensquelle, also diejenige, aus der man<br />
unmittelbar schöpfen kann, ist man selbst. Man möchte<br />
am liebsten sein Wissen nur sich selbst verdanken; denn<br />
so ist man so wenig wie möglich von der Macht abhän gig,<br />
die das Wissen den anderen gibt. Deshalb bezieht man<br />
sich immer zu allererst auf die eigenen Erinne rungen, die<br />
eigenen Entdeckungen, die eigenen Aufzeich nungen. Und<br />
erst, wenn eine Frage sehr drängend ist und man selbst<br />
keine Lösung findet, akzeptiert man die Hilfe von Seinesgleichen.<br />
Diese Hilfe ist nicht so gefährlich.<br />
Die Hilfe des Lehrers anzunehmen beinhaltet dagegen<br />
manchmal das Risiko, dass Probleme reaktiviert werden,<br />
die mit der familiären Autorität zusammenhängen. Bücher,<br />
Karteien, Lernprogramme und andere Arbeits mittel<br />
sind bei weitem nicht so brisant.<br />
Obwohl, im letzten Fall wird man vom Autor des Arbeitsmittels<br />
auch fest an die Hand genommen. Welche<br />
Absicht verfolgt er? Welche Vorstellung hat er vom Lernprozess?<br />
Auch bei den Arbeitsmitteln muss es Wahlmöglichkeiten<br />
geben. (59)<br />
Was also die Informationsquellen anbelangt, muss der<br />
Lehrer gewährleisten, dass der Zugang jederzeit möglich<br />
(59) Dennoch kann ein gut gewähltes Arbeitsmittel einen weiteren<br />
interessanten Schritt vorschlagen.<br />
236 237
ist und freiwillig bleibt. Außerdem muss er berücksichtigen,<br />
dass die Information nur ein erster Schritt zum Wissen<br />
ist.<br />
4. Physische Besonderheiten<br />
Jeder von uns ist anders. Unsere Besonderheiten kommen<br />
zum großen Teil aus unserer genetischen Veranlagung.<br />
Ob jemand eine Rechts- oder Linksdominanz bei Augen,<br />
Händen oder Füßen hat, ob er ein visueller oder auditiver<br />
Typ ist, ob Serialist oder Globalist, ob jemand ein begrenztes<br />
oder weites Bewusstsein, ob jemand langsame<br />
oder schnelle Reaktionen hat usw.: Wir haben es uns nicht<br />
ausgesucht, so zu sein, wie wir sind. Es ist vielmehr eine<br />
grundlegende Gegebenheit unseres Wesens, aus der man<br />
das Beste machen muss. Und die - in Gruppen eingebracht<br />
- zur all gemeinen Bereicherung beiträgt.<br />
5. Psychische Eigenarten<br />
In diesem Bereich sind die Unterschiede noch viel einschneidender.<br />
Man kann ein sentimentaler, zärtlicher,<br />
misstrauischer oder aufrechter Träumer, ein versöhnlicher,<br />
ruheloser, heftiger oder strenger Wilder, ein undiszipliniertes<br />
Nervenbündel, ein Unbekümmerter, ein Gehemmter,<br />
ein Phlegmatiker, ein Hyperaktiver, ein Jupiterianer,<br />
ein Uranier ... sein. Aber man kann, so wie man ist, für<br />
die Gruppe nützlich sein. Es gibt nämlich zwei Arten von<br />
Wert, den man haben kann: einen persönlichen, individuellen<br />
Wert und einen Wert im Kollektiv. Aber dieser Wert<br />
als soziales Wesen wird selten gewürdigt.<br />
Doch muss betont werden, dass man immer aufgrund<br />
einer bestimmten Entwicklung so geworden ist. Denn<br />
wenn man z.B. realistisch, rechthaberisch, empfindlich,<br />
systematisch ... ist, dann kann dies auf dunkle emotionale<br />
Erlebnisse oder die Gewohnheiten zurückzuführen sein,<br />
die man aufgrund seiner Lebensumwelt angenommen hat.<br />
In solchen Fällen kann das Beispiel der anderen für uns<br />
auch Anlass zu Änderungen sein.<br />
Durch eine Partnerarbeit, eine Rede, eine gemeinsame<br />
Forschung, ein anderes Gruppenklima, ... kann man zu<br />
neuen Verhaltensweisen kommen. Man kann sich wieder<br />
in die Balance bringen.<br />
6. Rahmenbedingungen<br />
Man kann die natürliche Methode nicht unter allen Umständen<br />
einsetzen. Man benötigt ein Minimum an günstigen<br />
Rahmenbedingungen: Anzahl der Kinder, Platz, Zeit<br />
usw. Aber man kann diese Bedingungen oft herstellen: in<br />
Halbgruppen arbeiten, den Klassenraum und den Stundenplan<br />
umgestalten, Strukturen schaffen, die ermutigen,<br />
das Wort zu ergreifen und den Gebrauch von den Anknüpfungspunkten<br />
erleichtern ... und die eigene Veränderung.<br />
Blick über den Zaun<br />
Zur natürlichen Methode gehört der Blick über den<br />
Zaun. Was habe ich gesehen, als ich über meinen Zaun<br />
geblickt habe? Welche Ideen von außen haben mir geholfen,<br />
mei nen Weg bei der Entwicklung der natürlichen Methode<br />
weiterzugehen? Wenn Kinder mit Hilfe der natürlichen<br />
Methode lernen, dann versuchen sie, sich mit dem<br />
Weni gen, das sie in dem Moment wissen, neues Wissen<br />
zu erobern. Sie tun es mit der Gruppe, in der sie über ihre<br />
Erkenntnisse berichten. Die Gruppe kritisiert die Sache<br />
selbst, aber nicht den Autor. Es ist eine konstruktive Kritik,<br />
die anregt. Dabei darf jeder das Ziel suchen und die Wege<br />
gehen, die seinen persönlichen Bedingungen (Vorwissen,<br />
238 239
Interessen usw.) entsprechen. Kurzum, die Kinder lernen<br />
Mathematik, indem sie sie erforschen.<br />
Aber halt! Forschen! Gibt es nicht eine Gruppe von<br />
Menschen, die diese Tätigkeit als Beruf ausübt? Forscher<br />
und Wissenschaftler arbeiten doch auf die gleiche Weise<br />
wie die Kinder in meiner Klasse. Auch sie wollen Wissen<br />
erobern, das noch nicht vorhanden ist. Auch sie arbeiten<br />
in Gruppen auf ihren individuellen Wegen. Auch ihre Arbeitsergebnisse<br />
sind einer zwar unerbittlichen, aber doch<br />
konstruktiven Kritik unterworfen.<br />
Und gibt es unter ihnen nicht Spezialisten, die Wissenschaftsphilosophen,<br />
die Erkenntnistheoretiker, die sich<br />
ausschließlich damit befassen, wie man zu Erkenntnissen<br />
kommt, die man vorher noch nicht gehabt hat? Bei<br />
ihrer Arbeit versuchen sie, Antworten auf die Fragen zu<br />
finden:<br />
• Was ist Wissen?<br />
• Wie kommt Wissen zustande?<br />
• Welchen Stellenwert hat das Wissen im Erkenntnisprozess?<br />
Warum nicht bei diesen Spezialisten für das Erkennen<br />
nachlesen, ob sich dort nicht neue Impulse für die natürliche<br />
Methode ergeben? Für mich war besonders die Lektüre<br />
von zwei Wissenschaftsphilosophen ergiebig, nämlich<br />
Bachelard (1966, 1970, 1972) und Popper (Lorenz-Popper<br />
1990 und Bougueresse 1986). Auch wenn ihre wissenschaftliche<br />
Position nicht unumstritten ist, las sen wir uns<br />
nicht daran hindern, sie genau zu lesen und sorgfältig zu<br />
prüfen, ob sich dort Ideen finden, die für uns brauchbar<br />
sind. (60) Und nun zu meinen Anknüpfungspunkten in der<br />
(60) Das hat übrigens auch <strong>Freinet</strong> getan. Auch er hat sich mit den<br />
großen Denkern seiner Zeit auseinandergesetzt, hat geprüft, ob sich<br />
