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Verstehen heißt Wiedererfinden - Freinet-Kooperative eV

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Paul Le Bohec<br />

<strong>Verstehen</strong><br />

<strong>heißt</strong><br />

<strong>Wiedererfinden</strong><br />

Natürliche Methode und Mathematik<br />

Pädagogik-<strong>Kooperative</strong><br />

Reihe Moderne Schule


Für die Rohübersetzung des Buchmanuskriptes von<br />

Paul Le Bohec danken wir Peter Schütz, Hildesheim.<br />

Für die stilistische und inhaltliche Überarbeitung gilt<br />

unser Dank vor allem Angela Glänzel, Berlin.<br />

Pädagogik-<strong>Kooperative</strong> e.V., Bremen<br />

2. Auflage 1997<br />

Copyright © by Pädagogik-<strong>Kooperative</strong> e.V.<br />

Pädagogik <strong>Kooperative</strong>, Goebenstr. 8, 28209 Bremen,<br />

Germany<br />

Übersetzung: Peter Schütz, Hildesheim<br />

Satz: Ingrid Kroll, Bremen<br />

Druck: Perspektiven Druck, Bremen<br />

Printed in Germany<br />

ISBN 3-9805100-1-8<br />

Paul Le Bohec<br />

<strong>Verstehen</strong><br />

<strong>heißt</strong><br />

<strong>Wiedererfinden</strong><br />

Natürliche Methode und Mathematik<br />

Pädagogik-<strong>Kooperative</strong> e.V.<br />

Reihe Moderne Schule


Inhalt<br />

Vorwort 7<br />

Vorwort zur 2. Auflage 15<br />

1. Einleitung 17<br />

Mein persönlicher Weg 17<br />

Setting bei Erwachsenen und Kindern 22<br />

2. Elemente der natürlichen Methode - aufgezeigt an der Arbeit<br />

mit Erwachsenen 27<br />

Die Quelle der Erfindungen 28<br />

Subjektivität des Wissens 40<br />

Das Lachen 51<br />

Macht durch Wissen 58<br />

Gruppenphänomene 71<br />

Teilgruppen 76<br />

Die Komplexität 80<br />

3. Die natürliche Methode im Mathematikunterricht 90<br />

Beispiele mit 7-8 Jahre alten Schülern 94<br />

Erste Erfahrungen 94<br />

Erfinden von Zeichen 96<br />

Erfinden von Ziffern 96<br />

Der Kalender 99<br />

Die nicht- dezimalen Zahlensysteme 104<br />

Zahlenfelder 110<br />

Sachprobleme 120<br />

Rechnen mit Unbekannten 128<br />

Ausklammern eines gemeinsamen Faktors 130<br />

Beispiele mit 8-9 Jahre alten Schülern 135<br />

Drillinge 135<br />

‘Fehler’ werden zu Qualitäten 141<br />

Vektoraddition 146<br />

Abenteuer mit Vektoren 153<br />

4. Wie entwickelt sich mathematisches Wissen? 163<br />

Denkmodelle 163<br />

Vier unterschiedliche Positionen 169<br />

Intuitive oder konkrete Mathematik 169<br />

Die mathematische Strukturierung von Situationen 172<br />

Mathematisches Spiel 173<br />

Angewandte Mathematik 175<br />

Zusammenfassung 176<br />

5. Rückblickende Überlegungen 177<br />

Was ist aus den Schülern geworden? 177<br />

Lösungsverfahren und Strategie 180<br />

Die Frage nach dem didaktischen Material 190<br />

Die Kraft, die uns antreibt 193<br />

6. Die Weiterentwicklung der Idee 203<br />

Die gegenseitige Fortbildung der Lehrer 205<br />

Die Rolle des Lehrers 217<br />

Natürliche Lehrpläne 223<br />

Zwei Bereiche von Erfindungen 224<br />

Verschiedene Richtungen 230<br />

7. Grundsätzliches 235<br />

Dimensionen der natürlichen Methode 235<br />

1. Eigene Praxis (des Lehrers) ist unabdingbar. 235<br />

2. Gruppenphänomene 235<br />

3. Informationsquellen 237<br />

4. Physische Besonderheiten 238<br />

5. Psychische Eigenarten 238<br />

6. Rahmenbedingungen 239<br />

Blick über den Zaun 239<br />

Die Bedeutung ungewöhnlicher Erfindungen 243<br />

8. Erfahrungsberichte aus Frankreich und Deutschland 249<br />

Bilanz von Daniel Boulanger 249<br />

Bilanz von Marie Therese Bousquant 250<br />

Einige Eindrücke von Monique Quertier 251<br />

Bilanz von Angela Glänzel nach 2 Jahren Erfahrung 254<br />

Erste Versuche in einem 2. Schuljahr von Peter Schütz 258<br />

1. Ausgangsideen 258<br />

2. Anfang 259<br />

3. Durchführung 260<br />

4. Verzahnung mit dem ‘normalen Matheunterricht’ 262<br />

5. Beobachtungen 262<br />

6. Ausblick 267<br />

9. Schlussbemerkung 268<br />

Bibliographie 269


Vorwort<br />

„Le texte libre mathématique - la méthode naturelle“<br />

so hatte Paul Le Bohec ursprünglich dieses Buch genannt<br />

und damit bereits im Titel ausdrücken wollen, dass sein<br />

Anliegen ein doppeltes ist. Zum einen geht es ihm um eine<br />

besondere Art der Annäherung an die Mathematik (Le<br />

texte libre mathématique: der freie mathematische Ausdruck),<br />

zum anderen um die Darlegung einer beson deren<br />

Lernmethode (méthode naturelle: natürliche Methode). Für<br />

den deutschen Sprachgebrauch ist beides nicht sonderlich<br />

aussagekräftig. Weder dürfte dem Leser vor der Lektüre<br />

dieses Buches klar sein, was ein freier mathematischer<br />

Text sein könnte, noch ist die „natürli che Methode“ ein in<br />

pädagogischen Kreisen sonderlich bekannter Begriff. So<br />

gab es während der Übersetzung und Bearbeitung dieses<br />

Buches die verschiedensten Titel vorschläge. Bis schließlich<br />

ein Zitat in den Blick geriet.<br />

„<strong>Verstehen</strong> <strong>heißt</strong> <strong>Wiedererfinden</strong>!“, so ein Piaget-Zitat,<br />

auf das Paul Le Bohec in Kapitel 3 (S. 94) aufmerksam<br />

macht, pointiert auf das Treffendste, worum es bei<br />

der natürlichen (Lern-) Methode eigentlich geht. Und<br />

den Zusammenhang zwischen „Mathematik und natürliche<br />

Methode“ - so der Untertitel - wird der Leser dann<br />

ja noch im Buch in Erfahrung bringen. Damit war der<br />

Titel geboren zu einem Werk, das in vieler Hinsicht bemerkenswert<br />

ist.<br />

Bemerkenswert ist schon die Entstehensgeschichte. Da<br />

drückt der Franzose Paul Le Bohec, einer der großen alten<br />

Männer der <strong>Freinet</strong>-Bewegung und der Hauptvertreter<br />

der natürlichen Methode, der <strong>Freinet</strong>-Pädagogin Marie-<br />

Claude Flügge-Dutilly, die er auf einem der internationalen<br />

<strong>Freinet</strong>-Treffen kennengelernt hat, ein Manuskript mit<br />

7


dem Titel „Le texte libre mathématique“ in die Hand mit<br />

der Nachfrage, ob die Deutschen es vielleicht herausge ben<br />

wollten.<br />

Marie-Claude, Französin und schon seit Jahrzehnten<br />

in Berlin lebend, Lehrerin, aber keineswegs Mathematiklehrerin,<br />

bringt dieses Werk dann in die Berliner <strong>Freinet</strong>-<br />

Gruppe mit, die sich - welch Zufall - gerade mit Mathematik<br />

beschäftigt.<br />

So entsteht der Entschluss, eine Rohübersetzung einiger<br />

Passagen vorzunehmen, um genauer prüfen zu können,<br />

wie lohnend das Werk wäre.<br />

Parallel dazu beginnt Angela Glänzel auch schon mit<br />

ersten Versuchen zu einer derartigen Mathematik in Berlin<br />

und veröffentlicht einen ersten Artikel dazu in „Fragen<br />

und Versuche“ Nr. 56 (1), dessen Quintessenz bald auch<br />

von anderen <strong>Freinet</strong>-Pädagoginnen z.B. in Hamburg aufgegriffen<br />

wird.<br />

Auf diese Weise wächst das Interesse an dieser Art<br />

Mathematik sehr schnell und damit fällt auch die Entscheidung<br />

für die Herausgabe. Es gilt nun einen passenden<br />

Übersetzer für das Manuskript zu finden. Dieser<br />

sollte - so die Berliner <strong>Freinet</strong>-Gruppe - sowohl gut vom<br />

Französischen ins Deutsche übersetzen können als auch<br />

einiges von Mathematik verstehen und schließlich auch<br />

noch Paul und dessen „natürliche Methode“ sowie die Eigenarten<br />

seines Sprachstils kennen. Schließlich findet sich<br />

Peter Schütz aus Hildesheim, der seit längerem im internationalen<br />

Bereich der <strong>Freinet</strong>-Bewegung aktiv ist, fließend<br />

Französisch spricht und Paul persönlich kennt. Als auf<br />

einem der jährlich stattfindenden <strong>Freinet</strong>-Grundschultreffen<br />

in Altenmelle Pauls Ansatz vorgestellt wird, ist Peter<br />

begeistert und erklärt sich bereit, die Rohübersetzung des<br />

(1) “Fragen und Versuche” ist die Zeitung deutscher <strong>Freinet</strong>-Lehrerinnen,<br />

die drei- bis viermal jährlich erscheint.<br />

Buchmanuskriptes anzufertigen.<br />

Marie-Claude Flügge konnte dann gewonnen werden,<br />

die Rohübersetzung nochmals zu überprüfen, Angela<br />

Glänzel übernahm die stilistische und sachlogische<br />

Über arbeitung, so dass das Buch im Deutschen lesbar,<br />

schlüs sig und verständlich wurde, und Gerda Frommeyer<br />

(Bremen) schließlich stand für die Feinarbeiten (Rechtschreibprüfung,<br />

Layout etc.) zur Verfügung - das Abenteuer<br />

konnte beginnen.<br />

Und es war wirklich ein Abenteuer, denn ziemlich bald<br />

stellte sich heraus, dass Pauls Werk nicht nur wie ein Manuskript<br />

aussah, sondern tatsächlich noch ein solches war.<br />

Und es bedurfte noch erheblicher Arbeit in der Gruppe<br />

Peter, Angela und Marie-Claude - teils mit teils ohne Paul<br />

- um aus dem Manuskript das Buch werden zu lassen, als<br />

das es jetzt vorliegt. Da mussten ganze Kapitel weggelassen,<br />

völlig umgestellt oder auch fast neu geschrieben werden<br />

usw. usw.<br />

Im Laufe des Entstehungsprozesses dieses Buches<br />

haben alle Beteiligten viel über die Komplexität der Übersetzung<br />

und Herausgabe eines Werkes gelernt und sind oft<br />

genug an ihre Grenzen gestoßen, zumal sie diese Arbeit<br />

neben ihrem normalen Berufsalltag bewältigten.<br />

Letztendlich ist das Vorhaben dann auch nur mit gu tem<br />

Zuspruch und mancherlei Übersetzungs- und Formulierungshilfen<br />

vieler - hier ungenannt bleibender - <strong>Freinet</strong>freunde<br />

zum Abschluss gekommen. So ist dieses Buch<br />

wirklich zu einem Gemeinschaftswerk von <strong>Freinet</strong>-PädagogInnen<br />

geworden und hat, noch ehe es erschienen ist,<br />

eine breite Wirkung innerhalb der deutschen <strong>Freinet</strong>-Bewegung<br />

entfaltet.<br />

In welcher Weise sich dabei <strong>Freinet</strong>-Pädagoginnen<br />

haben anregen lassen, wie sie die Bohec‘schen Ideen in<br />

ihren Unterricht integrieren oder adaptieren, zeigen z.B.<br />

die beiden der französischen Übersetzung angefügten<br />

8 9


Berichte aus deutschen Grundschulklassen (vgl.S. 254 ff).<br />

Dieses Buch ist aber vor allem wegen der hier entwickelten<br />

Lernmethode bemerkenswert. Eines der zentralen<br />

Anliegen Paul Le Bohecs ist es, mit diesem Buch zu<br />

einer Grundlegung der ‘natürlichen Methode‘ zu kom men,<br />

einer Lernmethode, die sich bewusst gegen das didaktisch<br />

aufbereitete (systematisierte) Lernen, wie es in der Regel<br />

in der Schule für notwendig erachtet wird, abhebt. Nach<br />

der natürlichen Methode lernt z.B. jedes Kind seine Muttersprache<br />

sprechen. Das Kind hört, spricht nach, hört<br />

wieder, korrigiert sich usw. und es dürfte kaum einen Pädagogen<br />

geben, der die Effektivität derartigen Lernens<br />

in Zweifel ziehen und z.B. den Eltern raten würde, doch<br />

lieber mit ihrem Kind erst ein Übungs programm für einzelne<br />

Buchstaben oder einfache Wort gebilde zu absolvieren,<br />

ehe sie mit ihm in ganzen Sätzen und schwierigeren<br />

Wörtern sprechen sollten.<br />

Eine der ersten, die recht umfassend mit der natürlichen<br />

Methode in Berührung gekommen ist, ist meines<br />

Wissens die taubstumme und blinde Helen Keller, die ab<br />

1887 - Helen war damals etwa 7 Jahre alt und konnte sich<br />

nur mit Hilfe einiger Gesten verständlich machen - von<br />

ihrer Lehrerin Annie Sullivan in der Weise „unterrichtet“<br />

wurde, indem sie ihr (ganz wie die Mutter mit ihrem kleinen<br />

Kinde spricht) fast von Anfang an unaufhörlich in die<br />

Hand buchstabierte, ohne ihre Sätze erst didaktisch aufzubereiten<br />

oder vorgefertigte Sätze vorzulegen, die Helen<br />

dann ‚nachzubuchstabieren‘ hatte - eine ‚Methode‘, die<br />

sich Annie Sullivan in der Arbeit mit Helen selbst erarbeitet<br />

hatte. Auf diese Weise entwickelte sich die Sprachfähigkeit<br />

von Helen derart rasch und weitgehend, dass die<br />

Lehrer einer Taubstummenschule, die nach herkömmlichen<br />

Unterrichtsmethoden mit ihren Schülerinnen mit<br />

vorgefertigten Sätzen arbeiteten, die diese dann ‚nach-<br />

sprechen‘ mussten, es kaum glauben konnten (2) . Auch der<br />

Reformpädagoge Berthold Otto war von der natürlichen<br />

Methode überzeugt. Seine ideale Schule sollte eine solche<br />

sein, in der das Kind das natürli che Lernen der Vorschulzeit<br />

nahtlos fortsetzen kann.<br />

<strong>Freinet</strong> hat die Leistungsfähigkeit der natürlichen Methode<br />

sehr eindringlich in seinem Buch „apprentissage de<br />

la langue“ (3) an der Schreib- und Leseentwicklung sei ner<br />

Tochter Balouette aufgezeigt; übrigens ein Ansatz, wie er<br />

heute in der Méthode ‚Lesen durch Schreiben‘ des Schweizers<br />

Jürgen Reichen erfolgreich in vielen schwei zer und<br />

deutschen Grundschulklassen praktiziert wird.<br />

Dennoch hatte <strong>Freinet</strong> offensichtlich auch seine Zweifel<br />

an der generellen Einsetzbarkeit der natürlichen Méthode.<br />

Er war es jedenfalls, der Paul abriet, daran weiterzuarbeiten.<br />

<strong>Freinet</strong>s Frau Elise, im Unterschied zu ihrer<br />

späteren Euphorie anfangs noch eher skeptisch gegenü ber<br />

Pauls Vorhaben, schrieb dagegen, so berichtet es Paul selber:<br />

„Hier sind <strong>Freinet</strong>, Pierrot, Jean gegen dich. Und ich<br />

bin auch eher auf ihrer Seite. Aber mach weiter; denn du<br />

könntest gegenüber uns allen Recht behalten.“ (vgl. S.166)<br />

Dies offensichtlich beherzigend und eingebettet in eine<br />

pädagogische Bewegung, die weniger auf die Worte ihres<br />

Gründers denn auf die eigenen Erfahrungen und Forschungen<br />

gibt, hat sich Paul lange Jahre der Entwicklung<br />

der natürlichen Methode verschrieben und sie, wie unter<br />

anderem dieses Buch zeigt, zu seinem Lebenswerk gemacht.<br />

Im Laufe seiner Forschungen und Erfahrungen mit<br />

(2) H. Keller: Geschichte meines Lebens, Scherz-Verlag, Bern 1955.<br />

(3) C. <strong>Freinet</strong>: La méthode naturelle, Bd. I: L’apprentissage de la langue,<br />