etwas Brauchbares darunter findet, und dies dann in der Bewegung zur<br />
Diskussion gestellt.<br />
Wissenschaftsphilosophie.<br />
Für Popper ist das Gehirn ein natürliches Organ zur<br />
Produktion von Hypothesen und Theorien. Es kommt<br />
darauf an, dem Gehirn zu erlauben entsprechend seiner<br />
Natur zu funktionieren und viele Theorien zu produzieren.<br />
Diese Theorien sollen helfen die Welt zu erfassen, sie<br />
zu erklären und sie zu beherrschen.<br />
Bei der Theorieproduktion geht es aber nicht darum,<br />
das zu bestätigen, was wir ohnehin schon wissen. Vielmehr<br />
soll mit Hilfe neuer Vermutungen, neuer Hypothesen,<br />
neuer Theorien der Aufbruch zu neuen Ufern gewagt<br />
werden. Dabei sind es die unwahrscheinlichsten, die<br />
gewagtesten Vermutungen, die uns am meisten vor wärts<br />
bringen. Voraussetzung für die Produktion solcher Vermutungen<br />
ist die Kreativität des Forschers.<br />
Auch wenn unsere Vermutungen schnell widerlegt sein<br />
sollten, erlauben sie, in neue Probleme einzumün den, oft<br />
sogar auf recht hohem Niveau.<br />
Aber man ist sich dennoch verpflichtet, seine Theorien<br />
zu verteidigen. Man sollte nicht zu schnell ihre Widerlegung<br />
akzeptieren, denn gerade durch ihre Verteidigung<br />
eröffnen sich manchmal neue Bereiche.<br />
Die Kritik der Gruppe erlaubt es, die intersubjektive<br />
Gültigkeit von Hypothesen und Theorien aufzudecken,<br />
also diejenigen zu erfassen, die bis zu ihrer Widerlegung<br />
das ‚objektive‘ Wissen bilden.<br />
Theorien und Hypothesen gehen den Beobachtungen<br />
immer voraus. Das gilt selbst für die alltägliche Wahrnehmung.<br />
Ein Phänomen fällt uns erst dann ins Auge,<br />
wenn es anders ist, als wir es aufgrund der Ideen und<br />
Theorien, die in unserem Kopf sind, vermutet hätten. Das<br />
gilt selbstverständlich auch für die wissenschaftliche Beobachtung:<br />
Man konzipiert zunächst eine Idee (unter Einbeziehung<br />
dessen, was bisher beobachtet wurde, also der<br />
regelhaften und der regelwidrigen Phänomene), die das<br />
240 241
gesamte Phänomen erklären soll. Diese neue Hypo these<br />
wird durch systematische Beobachtung geprüft.<br />
Soweit einiges von dem, was ich von Popper und Bachelard<br />
gelernt habe. Und vieles findet man auch in der<br />
natürlichen Methode wieder.<br />
Zuallererst ist es dieses permanente Voranschreiten der<br />
Theorie, für deren Entdeckung ich so viel Zeit benötigt<br />
habe. Glücklicherweise habe ich lange Zeit in einer jahrgangsübergreifenden<br />
Klasse mit Kindern gear beitet, die<br />
eine pluralistische natürliche Methode frei ge lebt haben.<br />
Sie waren es, die mich unterrichtet haben und mir diese<br />
Idee trotz meines Widerstands eingetrichtert haben.<br />
Wir haben zum Beispiel eine Überfülle an Theorien<br />
herausgearbeitet, von denen bestimmte sehr unwahrscheinlich<br />
sind. Eine bestimmte soziale Organisation des<br />
Unterrichts erlaubt selbst in solchen Fällen eine positive<br />
Aufnahme der Produktionen, was letztlich die Kreativität<br />
fördert. Eine solche Klasse ist auch der Ort, wo über<br />
die Ideen ohne Zensur gesprochen werden kann und wo<br />
der Lehrer diese Ideen nicht gleich für seine eigenen Ziele<br />
verwertet.<br />
Der Lehrer unterstützt das demokratische Funktionieren<br />
der Gruppe. Jeder kann sich durch das Gespräch<br />
mit anderen seiner eigenen impliziten Postulate bewusst<br />
wer den und diese kritisieren. Die Punkte, von denen die<br />
ver schiedenen Individuen ausgehen, können sehr weit<br />
aus einander liegen, aber jeder lernt durch die Handlungsweisen<br />
der anderen dazu. Die Diskussion ist deshalb<br />
so bereichernd, weil es nicht darum geht, um jeden<br />
Preis eine Einigung zu erzielen oder einen Sieg davonzutragen,<br />
sondern darum, seine eigene Sicht der Dinge zu<br />
verbessern.<br />
Die Menschen sind unterschiedlich: ernsthaft, fleißig,<br />
erfinderisch, phantasievoll. Aber unabhängig davon werden<br />
ihre Aussagen in der Forschergruppe offen kritisiert.<br />
Wenn diese Kritik von selbstbewussten, von anderen anerkannten<br />
Menschen positiv aufgenommen wird, gerät<br />
die Grundhaltung des Betroffenen in Bewegung, die Aussagen<br />
werden objektiver, verändern sich in Qualität und<br />
Thematik. Eine vorwärts gerichtete Bewegung entsteht.<br />
Dennoch fügen wir mit der natürlichen Methode einen<br />
weiteren Aspekt hinzu. Denn wenn Popper von der Existenz<br />
unterschiedlicher Individuen spricht, so akzep tiert er<br />
sie so, wie sie jetzt sind. Wir aber haben es mit Persönlichkeiten<br />
zu tun, die sich entwickeln. Und diese Dimension<br />
dürfen wir nicht vergessen.<br />
Glücklicherweise trägt die Ausbreitung der natürlichen<br />
Methode auf alle Bereiche dazu bei, die kleinen mathematischen<br />
Forscher in die beste Ausgangsposition zu<br />
versetzen.<br />
Die Bedeutung ungewöhnlicher Erfindungen<br />
Wir haben gesehen, dass außergewöhnliche Erfindungen<br />
eine besondere Rolle spielen. Wie sieht das in der Praxis<br />
aus? Erinnern wir uns zum Beispiel an die ‚Theorie<br />
der Sieben‘, die Tiziano mit so viel Energie verfochten hat<br />
(vgl. S. 83f).<br />
Es war irgendwie verrückt und wurde von der Gruppe<br />
nicht akzeptiert: Man konnte so einfach nicht zählen. Aber<br />
kurz danach hat mir Jany Gibert ein Problem er zählt:<br />
242 243
„Wenn man an seinen Fingern auf folgende Weise zählt:<br />
Auf welchem Finger kommt man mit der Zahl 147<br />
an?”<br />
Ich habe natürlich sofort an die ‚Theorie‘ von Tiziano<br />
gedacht. Bei diesem Problem erinnert man sich wieder an<br />
die Äquivalenzklassen, die wir schon gut kennen. Aber<br />
man entdeckt auch eine Wechselfolge von Klassen (Paaren),<br />
deren Existenz man nicht einmal vermutet.<br />
Man findet Bekanntes wieder und man entdeckt<br />
Neues.<br />
Man findet insbesondere die beiden Momente des Lernens<br />
wieder, die es bei <strong>Freinet</strong> (und bei Popper) gibt: auf<br />
der einen Seite die Aneignung eines neuen Elements und<br />
auf der anderen Seite das Bemühen, das Gelernte ins Unbewusste<br />
abzudrängen.<br />
Die Wiederholung ermöglicht das Lernen. Aber sie<br />
kann sehr trocken, abstrakt, mechanisch und ohne jegliche<br />
Harmonie sein. Wenn sie aber mit Schwung und mit<br />
Bezug auf die reichhaltigen Lebenszusammenhänge erfolgt,<br />
dann ist der Erfolg viel schneller und viel sicherer.<br />
Die <strong>Freinet</strong>-Bewegung hat sich von Anbeginn bemüht,<br />
vielfältige Werkzeuge zum Lernen (Karteien, Lesehefte<br />
...) zu erstellen. Aber das war nur ein Anfang. Unsere Beispiele<br />
zeigen neue Wege auf:<br />
Man könnte die Phantasie von Tiziano mit derjenigen<br />
von Sandro zusammenbringen, der an seiner Wange mit<br />
den Fingern nur einer Hand zählte. Eine andere vielleicht<br />
viel ertragreichere Verknüpfung wäre die mit den oszillierenden<br />
Bewegungen (Schaukeln, Pendeln) oder mit den<br />
verschlungenen Wegen oder dem Hin und Her oder den<br />
Slalomfahrten oder den Kehrtwendungen oder besonders<br />
extensiv mit den Sinuskurven und den zyklischen Bewegungen<br />
... oder allem, was man sich noch denken könnte<br />
und was vielleicht zu weit hergeholt scheint.<br />
Von den Erfindungen der Addition mit Unbekannten<br />
von Jacques ausgehend kann man bei der Suche nach Elementen<br />
ankommen, die als Glieder einer Kette fehlen (der<br />
Planet Neptun, der Quastenflosser ...) und auf<br />
(Es ist ein Zahlenrätsel! 0 = O; 1 = M; 2 = ..., mehr sei<br />
hier nicht verraten, Anm. d. Übers.)<br />
An dieser Stelle ist es auch interessant, sich einmal<br />
anzusehen, wohin es führt, wenn einzelne Teilnehmer<br />
gegen den Lehrer für die Erfindungen der anderen Partei<br />
ergreifen und sich begeistern. Gael (8 Jahre) hat mir<br />
hier die Augen geöffnet. Ernsthaft wie er ist, hat er gründlich<br />
nachgedacht und treffende Fragen gestellt. Und er<br />
fühlte eine Art Berufung, denjenigen zu helfen, die in<br />
244 245
Schwierigkeiten waren. Besonders empfindlich reagierte<br />
Gael, wenn es um die Freiheit seiner Mitschüler ging. Einmal<br />
hatte ich seinen Bruder und seinen Vetter etwas in die<br />
Ecke getrieben, als sie mir vormachen wollten, dass sie<br />
sich mit einer ausgedachten Sprache verständigen könnten.<br />
Aber da hat Gael den beiden mit großem Einfallsreichtum<br />
einen Ausweg gebahnt.<br />
Ähnliche Situationen erlebte ich mit ihm häufiger: Als<br />
ich eines Abends die mathematischen Erfindungen der<br />
Kinder an die Tafel schrieb, lächelte ich vor mich hin, als<br />
ich die von Michel (7 H Jahre) sah:<br />
Ich sagte mir: „Darüber wird er sich bestimmt beschweren!“<br />
Als Michel am nächsten Morgen in die Klasse kam,<br />
sah er sich wie alle anderen nach seiner Erfindung an der<br />
Tafel um, und tatsächlich reagierte er sofort:<br />
„Aber Sie haben sich geirrt. Das habe ich nicht geschrieben!“<br />
Aber er musste seinen Irrtum zugeben, als ich ihm sein<br />
Heft zeigte.<br />
„Ach, ja, ich habe mich geirrt.“<br />
(Warum, lässt sich leicht erklären. Als er seine Zahlen<br />
schrieb, war er mitten in seiner Erfindung. Er hatte kei nen<br />
Abstand mehr. Erst am nächsten Tag hatte er die Rückmeldung<br />
von der Tafel.) (61)<br />
(61) Es ähnelte ein wenig dem, was Carl Rogers tat, als er die Aussagen<br />
seiner Patienten neu formulierte, um sie ihnen bewusst werden zu lassen.<br />
Wenn nun niemand den Fehler bemerkt hätte (62) , hätte<br />
ich vielleicht diesen mathematischen Text zweimal vorgelesen<br />
und dabei vor der 23 eine kleine Pause gemacht.<br />
Das hätte bestimmt ausgereicht, um den Blick zu schärfen.<br />
In diesem Fall war Michel überzeugt, dass er sich geirrt<br />
hatte. Die Klasse und der Lehrer waren es auch.<br />
In diesem Moment hat Gael eingegriffen:<br />
„Aber es ist seine Erfindung. Er ist frei, das zu schreiben,<br />
was er will!“<br />
Ich musste anerkennen, dass dies richtig war, dass es<br />
sich um einen freien mathematischen Text handelte, dass<br />
man schreiben konnte, was man wollte. Und wir mussten<br />
den Text so akzeptieren, wie er vorlag. Wir hätten uns also<br />
damit zufrieden geben müssen, hier zu erkennen, dass erst<br />
um 7, dann um 7 und schließlich um 8 erhöht wurde. Jemand<br />
hätte sagen können:<br />
„Er hätte nur die Sieben verwenden können.“<br />
„Das ist richtig, er hätte können.“<br />
Diese Kritik von Gael (die eine Kritik am Lehrer war)<br />
hat uns neue Wege eröffnet. Die ganze Welt der Folgen (63)<br />
hat sich uns aufgetan.<br />
Der Einwurf von Gael stellt erneut die Frage nach der<br />
(62) Da er sich nicht selbst kritisieren konnte, hätten seine Mitschüler<br />
ihre Kritik anbringen können. Er hätte sie ohne Probleme akzeptiert,<br />
weil sie mit ihm auf einer Ebene standen. Die Kritik durch den Lehrer<br />
hingegen wäre viel gefährlicher gewesen, denn er hätte sie als Kritik durch<br />
eine Vaterfigur und nicht durch seinesgleichen empfinden können. Man<br />
kann sich sehr gut die Störungen des Denkens vorstellen, die so etwas<br />
hervorrufen könn te.<br />
(63) Oft schlage ich auf Fortbildungsseminaren vor, drei Ziffern<br />
aufzuschreiben, die auf 1. 8.15. 23. folgen. Wir haben zum Beispiel<br />
erhalten:<br />
30, 37, 45 - 31, 38,45 - 31,40, 49 - 32, 51, 81 - 38, 61, 99 - ... Man ist frei!<br />
Und das erlaubt, eine Arbeit über die Gesetze zur Bildung gewis ser Folgen<br />
(bzw. über ihr Fehlen) anzufangen. Man kommt übri gens sehr schnell<br />
zu den Dreieckszahlen, auf das Pascalsche Drei eck, auf die Folge der<br />
Quadrate usw.<br />
246 247
Rolle des Lehrers. Wie muss er sich verhalten, damit er die<br />
freie Entfaltung der Gruppe nicht hemmt?<br />
Das ist ein wichtiger Punkt, wenn nicht gar ein Hauptpunkt.<br />
Ist der Weg jetzt nicht vollständig aufge zeigt? Es<br />
ist der Weg einer Pädagogik, die den Menschen selbst, das<br />
Gespräch zwischen ihnen und ihre Entwick lung respektiert.<br />
Vielleicht können wir, wenn wir diesen Weg gegangen<br />
sind, ihn als Beitrag zu einer umfassenden ökologischen<br />
Betrachtungsweise werten.<br />
8. Erfahrungsberichte aus Frankreich und<br />
Deutschland<br />
Bilanz von Daniel Boulanger<br />
Während meiner ganzen Schulzeit hasste ich die Mathematik,<br />
weil ich nichts verstanden habe. Ich musste erst<br />
Lehrer werden und mich in der Position des Lehren den<br />
wiederfinden, um endlich den Begriff der Basis bei Zahlensystemen<br />
(Basis fünf, sechs, ...) zu verstehen, mit dem<br />
man mir mehrere Jahre lang ohne Erfolg die Ohren vollgestopft<br />
hatte.<br />
Ich musste wieder beim Punkt Null anfangen. Wie die<br />
Kinder musste ich mir Bündel machen und dann die Beziehung<br />
zur Basis zehn herstellen, um zu entdecken, dass<br />
man mich so lange mit einer einfachen Sache gelang weilt<br />
hatte, die so kinderleicht ist, dass sie von jedem Kind gelernt<br />
werden kann.<br />
Unglücklicherweise bleiben mir noch viele einfache<br />
mathematische Konzepte fremd, weil ich noch nicht alle<br />
Schäden habe beheben können. Ich bin immer noch kein<br />
‚Mathematiker‘. Dennoch habe ich die Mathematik gern<br />
oder genauer gesagt, die natürliche Methode der Mathematik.<br />