Editions Delachau et Niestle, Neuchâtal, Schweiz 1968, Teilabdruck unter<br />

dem Titel „Vom Schreiben- und Lesenlernen“ in Boehncke/Humburg,<br />

„Schreiben kann jeder“, Reinbek bei Hamburg 1980<br />

10 11


Kindern und auch mit Erwachsenen hat er die Grenzen<br />

dieser Methode immer weiter hinausschie ben können und<br />

ist gerade in der Mathematik, an die er sich zuletzt gewagt<br />

hatte, besonders erfolgreich gewesen. Dies macht schon<br />

Erstaunen, scheint sich doch ein Fach, das immer als der<br />

Inbegriff der Systematik betrachtet wird, einer solchen<br />

„unsystematischen“ Methode gegen über auf den ersten<br />

Blick völlig zu versperren.<br />

Bemerkenswert schließlich ist dieses Werk von dem<br />

in ihm vorgestellten Verständnis von Mathematik und<br />

Mathematikunterricht.<br />

Überblickt man die derzeitige Situation des Mathematikunterrichts,<br />

so wird man feststellen, dass auch heute<br />

noch - zumindest in Deutschland - die Mehrzahl der Mathematiklehrerinnen<br />

dem Glauben anhängen, die Aufgabe<br />

des Mathematikunterrichts bestehe im wesentlichen<br />

darin, Standardverfahren zur Lösung von - in Mathematikbüchern<br />

zusammengestellten - Aufgaben einzuüben.<br />

Aber auch reformpädagogisch orientierte Lehrerinnen<br />

sind trotz aller Öffnung ihres Unterrichts im sprachlichen<br />

und sachkundlichen Bereich in der Regel nur wenig<br />

über diesen eben erwähnten Ansatz hinausge kommen und<br />

können sich unter einem anderen Mathe matikunterricht<br />

letztlich auch nur die Auflockerung durch mathematische<br />

Übungsspiele oder Aufgabenkärtchen in Karteikartenform<br />

vorstellen.<br />

Dagegen stellt Paul Le Bohec nun einen Ansatz vor,<br />

der das kreative Potenzial der Kinder (und der Erwachsenen)<br />

auch in der Mathematik voll zur Entfaltung bringt.<br />

Wer die Passagen dieses Buches liest, in denen es um<br />

die mathematischen Kreationen der Kinder und der Erwachsenen<br />

geht, wird bald merken, dass Mathematik eine<br />

ganze Menge mehr bedeutet als routiniertes Nachmachen<br />

von Lösungsschemata. Dass Mathematik etwas ungeheuer<br />

Spannendes und Kreatives sein kann, haben große<br />

Mathematiker immer wieder deutlich gemacht. Bekannt<br />

ist z.B. Norbert Wieners Ausspruch: „Ich bin Mathematiker,<br />

also Künstler“. Diejenigen, die im Studium bis in<br />

die neuere Forschung der Mathematik vorstoßen konnten<br />

(wie es mir z.B. vergönnt war), wer den diesen Zusammenhang<br />

zwischen Mathematik und Kunst bestätigen<br />

können. Dass auch mathematische Laien etwas von diesem<br />

Fluidum spüren können, kann man diesem Buch entnehmen<br />

und - wie ich hoffe - auch selbst erleben, wenn<br />

man sich, sei es mit Kolleginnen oder seiner Klasse - auf<br />

das Abenteuer des freien Ausdrucks auch in der Mathematik<br />

einlässt.<br />

Dabei bleibt Paul Le Bohec mit seinen Klassen nicht im<br />

unverbindlichen ‘Sandkastenspiel’ hängen, wie man vielleicht<br />

argwöhnen könnte. Vielmehr werden die Leserinnen<br />

staunen, mit welcher Schnelligkeit seine Klassen sich<br />

in die Tiefen der Mathematik eingraben und spielend Themen<br />

bearbeiten, die weit über den Rahmen der übli chen<br />

Grundschulmathematik hinausgehen.<br />

Als das Abenteuer dieser Buchherausgabe vor fast<br />

vier Jahren begann, ahnte noch niemand, dass wir damit<br />

unmittelbar im Trend der neuen Diskussion um den Mathematikunterricht<br />

liegen würden. Nach der selbstverordneten<br />

Innovationspause, nach dem Desaster mit der Einführung<br />

der so genannten ‚neuen Mathematik‘, scheint<br />

nämlich jetzt ein neuer Innovationsschub in der Mathematikdidaktik<br />

Platz zu greifen:<br />

• Da mehren sich in letzter Zeit Beiträge, die sich in radikaler<br />

Weise mit dem bisherigen Mathematikunter richt<br />

auseinandersetzen: etwa von der französischen Mathematikerin<br />

Stella Baruk, die dem Mathematik unterricht vorwirft,<br />

absolut nichts über die Psyche der Kinder zu wissen,<br />

12 13


denen man Mathematik beibringen will (4) oder von Forschern<br />

der ‚Chaosmathematik‘ (5) , die dem Mathematikunterricht<br />

vorwerfen, dass „von den Lernenden <br />

mehr erwartet wird, als das gedan kenlose Exerzieren von<br />

Fertigkeiten...“.<br />

• Da erscheinen zwei Ausgaben der „Grundschulzeitschrift“<br />

kurz hintereinander mit einem Schwerpunkt in<br />

Mathematik (6) , in dem sich bereits zeigt, wie Grundschullehrerlnnen<br />

- z.T. mit, aber auch ohne den Bohec‘-schen<br />

Impuls - einen freieren Mathematikunterricht prak tizieren<br />

und reflektieren.<br />

• Da gibt es schließlich die Schweizer Urs Ruf und Peter Gallin,<br />

die seit einigen Jahren mit ihrem Buch „Sprache und<br />

Mathematik“ (7) einen Ansatz des Mathematikunter richts<br />

vertreten, der die Rollenverteilung von Lehrerinnen und<br />

Schülerinnen völlig verändert. Hier wird nicht mehr, wie<br />

in der Regel im Mathematikunterricht üblich, von Schülerinnen<br />

erwartet, dass sie in erster Linie die Theorien der<br />

Lehrerinnen nachzuvollziehen haben, die ihnen diese als<br />

wohlportionierte Mathehäppchen verabreichen. Vielmehr<br />

sind die Schülerinnen als aktive Teile aufgefor dert, sich<br />

selbst einen Reim auf das Ausgangsproblem zu machen,<br />

und die Aufgabe der Lehrerinnen besteht darin, die von<br />

dem Kind erdachten Ideen nachzuvollziehen und ihm zu<br />

helfen, diese seine privaten Theorien weiterzuden ken und<br />

auszuentwickeln. Und erst danach ist die richtige Zeit, die<br />

reguläre Theorie der Wissenschaft kennen zulernen und<br />

zu übernehmen - wozu die Schülerinnen dann auch sehr<br />

leicht und schnell bereit sind.<br />

(4) S. Baruk: Wie alt ist der Kapitän? Über den Irrtum in der<br />

Mathematik, Basel 1989 (vgl. Bibliographie)<br />

(5) Peitgen u.a.: Bausteine des Chaos - Fraktale, Stuttgart 1992<br />

(6) Die Grundschulzeitschrift, Hefte Nr. 72 und 74. Seelze, 1994<br />

(7) U. Ruf und P. Gallin: Sprache und Mathematik in der Schule, Verlag<br />

Lehrerinnen und Lehrer Schweiz, Zürich 1990<br />

Dem doppelten Ansatz dieses Buches entsprechend<br />

gehen unsere Wünsche denn auch in zweierlei Richtung.<br />

Zum einen hoffen wir mit dieser Herausgabe einen kräftigen<br />

Impuls für die Neuentwicklung des Mathematikunterrichtes<br />

zu geben. Auf der anderen Seite möchten<br />

wir hiermit zur Auseinandersetzung mit und Weiterentwicklung<br />

der natürlichen Methode anregen, einer ‚Lernmethode‘,<br />

die derzeit - von Pädagogen offensichtlich<br />

weitgehend unbemerkt und diese außen vor lassend -mal<br />

wieder ihre Leistungsfähigkeit beweist. Wer beobach tet,<br />

wie und mit welcher ‚Methode‘ - und Leichtigkeit - sich<br />

Kinder und Jugendliche derzeit des Computers bemächtigen,<br />

wird wissen, was ich meine.<br />

Hartmut Glänzel, Pädagogik-<strong>Kooperative</strong> e.V.,<br />

Bremen im Juli 1994<br />

Vorwort zur 2. Auflage<br />

Paul Le Bohec’s Buch hat schnell einen interessierten<br />

und begeisterten Leserkreis gefunden, so dass es unerwartet<br />

jetzt schon in die 2. Auflage geht.<br />

Eine Reihe von aufmerksamen Lesern hat uns nach<br />

dem Erscheinen des Buches wertvolle Tips und Hinweise<br />

gegeben auf Druckfehler, Übersetzungsfehler, sachliche<br />

Fehler. Dafür möchten wir an dieser Stelle herzlich danken.<br />

Da trotz dieser Hilfe und eigener Recherche immer<br />

noch einiges unbefriedigend bleibt, bitten wir auch weiterhin<br />

um unterstützende Rückmeldung.<br />

Seit der Herausgabe dieses Buches hat sich die Diskussion<br />

über Mathematikunterricht ziemlich dynamisiert.<br />

So sind meine Hinweise vom Jahre 1994 jetzt schon<br />

14 15


ergänzungsbedürftig. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit<br />

möchte ich auf zwei mir besonders bemerkenswerte Veröffentlichungen<br />

hinweisen.<br />

Die schon erwähnten Gallin und Ruf haben ihre Arbeit<br />

fortgesetzt und in ein interessantes Schulbuch (8) gegossen<br />

(für die Klassen 1 bis 3 und über alle Fächergrenzen<br />

hinweg!).<br />

H.W. Heymann hat eine Schrift (9) vorgelegt, in der er<br />

die allgemeinbildenden Anteile des derzeitigen Mathematikunterrichts<br />

untersucht und mit seinen Thesen eine<br />

sehr kontroverse Diskussion - bis in die Boulevard-Presse<br />

hinein - vom Zaun gebrochen hat.<br />

Dass „<strong>Verstehen</strong> <strong>heißt</strong> <strong>Wiedererfinden</strong>“ so schnell eine<br />

so große Resonanz gefunden hat, hat nicht nur uns, sondern<br />

verständlicherweise auch den Autor sehr zufrieden<br />

gemacht. „Ich wäre noch viel zufriedener“, schrieb uns<br />

Paul vor kurzem in einem persönlichen Brief, „wenn ich<br />

hören würde, dass sich viele Lehrer darangemacht haben,<br />

die natürliche Methode auch zu praktizieren.“ Dem habe<br />

ich, außer der Bitte, dann mit uns darüber in Austausch<br />

und Diskussion zu treten, nichts hinzufügen.<br />

Hartmut Glänzel, Pädagogik-<strong>Kooperative</strong> e.V.,<br />

Bremen im September 1997<br />

(8) Peter Gallin/Urs Ruf: Ich mach das so! Wie machst du es?<br />

Das machen wir ab. - Sprache und Mathematik, 1. bis 3. Schuljahr,<br />

Lehrmittelverlag des Kantons Zürich, 1995. Zu beziehen über Pädagogik-<br />

<strong>Kooperative</strong>, Bremen<br />

(9) Hans Werner Heymann: Allgemeinbildung und Mathematik, noch<br />

unveröffentlichte Habilitationsschrift, Bielefeld 1995<br />

1. Einleitung<br />

Mein persönlicher Weg<br />

„In Wirklichkeit liest jeder, wenn er liest, etwas über sich<br />

selbst. Das Werk des Schriftstellers ist nur eine Art optisches<br />

Instrument, das er dem Leser anbietet, um ihm zu<br />

ermöglichen, das zu erkennen, was er ohne dieses Buch<br />

vielleicht nicht in sich selbst gesehen hätte ...“<br />

Marcel Proust<br />

Um ein solches ‘optisches Instrument’ haben mich<br />

Praktiker der <strong>Freinet</strong>-Pädagogik gebeten. Nachdem viele<br />

Lehrer an Tagungen zur Einführung in die natürliche Methode<br />

der Mathematik teilgenommen und ebenso vie le<br />

entsprechende Versuche in ihrer Klasse gestartet haben,<br />

meine ich, dass der Moment gekommen ist, ein solches<br />

‚optisches Instrument‘ in Form eines Buches zu schaffen.<br />

Für sie schildere ich meine ‚Abenteuer‘ auf zwei Ebenen:<br />

mit Kindern und mit Erwachsenen.<br />

Meine Erfahrungen mit Kindern waren sehr umfangreich<br />

und intensiv: Ich habe die natürliche Methode der Mathematik<br />

mit Schülern von sechs bis neun Jahren Tag für<br />

Tag über drei Jahre hinweg entwickelt und praktiziert.<br />

Meine Ideen und Erfahrungen scheinen auch für ande re<br />

ganz brauchbar zu sein, denn sie sind jetzt wieder aufgenommen<br />

worden und werden noch weiter entwickelt.<br />

Außerdem habe ich in Frankreich, Belgien, Deutschland<br />

und bei internationalen Treffen mehr als 200 Semina re<br />

für Erwachsene durchgeführt. Und zusätzlich habe ich die<br />

natürliche Methode italienischen Lehrern in etwa sechzig<br />

Städten, vom Norden bis zum Süden, vom Westen bis<br />

zum Osten der Halbinsel - Sizilien und Sardinien nicht zu<br />

vergessen -, nahegebracht.<br />

16 17


Es handelt sich selbstverständlich um die natürliche<br />

Methode von Célestin <strong>Freinet</strong>.<br />

Er stammte aus einer unterprivilegierten Klasse. Das<br />

Unrecht, das diese Klasse erdulden musste, hatte ihn dazu<br />

gebracht, die Fragen von Schule, Erziehung und Unterricht<br />

zu überdenken. Sehr früh beeindruckte ihn die Tatsache,<br />

dass alle Mütter auf der Welt ihren Kindern ihre<br />

Sprache beibringen konnten, ohne jemals auf die Flut<br />

von schulischen Übungen zurückgreifen zu müssen, die<br />

in der Pädagogik seiner Zeit für jedes Lernen unverzichtbar<br />

waren. Und er fragte, ob man nicht diese ‚natürliche‘<br />

Methode auf alle Bereiche anwenden könnte. Aber er gab<br />

sich mit dieser theoretischen Vision nicht zufrieden. Er<br />

lieferte praktische Beweise, indem er einen Bericht vom<br />

Leselernprozess seiner eigenen Tochter veröffentlichte (10)<br />

Außerdem führte er Studien über die natürliche Méthode<br />

beim Spracherwerb, beim Zeichnen sowie beim Schreibenlernen<br />

(<strong>Freinet</strong> 1968) durch.<br />

Diese Arbeiten haben mich seit ihrer Veröffentlichung<br />

interessiert. Deshalb habe ich fünfundzwanzig Jahre lang<br />

in meinen Klassen (meist 1. und 2. Jahrgang gemeinsam) (11) ,<br />

also mit Kindern von sechs bis acht teilweise bis neun<br />

Jahren, die Ideen von <strong>Freinet</strong> und seiner Frau Elise umgesetzt,<br />

und zwar nicht nur im Bereich des Lesens und des<br />

(10) In C. <strong>Freinet</strong>: La Méthode Naturelle, I. L’Apprentissage de la Langue.<br />

Editiond Delachaux et Niestle, Neuchâtel, Schweiz 1968 Übersetzung<br />

(leicht gekürzt) in: Boehncke/Humburg: Schreiben kann jeder, Rowohlt,<br />

Hamburg 1980, S 32ff<br />

(11) In dieser Übersetzung werden die deutschen Bezeichnungen für<br />

die Klassenstufen verwendet: In Frankreich werden die Kinder wie in<br />

Deutschland mit sechs Jahren eingeschult, die Grundschule umfasst jedoch<br />

fünf Jahre. Die Klassenstufen haben dort folgende Bezeichnungen:<br />

C.P. (cours préparatoire): 1. KL, C.E. 1. (cours élémentaire 1): 2. KL, C.E.<br />

2. (cours élémentaire 2): 3. KL, CM. 1. (cours moyen 1): 4. KL, CM. 2.<br />

(cours moyen 2): 5. Kl. (Anm. d. Übers.)<br />

schriftlichen Ausdrucks, sondern auch im mündlichen<br />

Ausdruck, in Musik, im Sport bis hin zur Mathematik.<br />

Gleichzeitig konnte ich hautnah die engagierten Versuche<br />

meiner Frau in den Bereichen Lesen- und Schreibenlernen,<br />

Umwelterkundung sowie in Zeichnen und Malen<br />

- über 23 Jahre hinweg! - verfolgen.<br />

Da wir in Parallelklassen unterrichteten, hatten wir<br />

täglich die Möglichkeit zu vergleichen, zu diskutieren<br />

und gemeinsam nachzudenken. Das war mir von großem<br />

Nutzen für meine theoretische Forschung, deren Ergebnisse<br />

ich oft <strong>Freinet</strong> und seiner Frau Elise mit der Bitte um<br />

Kommentar vorlegte. Weil ich nämlich auf diese Weise<br />

von einer dreifachen Kritik profitieren konnte, hatte ich<br />

gute Aussichten, ein wenig klarer zu sehen.<br />

Außerdem hatte ich das Glück, diesem Weg der Forschung<br />

weiter folgen zu können, da ich in der Folge der<br />

68er Jahre zum Dozenten für Pädagogik an dem I.U.T. (12)<br />

für Sozialberufe in Rennes, in einem Ausbildungsgang<br />

für Sozialarbeiter und Sozialpädagogen, ernannt wurde.<br />

Am I.U.T. konnte ich neue Techniken entwickeln:<br />

Schreiben in der Gruppe, Co-Biographien, Hören mit Bildern<br />

usw. Dort habe ich auch gelernt, Studenten gruppen<br />

anzuleiten. Diese Erfahrung mit Erwachsenen hat es mir<br />

dann ermöglicht, den vielen Anfragen über <strong>Freinet</strong>-Pädagogik<br />

nachkommen zu können, die von Einrichtungen der<br />

Éducation Nationale (13) , der Éducation Surveillée (14) und<br />

der Universität (aus Frankreich und dem Ausland) gestellt<br />

wurden. Aber in den letzten Jahren habe ich mich vor allem<br />

für die natürliche Methode des Lernens interessiert.<br />

(12) Das I.U.T. (Institut Universitaire de Technologie ist eine<br />

Hochschuleinrichtung, die etwa den Fachhochschulen vergleich bar ist.<br />

(Anm. d. Übers.)<br />

(13) ‚Éducation Nationale‘: Kurzbezeichnung für das Schulwesen, nach<br />

dem Namen des zuständigen Ministeriums. (Anm. d. Übers.)<br />

(14) ‚Éducation Surveillée‘: Heimerziehung (Anm. d. Übers.)<br />

18 19


Es war ein sehr großes Gebiet, das ich - ausgehend von<br />

meiner persönlichen Erfahrung - angefangen habe theoretisch<br />

aufzuarbeiten. Aber ich hatte sehr schnell das Bedürfnis,<br />

mich dabei auf bestimmte Persönlichkeiten, wie<br />

zum Beispiel <strong>Freinet</strong>, Bachelard oder Ricardou bzw. auf<br />

bestimmte Bücher zu stützen. Besonders interessant für<br />

uns ist das Werk von Edgar Morin (1986), weil es ebenfalls<br />

von der Ganzheitlichkeit des Menschen aus geht. Er<br />

schreibt:<br />

„Das Wissen ist ein multidimensionales Phänomen in<br />

dem Sinne, dass es - auf nicht trennbare Weise - gleichzeitig<br />

physisch, biologisch, neurophysiologisch, mental,<br />

psychologisch, historisch, kulturell, sozial... ist“<br />

(Morin 1986, S. 12)<br />

Dass man eine weitere Größe, nämlich die der Komplexität,<br />

nicht umgehen kann, wussten <strong>Freinet</strong>-Lehrer längst<br />

durch eigene Erfahrung. Und wir können nur <strong>Freinet</strong> bewundern,<br />