Jeder kann hier seinen eigenen Platz finden, welches<br />
auch seine Anknüpfungspunkte sein mögen.<br />
Paradoxerweise hat mir meine Behinderung bei der Erkenntnis<br />
geholfen, was Leiden in und durch Mathe matik<br />
bedeutet. Aufgrund günstiger Umstände bin ich ein Spezialist<br />
des Mathematikunterrichts in der Elemen tarstufe<br />
geworden.<br />
Heute spüre ich das Bedürfnis, die Lücken auszufüllen<br />
und die Sprache der Erwachsenen zu benutzen, um die<br />
Konzepte zu beschreiben, die die Kinder manchmal mit<br />
Leichtigkeit handhaben.<br />
248 249
Bilanz von Marie Therese Bousquant<br />
Als Bilanz der beiden Jahre meiner Arbeit mit der natürlichen<br />
Mathematik im 2. Schuljahr stelle ich fest:<br />
• Sie entwickelt den Sinn für Beobachtung und den Sinn<br />
für Kritik.<br />
• Sie bedeutet eine Öffnung für das Denken.<br />
• Durch die Würdigung der Arbeiten und den Rücklauf<br />
in die Gruppe werden die Produktionen bereichert und<br />
die Kreativität nimmt zu.<br />
• Man kann Vertrauen in die Kreativität und die Beobachtungsgabe<br />
der Kinder haben, die sich durch die tägliche<br />
Praxis, durch das Gespräch miteinander, durch die<br />
Würdigung der Fähigkeiten und durch ihre Wertschätzung<br />
innerhalb der Gruppe weiterenwickeln.<br />
• Rechenkarteien, die sich auch um die Entwicklung der<br />
Beobachtungsgabe und der Reflexion bemühen, kön nen<br />
am Anfang eine wertvolle Hilfe sein. Sie sind eine gute<br />
Ergänzung zum Bemühen der Kinder, weil sie sich oftmals<br />
darauf beziehen.<br />
• Es gab immer genügend Erfindungen der Kinder, um<br />
die Arbeit mit ‚Rohstoff zu versorgen.<br />
• Das Kind kann dank des Lehrers und dank der Gruppe<br />
bzw. Klasse sein eigenes Lernen in die Hand nehmen<br />
und seine eigene Mathematik konstruieren.<br />
• Der Lehrer ist jetzt mehr jemand, der hilft, begleitet,<br />
anregt, als jemand, der Wissen vermittelt. Das Gleichgewicht<br />
ist dabei schwer zu finden und andauernd in<br />
Frage gestellt.<br />
• Die mathematische ‚Kultur‘ des Lehrers spielt eine<br />
Rolle<br />
• Wesentlich ist der Austausch zwischen den Lehrern,<br />
um die entsprechenden Erfahrungen zusammenzutragen,<br />
um alle mathematischen Begriffe zu sehen, die in<br />
den Erfindungen der Kinder angesprochen werden bzw.<br />
hätten angesprochen werden können, damit sie besser<br />
gehört und eingeschätzt werden.<br />
• Die Kinder sind nicht alle gleich kreativ, aber jedes kann<br />
gewürdigt, bewertet und ermutigt werden. Und die Reaktion<br />
der Kinder auf die Vorstellung einer Erfindung<br />
birgt oft Überraschungen in sich, ist aber stark an ihre<br />
momentane Bereitschaft gebunden.<br />
• Ich habe große Lust, das Abenteuer am Schuljahrsbeginn<br />
fortzusetzen, solange ich nicht allein damit bin<br />
(in einem 3./4. Schuljahr).<br />
Einige Eindrücke von Monique Quertier<br />
Seitdem ich die natürliche Methode in Mathematik in<br />
meiner Klasse eingeführt habe, machen die Kinder gerne<br />
Mathematik: Sie wollen nur noch das, fordern die Besprechung<br />
der Erfindungen und sind sehr unzufrieden an den<br />
Tagen, an denen es keine gibt. Die Kinder wollen handeln<br />
und entdecken, deshalb lieben sie die Bespre chungen der<br />
mathematischen Erfindungen, denn dort können sie Autor,<br />
Handelnder und Produzent sein.<br />
Im Laufe der Besprechungen entwickelt sich ihr kritisches,<br />
analytisches und beobachtendes Denken: Sie haben<br />
immer etwas zu sagen. Wenn ich ihnen eine sehr klassische<br />
Hausaufgabe in Mathematik aufgebe (für die Benotung),<br />
stört sie das überhaupt nicht, weil sie daran ge wöhnt<br />
sind, ständig neue Situationen zu erörtern, nämlich diejenigen,<br />
die in den Erfindungen ihrer Freunde vorkommen.<br />
Aber das folgende gilt auch für alles andere: Die natürliche<br />
Methode der Mathematik verwandelt ihre Lebensweise<br />
und ihre Sichtweise der Dinge: Sie lernen, all das,<br />
was sie umgibt, wahrzunehmen und zu fühlen.<br />
250 251
Die natürliche Methode der Mathematik hilft bei der<br />
Freisetzung des Ausdrucks in all seinen Formen. Die Kinder<br />
lernen, ihre Ideen vorzustellen, sich nicht mit einer<br />
simplen Bestätigung zufrieden zu geben, denn die anderen<br />
fordern Beweise, stellen dem Freund Fallen, indem sie<br />
weiter gehen als er, oder finden eine Schwachstelle in seiner<br />
Vorführung. Und all dies geschieht so oft wie möglich<br />
unter Einsatz der gesprochenen Sprache, was für Kinder,<br />
die sich wohl fühlen, leicht ist. Aber auch der Ängstliche,<br />
der es nicht wagt, mit Worten die Oberhand zu gewinnen,<br />
schafft es letztlich einen Weg zu finden, sich auszudrücken.<br />
Das war bei Cedric so, der vier Monate lang stumm<br />
geblieben ist. Er schrieb während der Besprechungen in<br />
sein Heft, kam jedoch nie an die Tafel, um irgend etwas<br />
zu sagen. Eines Tages, als wir uns mit dem Vergleich von<br />
Strecken herumschlugen, stand er still auf und ging zur<br />
Tafel, um Streckenabschnitte mit Hilfe der Zirkelöffnung<br />
zu messen.<br />
Ich habe die Gelegenheit genutzt, ihn nach seiner Vorgehensweise<br />
zu fragen - und er hat es erklärt. Das ist der<br />
erste Schritt gewesen. Danach ist er viel bereitwilliger gekommen,<br />
um den anderen seine Wissenschaft zu zei gen.<br />
Ich habe es noch nie erlebt, dass ein Kind ein ganzes Jahr<br />
lang stumm geblieben ist.<br />
Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass die Kinder<br />
ihrer Freude Ausdruck geben, wenn sie etwas gelernt<br />
haben, sie gehen aus sich heraus und drücken ihre tiefen<br />
Empfindungen aus.<br />
Ich habe eine Verbesserung ihrer Beobachtungsfähigkeit<br />
bei Abschreibübungen festgestellt. Sie schreiben<br />
ohne Fehler ab. Ich glaube, dass sie durch die Besprechungen<br />
der Erfindungen gelernt haben genau hinzusehen,<br />
denn sie strengen sich an, dies zu tun.<br />
Jeder folgt seinem Weg auf seine individuelle Weise,<br />
baut individuell sein Wissen auf, aber all dies dank der<br />
kollektiven Unterstützung. Er kann sich die Information<br />
auswählen, die er für nützlich hält, um eine Schwierigkeit<br />
zu überwinden.<br />
Offensichtlich ist alles, was ich über die Kinder gesagt<br />
habe, auch für den Lehrer gültig: Weil ich gezwungen war,<br />
meine alten Bücher loszulassen, habe ich in den drei Jahren<br />
gelernt, Impulse und Personen, von denen ich lernen<br />
kann, zu suchen - nicht nur um die Arbeiten der Kinder zu<br />
überprüfen, sondern auch, um meine persönliche Neugier<br />