der uns bereits vor fünfzig Jahren auf diesen<br />

Weg gebracht hat, obwohl der damalige Mode trend auf<br />

einen extremen Segmentarismus wies. 1950 schrieb er<br />

dazu:<br />

„Unsere Ärzte haben unsere Kinder in ihre Gewalt bekommen,<br />

sie haben sie isoliert, zurückgehalten, eingeschlossen,<br />

um sie besser untersuchen und ihr Verhalten<br />

analysieren zu können. Aber diese statische Studie des<br />

Menschen, die vielleicht gerechtfertigt wäre, wenn man<br />

ausschließlich die analytische Zusammensetzung des<br />

untersuchten Individuums betrachten würde, wird völlig<br />

unvollständig und irreführend, wenn man ein ganzheitliches<br />

Verständnis des lebendigen Wesens anstrebt.<br />

Wir werden über die fragmentarischen und einseitigen<br />

Beobachtungen der Wissenschaftler hinaus das Kind in<br />

seinem Werden in den Blick nehmen, um schließlich zur<br />

Untersuchung des Menschen mit seinem inneren<br />

Aufbau, in seinem Funktionieren, in seinem Leben, in seiner<br />

Dynamik zu kommen.“<br />

(<strong>Freinet</strong> 1966, S. 6)<br />

Ja, für uns, die Praktiker der <strong>Freinet</strong>-Pädagogik, ist ein<br />

Kind nicht die Summe verschiedener Teile, die losgelöst<br />

voneinander analysierbar sind, sondern etwas Globales,<br />

ein sich stetig veränderndes Ganzes. Wir müssen das Kind<br />

mit seiner ganzen Dynamik sehen.<br />

Es ist also der Begriff der Ganzheitlichkeit, den ich<br />

versuche in meinen Seminaren mit Erwachsenen deutlich<br />

zu machen. Ich denke, dass man sich bemühen muss, alle<br />

Elemente ins Bewusstsein zu rücken, die das Lernen unterstützen<br />

könnten. Ich gebe nicht vor Wissen zu ver mitteln;<br />

ich versuche vielmehr, die Teilnehmer durch den Wurf<br />

ins kalte Wasser zu provozieren, neue Ufer anzu streben.<br />

Denn nichts wird sich in der Pädagogik ändern -und zweifellos<br />

auch nicht anderswo -, solange sich die Praktiker<br />

nicht darum bemühen, ihre eigene Praxis theo retisch zu<br />

durchdringen. (Doch damit die Dinge sich wirklich ändern,<br />

wird eine Handvoll pädagogischer Agitatoren nicht<br />

ausreichen. Es ist notwendig, dass sich sehr viele Lehrer<br />

auf den Weg machen. Und dafür setzen wir uns ein.)<br />

Wenn man wissen will, was sich beim Lernen der Kinder<br />

ereignet, ist es sinnvoll genau zu beobachten, wie sich<br />

Lernen bei uns Erwachsenen abspielt. Das ist die Absicht<br />

meiner Seminare. Im allgemeinen erstrecken sie sich über<br />

drei Sitzungen: Mathematik, Schreiben/Lesen und Kunsterziehung.<br />

Manchmal ist eine zusätzliche Sit zung dabei,<br />

die sich dem mündlichen Ausdruck und dem Singen<br />

widmet.<br />

Ich fange dabei aus taktischen Gründen mit der Mathematik<br />

an: Da die Ergebnisse hier sehr unzurei chend sind,<br />

sind die Leute wahrscheinlich in diesem Fach besonders<br />

offen für neue Perspektiven.<br />

20 21


Setting bei Erwachsenen und Kindern<br />

In meinen Seminaren kümmere ich mich anfangs sehr<br />

wenig um fachliche (in diesem Fall mathematische) Inhalte:<br />

Ich versuche vor allem das ‚Verhalten des Menschen<br />

beim Lernen‘ herauszuarbeiten. Um das zu erreichen,<br />

bitte ich die Teilnehmer, eine mathematische Erfindung zu<br />

machen. Das bringt sie zunächst ganz durcheinander, weil<br />

sie sich nicht an das klammern kön nen, was sie bereits<br />

wissen, bzw. weil sie sich nicht auf hinlänglich erprobte<br />

Strategien zurückziehen können.<br />

Die Teilnehmer befinden sich so in einer für sie völlig<br />

neuen Lage, und sie reagieren auf diese ungewohnte<br />

Situation ganz offen und spontan. Sie zeigen sich so, wie<br />

sie wirklich sind, weil sie ihre Verhaltensweisen und Gefühle<br />

zu diesem Zeitpunkt nur wenig kontrollieren, denn<br />

sie nehmen diese selbst (noch) nicht wahr. Ich sehe es als<br />

meine Aufgabe an, ihnen diese Verhaltensweisen und Gefühle<br />

bewusst zu machen, denn es scheint mir für Lehrer<br />

sehr wichtig zu sein zu lernen, wie man solche Reaktionen<br />

erkennt und entschlüsselt. Dies fällt ihnen übrigens sehr<br />

leicht, weil es ihre eigenen Reaktionen sind. So sage ich<br />

z.B.:<br />

„Macht eine mathematische Erfindung!“<br />

Anschließend ahme ich die Bestürzung einiger Teilnehmer<br />

nach, indem ich die Hände über dem Kopf zusammenschlage:<br />

„Eine Erfindung? Das kann ich nicht!“<br />

Und ich fahre fort: „Aber klar doch! Aber ja doch! Ihr<br />

schafft das. Als erstes: Was ist eigentlich eine Erfindung?<br />

Es ist ganz einfach: Es ist irgendetwas! Also: Ihr geht von<br />

Ziffern, Zahlen, Punkten oder Buchstaben aus und macht<br />

damit irgendetwas. Und dieses ‚Irgendetwas‘, das kann<br />

jeder!“<br />

Ich füge hinzu: „Zermartert euch nicht den Kopf!<br />

Wenn ihr es jetzt noch nicht genau verstanden habt,<br />

dann versuchen wir es noch einmal.”<br />

Aber in der Regel braucht man diesen zweiten Anlauf<br />

nicht, weil jeder mitmacht. Schließlich sind diese Personen<br />

hier, weil sie es wollen. (Eigentlich arbeite ich sehr<br />

selten in einem ‚offiziellen‘ Rahmen und unter Pflichtbedingungen.<br />

Und so habe ich es sozusagen immer nur mit<br />

Freiwilligen zu tun, die immer mitarbeiten wol len.)<br />

Während dieser Arbeit gehe ich durch die Reihen und<br />

bitte einzelne Teilnehmer, diese oder jene Erfindung an<br />

die Tafel zu schreiben. Und ich füge hinzu: „Entschuldigt<br />

bitte, wenn ich nicht alle Erfindungen nehmen kann. Das<br />

ist schade, denn durch die Kommentare zur eigenen Erfindung<br />

lernt man am besten. Als Ausgleich werden morgen<br />

diejenigen Vorrang haben, die heute nicht ausge wählt wurden.<br />

Aber ich mache euch darauf aufmerksam, dass jeder,<br />

der heute nicht dran kommt, frustriert sein wird. Und es<br />

besteht die Gefahr, dass er keine Lust mehr hat etwas zu<br />

erfinden und so benachteiligt sein wird! Und eine letzte<br />

Anmerkung: Wenn ich bestimmte Erfin dungen eher auswähle<br />

als andere, so geschieht dies nicht, weil sie besser<br />

wären, sondern ich wähle diejenigen aus, die schneller<br />

ausgewertet werden können. Normaler weise würde ich<br />

von jedem eine Erfindung besprechen.“<br />

Bevor ich mit der Besprechung anfange, vergesse ich<br />

selten hinzuzufügen:<br />

„Ich mache euch schon im Voraus darauf aufmerksam,<br />

dass dieses Seminar nicht das halten kann, was es verspricht,<br />

weil wir nicht genug Zeit haben. Und die Zeit ist<br />

ein wichtiges Element der natürlichen Methode. Sie erlaubt<br />

uns, Themen später noch einmal aufzunehmen, auf<br />

Vergangenes zurückzugreifen, sich zurückzubesinnen, zu<br />

wiederholen, zu...., denn oftmals taucht dieselbe Idee im<br />

Laufe von zwei Tagen, einer Woche oder eines Monats<br />

mehrmals auf. Und genau diese wiederholten Betrach-<br />

22 23


tungen erleichtern das Lernen.“<br />

Natürlich ist das nicht immer so, denn manchmal<br />

wird eine Struktur sofort im Anschluss an ihre erste Vorstellung<br />

dazu genutzt, die darauf folgenden Erfindungen<br />

zu untersuchen. Und wenn noch Zeit bleibt, dann bitte ich<br />

am Ende einer Sitzung um eine zweite Serie von Erfindungen.<br />

Dabei stellen wir oft fest, dass die neuen Erfindungen<br />

durch das, was vorher passiert ist, stark geprägt<br />

sind. So weise ich auf meine Art auf die Bedeu tung der<br />

Zeit hin.<br />

Bevor ich dann anfange, die Erfindungen der Teilnehmer<br />

untersuchen zu lassen, erzähle ich, wie ich in meiner<br />

kombinierten Klasse (2./3. Schuljahr) vorgegan gen bin,<br />

als ich die Dreistigkeit besaß, drei ganze Schuljahre lang<br />

freie Mathematik zu betreiben. Die Kinder hatten ein Heft<br />

mit Erfindungen, in das sie ‚freie mathematische Texte‘<br />

niederschrieben, wenn und wann sie es wollten. Abends<br />

sammelte ich die Hälfte der Hefte aus der 2. Klasse und<br />

die Hälfte der Hefte aus der 3. Klasse ein. Aus jedem Heft<br />

schrieb ich eine Erfindung an die Tafel. Am nächsten Tag<br />

sammelte ich die andere Hälfte ein. So wurde innerhalb<br />

von zwei Tagen eine Erfindung von jedem Kind berücksichtigt.<br />

Das ist wichtig, um den Fluss der Produktion in<br />

Gang zu setzen und aufrecht zu erhalten.<br />

Einige Kollegen haben versucht, die Arbeit mit dieser<br />

‘verrückten‘ Methode auf einen Tag pro Woche zu beschränken.<br />

Aber das hat nicht funktioniert, weil der Fluss<br />

zu einem dünnen Rinnsal wurde. Es ist, wie wenn man<br />

den Mond nur an einem Tag pro Woche in Bewe gung<br />

setzen würde - die Folgen wären an den Gezeiten zu erkennen.<br />

Der Strom darf nicht versiegen. Wenn man den<br />

Versuch wirklich wagen will, dann sollte man sich lieber<br />

fünfzehn Tage vollständig darauf einlassen. Dann<br />

könnte man das Spiel gründlich spielen und nicht nur<br />

ein Lippenbekenntnis ablegen. Und wenn man zu dem<br />

Entschluss käme, so nicht mehr weiterarbeiten zu wollen,<br />

dann wäre es eine Entscheidung auf der Grundlage der<br />

konkreten eigenen Erfahrung.<br />

Was also den Fluss aufrecht erhält, ist die täglich wiederkehrende<br />

Untersuchung der Texte. Und das habe ich so<br />

gemacht: Ich habe den Zweitklässlern eine systemati sche<br />

Arbeit aufgegeben (z.B. Rechenkarteien), während ich mit<br />

den Drittklässlern arbeitete. Nach 45 Minuten wurde getauscht.<br />

Auffallend war, dass einige Kinder der 2. Klasse<br />

neben der Arbeit mit der Kartei aufgepasst und verfolgt<br />

haben, was die Großen taten. Und da sie sich von der<br />

Arbeit der Größeren sehr angezogen fühlten und sie aufmerksam<br />

verfolgten, profitierten sie auch davon. Und umgekehrt:<br />

Als die Kleinen an der Reihe waren, verfolg ten<br />

einige Große dies mit Neugier und Heiterkeit. Und das bot<br />

einigen von ihnen die Möglichkeit, ihr Wissen zu überprüfen<br />

und zu festigen. Übrigens fehlte es den Kleinen<br />

nicht an originellen Ideen, die es verdienten, aus gewertet<br />

und erforscht zu werden.<br />

Deshalb habe ich einer Kollegin (Monique Quertier),<br />

die in jenem Jahr einen Jahrgang (ein drittes Schuljahr)<br />

hatte, geraten, diesen in zwei Gruppen aufzuteilen. Der<br />

Erfolg war sofort sichtbar und zwar hauptsächlich deshalb,<br />

weil nicht zu viele Erfindungen auf einmal zu untersuchen<br />

waren. So hatte die Klasse mehr Zeit sich jeder<br />

einzelnen zu widmen. In meiner kombinierten 2./3. Klasse<br />

mit 28 Schülern haben wir jeden Tag 7 Erfin dungen aus<br />

jeder Gruppe untersucht. Das ist eine ver nünftige Anzahl.<br />

Und da die Hefte nur alle zwei Tage ein gesammelt wurden,<br />

hatte jedes Kind die Möglichkeit, eine Idee entweder<br />

aus seiner alltäglichen Wahrnehmung oder aus den Erfindungen<br />

des Vortages bzw. desselben Tages zu entwickeln<br />

oder aus denen der anderen Gruppe.<br />

24 25


Und manchmal passierte es, dass sich ein Kind in einer<br />

Sitzung sein Heft schnappte, um das, was wir gerade behandelten,<br />

noch einmal zu machen oder zu überprüfen.<br />

Oder ein Kind fing - ausgelöst durch unser Gespräch - an,<br />

etwas zu entwickeln, zu erweitern, zu umgehen, Umwege<br />

zu gehen, umzustellen, zu verlängern, zu ver dichten,<br />

weiterzuverfolgen....<br />

2. Elemente der natürlichen Methode -<br />

aufgezeigt an der Arbeit mit<br />

Erwachsenen<br />

Die grundlegende Neuigkeit und die Weisheit dieser<br />

Methode liegt im Prinzip der Komplexität. Sie gründet<br />

sich auf eine globale Aneignung des Wissens. Folglich<br />

tre ten, wenn man diese Methode praktiziert, tausende von<br />

verschiedenen Phänomenen an die Oberfläche, die so vielfältig<br />

und so ineinander verschachtelt sind, dass es unmöglich<br />

ist, sie voneinander isoliert und geordnet vor zustellen.<br />

Man muss sich also darauf einstellen, auf den folgenden<br />

Seiten von allen Aspekten etwas vorzufinden. Vor allem<br />

aber werden überall Emotionen, die ein unab dingbarer<br />

Katalysator für den Erwerb von Wissen sind, zu finden<br />

sein. Aber wir werden noch auf mehr stoßen: auf die Fröhlichkeit,<br />

auf das Bedürfnis zu erfinden, auf die Freude, die<br />

durch Wissen entsteht, auf Gruppen phänomene, auf die<br />

Dialektik von Weisheit und Verrückt heit, auf verschlungene<br />

Entdeckungswege, auf die Unterschiede von linker<br />

und rechter Gehirnhälfte, auf das Streben nach Macht<br />

durch Wissen, auf die Vorteile gemeinsamen Arbeitens,<br />

auf die Mannigfaltigkeit der Situationen und der Persönlichkeiten<br />

usw.<br />

All dies erfordert eine komplexe Darstellungweise. Ich<br />

hoffe, dass die Leser sie angesichts der Authentizität der<br />

Anekdoten akzeptieren können, mit deren Hilfe ich versuche,<br />

die Komplexität des Lebens möglichst genau zu<br />

beschreiben.<br />

26 27


Die Quelle der Erfindungen<br />

Welcher Art sind nun die Erfindungen, die bei der ersten<br />

Begegnung mit der natürlichen Methode gemacht<br />

wer den? Aus welcher Quelle können sie stammen? Auf<br />

den ersten Blick scheinen sie von überall her zu kommen.<br />

Schauen wir sie uns deshalb näher an!<br />

Visuelle Ästhetik<br />

Die Freude an der Symmetrie ist offensichtlich. Bei den<br />

Erfindungen dieses Typs ist sie ein wenig versteckt,<br />

da sich die Symmetrie nur auf die Lage der Buchstaben<br />

bezieht.<br />

Intellektuelle Ästhetik<br />

1. 2. 4. 8. 16.<br />

1. 4. 16. 64.<br />

Hörästhetik<br />

azi barzi corazza ozzara<br />

Unsymmetrisches:<br />

Für einige ist im Gegensatz dazu die Nicht-Symmetrie besonders<br />

interessant:<br />

28 29


Hier spürt man das Vorhandensein von bewussten<br />

oder unbewussten Konstruktionsregeln, die sofort die<br />

Auf merksamkeit der Teilnehmer erregen. Und tatsächlich<br />

wird so das Gehirn in Bewegung gesetzt.<br />

Manchmal reicht ein einziges Wort aus, um eine<br />

Erfindung auszulösen:<br />

Der Autor hat uns folgende Erklärung gegeben: „Es<br />

sind die Buchstaben des Wortes ‚EUROPA‘. Ich bin darauf<br />

gekommen, weil Rinaldo bei der Vorstellung des Semi nars<br />

von Europa sprach. Aber halt, jetzt fällt mir noch mehr<br />

ein. Vor einem Jahr hat meine Klasse an einem Wettbewerb<br />

der Europäischen Gemeinschaft teilgenom men und<br />

dabei einen Preis gewonnen. Also, eigentlich dachte ich,<br />

dass meine Erfindung nur etwas mit Rinaldos Beitrag zu<br />

tun hätte, aber in Wirklichkeit verbindet sich eine frühere<br />

Erfahrung mit diesem Wort. Durch die Erfin dung ist sie<br />

mir wieder bewusst geworden. Ohne sie hätte ich mich<br />

nicht daran erinnert.“<br />

Diese Erkenntnis hat mich am meisten erstaunt. Ich<br />

hatte etwas Ähnliches zuerst bei Schülern beobachtet,<br />

aber nicht vermutet, dass es auch bei Erwachsenen auftreten<br />

könnte. Ich hatte die Erwachsenen eher für Spieler, für<br />

oberflächlicher und für distanzierter gehalten. Wenn ich<br />

nun zu Beginn der Arbeit sage: „Macht irgend etwas!“,<br />

so kommt dabei selten etwas Beliebiges heraus. Und<br />

genau dies macht die Besonderheit aus. Denn in diesen<br />

Erfin dungen, selbst den schnellen oder den scheinbar banalen,<br />

steckt sehr viel Persönliches des Menschen. Und<br />

dies ist ein Hauptpunkt der natürlichen Methode. Wie im<br />

mutter sprachlichen Unterricht stütze ich mich auch hier<br />