zu befriedigen. (Seid neugierig und ihr werdet gelehrt.)<br />
Man muss nicht ‚begabt‘ in Mathematik sein, um sich<br />
daran zu wagen: Man braucht keine Angst davor zu haben,<br />
die Kinder einfach machen und sprechen zu las sen; man<br />
muss lediglich lernen, während der Bespre chungen zu<br />
schweigen und nur dann einzugreifen, wenn ein unbedingt<br />
notwendiges Element zur Reihe der Opera tionen fehlt.<br />
Apropos Schweigen, ich habe festgestellt, dass die<br />
Gruppe, die nicht mit mir arbeitet, die also still sein<br />
muss, besonders aktiv im Zuhören ist: Sehr oft stellt diese<br />
Gruppe mathematische Erfindungen vor, die ein konsequenter<br />
Fortgang der Erfindungen sind, die von der anderen<br />
Gruppe besprochen wurden.<br />
Ein letzter Rat an diejenigen, die sich an die natürliche<br />
Methode der Mathematik wagen wollen: Macht es nicht<br />
ganz allein, sucht euch Freunde, die sie auch praktizieren,<br />
und organisiert mit ihnen Besprechungen über die mathematischen<br />
Erfindungen der Kinder. Mit Erwachsenen finden<br />
wir uns unvermeidlich in den gleichen schwierigen,<br />
angenehmen oder komischen Situationen wieder, denen<br />
wir in unseren Klassen begegnen.<br />
252 253
Bilanz von Angela Glänzel nach 2 Jahren Erfahrung<br />
Die Idee von Paul Le Bohec, den freien Ausdruck auch<br />
in der Mathematik zuzulassen, hat mich sofort fasziniert,<br />
einfach, weil die freien Texte in Deutsch und der freie<br />
Ausdruck überhaupt für mich und die Kinder in meinen<br />
Klassen immer wichtiger geworden war.<br />
Seit zwei Jahren habe ich keine eigene Klasse mehr,<br />
sondern gebe Fachunterricht in Mathematik in der 3. und<br />
4. Klasse. Paul Le Bohecs Berichte hatten mir so viel Mut<br />
gemacht, dass ich auch in dieser Situation als Fach lehrerin<br />
dem freien Ausdruck genügend Platz einräumen wollte.<br />
Da meine neuen Schüler und Schülerinnen den Begriff<br />
‚freien Ausdruck‘ nicht kannten, nannten wir es ‚Mathematik<br />
erfinden‘.<br />
Inzwischen sieht mein Mathematikunterricht sehr anders<br />
aus. Auch anders als der von Paul Le Bohec in diesem<br />
Buch beschriebene. Im Laufe der Zeit haben sich die<br />
Strukturen teilweise verändert; Leitmotiv ist jedoch geblieben,<br />
die Mathematik der einzelnen Kinder zu verstehen,<br />
sie diese entfalten zu lassen und im gemeinsamen<br />
Gespräch Anregungen zu immer differenzierteren Vorstellungen<br />
zu entwickeln.<br />
Am Anfang war das Erfinden nicht immer leicht: Einige<br />
Kinder werteten die Erfindungen der anderen ab, wenige<br />
waren bereit, sich auf die Erfindungen der anderen<br />
wirklich einzulassen, die Konzentration im Er finderkreis<br />
ließ schnell nach.<br />
Ich selbst war auf der Suche nach Strukturen, die zu<br />
unseren Gegebenheiten, zu diesen Kindern, die keinen<br />
offenen Unterricht kannten, passen. Ich probierte, veränderte.<br />
Einige Kinder meckerten jedes mal, wenn ich zum<br />
Erfinderkreis vor der Tafel aufforderte.<br />
Aber bei einer kleinen Umfrage nach einigen Monaten<br />
stellte sich heraus, dass knapp die Hälfte der Kinder ‚Erfinden‘<br />
am liebsten mochten, und da Mathematik bei fast<br />
allen Kindern zum Lieblingsfach geworden war, ließ ich<br />
mich nicht mehr irritieren.<br />
Nach zwei Jahren zählte bei 19 von 24 Kindern das<br />
Erfinden zu den liebsten Aktivitäten im Mathematikunterricht.<br />
Inzwischen haben wir längst Strukturen gefunden, die<br />
zu uns passen:<br />
Es gibt regelmäßige Erfinderkreise, die freiwillig sind<br />
und meist aus etwa 5 bis 7 Teilnehmern und Teilnehmerinnen<br />
bestehen. Einige Kinder kommen sehr oft,<br />
eini ge wenige nur das eine Mal, das als Minimum innerhalb<br />
von 6 Wochen gilt.<br />
‘Mathematik erfinden’ ist inzwischen eine der vier<br />
Säulen meines Mathematikunterrichtes, in dem es auch<br />
noch freies Forschen (in einem Atelier mit viel Material zu<br />
einem Thema), Sammeln (von Material und Vorstel lungen<br />
aus dem Umfeld zu einem Thema) und ‚Üben‘ (individuelles<br />
Erarbeiten und Erproben von Rechen verfahren) gibt.<br />
Für viele Kinder hat das Erfinden jedoch zentrale<br />
Bedeutung:<br />
• für manche Kinder, weil sie dort all ihre vielfältigen<br />
Vorstellungen und Ideen von Mathematik offenbaren<br />
können,<br />
• für andere, weil sie dort am meisten ernst genommen<br />
werden. Es ist ihre Erfindung, also müssen wir anderen<br />
den Versuch machen, sie zu verstehen,<br />
• manche versuchen das was sie irgendwo aufge schnappt<br />
haben, auszuprobieren und durch die Grup pe bestätigen<br />
zu lassen,<br />
254 255
• einige Kinder nutzen die Chance, unter dem ‚Schutz<br />
des Erfinders‘ alles ausprobieren zu können.<br />
Valesca hat sich im 4. Schuljahr, als bereits die schriftliche<br />
Multiplikation im Raum stand, eine fehlende Voraussetzung<br />
mit folgender Erfindung erarbeitet:<br />
Bei der Besprechung interessierten sich die anderen<br />
Kinder zunächst für die Funktionsweise dieser Maschine<br />
mit dem klang vollen Namen ‚Tiefunda‘: ... Bei jedem<br />
Knopfdruck kommen 90 dazu ... Wenn man 8-mal den<br />
Knopf drückt, sind es 720...<br />
Nur ein Junge bemerkte, dass oben wohl eine Null fehle,<br />
was Valesca und die anderen aber kaum beirrte. Vielleicht<br />
verstan den sie besser als ich in diesem Moment, was Valesca<br />
mit die sem Fehler kurz und knapp ausgesagt hat: „Ich<br />
brauch‘ nicht 8mal die 90 dazuaddieren, ich kann auch 8•9<br />
oder sogar 9•8 (die Achterreihe ist meine Lieblingsreihe)<br />
rechnen und eine Null anhängen“.<br />
Valesca hat mit dieser Erfindung das Rechenschema ‘Null<br />
anhängen‘ verstanden, weil sie es selber erfunden hat.<br />
Ich gebe zu, dass es jedes Mal eine Weile gedauert hat,<br />
bis ich Valescas oder andere ‚Fehler‘ verstehen und akzeptieren<br />
konnte. Geholfen hat mir in Alltagssituationen<br />
mein fester Vorsatz, das Wort ‚falsch‘ zunächst ganz aus<br />
meinem Wortschatz zu strei chen und stattdessen genau<br />
hinzusehen und hinzuhören.<br />
Für mich ist das Erfinden immer wichtiger geworden,<br />
• weil ich sehen kann, wo die einzelnen Kinder wirklich<br />
stehen in Mathematik, bzw., was sie zu ihrer Mathematik<br />
gemacht haben,<br />
• weil ich jedes einzelne Kind über diese Ausdrucksmöglichkeit<br />
auch im begrenzten Fachunterricht als<br />
ganze Person wahrnehmen kann,<br />
• weil ich erlebe, dass in den Erfinderkreisen die schwachen<br />
Kinder eine wichtige Rolle spielen: Denn oft sind<br />
es gerade die Erfindungen der schwachen Kinder, vor<br />
denen ich häufig etwas ratlos stehe, die aber im Erfinderkreis<br />
ein sehr lebhaftes Gespräch auslösen.<br />
Diese Erfahrung ermöglicht mir auch eine andere Haltung<br />
den schwachen Kindern gegenüber, weil sich über<br />
die Erfinderkreise in der Gruppe eine Haltung gegenseitigen<br />
<strong>Verstehen</strong>s und Akzeptierens installiert, die nicht nur<br />
für freies und kreatives Lernen Bedingung ist. Man darf<br />
als ganzer Mensch anwesend sein, auch als Mensch mit<br />
dieser oder jener Besonderheit oder Schwierigkeit.<br />
Ein hoher Anspruch, der in offensichtlichem Widerspruch<br />
zu unserem Schulalltag steht, und dennoch ein<br />
Weg, den zu gehen sich lohnt.<br />
256 257
Erste Versuche in einem 2. Schuljahr von Peter<br />
Schütz<br />
Die Ideen von Paul Le Bohec haben mich so beeindruckt,<br />
dass ich noch während der Übersetzung damit begann,<br />
sie in meinem eigenen Unterricht auszuprobieren.<br />
Viele An regungen konnte ich problemlos übernehmen. In<br />
einigen Bereichen musste ich aber eigene Wege suchen,<br />
weil Pauls Vorschläge mich in eine Sackgasse geführt<br />
hätten; denn meine Arbeitsbedingungen (Schüler, Lehrer,<br />
Raum, Mate rial, Stundenplan, usw.) unterscheiden sich erheblich<br />
von seinen. Ich möchte hier beschreiben, wie ich<br />
methodisch eingestiegen bin, und einige Beobachtungen<br />
darstellen, die ich bei meinen ersten Gehversuchen mit der<br />
natürli chen Methode im Mathematikunterricht gemacht<br />
habe.<br />
1. Ausgangsideen<br />
Als ich damit anfangen wollte, hatte ich ein zweites<br />
Schuljahr mit 26 Schülern. Gerade angesichts der hohen<br />
Schülerzahl hat mir der Tipp eingeleuchtet, Jahrgangsklassen<br />
bei dieser Arbeit zu teilen. Ich wollte also die eine<br />
Hälfte der Klasse mit Karteien, Mathebuch u.a. still beschäftigen,<br />
während ich mit der anderen Hälfte deren Erfindungen<br />
besprach.<br />
Da ich im Fach Deutsch gute Erfahrungen mit Geschichten-Heften<br />
als Einstieg ins freie Schreiben ge macht hatte,<br />
kam mir die Idee, für jedes Kind entspre chende Hefte für<br />
die freien mathematischen Texte einzu führen. Bis auf das<br />
erste Mal sollte es den Kindern freigestellt sein, ob sie in<br />
diesem Mathe-Forschungsheft arbeiten wollten oder nicht.<br />
Genauso frei sollten die Kin der in dem sein, was sie hineinschreiben<br />
wollten.<br />
Für den organisatorischen Verlauf der Besprechung<br />
musste ich mir auch etwas Neues einfallen lassen, denn<br />
anders als Paul kann ich nicht nachmittags Schülererfindungen<br />
an die Tafel schreiben, um sie am nächsten<br />
Tag zu besprechen. Ich wollte sie vielmehr auf eine Folie<br />
übertragen und dann mit Hilfe des Overhead-Projektors<br />
präsentieren. Inhaltliche Vorgaben habe ich den Kindern<br />
nicht ge macht, weil ich beobachten wollte, was die Kinder<br />
von sich aus machen. Deshalb sollte die individuelle Arbeit<br />
im Forschungsheft ein ständiges Angebot im Rahmen<br />
der freien Arbeit sein.<br />
2. Anfang<br />
Bald nach Beginn des 2. Schuljahres habe ich für jedes<br />
Kind ein DIN-A4-Heft mit Rechenkaros (Lineatur Nr. 22)<br />
gekauft. Nach dem Austeilen habe ich erklärt, dass dies<br />
das Heft sei, in das alles aufgeschrieben werden kann, was<br />
jemand in Mathe erforscht. (Der Ausdruck ‚Forschung‘<br />
war den Kindern aus dem Sachunterricht be kannt.) Die<br />
Kinder haben es entsprechend beschriftet und dann angefangen,<br />
das hineinzuschreiben, von dem sie meinten, dass<br />
es etwas mit Mathe zu tun hätte.<br />
Bei diesem ersten Versuch sind viele Schüler in dem<br />
Bereich geblieben, in dem sie bisher gerechnet haben.<br />
Zum Teil waren es sehr einfache Aufgaben, wie z.B. 10 +<br />
9 = 19 . Andere haben sich in den Hunderter- und Tausender-Raum<br />
vorgewagt: z.B. 100 + 500 = 600. Eine kleine<br />
Gruppe hat Punkte, Kreuze oder Kreise in eine Reihe gezeichnet<br />
und die Anzahl dazu aufgeschrieben:<br />
Die Erfindungen haben wir dann in der jeweiligen Teilgruppe<br />
gemeinsam besprochen.<br />
258 259
3. Durchführung<br />
Für die Besprechung habe ich für jedes Kind eine<br />
persön liche Folie für den Overhead-Projektor angelegt.<br />
Zuhause habe ich die Hefte der Kinder durchgesehen. Je<br />
nach Um fang der Arbeit habe ich entweder die gesamte<br />
Arbeit oder einen Ausschnitt daraus auf die Folie übertragen.<br />
(Wenn man sie auf das Heft legt und mit einem feinen<br />
Folienstift nachschreibt, geht das sehr schnell. Außerdem<br />
sind die Texte in der gleichen Form an der Projektionsfläche<br />
wie im Heft zu sehen, was in vielen Fällen für das<br />
Verständnis unerlässlich ist.)<br />
Ausgewählt habe ich danach, was mir besonders interessant<br />
erschien, z.B. eine ‚absteigende‘ Aufgabenserie:<br />
Oder es kam ein neuer Aufgabentyp vor, z.B.:<br />
Um den Überblick zu behalten, habe ich die Schüler gebeten,<br />
ihre Eintragungen mit Datum zu versehen. (Nicht<br />
immer mit dem nötigen Erfolg. Das nächste Mal will<br />
ich konsequenter sein. Vielleicht mit Hilfe eines Datumstempels.)<br />
Außerdem habe ich die Erfindungen, die wir<br />
gemeinsam besprochen haben, im Heft eingerahmt.<br />
Die Teilgruppe, die gerade mit der Besprechung an der<br />
Reihe war, hat sich mit ihren Stühlen nach vorn vor die<br />
Projektionsfläche gesetzt. Der erste Teil des Rituals war,<br />
dass ein Schüler den ‚Text‘ vorgelesen hat.<br />
Danach haben sich die Schüler meist spontan ge äußert.<br />
(Besonders dann, wenn ein ‚Fehler7 darin war.) Wenn<br />
Korrekturen notwendig wurden, haben die Schüler sie<br />
mit einem andersfarbigen Folienstift eingetragen. Manchmal<br />
entspannen sich lebhafte Diskussionen, beson ders bei<br />
Rätseln.<br />
In manchen Fällen habe ich zusätzliche Impulse gegeben,<br />
um auf der Grundlage der betreffenden Erfindung<br />
weiterzuarbeiten. So habe ich z.B. bei der ‚aufsteigenden‘<br />
Aufgabenserie<br />
danach gefragt, wie die Reihe wohl weitergehen könnte.<br />
Die Ergebnisse haben wir auf die Folie an die passende<br />
Stelle geschrieben. Oder wir haben danach gesucht, welche<br />
Aufgabe wohl vor der ersten Aufgabe des Autors<br />
kommen könnte. Auch die Ergebnisse dieser Suche haben<br />
wir mit einem andersfarbigen Stift auf die Folie geschrieben.<br />
Bei Aufgaben vom Typ 400 + 500 = 900 haben wir<br />
nach der Aufgabe aus dem ersten Schuljahr gesucht, die<br />
dazugehört (4 + 5 = 9). Das hat uns geholfen zu verste hen,<br />
warum das Ergebnis der Addition: 400 + 600 nicht 100,<br />
sondern 1000 ist.<br />
260 261
Zum Schluss hatte jeder Erfinder noch einmal die Möglichkeit,<br />