auf den freien Ausdruck. Diejenigen, die dort vor mir<br />

sitzen, sind nicht mehr Schüler oder Seminarteilnehmer,<br />

sondern menschliche Wesen mit allem Drum und Dran,<br />

ein schließlich dem unbewussten Bedürfnis, sich mit allen<br />

Mitteln, die diese neue Sprache bietet, auszudrücken. Und<br />

es ist sogar überraschend zu sehen, wie sich das Be dürfnis<br />

einschleicht, etwas über sich mitzuteilen, wo es sich doch<br />

eigentlich nur um kalte, abstrakte mathemati sche Dinge<br />

handelt.<br />

Das funktioniert deshalb so gut, weil man hier, wie<br />

beim Zeichnen, seine Botschaft viel leichter tarnen kann.<br />

Worte würden da viel mehr offen legen. Natürlich versuche<br />

ich, nicht zu interpretieren. Wir sind hier in der Mathematik,<br />

nicht in der Psychoanalyse. Trotzdem kann ich es<br />

nicht vermeiden, von der psychologischen Dimension der<br />

Dinge zu sprechen, denn sie ist ein wichtiges Element,<br />

wenn nicht gar ein Hauptbestandteil der natürlichen Methode,<br />

weil sie alle Dimensionen des menschlichen Wesens<br />

berührt.<br />

So kommt es vor, dass einige Teilnehmer ganz spontan<br />

30 31


den Sinn und die grundsätzliche Bedeutung ihrer Erfindung<br />

erklären, ohne dass man darum gebeten hätte.<br />

Besonders ausgeprägt war dies bei einem Lehrerfortbildungskurs<br />

in Aix-en-Provence. Bei 10 von 13 Erfindungen<br />

wurde erklärt, welche besondere Bedeutung sie für<br />

ihre Autoren hatten. Vielleicht waren sie geübt in der (Psycho-)Analyse<br />

und deshalb so scharfsinnig. Vielleicht auch,<br />

weil das Klima in der Gruppe gut war: man konnte hier<br />

viel sagen.<br />

Hier ein Beispiel:<br />

Adrienne: „Oh! Man merkt, dass es rechts offen ist,<br />

und das stört mich.“<br />

Jean-Pierre: „Das ist eine Subtraktion, aber in Z und<br />

nicht in N. In N (der Menge der natürlichen Zahlen) wäre<br />

es unmöglich. Aber in Z (der Menge der ganzen Zahlen)<br />

kann man sagen: 2 - 6 = - 4“<br />

Rene (der Autor): „Ich mag die geraden Zahlen sehr<br />

gern.“<br />

Christine: „Oh! Ich überhaupt nicht. Ich mag die<br />

ungera den Zahlen lieber.“<br />

Paul: „De la musique avant toute chose.<br />

Et pour cela préfère l‘impair.“<br />

(Von der Musik vor allen Dingen.<br />

Und deshalb ziehe ich das Ungerade vor.)<br />

(Nachmittags bringt Helene das eben zitierte Gedicht<br />

von Verlaine mit. Das Beispiel zeigt, wie wichtig es ist,<br />

auch für Unerwartetes offen zu sein. Von der Mathematik<br />

kann man auf die Poesie, auf die Psychologie, die Choreographie,<br />

die Politik und tausend andere Dinge kommen.<br />

Und umgekehrt. Jedes Element des Lebens beruht auf<br />

Strukturen. Und man kann ständig von den Dingen zu den<br />

Strukturen und von den Strukturen zu den Dingen wechseln.<br />

Aber wehe, wenn man versucht, dieses Hin und Her<br />

zu verhindern, weil man seriös sein will - dann passiert<br />

nichts mehr.)<br />

Rene (der Autor): „Oh, aber wartet, ich weiß jetzt, was<br />

mit meinen Zahlen los ist. Es war der 2. 6. 64, als die See<br />

mich zum zweiten Mal dem Leben zurückgegeben hat,<br />

während alle meine Kollegen ertrunken sind.“<br />

Das ist doch nicht möglich; es ist unglaublich, dass<br />

diese einfachen geraden Zahlen dieses ganze Drama beinhalten!<br />

Man kann davon nur ergriffen sein.<br />

Ja, man muss begreifen, dass die Mathematik wie jede<br />

Sprache mehrere Dimensionen umfasst: Ausdruck, Kommunikation,<br />

Beschreibung, Argumentation, Meta-Linguistik,<br />

Poesie, Verlockung, Zusammenhalt. Je nach Person<br />

und ihren Bedingungen dominiert diese oder jene Dimension<br />

für eine gewisse Zeit. Und manchmal sind diese Bedingungen<br />

so günstig, dass der freie Ausdruck eine große<br />

Tiefe erreicht.<br />

Übrigens haben einige Autoren, wie z.B. S. Baruk und<br />

J. Nimier, über diese Beziehung zwischen Mathematik<br />

und Psychologie geschrieben. Aber im allgemeinen beachtet<br />

man die Beziehung kaum: Man interessiert sich nur<br />

für die Mathematik.<br />

Weil jedoch die Grundlage dieser Methode der schöpferische<br />

Ausdruck ist, muss man auf Äußerungen dieser<br />

Art immer gefasst sein.<br />

Hier ein Beispiel:<br />

32 33


Ich (Paul) frage:<br />

„Was sagt dir die Zahl 24? Spricht sie dich besonders<br />

an?“ Renée: „Ah! Nein, überhaupt nicht.“ Paul: „Bist du sicher?<br />

Hast Du nicht 24 Zähne oder viel leicht 24 Kinder?“<br />

Renée: „Nein, nein! Nichts dergleichen! - Ach Scheiße!<br />

Gestern wurde ich 24!“<br />

Bei dieser Gelegenheit erkläre ich, dass die Zahlen<br />

nicht so neutral sind, wie man glaubt. Zuerst erzähle ich<br />

von meiner eigenen Erfahrung. Eines Tages, ich weiß<br />

nicht mehr aus welchem Anlass, wurde ich gebeten, eine<br />

zufällige Zahl zu nennen: 1728. Und ich war erstaunt, als<br />

ich feststellen musste, dass sie aus meinem Geburtsdatum<br />

stammte: 28.7.1921. Und später habe ich festgestellt, dass<br />

Erfindungen sehr häufig mit dem Geburtsdatum zusammenhängen,<br />

und zwar oft, ohne dass sich die Autoren<br />

dessen bewusst sind. Einmal wollte ich die Probe aufs Exempel<br />

machen. Ich habe einen Kollegen des Universitätsinstituts,<br />

an dem ich arbei tete, gebeten mir eine Zahl zu<br />

sagen. Es war jemand, der alles von Freud gelesen hatte<br />

und der früher einmal Psychoanalytiker werden wollte.<br />

Überrascht antwortete er mir: „Was? Was? Eine Zufallszahl?<br />

Na gut: 4267.“<br />

Ich brach in Lachen aus, weil es ein Teil der Zahl war,<br />

die Freud in seinem Buch ‘Psychopathologie des Alltagslebens’<br />

zitierte. (Die Zahl aus dem Buch war 426718.) Der<br />

Patient hatte gesagt:<br />

„Wenn ich daran erkranke, wird es 6 Wochen dauern (7x6<br />

= 42).“<br />

Freud hatte versucht, es zu vertiefen:<br />

„Ich stelle fest, dass hier alle Ziffern bis auf die 3 und die<br />

5 vor kommen.“<br />

„Das ist mir klar. Wir sind 7 in der Familie und ich bin<br />

der Siebte. Meine Quälgeister, das sind mein Bruder an<br />

der 3. Stelle und meine Schwester an der 5. Stelle. Zweifellos<br />

hätte ich lieber sie sterben sehen als meinen Vater.<br />

Wenn mein Vater wei ter gelebt hätte, hätte er ein weiteres<br />

Kind haben können, das wäre dann das 8. Und für dieses<br />

wäre ich der Ältere gewesen“<br />

Und vielleicht ist es auch nicht ohne Bedeutung gewesen,<br />

dass mein Kollege nicht weiter als 4267 gegangen ist,<br />

denn er war der strahlende Älteste von Fünfen.<br />

Aber eine Seminarteilnehmerin (Marie) protestiert:<br />

„Oh la la! Ich bin nicht einverstanden. Jeder kann mit ein<br />

bisschen Phantasie etwas finden, das man über die Zahl<br />

426718 sagen kann.“ Paul: „Ja und auf welcher Grundlage?“<br />

Marie: „Natürlich über persönliche Gegebenheiten.“<br />

Paul: „Das meine ich ja gerade!“<br />

In meinen Seminaren habe ich manchmal dasselbe Experiment<br />

versucht. Aber es funktioniert selten, weil der<br />

innere Zensor aufpasst. Die Anekdote hat die Menschen<br />

wachsam gemacht. Die Spontaneität ist verflogen. Wir<br />

finden unsere Zahlen nämlich nur, wenn wir nicht auf sie<br />

achten.<br />

Da wir gerade bei der Resonanz von Ziffern und Zahlen<br />

sind, hier etwas, das mir ein Mädchen aus dem 1.<br />

Schuljahr sagte:<br />

„Oh! Ich mag die 6 gern. Die 6, die liebt die 8. Die 7<br />

möchte auch von der 6 geliebt werden. Sie versucht, sie<br />

zum Lachen zu bringen, indem sie ihre Mütze verkehrt<br />

herum aufsetzt. Die 6 lacht, aber trotzdem mag sie die 8<br />

lieber. Aber die 13 ist mir ein Greuel.“<br />

Wie kann sich dieses Mädchen mit einer solchen Sichtweise<br />

der Dinge im Rechnen wohl fühlen? Trotzdem gibt<br />

es einen Weg. Da der emotionale Druck bei ihm sehr stark<br />

ist, sogar so stark, dass es alles durcheinander bringt,<br />

muss man ihm viel Raum verschaffen. Wenn das Kind<br />

34 35


die Möglichkeit erhält, sich mit Hilfe des Schrei bens, des<br />

Sprechens, des Zeichnens, des Singens, der kör perlichen<br />

Bewegung usw. auszudrücken, ist es eher dafür offen, die<br />

(Um-)Welt in Ruhe und objektiv zu betrachten und so zu<br />

einer richtigen Wahrnehmung der Strukturen zu kommen.<br />

Das ist übrigens auch geschehen, und zwar durch einen<br />

langen Bericht über die Abenteuer seiner Katze, die sich<br />

als Störenfried ersten Ranges betätigte sowie durch eine<br />

eindrucksvolle Serie von phantasierei chen und humorvollen<br />

Zeichnungen. Das half ihm Abstand zu gewinnen.<br />

Auf die gleiche Weise entpuppte sich ein Junge als Mathematiker,<br />

nachdem er es geschafft hatte, sein Prob lem in<br />

mündlicher Form auszudrücken (Katharsis).<br />

Manchmal gibt es Erfindungen, die nur für die anderen<br />

überraschend sind - der Autor selbst weiß ja, wie sie<br />

zustande kommen.<br />

Hier ein Beispiel:<br />

Ein Berufsschullehrer: „Ich sehe hier eine Turbine.<br />

Aber sie wird wohl kaum funktionieren.“<br />

Pierre: „Ich, ich sehe, dass die Einsen auf dem Kopf<br />

ste hen.“<br />

Adrienne: „Du siehst sie verkehrt herum. Das ist komisch,<br />

ich sehe, dass sie richtig herum sind. Vielleicht<br />

hängt das damit zusammen, dass ich Linkshänderin bin.“<br />

Die Autorin: „Ich kann euch sagen, warum ich das ge-<br />

macht habe. Ihr seht, dass es elf Einsen sind. In der Schule<br />

hatte ich große Schwierigkeiten mit der Zahl 11. Eines<br />

Morgens sagte die Nonne zu mir: ‚Wenn du an diesem<br />

Nachmittag nicht weißt, was 11 ist, stecke ich dich unter<br />

das Pult/ Aber an diesem Nachmittag bin ich nicht zur<br />

Schule gegangen, weil ich krank geworden bin. Ich muss<br />

noch sagen, dass meine Eltern sich gerade scheiden ließen.<br />

Und 11, das ist nicht möglich, das kann kein Paar sein. Für<br />

ein Paar braucht man zwei Personen von unter schiedlicher<br />

Art!“<br />

Diese Interpretation der Autorin hat uns alle verstummen<br />

lassen. Eine lange Stille folgte. Ganz anders reagierten<br />

wir dagegen auf die Erfindungen von drei italieni schen<br />

Kollegen, die sich unabhängig voneinander mit der Drei<br />

(‚tre‘ auf italienisch) befassten.<br />

Ich habe darauf hingewiesen, dass sie aus Trieste,<br />

Mestre und Treviso kamen. In diesem Fall überwog das<br />

Lachen!<br />

Jetzt eine Erfindung von Helene. Sie weiß genau, was<br />

sie hier mit großer List versteckt hat:<br />

36 37


Christine: „Das ist doch klar, die Kreise, das sind Eier.“<br />

Rene: „Man könnte auch sagen, dass die Henne eine Maschine,<br />

ein Operator ist. Wenn die 1 durch die Henne<br />

durchgegangen ist, wird sie zur 3. Die 2 ergäbe 6. Eine 3<br />

ergäbe 9 usw.“<br />

Alexis: „Oder überhaupt nichts. Aber ja, die 1, die 2 und<br />

die 3 könnten Null ergeben, wenn sie durch die Henne gegangen<br />

sind.“<br />

Paul: „Ihr seht, wie Alexis ist: Wir haben etwas herausgefunden,<br />

was gut funktioniert, und er muss zu allem Opposition<br />

beziehen.“<br />

Alexis: „Stimmt, so bin ich im Leben. Wenn es zu gut<br />

läuft, langweile ich mich sehr schnell und dann versuche<br />

ich eben, neue Wege zu finden.“<br />

Paul: „Ihr seht, solche Typen wie Alexis sind für eine<br />

Gruppe nützlich, sie stiften Unordnung, und das bringt<br />

die Gruppe weiter.“<br />

Aber sehr schnell wussten wir bei dieser Erfindung nicht<br />

weiter. Also erteilten wir, wie üblich, der Autorin das<br />

Wort.<br />

Helene: „Ach ja, ihr habt euch total verrannt. Neun Jahre<br />

ist es erst her, dass ich mich mit der Mathematik wieder<br />

vertragen habe. Das verdanke ich einem Lehrer, der mir<br />

auch ein Freund war. Bis dahin zog ich mich immer zurück,<br />

wenn es um Mathematik ging. Also, die Karos sind<br />

keine Karos, sondern eine Mauer. Die Henne sitzt auf der<br />

Mauer. Sie legt nicht drei Eier, sondern sie dreht sich (wie<br />

es in einem Kinderlied <strong>heißt</strong>) ‚dreimal im Kreis und geht<br />

dann weg‘. Das wird durch die drei schweben den Punkte<br />

angezeigt. Und ich, ich war diese Henne, die wegging.“<br />

Und hier die Erfindung von Alain:<br />

Wir suchen lange, ohne etwas zu finden. Also gibt Alain,<br />

der ein sehr politischer Mensch ist, das Rezept, nämlich<br />

das von Lenin:<br />

„Ein Schritt vor, zwei Schritte zurück“, und dann dreht er<br />

es um:<br />

„Einen Schritt zurück, zwei Schritte vor“.<br />

Verblüffendes Lachen!<br />

Und schließlich hier noch ein Beispiel für Listiges:<br />

Niemand weiß weiter. Luciana, die Autorin, gibt uns die<br />

Lösung:<br />

Luciana + Luciana = Lucianona<br />

Im Italienischen ist ‘on’ eine Vergrößerungsform. Man<br />

könnte Lucianona mit ‚große Luciana‘ übersetzen. Man<br />

kann verstehen, dass wir auch in diesem Fall lachen mussten,<br />

ein Lachen, in das sich das Erstaunen über die Kühnheit<br />

der Idee, die Einfachheit der Erklärung und die Bewunderung<br />

über die originelle Luciana mischten.<br />

38 39


Subjektivität des Wissens<br />

In der natürlichen Methode spielt die Gruppe beim Wissenserwerb<br />

eine entscheidende Rolle. Um die Bedeu tung<br />

der Gruppenphänomene näher zu beleuchten, möchte ich<br />

einige Beispiele erzählen:<br />

Meg stört etwas:<br />

„Da ist ein Loch und das mag ich nicht.“<br />

Raymonde meldet sich auch zu Wort: „Ah! Typisch<br />

Clélia: Sobald sich eine Gelegenheit bietet, stellt sie sich<br />

zur Schau.“<br />

Clélia lacht: „Das ist richtig, so bin ich.“ Aber ich greife<br />

nachdrücklich ein:<br />

„Hört zu, es ist ihre Erfindung! Sie kann das tun, was<br />

sie möchte. Sie ist dabei VOLL - KOM - MEN frei. Man<br />

muss den Einzelnen vor jedem Werturteil, vor jeder Zensur<br />

schützen. Sonst könnte er nicht den Weg frei wählen,<br />

der sei nem wahren Willen entspricht bzw. zu dem ihn<br />

seine bis herigen Lebenserfahrungen befähigen. Er muss<br />

im Auf bau seines Wissens autonom sein und auf dem eigenen<br />

Fundament aufbauen.“<br />

In einer Klasse, in der gern gemalt wurde, habe ich dieses<br />

Phänomen oft beobachten können: Die verblüffende<br />

Originalität und die Qualität der Bilder war einzig und<br />

allein auf die Tatsache zurückzuführen, dass die Lehrerin<br />

dem Kind einen größeren Freiraum zugestanden hatte.<br />

Die Lehrerin war in ihrer eigenen Jugend so sehr eingengt<br />

worden, dass sie es nicht ertragen hätte, wenn ihre Schüler<br />

nicht wenigstens einen Bereich gehabt hätten, in dem<br />

sie völlig frei ihren persönlichen Eingebungen folgen und<br />

immer neue Erfindungen machen konnten. Ähnlich einem<br />

Spiel, das sich fortwährend weiterentwickelt. Ein Bereich,<br />

in dem sie Ideen aufgreifen können, die im Raum schweben<br />

oder aus irgendwelchen geheimnisvollen He fen aufsteigen,<br />

die niemand zu ergründen vermag.<br />

Kann man denn nicht so am besten sein Wissen erweitern?<br />

Schauen wir noch einmal das Beispiel von eben an.<br />

Schon in der zweiten Reihe eröffnet sich ein Weg:<br />

Nehmen wir an, dass Clélia oder die Gruppe Lust hät te,<br />

den Abstand der Buchstaben voneinander genauer zu untersuchen.<br />

Dann würde man feststellen, dass ausge hend<br />

vom ersten C als Ausgangspunkt das zweite C bei (-1, -1)<br />

gezeichnet wurde. Und wenn man es nun bei (-2, -1)<br />

einzeichnete?<br />

Und wenn man es bei (-3, -1) zeichnete, usw.?<br />