zu seiner Erfindung Stellung zu nehmen. Dieses<br />
Angebot wurde in den meisten Fällen aber nicht genutzt.<br />
4. Verzahnung mit dem ‘normalen Matheunterricht’<br />
Während dieser Versuche mit der natürlichen Methode<br />
wollte ich auf keinen Fall auf die sonst üblichen Arbeitsweisen<br />
in Mathe verzichten. Die Rechenfertigkeiten habe<br />
ich mit Hilfe von Rechenkarteien üben lassen. Diese sind<br />
während der Besprechungen von der jeweils still beschäftigten<br />
Gruppe bearbeitet worden.<br />
Anfangs habe ich versucht, mit jeder Teilgruppe zweimal<br />
in der Woche eine Besprechung durchzuführen. Da<br />
aber eine Besprechung fast immer eine Stunde dauerte,<br />
waren damit bereits vier Wochenstunden festgelegt. Das<br />
habe ich nicht durchhalten können. Man braucht schließlich<br />
auch noch Zeit, um gemeinsam neue Gebiete zu erarbeiten.<br />
Manchmal haben auch ganz profane Umstände (z.B.<br />
habe ich vergessen, die Hefte mitzunehmen) verhin dert,<br />
dass dieser Rhythmus durchgehalten werden konn te.<br />
5. Beobachtungen<br />
5.1. Aufnehmen anderer Ideen<br />
Die Kinder haben immer wieder Ideen, die von einem<br />
Mitschüler neu eingebracht worden sind, aufgenommen<br />
und selbst daran gearbeitet. Ich brauchte also keine Impulse<br />
zu geben. (Indirekt habe ich sie natürlich doch gegeben,<br />
indem ich nur einen Teil der im Heft vorgefun denen<br />
Ideen für die Besprechungen ausgewählt habe.)<br />
Bemerkenswert war, dass die Kinder vor allem auch solche<br />
Aufgaben von sich aus gerechnet haben, die gera de im<br />
‘normalen’ Unterricht bearbeitet wurden. Beson ders auffällig<br />
war dies nach der Einführung der Multi plikation.<br />
5.2. Gruppenarbeit<br />
Überraschend war für mich die Beobachtung, wie eine<br />
Tätigkeit, die ich bisher immer als Einzelarbeit eingestuft<br />
habe, nämlich das ‚Päckchen-Rechnen‘, zur Gruppenarbeit<br />
wird. Oft haben sich zwei Schüler verabredet, um<br />
in der freien Arbeit gemeinsam im Mathe-Forschungsheft<br />
zu arbeiten.<br />
Teils haben sie dieselben Aufgaben gerechnet. Teils<br />
waren es ähnliche Aufgaben. Wenn dann jemand eine<br />
neue Variation entdeckt hatte, wurde sie den anderen<br />
gleich mitgeteilt und von diesen ggf. aufgenommen und<br />
ausprobiert.<br />
5.3. Lange Reihen<br />
Bei vielen Schülern waren Aufgabenserien sehr beliebt.<br />
Es fing z.B. an mit: 1 + 1 = 2, 2 + 2 = 4, 3 + 3 = 6 und hör te<br />
je nach verfügbarer Zeit und der momentanen Aus dauer<br />
mit 10 + 10 = 20 oder gar mit 50 + 50 = 100 auf.<br />
Auch Nachfolgeaufgaben wurden viel gerechnet: der<br />
nächste Einer: + 1, der nächste Zehner: + 10, der nächste<br />
Hunderter: + 100 oder gar der nächste Tausender: + 1000.<br />
Bei der Auswahl der Typen sind die Kinder nicht systematisch<br />
aufbauend vorgegangen. Nach Aufgaben wie<br />
9000 + 999 = 9999 wurde durchaus gerechnet: 0 + 0 = 0,<br />
0 + 1 = 1,1 + 1=2usw.bis 19 + 1 = 20.<br />
Einige Kinder legten dabei eine erstaunliche Ausdauer<br />
262 263
an den Tag. Reni schrieb z.B. drei Spalten mit je 56 Aufgaben<br />
(= 168 Aufgaben!!!) mit + 100 auf eine Seite.<br />
Philipp, ein guter Rechner und Mathematiker, hat sich<br />
selbst Aufgaben gestellt, die ich ihm wegen Unterfor derung<br />
niemals zugemutet hätte. Sechsmal schrieb er auf: 10 + 10<br />
= 20, danach sechsmal 20 + 20 = 40, dann sieben mal 30<br />
+ 30 = 60 und ebenso siebenmal 40 + 40 = 80. Mir ist unerklärlich,<br />
warum er dies tat. Auf entsprechende (vorsichtige)<br />
Anfragen konnte er auch keine Antwort geben. Aber<br />
es musste für ihn irgendeine Bedeutung, irgendeinen Sinn<br />
haben, denn sonst hätte er, der immer jede ‚überflüssige‘<br />
Arbeit strikt abgelehnt hatte, sich nicht der Mühe unterzogen,<br />
dies hinzuschreiben.<br />
5.4. Problemkinder<br />
Anna ist ein verträumtes Mädchen, das in ihrer Pferdewelt<br />
lebt. Tiere im allgemeinen und Pferde im besonderen<br />
haben es ihr angetan. Alles, was in irgendeiner Weise<br />
mit Zahlen zu tun hat, war nicht ihre Sache. Auch zu Beginn<br />
des zweiten Schuljahres rechnete sie im Bereich bis<br />
6 noch mit Fingern (Addition und Subtraktion). Mengen<br />
bis 6 zählte sie immer noch ab. Da dies ihr Leistungsstand<br />
trotz zweijähriger intensiver Förderung im Schulkindergarten<br />
und in der ersten Klasse war, verfolgte ich<br />
ihre Erfin dungen mit besonderem Interesse. Ziemlich am<br />
Anfang schrieb sie Aufgaben mit Tierzeichnungen in ihr<br />
Forscherheft:<br />
Dieser freie mathematische Text veranlasste mich,<br />
meine Einschätzung ihrer Fähigkeiten zu revidieren. Er<br />
beweist, dass bei ihr nämlich eine sehr genaue Vorstellung<br />
von dem vorhanden war, was eine Addition, was eine<br />
Subtraktion und was eine Gleichung ist. Besonders beeindruckend<br />
belegt dies die Aufgabe vom Schwan.<br />
Der freie mathematische Text von Anna hat mir geholfen,<br />
ihre Schwierigkeiten genauer bestimmen zu können:<br />
Die Operationen an sich (einschließlich der dazugehörigen<br />
formalen Darstellung = Gleichungen) beherrschte sie.<br />
Aber sie hatte Probleme, mit formalen Repräsentanten,<br />
wie Zahlen mit arabischen Ziffern, zu operieren. Später<br />
hat sie einen Teil ihrer Erfindungen der Bearbeitung dieses<br />
Problems gewidmet. Vor allem hat sie an der Mäch-<br />
264 265
tigkeit von Mengen gearbeitet. In diesem Zusammenhang<br />
hat sie auch die Ungleichheit in folgender Weise herausgearbeitet:<br />
5.5. Besprechungen<br />
Die Besprechungen der Erfindungen sind nach meinen<br />
Beobachtungen ein möglicher Motor für die freiwillige<br />
Produktion von freien mathematischen Texten. Die Kinder<br />
und ich haben sie zu Anfang mit viel Begeisterung<br />
und Engagement durchgeführt (Ende Oktober). Doch<br />
dann kam mit der Adventszeit, in der andere Dinge wichtiger<br />
waren, der große Einbruch. Ich schaffte es nur noch<br />
sporadisch, gemeinsam mit der jeweiligen Teilgruppe, die<br />
Erfindungen zu besprechen. Als ich aber nach den Osterferien<br />
die regelmäßigen Besprechungen (jede Teilgruppe<br />
einmal pro Woche) wieder aufgenommen hatte, wurde das<br />
Forschungsheft nicht nur von einigen wenigen Schülern,<br />
sondern von den meisten wieder regelmäßig genutzt.<br />
Allerdings musste ich auch beobachten, dass vier<br />
Schüler kaum in diesem Heft arbeiteten. Es waren Kinder,<br />
die bei der freien Arbeit lieber die Angebote im kreativen<br />
oder kommunikativen Bereich genutzt haben.<br />
6. Ausblick<br />
Soweit dieser kurze Bericht über meine ersten Gehversuche<br />
mit der natürlichen Methode im Mathematikunterricht.<br />
Sie waren für mich so ermutigend, dass<br />
ich sie auf jeden Fall auch in diesem Schuljahr mit meiner<br />
neuen ersten Klasse fortsetzen möchte. Besonders spannend<br />
wird sein, wie die Kinder (und ich als Lehrer) damit<br />
zurecht kommen, wenn sie nur geringe mathematische<br />
Vorkenntnisse mitbringen.<br />
266 267
9. Schlussbemerkung<br />
Man kann die natürliche Methode des Lernens auch als<br />
‚schöpferischen Ausdruck und Gespräch in einer positiv<br />
gestimmten Gruppe‘ bezeichnen.<br />
Doch in jeder Gruppe sieht sie anders aus - je nach der<br />
Persönlichkeit des Lehrers, der Lehrerin.<br />
Wesentlich ist jedoch, dass man versucht, das ‘ansteigende’<br />
Wissen der Kinder mit dem ‘absteigenden’ Wissen<br />
der Erwachsenen zu verbinden.<br />
Das gelingt nur, wenn die Erwachsenen diese Wege<br />
des Wissenserwerbs selbst kennengelernt haben.<br />
Was die Mathematik betrifft, so können wir durch die<br />
natürliche Methode mit ihr leben, sie so neben uns sein<br />
lassen, dass sie weder bedrückt noch unterdrückt, son dern<br />
uns eher freundschaftlich begleitet: diskret, wenn es sein<br />
muss, stets zur Stelle, wenn man sie braucht, und hilfreich,<br />
wenn es um das Überleben, um die Ausgestaltung<br />
eines freudvollen Lebens oder um die Erfüllung von Bedürfnissen<br />
geht.<br />
Bibliographie<br />
Bac h e l a r d: Le Nouvel Esprit Scientifique. P.U.F. 1966.<br />
(Dt. Ausg.: Der neue wissenschaftliche<br />
Geist. Frankfurt 1987)<br />
Le Rationalisme Appliqué. P.U.F. 1970.<br />
L’Engagement Rationaliste. P.U.F. 1972.<br />
Ba ru k, St ell a: Echec et mathe. Point Science. Seuil.<br />
1977. L‘Age du capitaine. Sciences ouvertes.<br />
Seuil. 1985. (Dt. Ausg.: Wie alt ist der<br />
Kapitän? Basel, 1989)<br />
Bo u rg e r e S S e, re n é e: Karl Popper Ed. J.Vrin. 1986.<br />
ch a n g e u x, J.P. et co n n e S, al l a i n: Matiére à penser.<br />
E. Odile Jacob. 1989. (Dt. Ausg.: Gedanken,<br />
Materie. Berlin u.a. 1992)<br />
cl a n c h é, Pi er r e: L‘Enfant Ecrivain. Le Centurion. 1988.<br />
Fr e i n et, céleSt i n: Éducation du Travail. Gap: Editions<br />
Ophrys 1949<br />
Psychologie Sensible. Delachaux; Neufchâtel.<br />
1966.<br />
La Méthode naturelle, Edition Delachaux<br />
et Niestlé, Neuchâtal. Schweiz 1968 Band<br />
I: L’Apprentissage de la Langue. Edition<br />
Delachaux et Niestlé. (Übersetzung (leicht<br />
gekürzt) in: Boehncke/ Humburg: Schreiben<br />
kann jeder. Rowohlt. Hamburg 1980)<br />
Band IL L’Apprentissage du Dessin<br />
Band III.L’Apprentissage de l’Ecriture<br />
Band 2 und 3 (z.T. in veränderter Fassung<br />
wieder abgedruckt in: <strong>Freinet</strong>, Célestin:<br />
Oeuvres Pédagogiques, Band 2, Editions<br />
du Seuil, Paris 1994, Seite 205-720<br />
268 269
Fr e u d, Si g m u n d: Psychopathologie de la vie quotidienne.<br />
Payot. n. ed. 1989<br />
(Dt. Ausg.: Zur Psychopathologie des<br />
Alltags lebens. Frankfurt 1989)<br />
gi r a r d, re n é: Des choses cachées depuis la fondation du<br />
monde. Grasset. 1978.<br />
le Bo h e c, Pau l: Une expérience de mathématique libre<br />
au CE 1. Dossier pédagogique Nr. 46-<br />
47-48, CEL, Cannes 1967/68<br />
Pierrick et la mathématique. Un trimestre<br />
de mathématique libre au CE 2. CEL.<br />
Cannes 1970<br />
Beide Texte in gekürzter und überarbeiteter<br />
Fassung wieder abgedruckt in: Documents<br />
de L΄Éducateur Nr. 195: La méthode<br />
naturelle de mathématiques. CEL.<br />
Cannes<br />
„Un trimestre de mathématique libre au<br />
cours élémentaire 2eme année.“ Dossier<br />
pedagogique Nr. 56,57,58. In gekürzter<br />
und überarbeiteter Fassung wie der abgedruckt<br />
in: Documents de L΄Éducateur Nr.<br />
195: La méthode naturelle de mathematiqes.<br />
le Bo h e c, Pau l / gu i l l o u le, mic h è l e: Les Dessins<br />
de Patrick -Effets thérapeutiques de<br />
l‘expression libre. Castermann. Tournai<br />
Belgien 1980 (Dt. Ausg.: Patricks Zeichnungen<br />
- Erfah rungen mit der therapeutischen<br />
Wirkung des freien Ausdruckes,<br />
Pädagogik-<strong>Kooperative</strong> Bremen 1993 [nur<br />
dort erhältlich])<br />
lem ery, ed m o n d: Pour une mathématique populaire.<br />
Castermann.<br />
lo r e n z-Po P P e r: L‘Avenir est ouvert. Flammarion. 1990.<br />
(Dt. Ausg.: Die Zukunft ist offen. München/Zürich<br />
1985)<br />
mo r i n, ed g a r: La Méthode. 3. La Connaissance de la<br />
connais sance. Seuil. 1986.<br />
nat u r ellem e n t m at h: unregelmäßig seit 1989 erscheinende<br />
Arbeitsberichte einer Arbeitsgruppe<br />
französi scher <strong>Freinet</strong>-Pädagogen<br />
zur natürlichen Méthode in der Mathematik.<br />
Bis jetzt erschienen 11 Nummern. Für<br />
1996 ist ein zusammenfassendes Dossier<br />
über alle 11 Nummern geplant.<br />
Kontakt über Monique Quertier, 89 Boulevard<br />
Foch, 95210 Saint Gratien<br />
ni m i e r, Jac q u e S: Mathématique et affectivité. Stock.<br />
1976.<br />
Pi ag e t, Je a n: Où va l‘éducation, Denoel/Gonthier 1988<br />
Auch unter: „A structural Fondation for<br />
Tomorrow‘s“ veröffentlicht in Jean Piaget:<br />
„To understand is to invent“, Grossman<br />
Publishers, New York 1973<br />
Po m è S, Je a n-cl au d e: Bibliothèque de travail et de recherche.<br />
23 - 24. C.E.L.<br />
Pro u S t, ma rc e l: Le temps retrouvé. folio Gallimard.<br />
1988 (Dt. Ausg.: Die wiedergefundene<br />
Zeit. Frankfurt 1988) Combray. folio Gallimard.<br />
1988. (Dt. Ausg.: Combray. Berlin<br />
1988)<br />
P.e.m.F.: Mouans-Sartoux. Livrets programmés.<br />
chtiqui: Bulletin I.C.E.M. Nord-Pas-de-Calais.<br />
270 271
Lieber Paul Le Bohec<br />
... Was mich in Ihrer Arbeit besonders begeistert, ist die Haltung des Lehrers, der sich auf<br />
leichte und natürliche Weise ständig in einem wechselseitigen und einfühlsamen Austausch<br />
mit den Kindern befindet und uns damit einen wunderbaren Weg zeigt.<br />
Wir erleben hier wirkliches ‚tastendes Versuchen‘ (ein grundlegendes Prinzip der <strong>Freinet</strong>-<br />
Pädagogik, d. Hg.), das völlig unbelastet von abgehobenen Erklärungen ist. Das ‚tastende<br />
Versuchen‘ erscheint hier in seiner Dynamik von gegenseitigem Austausch, Kommunikation<br />
und Beziehung, Schöpfung und Erfindung und miteinander Teilen.<br />
Mit dieser Arbeit betonen Sie eine Dimension, die <strong>Freinet</strong> zwar immer angesprochen hat,<br />
die er aber nie durch geeignete Mittel und Strukturen genügend festigen konnte.<br />
Ein schöpferischer Unterricht, der ansteckt und überzeugt!<br />
(Aus einem Brief von Elise <strong>Freinet</strong> an Paul Le Bohec)<br />
ISBN 3-9805100-1-8