Das zeigt, dass das Motto der wissenschaftlichen Forschung<br />

‘Was wäre, wenn...?‘ zur Natur des Menschen<br />

gehört.<br />

40 41


Von hier aus kann man zur Berechnung von Winkelwerten<br />

gelangen. Man kommt offensichtlich zum Wert<br />

des Tangens:<br />

1, 1, 1, 1, 1 usw.<br />

1 2 3 4 5<br />

Und wenn man eine Grafik von der Folge der Tangens<br />

werte macht, erhält man eine Hyperbel usw....<br />

All diese Begriffe wären von Clélia aufgenommen<br />

worden, weil wir sie anhand ihrer Erfindung entwickelt<br />

hätten. Man hätte sich mit ihrer Person, mit ihrer Erfindung<br />

befasst. Sie wäre der Mittelpunkt der Arbeit gewesen.<br />

Und solange das Gespräch der Gruppe über ihre Arbeit<br />

angedauert hätte, hätte sie alles gehört; sie wäre total<br />

in das Geschehen eingebunden und ganz aufnahme bereit<br />

gewesen.<br />

Paul fragt: „Was ist, hatte Clélia das Recht, mit den<br />

Buchstaben ihres Vornamen zu arbeiten?“ Renée: „Ja,<br />

doch, sie durfte es.“<br />

Paul: „Und wie du siehst, hat sie keine Angst mehr vor<br />

dem Wort ‚Tangens‘, jetzt kennt sie es. Und außerdem hat<br />

sie eine richtig nette Mutter.“<br />

(„Eine richtig nette Mutter“ ist ein Wortspiel, denn<br />

aus dem französischen Ausdruck „une mére tant gentille“<br />

klingt das Wort „Tangens“ (franz. „tangent“) heraus,<br />

Anm. d. Übers.).<br />

Aber warum habe ich mir einen so plumpen Witz erlaubt?<br />

Weil ich plötzlich gemerkt habe, dass es zu ernst<br />

wurde. Ich habe gespürt, dass die Spannung unbedingt<br />

gelöst werden musste. Sonst hätten wir uns geärgert und<br />

wären blockiert und nicht mehr aufnahmebereit gewesen<br />

Und deshalb habe ich irgend etwas gesagt. (15)<br />

(15) Tatsächlich gibt es auf der Ebene des Unbewussten dauernd solche<br />

Assoziationen, die uns sehr viel mehr beherrschen, als man es glauben<br />

mag. Auf jeden Fall stehen sie mir immer zur Verfügung, wenn ich sie<br />

brauche.<br />

Danach sind wir nun ein wenig lockerer geworden und<br />

können auf ganz ernsthafte Dinge zurückkommen.<br />

„Die lebendige Zeitrechnung, die sich aus und über Zeichen,<br />

Symbole und Formen auswirkt, die zum Einzeller<br />

gehört, ist eine Zeitrechnung von sich, ausge hend von<br />

sich, in Funktion zu sich. Sie ist lebendig.“<br />

(Morin 1986)<br />

Nach Morin ist dies nicht auf Einzeller beschränkt:<br />

„Das lebendige Wissen kann sich nicht der Subjektivität<br />

entziehen, d.h. dem Akt, sich selbst in den Mittelpunkt der<br />

Welt zu stellen, um etwas kennenzulernen. Von dort rührt<br />

das nicht eliminierbare Problem her, das sich auf allen<br />

Ebenen, einschließlich der des Menschen, wieder findet,<br />

nämlich das der egozentrischen Charaktere, die sich<br />

ihrer selbst voll bewusst sind“.<br />

(Morin 1986, S. 46)<br />

Um wieder auf die Ebene unserer pädagogischen Realität<br />

herabzusteigen, möchte ich die Erfindung einer belgischen<br />

Kollegin vorstellen:<br />

42 43


Sie hat zwei Vornamen: Sonia und Sophie. Und ihr<br />

Nachname schreibt sich Chwartzmann anstelle von<br />

Schwartzmann. Es wird deutlich, dass die Besonderheit<br />

im Namen dieser Kollegin in der Erfindung gut zum Ausdruck<br />

kommt, denn es ist ein Hinweis auf die beiden S in<br />

ihren Vornamen und auf das fehlende S in ihrem Nachnamen.<br />

Und zweifellos ist der Begriff der Punktsymmetrie,<br />

den wir bei dieser Gelegenheit entfaltet haben, von<br />

ihr und von allen anderen Teilnehmern vollständig (d.h.<br />

effektiv und affektiv) gelernt worden. So wie es mit dem<br />

Begriff des Tangens geschehen wäre. Also sollte man es<br />

niemandem - weder sich, noch anderen - zum Vorwurf<br />

machen, wenn man von sich selbst ausgeht.<br />

Bevor man nicht selbst entsprechende Erfahrungen<br />

gemacht hat, kann man sich kaum vorstellen, wie außergewöhnlich,<br />

wie feinsinnig und wie unvorhersehbar Wege<br />

sein können. Wie sehr, hängt von den Erfahrungen ab, die<br />

die Menschen gemacht haben, aber auch von der Umgebung,<br />

in der sie eingebettet waren und immer noch sind.<br />

Denn wenn der Geist für die Entwicklung des Gehirns<br />

notwendig ist und das Gehirn für die Entwick lung des<br />

Geistes, so tragen beide zur Kultur bei, die ihrer seits von<br />

diesen beiden abhängt.<br />

Darüber darf man aber nicht vergessen, dass man bei<br />

der natürlichen Methode nie auf sich allein gestellt ist. Beteiligt<br />

ist nicht nur der Einzelne mit dem Reichtum sei ner<br />

gesamten Persönlichkeit, sondern auch die Gruppe mit<br />

ihren vielfältigen Reaktionen. Dazu möchte ich von zwei<br />

Erlebnissen berichten.<br />

Eines davon spielte sich in Aix ab:<br />

Jean Camille: „Hier sehe ich lauter Paare: 0 - nul (16) ;<br />

Ac - ac; X - x; XAC - xac. Das ist durchgestaltet.”<br />

Daran anschließend hält Jean-Michel einen ausführlichen<br />

Vortrag über die Musik des Barock (Bach), wie sie<br />

aufgebaut ist und immer wieder in ein Gleichgewicht zurückkommt<br />

... und dass die Tafelanschrift das sehr genau<br />

wiedergeben würde. Aber Jean-Camille hört nicht zu. Er<br />

ist von der 6 gefangen, die allein für sich steht und aus<br />

diesem Grunde die herrliche duale Ordnung des ganzen<br />

Systems zerstört. Das ärgert ihn so sehr, dass er sich den<br />

Kopf zermartert, um eine Lösung zu finden.<br />

Plötzlich schreit er los: „Ja! Ich hab‘s: Das ist eine<br />

Menge mit sechs Elementen, die Paare bilden. Und an<br />

diese Menge von sechs Elementen kann man die 6 als zugehörige<br />

Kardinalzahl anbinden.“<br />

In diesem Moment merke ich, wie etwas zum Vor schein<br />

kommt, das bis dahin noch nie dagewesen ist: eine totale<br />

Zustimmung der Gruppe (deren Teil ich ja auch bin) zur<br />

vorgeschlagenen Lösung. Die totale Übereinstim mung<br />

drückt sich in einer allgemeinen Freude aus, die Helene<br />

so formuliert:<br />

(16) ‘nul’ frz. für : nichtig, wertlos; keiner, niemand<br />

44 45


„Oh, la la! Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie sehr<br />

ich mich darüber freue, dass er es geschafft hat, uns die<br />

Perfektion des Systems aufzuzeigen. Es ist sehr gelungen.<br />

Doch dieses Mal lässt Jean-Camille die Wertschätzung<br />

seiner Person und die Anerkennung durch die Gruppe ganz<br />

kalt. Zu sehr ist er von dem, was er sieht, beein druckt.<br />

„Ja“, merkt Christine an. „Und außerdem sind die beiden<br />

Dachschrägen völlig symmetrisch.“<br />

Jetzt erhält der Autor, Daniel, das Wort: „Ihr habt mich<br />

mit euren Überlegungen unheimlich amüsiert. Ich habe<br />

einfach irgend etwas hingezeichnet ohne etwas zu denken.“<br />

Man könnte meinen, dass ich aus einer Mücke einen<br />

Elefanten mache und dass es die Erfindung von Daniel gar<br />

nicht verdient, dass man so viel Aufhebens von ihr macht.<br />

Doch das ist die Frage! Ich meine, dass wir hier auf etwas<br />

gestoßen sind, das eng mit unserer Lust an die ser Arbeit<br />

zusammenhängt. Bachelard drückt es so aus:<br />

„Das mathematische Denken erscheint wie ein Sehnen<br />

nach Vollständigkeit.“ ( Bachelard 1966, S. 33)<br />

Und genau das habe ich auch ein weiteres Mal erlebt,<br />

obwohl die Sitzung recht schwierig begann. In der Ecole<br />

Normale (Pädagogische Hochschule, Anm. d. Übers.) von<br />

Rennes fanden sich 35 Personen versammelt - anstelle<br />

der erwarteten 13. Zwei Diplom-Psychologen hörten die<br />

ganze Zeit nicht auf zu schwatzen, um deutlich zu machen,<br />

dass sie von einem Dilettanten in Sachen Theorie<br />

nichts lernen konnten. (Aber vielleicht sind die beiden der<br />

Grund dafür, dass mir das folgende Phänomen besonders<br />

bewusst wurde.)<br />

Hier die Erfindung:<br />

Am Anfang konnte niemand damit etwas anfangen.<br />

Es schien wirklich irgendetwas zu sein, irgendein Zufallsprodukt.<br />

Jemand sagte:<br />

„Ich erkenne genau die 0, die 2, die 3. Es ist schade,<br />

dass hier keine 1 ist, weil es sonst eine Folge wäre.“ „Aber<br />

schaut doch, sie ist da!“<br />

Also haben wir sehr aufmerksam hingesehen. Und wir<br />

haben sie auch entdeckt. Und so hat sich alles zu einer<br />

wundersamen Ordnung gefügt. „Die 1, 2, 3, 4, 5, 6 und 7<br />

kreuzen sich in der Mitte.“ „Und außerdem gibt es keine<br />

Null. Es sind Kreise, die immer größer werden.“ „Und es<br />

sind 7!“<br />

„Und sie drehen sich in der gleichen Richtung wie die<br />

Ziffern.“<br />

46 47


„Aber ja, die Kreuze drehen sich auch! Und in der gleichen<br />

Richtung wie die beiden anderen!“<br />

Jedenfalls stellte sich bei allen dieselbe totale Zufriedenheit<br />

ein. Wir hatten etwas Vollkommenes erhalten,<br />

was die gesamte Gruppe begeisterte. Dabei hat mich besonders<br />

beeindruckt, dass die beiden Schwätzer sich in<br />

die Falle des Entzückens hatten locken lassen. Und für die<br />

Dauer eines Augenblicks hatten sie vergessen, ihre Komödie<br />

zu spielen.<br />

Das Erstaunliche an dieser Geschichte ist, dass die Erfindung<br />

am Anfang ausgesprochen banal, gewöhnlich,<br />

gänzlich zufällig erschien. Es war wirklich ‚irgendetwas‘.<br />

Und die Suche nach einem einzigen kleinen Element hat<br />

ausgereicht, um die Menge auf dreifache Weise in ihrer<br />

Gesamtheit zu ordnen. Das Fehlen löste eine Art Leidensdruck<br />

aus. Da war eine Lücke, das störte die Harmonie.<br />

Aber einer der Teilnehmer hatte offensichtlich noch mehr<br />

als die anderen gelitten. Dies hatte seinen Blick geschärft<br />

und ihm ermöglicht, alle Anwesenden an die Grundlagen<br />

für ihr Denken zu erinnern.<br />

Das ist ein weiterer wichtiger Aspekt: Die Wahrnehmung,<br />

dass ein Glied der Kette fehlt, regt den Geist an.<br />

Und wenn wir es entdecken, entwickelt sich manchmal<br />

‘psychische Freude und Ekstase’.<br />

„Es gibt die quasi elektrische Entladung des ‚Ah‘, das<br />

Entspannung und Zufriedenheit bringt. Es gibt<br />

die ‚Freude‘ des Wissens. Es gibt die Trunkenheit<br />

und das Hochgefühl des Wissens. Es gibt das<br />

‚Entzücken‘ des Wissens. Es gibt, so müssen<br />

wir hinzufügen, den ‚psychischen Koitus‘ (Nietzsche),<br />

der durch die Lösung, die Idee oder das Lösungswort<br />

hervorgerufen wird, wobei die glückliche Fülle des<br />

Wissens sich in einer quasi orgastischen Freude entfaltet.“<br />

(Morin 1986, S. 134)<br />

Schauen wir uns nun an, was herauskommt, wenn man<br />

die Punkte der Zeichnung verbindet.<br />

Was den Instinkt für ein fehlendes Element betrifft,<br />

so sollte man ebenfalls an das Radio-Astronomie-Labor<br />

von Nancy denken, das die Folge 1,2,3,4,5,.. 7,8,9,10 in das<br />

Universum schickt und nun horcht, ob man nicht aus irgend<br />

einer Ecke des Universums die fehlende 6 emp fängt.<br />

Dabei unterstellt man, dass die außerirdischen Lebewesen<br />

denselben Hang wie wir zum Vollständigen, Regelmäßigen,<br />

Fehlerlosen, Tadellosen und zum voll kommen<br />

Zufriedenstellenden haben.<br />

In einer Klasse, in der jedes. Kind der Gruppe viele<br />

‘mathematische Objekte’ abliefert, steigen für jeden die<br />

Chancen, dass er sich interessante und effiziente Gesetzmäßigkeiten<br />

aneignen kann. Voraussetzung ist lediglich,<br />

dass man den menschlichen Denkapparat entsprechend<br />

füttert. Da nicht nur ein einzelner Geist arbeitet, sondern<br />

eine ganze Gemeinschaft, haben wir viel mehr Trümpfe in<br />

der Hand, um die unvermeidliche Komplexität so gut wie<br />

48 49


möglich zu beherrschen. Und obendrein weiß jeder, dass<br />

man die anderen sehr oft benötigt um aus der Klemme zu<br />

kommen. Denn oft ist der eigene Kopf nicht ganz so frei.<br />

Hier und da und vielleicht auch noch dort gibt es Reibungen<br />

und Widerstände, die ihren Ursprung mögli cherweise<br />

in der psychischen Vergangenheit, dem fami liären Hintergrund,<br />

den verkrusteten Gewohnheiten, den automatischen<br />

Taktiken, den durchlittenen Umständen, der Blindheit<br />

gegenüber anderen Möglichkeiten ... und vielleicht<br />

sogar in den Erfolgen hat, die man bereits erzielt hat, weil<br />

dadurch das Forschen auf den Bereich beschränkt wird, in<br />

dem man bereits Freude erfahren hat.<br />

Dank der Gruppe kann man glücklicherweise neue<br />

Perspektiven gewinnen, neue Strategien entwickeln, sei ne<br />

festen Gewohnheiten überprüfen. Sehr schnell wird man<br />

feststellen, dass die anderen die Welt ganz anders sehen.<br />

Sie haben nicht die gleichen Wahrnehmungsstruk turen.<br />

Anfangs lässt sich das nur schwer akzeptieren. Die anderen<br />

scheinen nicht normal zu sein. Aber dann ge wöhnt<br />

man sich daran. Langsam wird es sogar interes sant und<br />

man versucht genauso wahrzunehmen, wie sie es tun. Die<br />

neue Sache gefällt und man gefällt sich selbst dabei. Und<br />

so macht man daraus sogar eine neue Gewohnheit. Und<br />

wenn man Glück hat, bekommt man wieder einen neuen<br />

Anstoß. Und so wird man viel freier in seinem Kopf.<br />

Viel freier, also viel intelligenter; freier, um viel breiter<br />

und genauer wahrzunehmen; fähiger, einen großen Fang<br />

aus den Netzen zu holen, die man in den Ozean der Welt<br />

taucht. Diese Art der Arbeit in der Gruppe ist so neu,<br />

dass es sich lohnt, die verschiedenen Elemente genauer zu<br />

untersuchen.<br />

Das Lachen<br />

Eigentlich müsste der Titel für dieses Kapitel ‚Die intellektuelle<br />

Gesundheit‘ lauten. Aber das wäre zu ernsthaft<br />

und stimmte überhaupt nicht mit den Inhalten überein, die<br />

ich behandeln möchte.<br />

Das Lachen begleitet mich ständig auf meinen Seminaren.<br />

Ich kann wohl sagen, dass ich mich intensiv darum<br />

bemühe, weil ich eine bestimmte Zielvorstellung habe: Ich<br />

möchte im Seminar zeigen, dass man sich die Elemen te,<br />

die beim Lernen eine Rolle spielen, unbedingt bewusst<br />

machen muss, wenn man erfolgreich sein will. Aber wenn<br />

ich mich darauf beschränken würde, sie vortragend aufzuzählen,<br />

dann würde nichts passieren. Die Teil nehmer<br />

sollen aber davon Besitz ergreifen, dafür müssen sie ganz<br />

aufnahmebereit sein. Deshalb arrangiere ich eine Art<br />

Schau, ungefähr so, wie es ein französischer Fernsehmoderator<br />

(Bernard Pivot) anfängt. Er wollte, dass man<br />

sich für die Literatur interessiert. Also setzte er den Kreis<br />

sei ner Teilnehmer sorgfältig zusammen, so dass sich<br />

Gegen sätze zeigen, Oppositionen bilden und Gleichartigkeiten<br />

herauskristallisieren konnten. Kurzum, es wurde<br />

leben dig, weil es dialogisch (Ergänzung, Widerspruch und<br />

An tagonismus) war, ein typisches Merkmal für Lebendigkeit.<br />

Auch die Fernsehzuschauer wirkten mit, nahmen teil.<br />

Und das versuche ich auch: Die anwesenden Perso nen sollen<br />

Teilnehmer sein. Sie sollen sich sehr stark engagieren,<br />

sie müssen das Problem (er)leben, damit sie es später für<br />

sich annehmen können. Damit das möglich wird, müssen<br />

sie ohne Zurückhaltung dabei sein, sich darauf einlassen,<br />

sich einfach hingeben.<br />

Trotzdem braucht man sich keine Sorgen zu machen:<br />

Das Lachen wird sich auf jeden Fall durchsetzen - vor<br />

allem, wenn vier oder fünf Männer in der Gruppe sind.<br />

Tatsächlich fühlen sich die Männer in unserer Gesellschaft<br />

50 51


viel sicherer als die Frauen - (...vielleicht auch weniger in<br />

Konkurrenz?). Deshalb können sie sich darauf einlassen<br />

Witze zu machen, ohne hinterher zu sehr eine herabsetzende<br />

Bewertung fürchten zu müssen. Vielleicht sind sie<br />

einfach nur mit sich selbst zufrieden. Oder die Meinung<br />

der anderen rangiert für sie erst an zweiter Stelle. Aus<br />

welchem Grund auch immer, die Wirklichkeit ist einfach<br />

die: Wenn Männer anwesend sind, kommt es beinahe automatisch<br />

zum Rückzug in den Humor, zu einer Distanzierung<br />

und - wer weiß - vielleicht sogar zu einer Abwehr<br />

und einer Verteidigung. Jedenfalls ist das Witzemachen<br />

ein Kennzeichen der Gruppen mit Män nern. Aber glücklicherweise<br />

können auch die Frauen lachen. Sie fangen oft<br />

nicht als erste an, aber sie schaffen es, die Stimmung aufrechtzuerhalten.<br />

Und es macht mich glücklich, wenn ich<br />

sie so lachen sehe.<br />

Aber wodurch wird dieses Lachen ausgelöst? Manchmal<br />

reicht eine winzige Kleinigkeit aus:<br />

„Jean-Marc, warum hast du das gemacht, ABE + 150 =<br />

eintausendeinhundertzwanzig?“<br />

„Ich weiß nicht, ich war eigentlich noch nicht fertig.<br />

Aber Paul hat mir gesagt, ich solle das schon mal an die<br />

Tafel schreiben.“<br />

Hier deutet sich ein Angriff auf die ‘Macht’ an, und das<br />

bringt uns immer zum Lachen. Aber meistens sind es drollige<br />

Kommentare, die sich auf die eine oder die ande re Erfindung<br />

beziehen. Das geht übrigens ziemlich schnell los.<br />

Ob damit ausgedrückt werden soll, dass man sich nicht so<br />

schnell auf die ernsthafte Arbeit einlassen möchte? Oder<br />

will man damit seine Unabhängigkeit kundtun?<br />

Aber eigentlich sind die Leute ja gekommen um etwas<br />

zu lernen. Und wenn sich einer immer nur lustig macht,<br />

ist er über kurz oder lang schlecht angesehen, weil man ja<br />

schließlich weiter kommen und nicht auf einem so niedrigen<br />

Niveau bleiben will. Aber glücklicherweise berührt<br />

man mit der Mathematik immer etwas wirklich Ernsthaftes,<br />

und so werden es die Leute nicht zulassen, dass<br />

so ein kleiner Witzbold sie auf ihrem Weg behindert. Und<br />

falls er nicht aufhört, werden sie ihm mit wütenden Blicken<br />

zu verstehen geben, dass er nervt.<br />

Also muss ich ihn jetzt verteidigen und bausche die Situation<br />

noch ein bisschen auf:<br />

„Jean-Marc ist für uns sehr nützlich, weil er zur Gesundheit<br />

der Gruppe beiträgt. Auf der Ebene des Wissens<br />

taugt er vielleicht nicht viel. Aber dafür fallen ihm immer<br />

wieder irgendwelche Eulenspiegeleien ein.“<br />

So kann ich das Lachen anheizen. Ich habe keine<br />

Hemmungen, solche Töne anzuschlagen, denn im Allgemeinen<br />

kann derjenige, der sich gelassen so stark exponieren<br />

konnte, auch viel einstecken. Wir können nur noch<br />

seine Zufriedenheit und sein heiteres Gesicht bewundern.<br />

(Ein einziges Mal hatte ein Lehramtsstudent aus Draguignan<br />

nicht begriffen, dass ich nur Sprüche machte, obwohl<br />

sie aus meiner Sicht so übertrieben waren, dass man<br />

sie nicht ernst nehmen konnte. Ich hatte mich anschließend<br />

darum bemüht ihn zu beruhigen und ihm zu sagen,<br />

welche Meinung ich tatsächlich von ihm hatte. Mir war<br />

nämlich vorher entgangen, dass hier besondere Umstände<br />

vorlagen: Er hatte gerade sein Studium begon nen und befürchtete<br />

zu Recht, von seinen Kommilitonen als Kasper<br />

abgestempelt zu werden. Seither achte ich immer darauf,<br />

dass eine gelöste Stimmung erhalten bleibt.)<br />

Sobald ich mich also für den Tageshelden Jean-Marc<br />

eingesetzt hatte, konnte ich meine Theorien entwickeln:<br />

„Eines ist unbestreitbar: Eine gute Gesundheit begünstigt<br />

das Lernen. Jeder weiß aus eigener Erfahrung, dass<br />

man besser lernt, wenn man sich gut fühlt. Es handelt sich<br />

hierbei also, um es präziser zu sagen, um ‚eine gute Gesundheit’<br />

im ganzheitlichen Sinne. Das entspricht dem<br />

Bemühen der <strong>Freinet</strong>-Pädagogik, den Menschen in seiner<br />

52 53


Ganzheit zu erfassen. Seit 1949 spricht Célestin <strong>Freinet</strong><br />

in sei nem Buch: L‘éducation du travail‘ von der Notwendigkeit<br />

einer guten physischen Gesundheit (<strong>Freinet</strong> 1949).<br />

Darü ber waren wir befremdet:<br />

‘Was denn nun noch? Was haben wir als Lehrer mit<br />

der physischen Gesundheit zu tun? Das ist überhaupt nicht<br />

unsere Aufgabe. Wir müssen Lesen, Rechnen und Rechtschreibung<br />

unterrichten. Wir werden uns doch nicht zusätzlich<br />

in den sechs Stunden, die wir täglich Unter richt<br />

haben, auch noch mit der Gesundheit der Kinder be fassen.<br />

Das ist nicht unsere Arbeit. Das ist ausschließlich Aufgabe<br />

der Eltern.‘<br />

Aber uns ist bald bewusst geworden, dass - wenn ein<br />

Kind krank ist, wenn es schlecht geschlafen hat, wenn<br />

es zu viel oder zu wenig gegessen hat, wenn es müde ist,<br />

wenn es ..., - es einfach nicht gut lernen kann. Wenn es<br />

aber lacht, ist es ein sicheres Zeichen dafür, dass es sich<br />

wohl fühlt und gesund ist. Das weiß inzwischen nahezu<br />

jedes Kind. Aber das ist nur ein Aspekt der globalen<br />

Gesundheit. Es gibt nämlich auch die intellektuelle Gesundheit,<br />

die psychologische Gesundheit und die ‚soziale‘<br />

Gesundheit, die in ständiger Interaktion mitein ander verbunden<br />

sind. Wenden wir uns der ersten mit dem Beispiel<br />

einer ziemlich dramatischen Begebenheit zu:<br />

„Seit drei Tagen halten vier Personen im Leichenschauhaus<br />

eines Krankenhauses die Totenwache bei einem<br />

17-jährigen Jugendlichen, der sechs Monate nach dem Tod<br />

seines Vaters (der durch einen Autounfall starb) ebenfalls<br />

von einem Auto getötet wurde. Eine Fliege kommt, eine<br />

Person macht eine ungeschickte Geste, um die Fliege wegzujagen.<br />

Da bricht die Mutter des Kindes in Lachen aus.“<br />

Das Beispiel zeigt, dass der menschliche Geist es selbst<br />

unter den schlimmsten Umständen nicht schafft, in dauernder<br />

Anspannung zu verharren.<br />

Übrigens hat wohl jeder irgendwann einmal das irr-<br />

witzige Lachen erlebt, das einen einfach so während einer<br />

Trauerzeremonie überfällt. An dieser Stelle warne ich die<br />

Teilnehmer:<br />

„Wartet, wir werden schon bald ein Beispiel für dieses<br />

Phänomen hier erleben.“<br />

Dann leite ich zum Kapitel des Wahnsinns über. Aber,<br />

siehe da, kaum habe ich begonnen, fängt die Gruppe an zu<br />

lachen; denn ich habe mich verhaspelt, weil jemand gehustet<br />

hat, weil ein Stuhl gequietscht hat, weil jemand zu spät<br />

herein gekommen ist, kurzum aus einem nichti gen Anlass,<br />

der in keinem Verhältnis zur Intensität des Lachens steht,<br />

das er hervorgerufen hat. Es ist so ein drucksvoll, dass ich<br />

meine Schlussfolgerungen zum Besten geben muss:<br />

„Wie ihr seht, braucht man nicht lange zu warten. Die<br />

Geschichte, die ich euch erzählt habe, und das Stück Theorie,<br />

das ich euch vorgetragen habe, haben euch mit ihrer<br />

Ernsthaftigkeit und Schwere in eine Anspannung versetzt.<br />

Das konnte nicht so weitergehen. Und ihr habt den erstbesten<br />

Anlass genommen, um diese Anspannung zu lösen.<br />

Denn in Wirklichkeit war der Witz von Jean-Marc nicht<br />

toll. Jedenfalls rechtfertigte er kaum das große Lachen,<br />

mit dem ihr ihn quittiert habt. Aber es hat ausge reicht um<br />

mit dem Lachen anzufangen.“<br />

Natürlich protestiert Jean-Marc: „Pass auf, Paul, das ist<br />

das zweite Mal, das du mich festnagelst. Und außerdem ist<br />

deine Theorie falsch.“<br />

Dadurch verdoppelt sich das Lachen. Jetzt sind die Leute<br />

in so guter Stimmung, dass sie ihre ganze Aufmerk samkeit<br />

dem widmen können, was ich jetzt sagen möchte:<br />

„Man hat lange geglaubt, dass der Mensch ein ‚homo<br />

sapiens‘ ist. Aber viele Forscher (Atlan, Morin und noch<br />

andere) sagen, dass das wahre Wesen des Menschen das<br />

des ‚homo sapiens demens‘ ist; d.h., dass er zwischen zwei<br />

Extremen steht, zwischen dem Anspruch nach Weisheit<br />

(womit Wissenschaftlichkeit und Besonnenheit gemeint<br />

54 55


ist) und dem entgegengesetzten Hang zur Verrücktheit.<br />

Wenn man einem der beiden Pole sehr nahe kommt, dann<br />

wird man von dem anderen angezogen, so, als ob man<br />

etwas kompensieren oder neutralisieren oder ein Gleichgewicht<br />

herstellen müsste.<br />

Und da liegt genau der Irrtum der Schule, die das<br />

Kind nicht in seiner Ganzheitlichkeit akzeptiert, so, wie<br />

es <strong>Freinet</strong> immer getan hat. (Nebenbei bemerkt, hatte er<br />

viel Humor.) Die Schule hat eine klare Trennungslinie<br />

zwischen Denken und Blödsinn gezogen. Das erste ist für<br />

die Schule reserviert und das zweite für die Pause, für zu<br />

Hause, für den Sonntag, für die Ferien. Aber die Kinder<br />

können die Suche nach ihrem Gleichgewicht nicht so lan ge<br />

hinausschieben.<br />

Außerdem klassifiziert die Schule die Dinge danach, ob<br />

sie schulisch wertvoll sind oder nicht. Aber wenn sie das<br />

Kind auf diese Weise zwingt ernsthaft zu bleiben, muss es<br />

ersticken und leiden, kann es nicht entspannen und nicht<br />

aufnahmebereit sein; kurzum, es ist intellektu ell nicht gesund.<br />

Und dadurch werden die Schwierig keiten, das zu<br />

lernen, was man ihm vorsetzt, noch größer, zumal es oft<br />

eine Nahrung ist, die es nicht selbst gewählt hat. Vielleicht<br />

können wir jetzt den Kindern nachempfin den und ermessen,<br />

wie schlimm die ganze Situation für sie ist.<br />

Und deshalb muss der Lehrer, um effizient arbeiten zu<br />

können, selbst die Rolle des Gruppen-Clowns übernehmen,<br />

wenn niemand in der Gruppe diese Rolle übernimmt.“<br />

Und damit wir unsere Aufnahmefähigkeit nach die sem<br />

zu ernsthaften Vortrag wiederfinden, vergesse ich meistens<br />

nicht hinzuzufügen:<br />

„Zum Glück können wir hier in dieser Beziehung beruhigt<br />

sein. Wir haben hier ja einige, die ein bisschen Verrücktheit<br />

säen. Zumindest helfen sie uns dabei.“<br />

Nun möchte ich mein Verhalten in diesem Fall ein<br />

wenig erläutern; denn einige werden mich der Manipulation<br />

beschuldigen. Es stimmt, dass ich eine klare Vorstellung<br />

von dem habe, was ich den Leute bewusst machen<br />

möchte. Es stimmt, dass ich Erfahrung mit Gruppen<br />

habe, dass ich bestimmte Phänomene immer wieder habe<br />

auftauchen sehen, dass ich gelernt habe sie zu berücksichtigen,<br />

wenn sie auftreten, dass ich sie her vorrufen kann,<br />

wenn es notwendig ist. Kurzum, es stimmt, dass ich manipuliere.<br />

Aber ist das nicht das Los eines jeden Erziehers?<br />

Sie haben Ziele, sie haben Pflichten. Und liegt darin nicht<br />

genau das Ziel der Pädagogik, andere dazu zu bringen,<br />

sich ein Maximum an Wissen so effektiv wie möglich anzueignen?<br />

Wenn ich schon nicht umhinkomme, ein bisschen<br />

schuldig zu wer den, weil ich so leichter mein Ziel erreiche,<br />

dann gehört es für mich auf jeden Fall dazu, meine<br />

Manipulation zu gestehen:<br />

„Ihr seht, wie ich es gemacht habe. Habt ihr meine Taktik<br />

begriffen?“<br />

Aber manchmal wende ich eine weitere Taktik an.<br />

„Nun gut, da die Frage bereits gestellt wurde, werden<br />

wir jetzt von der Macht sprechen.<br />

56 57


Macht durch Wissen<br />

Wenn es eine Sache gibt, die während der vielen Kurse,<br />

die ich abgehalten habe, immer wieder aufgetaucht ist,<br />

dann war es die Frage nach der Macht durch Wissen. Eigenartigerweise<br />

(aber ist das überhaupt verwunder lich?)<br />

taucht sie wie selbstverständlich am Anfang auf, sobald<br />

einige Männer in der Runde sitzen. Bereits im Kapitel<br />

über das Lachen habe ich die Rolle der Männer angesprochen,<br />

aber auch an dieser Stelle muss man über sie reden<br />

und zwar vor allem über ihre intellektuelle Rivalität. Natürlich<br />

kann diese auch bei Frauen in Erscheinung treten,<br />

aber sie lässt sich wesentlich schwie riger herausarbeiten,<br />

weil sie sich nicht so klar und deutlich aufdrängt. Damit<br />

kein Missverständnis entsteht, möchte ich klarstellen, dass<br />

ich mich in diesem Punkt auch zu den Gefangenen des<br />

Systems zähle.<br />

Ein Ereignis in Perugia hat mir klargemacht, dass auch<br />

ich zu der Spezies ‘Mann’ gehöre: Ehe ich nach Italien<br />

fuhr, hatte ich mir die Mühe gemacht, dreimal den Assimil<br />

(ein Programm zum Lernen von Fremdsprachen,<br />

Anm. d. Übers.) zu lesen und dreimal die Kassetten anzuhören.<br />

Also kam ich ungefähr mit dem Italienischen<br />

zurecht. Aber meine Frau hatte nicht derart vorgesorgt; sie<br />

verließ sich auf die Übersetzer. Da diese aber nicht dauernd<br />

anwesend waren, stand sie sehr bald ohne Hilfe da.<br />

Dennoch, eines Tages sieht sie am Ende einer Sackgasse<br />

ein Schild: ‚Vigili del Fuoco‘. Beglückt, dass sie es endlich<br />

geschafft hat, etwas ganz alleine zu verstehen, stürzt sie<br />

auf mich zu, um mich zum Zeugen ihrer Entdeckung zu<br />

machen. Aber ehe sie auch nur den Mund öffnen kann,<br />

platze ich los: „Feuer wehr“. Auf diese Weise habe ich ihr<br />

- wahrscheinlich nicht das erste Mal - die Freude daran<br />

verdorben, dass sie sich ihr Wissen selbst erobert hatte,<br />

ohne dass sie irgend jeman dem, wer immer es auch sei, zu<br />

Dank verpflichtet wäre.<br />

In den Gruppen kommt es nicht selten vor, dass die<br />

erste Demonstration eines Wissensvorsprungs oft von<br />

Ausrufen oder Pfiffen der Bewunderung begleitet wird<br />

-manchmal freilich ironisch gemeint. Aber die Reaktion<br />

ist manchmal doch stärker: In Turin hat uns Georges<br />

unun terbrochen zum Lachen gebracht, indem er mit einer<br />

nahezu italienischen Begeisterung immer wieder an die<br />

Tafel gestürmt ist, um uns zu zeigen, dass er der erste war,<br />

der herausgefunden hatte, was ein bestimmtes Wort in Esperanto<br />

bedeutete. (17)<br />

Aber sehr bald werde ich gefragt: „Und du, was macht<br />

dir Freude?“<br />

Ich gebe es unumwunden zu: Wenn ich schon bereit<br />

bin, von einem Seminar zum nächsten zu gehen, möchte<br />

ich natürlich die Freude genießen und die Anerkennung<br />

auskosten, die man meinem herausragenden Wissen zollt.<br />

So wie es überall und jeden Tag Millionen von Forschern,<br />

Professoren und Intellektuellen tun. Und ich frage mich,<br />

ob ich mit dem Löwen als Sternzeichen nicht mehr als andere<br />

für diese Krankheit anfällig bin.<br />

So etwas kann man in einer entspannten Atmosphäre gut<br />

sagen. Aber manchmal entwickeln sich eher gegenteili ge<br />

Gefühle. Besonders deutlich erlebte ich dies in Le Bourget.<br />

In der Pause, nach einer längeren Ausführung über die<br />

Macht durch Wissen, schrieb ich - noch etwas erschöpft -<br />

einen Text in Stenographie an die Tafel, als eine Teilnehmerin,<br />

die sich bis dahin kaum beteiligt hatte, her einkam.<br />

Sofort überfiel sie ihre Nachbarin mit einem nicht enden<br />

wollenden Vortrag über die Stenographie, die sie per fekt<br />

beherrschte. Die Nachbarin interessierte es wenig. Und ihr<br />

war angesichts dieser anschaulichen Demonstration der<br />

(17) Da es hier vor allem darum geht, die natürliche Methode herauszuarbeiten,<br />

zögere ich nicht, auch Beispiele aus Workshops zum<br />

Fremdsprachen lernen usw. heranzuziehen.<br />

58 59


von mir zuvor gemachten Ausführungen genauso unbehaglich<br />

wie den anderen Anwesenden zumute.<br />

Offensichtlich kann man das Bedürfnis, sein Wissen<br />

oder seine Fähigkeiten zu zeigen, kaum unterdrücken.<br />

Bei der Veranstaltung in Verviers z.B. war jedem klar,<br />

dass man den Esperanto-Satz, den man sich selbst ausgedacht<br />

hatte, nicht auch noch selbst übersetzen sollte - man<br />

konnte die anderen probieren lassen. Aber eine Schulrätin<br />

konnte nicht an sich halten. Als der Text ihres Nachbarn<br />

(ebenfalls ein Schulrat) an der Reihe war, verkündete sie<br />

laut die Übersetzung, obwohl klar war, dass sie nicht selbst<br />

darauf gekommen war, denn sie hatte zuvor mit ihm darüber<br />

diskutiert. Sie wusste: Natürlich war das nicht recht,<br />

nicht anständig; so etwas tut man einfach nicht! Und ganz<br />

rot vor Verwirrung hat sie unter dem Lachen der anderen<br />

jammervoll eingestanden, dass sie nicht anders konnte.<br />

Die Frage nach dem Macht-Wissen wird übrigens rasch<br />

offensichtlich, wenn man Rätsel stellt. Man kann den<br />

Menschen zwar immer wieder sagen:<br />

„Natürlich behält derjenige, der die Lösung vorher<br />

kannte, diese für sich. Es ist verboten vorzusagen.“<br />

Es kommt selten vor, dass nicht wenigstens einer die<br />

Lösung vorsagt. Aber warum legt derjenige, der das Rätsel<br />

stellt, so viel Wert auf das Schweigen derjenigen, die<br />

das Geheimnis kennen? Weil sie sonst seine Freude schon<br />

im Keim ersticken würden. Damit diese Erfahrung auch<br />

richtig bewusst werden kann, stelle ich bei italieni schen<br />

Lehrern öfter ein Rätsel, das ich aus dem alten Assimil<br />

habe, der 40 Jahre alt ist:<br />

„AM, altini (Groß, weniger groß<br />

Tante uova, tanti nidi So viele Eier, so viele Nester<br />

Tanti nidi, tante uova So viele Nester, so viele Eier.<br />

A indovinarlo, prova.“ Versuch es herauszufinden.)<br />

Da es sehr alt ist, kennt es niemand mehr. Und ich spiele<br />

dann vollkommene Zufriedenheit und freue mich sichtlich<br />

über meine Überlegenheit: „Ich, ich weiß es.“<br />

Wenn ich die Lösung (die Eichel) bekannt gebe, sind die<br />

Reaktionen sehr unterschiedlich. Aber ich halte mich nicht<br />

lange damit auf, sondern frage sofort, ob nicht je mand ein<br />

anderes Rätsel kennt. In der Pädagogischen Hoch schule<br />

von Trento erhob sich ein Mädchen und sagte:<br />

„Aäagino, Pianino (Adagino, Pianino<br />

se ne vanno gehen fort<br />

nel giardino in den Garten.<br />

Quanti sono ? „ Wieviele sind es?)<br />

Die Leute sahen sich an und wollten gerade ihre Niederlage<br />

eingestehen, als eine Frau sich erhob und die Lösung<br />

sagte. (Die Antwort ist vier, weil man auch Ada, Gino, Pia<br />

und Nino sagen kann.)<br />

„Das stimmt“, sagte das Mädchen und setzte sich hin.<br />

Ich versuchte ihre Haltung zu imitieren:<br />

„Habt ihr gesehen, wie sie gesagt hat: ‚Das stimmt‘?<br />

Sie hat nicht gesagt: ‚Bravo!‘ und hat nicht in die Hände<br />

geklatscht. Nein, sie hat sich hingesetzt und ein enttäuschtes,<br />

unzufriedenes Gesicht gemacht, ungefähr so.<br />

Und das ist ganz normal so, denn diese Kollegin hat ihr<br />

den Boden unter den Füßen weggezogen. Sie hat sie ihrer<br />

Macht beraubt.“<br />

Inzwischen mache ich mir oft einen Spaß daraus, in<br />

Ermangelung eines anderen Rätsels dieses zu stellen, die<br />

Lösung aber der ersten Reihe vorzusagen. Die Reaktionen<br />

sind immer sehr aufschlussreich.<br />

Sie sind übrigens manchmal sehr heftig. In Cuneo hat te<br />

diejenige, die als erste ein Rätsel wusste, gerade erst angefangen,<br />

es zu stellen, als sich schon drei Frauen mel deten,<br />

um die Lösung zu sagen. Natürlich habe ich die Gunst der<br />

60 61


Stunde genutzt, um zu erläutern, was sich hier abspielte.<br />

Die erste wollte gerade die Macht über die drei anderen<br />

sowie über die Gruppe übernehmen. Das war nicht akzeptabel.<br />

Sie mussten die Macht sofort zerstören, indem sie<br />

zeigten, dass sie nicht nur die Lösung, sondern auch den<br />

genauen Wortlaut des Rätsels kannten.<br />

Diese Reaktion auf die Gefahr des Beherrscht-Werdens<br />

durch das Wissen der anderen, tritt immer wieder auf.<br />

Man braucht nur den Unterhaltungen in den Familien, im<br />

Restaurant, im Bus, im Zug usw. zu lauschen um festzustellen,<br />

dass es ein allgemeines Phänomen ist. Ich hatte<br />

übrigens die Gelegenheit festzustellen, dass es auch auf<br />

mich zutrifft. Stolz auf meine wenigen Italienischkenntnisse,<br />

amüsierte ich mich eine Weile mit dem Spiel, bei<br />

jeder sich bietenden Gelegenheit den Ausdruck ‚lo so, lo<br />

sapevo‘ (ich weiß es, ich wusste es) zu benutzen. Aber<br />

dann bemerkte ich, dass ich ihn nicht nur im Spiel benutzte<br />

. Und jetzt, wo ich sensibler darauf achte, höre ich<br />

überall sagen: „Ich weiß“ und außerdem noch:<br />

„Oh! Das weiß ich schon seit langem!“<br />

„Du sagst uns nichts Neues!“<br />

„Was bildest du dir ein?“<br />

„Wir brauchten dich nicht um das herauszufinden.“<br />

„Wir sind schon lange auf dem Laufenden.“<br />

„Das wissen wir doch alle schon.“<br />

„Du musst immer mit deiner Wissenschaft kommen.“<br />

Natürlich findet man dies auch bei Kindern wieder,<br />

diesen großen Rätselexperten.<br />

Ich denke da z.B. an Philippe (8 Jahre alt), der eine mathematische<br />

Erfindung gemacht hatte:<br />

„Ich habe sechs Schildkröten und vier Salatköpfe. Eine<br />

Schildkröte nimmt einen Salat oder zwei. Welche nimmt<br />

welche?“<br />

Also haben seine Mitschüler viele irgendwie zufällige<br />

Lösungen vorgeschlagen. Aber jedes Mal antwortete er<br />

mit nein. Schließlich gab die ganze Klasse auf: „Sag es<br />

uns, Philippe.“<br />

„Nun gut, es waren die dritte und der vierte.“<br />

„Aber wie sollten wir das rauskriegen, wenn du uns<br />

nicht genügend Auskünfte gibst?“<br />

„Ja richtig, aber ich, ich wusste es.“<br />

Dieses Kind hatte große Schwierigkeiten in der Beziehung<br />

zu seiner Mutter, die es erdrückte. Und es musste<br />

lange an der kunstvollen Konstruktion eines ganz persönlichen<br />

Wissens arbeiten, ehe es aufnahmebereit für die<br />

Beziehungen war, die zwischen den Dingen (Zahlen, Formen,<br />

Figuren usw.) bestehen. Ehe es Zugang zur objektiven<br />

Mathematik haben konnte, musste es durch seine<br />

subjektive Mathematik hindurchgehen. Und die Mathematik<br />

von Philippe war voll von Rätseln. (Hier auch wieder<br />

die Macht desjenigen, der die Rätsel stellt und durch<br />

die Macht seines Wissens herrscht.) Er war unter ande rem<br />

der Älteste in einer Geschwisterreihe und hatte ein starkes<br />

Bedürfnis, die wiederholten Machtverluste zu kompensieren.<br />

Es mag ein extremes Beispiel sein, aber so etwas<br />

kommt viel öfter vor, als man glaubt. (18)<br />

Wenn jemand ein herausragendes Wissen zeigt, das<br />

die Bewunderung herausfordert, zeichne ich sofort einen<br />

Strich an die Tafel und sage:<br />

(18) Eine so umwerfende Feststellung schockiert den Leser vielleicht.<br />

Aber wir haben eine über 30-jährige stete Erfahrung mit die sem<br />

psychologischen Phänomen, (vergl. auch Baruk 1985)<br />

62 63


„Also, dort waren wir vorher:<br />

Und hier sind wir jetzt:<br />

Jean-Luc hat die Aufmerksamkeit von allen auf sich<br />

gezogen.”<br />

Alsbald lässt ein Witzbold in der Menge einen Witz los.<br />

Ich zeichne sofort einen zweiten Pfeil und sage:<br />

„So das war‘s; die beiden sind beruhigt. Sie wissen<br />

genau, woran sie sind: Der erste kann sein Wissen darlegen<br />

und der andere ist zumindest begabt, andere zum Lachen<br />

zu bringen.“<br />

Wir arbeiten an der Untersuchung der Erfindungen<br />

weiter und ziemlich bald habe ich die Gelegenheit, einen<br />

dritten Pfeil zu zeichnen. Ich nutze die nun heitere und<br />

entspannte Atmosphäre der Gruppe aus, um den zweiten<br />

Teil meines Vortrages zu halten:<br />

Wir sind ‘homine capitalisti’, also Kapitalisten. Und im<br />

kapitalistischen System kommt man schnell dazu, sich die<br />

Frage nach dem eigenen Wert zu stellen: „Wie viel bin ich<br />

persönlich wert? Wer sagt es mir?“<br />

Oft ist mit diesen Fragen eine nicht unerhebliche Beunruhigung<br />

verbunden. Sie grenzt manchmal sogar an<br />

Angst. Und wie kommt man zu einer Antwort? Man lauert<br />

auf eine Bewertung der eigenen Produkte und des eige nen<br />

Handelns:<br />

„Ach! Wenigstens habe ich dies tun oder jenes sagen<br />

können!“<br />

Aber vor allem möchte man wissen, wie gut man im<br />

Vergleich zu den anderen ist. Und manchmal ist man er-<br />

leichtert, wenn man entdeckt, dass jemand noch schlech ter<br />

ist als man selbst. Man ist ängstlich darauf bedacht zu erkennen,<br />

welchen Stellenwert man in den Gruppen, denen<br />

man angehört, einnimmt. Und wenn jemand sich vor den<br />

anderen hervortut, dann wird er natürlich selbst sicherer.<br />

Und das beunruhigt sofort die anderen.<br />

Wenn man nun von diesem Pfeil ausgeht<br />

so ergeben sich zwei Möglichkeiten.<br />

Entweder kann man ein ‘homöostatisches‘ Gleichgewicht<br />

wieder herstellen, indem man sich auf die Höhe<br />

dieses Niveaus zieht.<br />

Und genau dies hat Michel getan, als er gezeigt hat, dass<br />

er die Gruppe zum Lachen bringen konnte. Damit kommt<br />

er vielleicht nicht an die Bemerkung von Jean-Louis<br />

heran. Aber am Anfang ist man noch nicht so wäh lerisch:<br />

Man hat es geschafft, sich von den anderen abzu heben.<br />

Das kann man auf jeden Fall als Plus verbuchen. Und man<br />

genießt es so sehr, dass man versucht sein könnte, solche<br />

Scherze während der restlichen Dauer der Sitzung immer<br />

wieder zu machen. Wie das Kind, das es durch Zufall geschafft<br />

hat, andere zum Lachen zu brin gen.<br />

Oder es gibt eine zweite Möglichkeit: Man kann das<br />

Gleichgewicht herstellen, indem man denjenigen zurecht-<br />

stutzt, der sich hervorgetan hat.<br />

Manchmal<br />

sind alle Mittel recht.<br />

Man schreit durcheinander: „Er hat geschummelt!“<br />

„Natürlich, er ist Mathe-Lehrer.“<br />

„Das ist nicht sein Verdienst.“<br />

„Er hat in einem Buch nachgeguckt.“<br />

„Er hat das studiert.“<br />

Aber ich versuche beim Anzeichnen der Pfeile großzügig<br />

zu sein. Die Möglichkeiten zum Erfolg sind so breit<br />

gefächert, dass viele schnell auf ihre Kosten kommen.<br />

Und die Leute lachen. Sie fordern ihren Pfeil ein. Und die Atmosphäre<br />

ist so gut, dass man wie ausgewechselt er scheint: Die<br />

64 65


Frage nach der Bewertung stellt sich nicht mehr. Man ist damit<br />

zufrieden, glücklich, entspannt und in perfekter Harmonie mit<br />

der übrigen Gruppe zu sein. Und folglich ist man auch empfänglich<br />

und ausgeglichen und kann die Dinge ruhig, objektiv<br />

und wissenschaftlich betrachten.<br />

Zumindestens läuft es im Allgemeinen so ab. Aber auf dem<br />

R.I.D.E.F. (19) in Dänemark habe ich etwas Beson deres erlebt.<br />

Da die Voraussetzungen günstig waren, habe ich verwegen ein<br />

Atelier ‚Dänisch lernen mit der natürli chen Methode‘ vorgeschlagen.<br />

Jeder Teilnehmer plapper te irgend etwas. Die Dänin<br />

Lina Nielsen hörte aufmerk sam zu und sobald sie ein dänisches<br />

Wort hörte, machte sie darauf aufmerksam und schrieb<br />

es an die Tafel. Zum Beispiel habe ich losgeplappert: „schtrine<br />

tom gram ver ström gur.“ „Ah, du hast ‚ström‘ gesagt, damit<br />

ist Strom (wie bei ‚Golfstrom‘) gemeint. Ich schreibe es an die<br />

Tafel.“<br />

Auf diese Weise hatte bald jeder der fünfzehn Teil nehmer<br />

sein eigenes Wort. Und dann haben wir in dieser Art weitergearbeitet.<br />

Am Ende der Tagung, genau in der letzten Sitzung,<br />

habe ich alles aufgezählt, was sich noch hätte ereignen können<br />

und auch zur natürlichen Methode gehört. Als ich dabei zum<br />

Thema des weiten und des engen Bewusstseins kam, rief Diva,<br />

die junge Brasi lianerin aus: „STRAMM!“<br />

Wir sind hochgeschreckt und haben uns verblüfft angesehen.<br />

Was ist los? Was hat sie gepackt? Warum hat sie so geschrieen?<br />

Und Diva hat es uns so erklärt:<br />

„Stram, das <strong>heißt</strong> eng. Es ist das erste dänische Wort,<br />

das ich am Anfang des Seminars gefunden hatte.<br />

Paul hat gesagt, dass es wichtig ist, dass jeder aus irgendeinem<br />

Grunde von der Gruppe anerkannt würde:<br />

durch seine Anständigkeit, die Hilfe, das Lachen, das<br />

(19) R.I.D.E.F.: ‘Rencontre Internationale des Educateurs <strong>Freinet</strong>’:<br />

Internationale Tagung der <strong>Freinet</strong>-Pädagogen. Sie findet alle zwei Jahre in<br />

wechselnden Ländern statt. (Anm. d. Übers.)<br />

Wissen, das Teilen usw. Aber ich habe mir während die ser<br />

ganzen Tage immer wieder gesagt: ‚Die anderen kön nen<br />

etwas, aber ich tauge zu nichts. Ich habe mich bei kei ner<br />

Gelegenheit hervortun können.<br />

Ich war sauer und zornig auf mich selbst. Und außer<br />

mir waren alle anderen lustig und entspannt. Sie waren<br />

alle von der Gruppe akzeptiert.<br />

Paul merkte aber nichts und fuhr mit seiner Zusammenfassung<br />

fort. Wir hatten nur noch eine halbe Stunde<br />

für die gemeinsame Arbeit. Einmal mehr hatte ich meine<br />

Gelegenheit verstreichen lassen. Auf alle Fälle war es zu<br />

spät, es war verpatzt.<br />

Aber als Paul das Wort ‘etroit’ (eng) aussprach, kam<br />

mir das dänische Wort wieder in den Sinn, und ich habe<br />

es, so laut ich konnte, aus mir rausgeschrieen, ohne dass<br />

ich mir dessen bewusst war, so glücklich war ich, dass ich<br />

jetzt auch für die Gruppe existierte.“<br />

Ihr könnt es ruhig glauben, dass wir es nicht nötig hatten,<br />

dieses Ereignis aufzuschreiben um es in Erinnerung<br />

zu behalten. Wir haben kapiert, dass sie wirklich gelitten<br />

hatte.<br />

Ich brauchte einige Zeit, um die Bedeutung dieser<br />

Angelegenheit zu verstehen. Ich habe mir lange Zeit eingebildet,<br />

dass es einen (unausgesprochenen) Konsens gibt,<br />

nämlich dass es sich in den Sitzungen lediglich um eine<br />

Simulation handelt. In meiner Vorstellung ist mir klar gewesen:<br />

Es ist alles nur zum Spaß. Und nun? Nun scheint es<br />

so zu sein, dass man nicht auf der Ebene des Spiels bleiben<br />

kann. Die Teilnehmer lassen sich sofort viel intensiver darauf<br />

ein, als ich es vermutet hätte.<br />

So war es z.B. auch bei Veronique, einer Teilnehmerin<br />

bei einem anderen Seminar. Sie kam in der Pause zu mir<br />

und sagte:<br />

„Das, was die Gruppe gerade herausgefunden hat, das<br />

hatte ich aber zuerst herausgefunden. Warum hast du es<br />

66 67


nicht allen gesagt?“<br />

„Weil du zu schnell warst. Das Phänomen, auf das ich<br />

aufmerksam machen wollte, war noch nicht aufgetreten.“<br />

„Ach, ich verstehe. Aber weißt du, für mich ist das ungeheuer<br />

wichtig. Es hat mich sehr stark belastet, dass Du<br />

meine Entdeckung nicht anerkannt hast. Offen sichtlich<br />

mache ich denselben Fehler auch in meiner eige nen Klasse.<br />

Von nun an werde ich mehr darauf achten.“<br />

Nach der Pause habe ich erzählt, dass Veronique zu<br />

mir gekommen sei, weil sie die Erste war, die das Gesetz<br />

gefunden hatte. Alles platzte vor Lachen. Ihr offensichtlich<br />

kindliches Verhalten war eine unmittelbare Illustration<br />

dessen, was gerade herausgearbeitet wurde. „Wartet,<br />

wartet, wir werden ihr das Wort geben.“<br />

Veronique hat dann noch einmal allen ihre starke emotionale<br />

Reaktion erklärt und ihre Absicht erläutert, noch<br />

aufmerksamer das zu verfolgen, was in ihrer Klasse passiert.<br />

In derselben Gruppe haben wir uns lange über den<br />

Ausspruch „Das ist ungerecht“ unterhalten, als ich die<br />

Leistung einer Teilgruppe herausgestellt hatte und der<br />

Rest sich benachteiligt fühlte. Ich führe die Seminare bewusst<br />

so durch, dass diese Erfahrungen möglich wer den.<br />

Die Teilnehmer erleben selbst, welche Verhaltens weisen<br />

beim Lernen in der Gruppe auftreten und welche Irrtümer<br />

man als Lehrer begehen kann.<br />

In meinen Seminaren versäume ich es nur selten, die<br />

Geschichte von der jungen Brasilianerin zu erzählen. Natürlich<br />

kann das nicht so intensiv nachvollzogen wer den.<br />

Trotzdem findet jeder bei sich selbst diesen starken Wunsch<br />

nach grundsätzlicher Anerkennung, diesen Wunsch nach<br />

einer guten sozialen Gesundheit (20) wie der.<br />

Dabei weise ich fast immer darauf hin, dass wir in Dänemark<br />

nur drei Stunden pro Tag an sechs Tagen gearbeitet<br />

haben. Dadurch hatte jeder einzelne nur wenig Zeit<br />

gehabt, sich seinen Platz in der Gruppe zu erobern. In der<br />

Klasse liegen die Dinge anders.<br />

Vor allem muss man sich darum bemühen, die Chancen<br />

der Kinder zu vergrößern, indem man jedes in seiner<br />

ganzen Person annimmt. Aber das fordert von den Pädagogen,<br />

dass sie auch andere Fähigkeiten akzeptieren und<br />

sich für neue Bereiche öffnen. Ich habe das auch in meiner<br />

Klasse festgestellt, als ich freie schöpferische Aktivitäten<br />

beim Sprechen, Singen und den Bewegungen zugelassen<br />

habe.<br />

Dabei habe ich einige Überraschungen erlebt. Was mich<br />

am meisten verwunderte, war Jean-Pauls Fortschritt beim<br />

Lesenlernen, nachdem er als der beste Clown aner kannt<br />

worden war. Es scheint, dass sich irgendetwas in ihm gelöst<br />

hat, irgendetwas, das vielleicht mit Angst zu tun gehabt<br />

hatte. Das erinnert mich an eine andere Ge schichte.<br />

Eine Schule aus Saint-fitienne war ins Schul landheim ans<br />

Meer gefahren. Dort wunderte sich die Lehrerin:<br />

„Wenn wir in Saint-Etienne sind, macht Patrick ungefähr<br />

fünfzehn Fehler im Diktat. Und hier macht er kaum<br />

noch welche. Das kann ich mir nicht erklären“.<br />

„Und wie ist er beim Segeln?“<br />

„Beim Segeln? Oh, da ist er der Meister, er gewinnt<br />

einfach alle Regatten.”<br />

„Aha! Könnte das nicht die Erklärung sein?“<br />

Da scheint ein wenig Hexerei im Spiel zu sein. Aber<br />

auf jeden Fall wissen die <strong>Freinet</strong>lehrer, die das Kind in<br />

(20) Die soziale Gesundheit betrifft vor allem die Reaktionen des<br />

Individuums auf die anderen in einer Gruppe, einer Gruppe, von der es<br />

angenommen sein möchte, bewundert, akzeptiert, aner kannt.<br />

68 69


seiner Ganzheitlichkeit wahrnehmen, dass jedweder Erfolg<br />

in einem Bereich eine Verbesserung der Leistungen<br />

in den anderen Bereichen nach sich zieht. Und mit der<br />

natürlichen Methode haben die Kinder so viele Gelegenheiten,<br />

selbstbewusst zu werden, dass der Lehrer sich sehr<br />

bald keine Sorgen mehr macht.<br />

So in seinem Selbstvertrauen gestärkt, entwickelt<br />

man eine neue Bereitschaft, an den vielen verschiedenen<br />

Aktivi täten der Gruppe teilzunehmen und sich Kenntnisse<br />

anzueignen. Dieses Phänomen war besonders bei<br />

dem Lehrerfortbildungskurs in Aix-en-Provence deutlich.<br />

Ein Teilnehmer, Jean-Marie, Ausbilder im Fleischerhandwerk,<br />

kam sich in seiner Gruppe, die von Intellektuellen<br />

dominiert wurde, ein wenig verloren vor. Nun hatte<br />

er herausgefunden, dass das Esperanto-Wort ‘la’ im Französischen<br />

‚la‘ und auch ‚les‘ bedeutet. Und - einmal auf der<br />

Fährte - hatte er entdeckt, dass die beiden französi schen<br />

Begriffe ‚de la‘ und ‚du‘ in Esperanto ‚de la‘ wer den.<br />

Und obwohl er in dieser Gruppe nicht so viele Eisen<br />

im Feuer hatte, so hat er doch einen Bereich gefunden,<br />

der ihm gefiel. Sein erster Fund hat ihm den Weg geebnet.<br />

Danach, selbstsicher geworden, konnte er beruhigt<br />

die Entdeckung der Pronomen in Angriff nehmen. Und<br />

da er dadurch offener wurde, konnte er sich auch für die<br />

Untersuchungen der anderen interessieren und sich ohne<br />

(psychische) Probleme die von der Gruppe erarbeiteten<br />

Ergebnisse aneignen.<br />

Aber bevor ich fortfahre, möchte ich noch einen besonderen<br />

Aspekt von ‚Macht durch Wissen‘ ansprechen: Ich<br />

möchte diejenigen erwähnen, die die Macht nicht mehr<br />

aufgeben wollen, wenn sie sie einmal erobert haben.<br />

Am I.U.T. hat mir ein Professor einmal gesagt:<br />

„Ich habe die Absicht, eine Vorlesung über Linguistik<br />

zu halten und mich dabei auf die Schifffahrtszeichen beziehen.“<br />

„Das ist ausgezeichnet. Die Studenten werden zufrieden<br />

sein, weil sie fast alle segeln.“<br />

„Ja, aber ich nehme die Zeichen der Flussschifffahrt.“<br />

„Aber hier bei uns in der Bretagne gibt es keinen<br />

schiffbaren Fluss.“<br />

„Das macht nichts. Ich weiß aber nur darüber Bescheid.“<br />

„Aber könnten Sie das nicht auf die Seeschifffahrt<br />

übertragen?“<br />

„Aber nein, schließlich habe ich nur über die Flussschifffahrt<br />

gearbeitet.“<br />

Zu diesem Professor kamen nur drei Studenten, später<br />

waren es nur noch zwei. Aber das machte ihm nichts: Er<br />

war genauso zufrieden, als ob er fünfzig gehabt hätte, weil<br />

er seine Rolle spielen konnte.<br />

Gruppenphänomene<br />

Oft sehe ich gleich zu Beginn einer Sitzung zwei Personen,<br />

die miteinander reden. Ich greife das sofort auf: „Halt,<br />

wartet: Hier passiert gerade etwas Wichtiges. Ihr beiden,<br />

ihr habt miteinander geredet. Könnt ihr uns bitte sagen,<br />

worüber ihr geredet habt?“ Da die Atmos phäre meistens<br />

entspannt ist, tun sie es. Und danach fahren wir fort. Aber<br />

sehr bald muss ich wieder unterbrechen, weil ein anderes<br />

Zwiegespräch stattfindet. Und kaum habe ich die beiden<br />

gebeten, den Inhalt ihres Gesprächs der Gruppe mitzuteilen,<br />

mache ich auf ein drittes Zwiegespräch aufmerksam,<br />

das ebenfalls gerade stattfindet. Endlich habe ich einen<br />

Anlass gefunden, meinen Vortrag loszuwerden:<br />

„Ihr seht, obwohl ich auf dieses Phänomen hingewie sen<br />

habe, obwohl wir mit dem Finger darauf gezeigt haben,<br />

hat euch all das nicht daran hindern können mit einander<br />

70 71


zu schwatzen. Oder genauer, ihr habt nicht ein mal bemerkt,<br />

dass ihr miteinander sprecht. Denn hier handelt<br />

sich um spontanes Verhalten. Und es gehört zur Arbeit<br />

von uns Praktikern, genau zu registrieren, was sich in unseren<br />

Klassen ereignet. Ihr wisst, dass das Seminar unter<br />

dem Thema: ‚Das Verhalten des Menschen beim Lernen‘<br />

steht. Ihr seid Menschen und ihr seid gera de beim Lernen.<br />

Es reicht vollkommen aus, wenn ihr euer eigenes Verhalten<br />

anseht, um interessante Fragestellun gen zu finden.<br />

Warum also redet man mit seinem Nach barn? Warum hat<br />

Laura mit Gabriella geredet? Ich möchte euch zwei Hypothesen<br />

vorstellen. Sagt mir bitte, welche der Wirklichkeit<br />

entspricht.<br />

Früher schien mir alles ganz klar zu sein: Man benutzt<br />

den anderen um seine Ideen zu verbreiten. Du Laura, du<br />

hast Gabriella angesprochen. ‚Ma se ne fregava completamente‘<br />

(Aber es war ihr völlig egal). Und alles, was du hättest<br />

sagen mögen, wäre ihr völlig egal gewesen. Denn in<br />

Wirklichkeit hast du deine Rede an dich selbst adres siert.<br />

Wenn man etwas nur denkt, wird es noch nicht ganz<br />

klar, ist es noch irgendwie konfus, ist noch alles durcheinander.<br />

Wenn man aber seine Gedanken ausspricht, dann<br />

sieht man sie sofort vor sich. Wir sprechen ja in linearer<br />

Weise, indem wir ein Wort an das andere reihen. Und ehe<br />

wir eine Botschaft aussenden, müssen wir sie vorher in<br />

unserem Kopf zusammensetzen. Man muss also zuerst<br />

Ordnung schaffen. Das Sprechen zwingt uns dazu, die<br />

Gedanken zu strukturieren, also zu einer Anstrengung,<br />

der man sich sonst nicht unterziehen würde. Unser Gehirn<br />

ist voll von vagen Ideen, die noch im Entstehen sind.<br />

Damit sie eine feste Gestalt annehmen können, müs sen sie<br />

ausgesprochen werden.<br />

Aber in unserer Gesellschaft wird man schnell für verrückt<br />

gehalten, wenn man mit sich selbst spricht. Also<br />

brauchen wir ein Alibi, einen Vorwand. Und deshalb<br />

brauchen wir unseren Nachbarn. Aber ist es egal, wer dieser<br />

Nachbar ist?<br />

Laura und Gabriella, habt ihr euch zufällig zusammengesetzt?“<br />

Ein lautes Gelächter erschallt, denn es ist offensicht lich,<br />

dass jeder seinen Platz genau ausgesucht hat, dass jeder<br />

versucht neben Personen zu sitzen, die er kennt, neben<br />

Personen, auf die er sich nötigenfalls verlassen kann. Eigentlich<br />

müssten wir an diesem Punkt ein wenig verweilen,<br />

um dieses Phänomen ‚Suche nach Nähe‘ genauer zu<br />

untersuchen, das einmal mehr das Grund bedürfnis nach<br />

Sicherheit belegt.<br />

Also, man hat jemanden, der es einem ermöglicht mit<br />

sich selbst zu sprechen, ohne dass man für verrückt gehalten<br />

wird. Es reicht aus, wenn man ein Ohr in unmittelbarer<br />

Nähe weiß. Jeder hat einmal die Erfahrung in einer<br />

Gruppe gemacht, dass man das Wort an jemanden richtet<br />

und mit einem Male sprechen alle gleichzeitig. Plötzlich<br />

ist die Aufmerksamkeit der Person, die euch zuzuhören<br />

scheint, abgelenkt, und ihr hängt in der Luft, ganz verlegen,<br />

ganz verblüfft. Und ihr sucht sofort jemanden in der<br />

Umgebung, der sich euch zuwendet, der euch gleichsam<br />

das Almosen seines Gesichtes gibt. Die gleiche Verlegenheit<br />

empfindet ihr, wenn ihr von zwei Personen gleichzeitig<br />

angesprochen werdet. Ihr wisst nicht, wem ihr euch<br />

zuwenden oder genauer gesagt, wen ihr anschauen sollt<br />

(denn es ist das Anschauen, das für das Zuhören bürgt).<br />

In Italien musste ich oft protestieren, weil alle zur selben<br />

Zeit mit mir redeten. Schließlich habe ich nur zwei<br />

Ohren. Manchmal fragte ich: „Stört es euch nicht, dass<br />

niemand euch verstehen kann?“ Sie lachten. Nein, das<br />

störe sie nicht, weil sie auf diese Weise ihre Botschaft<br />

unter dem Vorwand, sie sei für meine Ohren bestimmt, an<br />

sich selbst richten könnten. Aber jetzt, nachdem ich Antoine<br />

de la Garanderie gelesen habe, weiß ich auch, dass<br />

72 73


in der italienischen Kultur der mündliche Ausdruck eine<br />

besondere Bedeutung hat.<br />

Schließlich muss man die Dinge oft genug für sich<br />

selbst wiederholen, damit man sie sich gut aneignen kann.<br />

Das geschieht auch, wenn man allein arbeitet.<br />

Trotzdem gibt es eine zweite Hypothese, mit der das<br />

Phänomen des Zwiegesprächs erklärt werden kann: Man<br />

benutzt den anderen um seine Idee zu prüfen. Man weiß<br />

nicht genau, was sie taugt, man glaubt nur ein bisschen<br />

daran; aber man fragt sich, wie sie wohl bei anderen ankommen<br />

würde. Man sagt sich: „Das ist vielleicht eine<br />

etwas verrückte Idee.“ Und dann erzählt man sie dem<br />

Nachbarn und überprüft dabei, ob er sie richtig verstanden<br />

hat. Und wenn er nicht zu heftig darauf reagiert, wenn<br />

er nicht auf die eine oder andere Weise sein Missfallen<br />

äußert, wenn er nicht laut losschreit, kann man das Risiko<br />

eingehen, seine Idee laut vor der ganzen Gruppe zu<br />

äußern.<br />

In Aix wurde ich auf dieses Phänomen aufmerksam.<br />

Leider bin ich kein besonders aufmerksamer Beobachter,<br />

und so müssen mir die Dinge von selbst ins Auge springen.<br />

Aber damals haben sie sich richtig aufgedrängt. Es<br />

war unmöglich, sie nicht zu bemerken. Man stelle sich<br />

dreizehn Personen vor, die so gesessen haben: sechs auf<br />

der einen, sieben auf der anderen Seite.<br />

Ich weiß nicht mehr aus welchem Anlass, jedenfalls fingen<br />

alle zur selben Zeit an, immer zu zweit miteinan der zu<br />

reden, und wandten sich dabei paarweise einan der zu. Ich<br />

hätte vielleicht nichts bemerkt, wenn ich nicht die siebte<br />

Person gesehen hätte, die sich an die sechste wandte, die<br />

ihrerseits zur fünften gewandt war. Es gab offensichtlich<br />

ein außerordentlich spontanes, simultanes und allgemeines<br />

Thema für die gesamte Gruppe. Ich kam nicht umhin,<br />

der Sache auf den Grund zu gehen. Und was stellte sich<br />

heraus? Es war die Überprüfung von eige nen Hypothesen<br />

mit Hilfe anderer Personen.<br />

Manchmal passiert es in einer Gruppe, dass jemand<br />

eine Idee aufschnappt, die jemand seiner Umgebung leise<br />

mitgeteilt hat. Und er äußert sie laut, so als ob es seine<br />

eigene wäre. Manchmal freut sich der Autor der Idee darüber,<br />

dass er diesen ‚Laut-Sprecher‘ zu seiner Verfügung<br />

hatte. Und selbst, wenn niemand entdeckt, dass er der eigentliche<br />

Autor der Idee ist, beglückwünscht er sich innerlich<br />

selbst:<br />

„Mensch, das war doch meine Idee... manchmal habe<br />

ich ganz gute Ideen ... vielleicht bin ich gar nicht so<br />

schlecht... „<br />

Aber oft ist der ‘Laut-Sprecher’ von der guten Resonanz,<br />

die ‘sein’ Vorschlag erhalten hat, ein wenig überrascht<br />

und fühlt sich genötigt die Sache aufzuklären.<br />

74 75


„Ehrlich gesagt, war das nicht meine Idee, sondern die<br />

von Patricia.“<br />

In diesem Fall zeichne ich zwei Pfeile an die Tafel:<br />

einen für Patricia für die gute Idee und einen für den<br />

‚Laut-Sprecher‘, für seine Ehrlichkeit.<br />

Aber meist deckt er die Wahrheit erst dann auf, wenn<br />

die Idee schlecht ankommt: „Das ist schließlich nicht auf<br />

meinem Mist gewachsen, das hat Patricia gesagt.“<br />

Teilgruppen<br />

Manchmal bilden sich kleine Forschungsgruppen. Die<br />

Leute haben sich nicht irgendwie zufällig hingesetzt; denn<br />

es lässt sich leichter mit Leuten zusammenarbeiten, zu<br />

denen man sich hingezogen fühlt.<br />

Ich erinnere mich daran, dass einmal eine Gruppe von<br />

vier Personen zu meiner Rechten sehr schnell die Lösung<br />

einer grammatischen Regel in Esperanto fand. Aber zu<br />

dem Zeitpunkt tat ich noch so, als hätte ich nichts gehört.<br />

Ich wollte die Spannung des Suchens noch aufrechterhalten,<br />

damit das Phänomen noch genauer herausgearbeitet<br />

werden konnte. Und als ich dann die Hypothese einer<br />

Dreier-Gruppe zu meiner Linken aufgriff, schrie das<br />

Quartett los:<br />

„Aber das hatten wir doch schon vorher gesagt!“ „Das<br />

weiß ich auch, ich habe euch genau gehört; aber ich wollte<br />

noch ein wenig abwarten um zu sehen, ob sich noch andere<br />

Dinge entwickeln. Was ich nun bei euch sehe und was<br />

ich nicht erwartet habe, ist, dass nicht nur das Individuum,<br />

sondern auch eine Teilgruppe den Wunsch haben kann,<br />

von der ganzen Gruppe bestätigt zu werden. Ihr bildet<br />

eine Gruppe, denn ihr habt euch ziemlich wahrschein lich<br />

vorher schon gekannt, und nun seid ihr enttäuscht, weil ihr<br />

nicht als die Besten anerkannt worden seid.”<br />

Das wurde gut aufgenommen. Das entspricht übrigens<br />

einer Realität, die ziemlich oft vorkommt. Es gibt<br />

oft Rivalitäten zwischen Teilgruppen, die sich manchmal<br />

aufgrund irrationaler Beweggründe bilden, z.B.: Alle,<br />

die rechts sitzen, diejenigen, die hinten sitzen, usw. Hier<br />

kommt wieder der Wunsch zum Tragen, einer erfolgreichen<br />

Gruppierung anzugehören. Im Sport versucht man<br />

Partei für die Mannschaft zu ergreifen, die gewinnt, ob<br />

sie nun auf lokaler, örtlicher, regionaler oder nationaler<br />

Ebene spielt. Und wenn diese Mannschaft verliert, dann<br />

sagt man sich von ihr los. Wenn es einerseits <strong>heißt</strong>: „Wir<br />

haben gewonnen!‘, so kann es andererseits nur heißen:<br />

„Sie haben verloren!‘.<br />

Aber wenn man oft in verschiedenen Vorhaben zusammenarbeitet,<br />

nimmt die Zahl der Kontakte zu und<br />

das Phänomen der Teilgruppen verschwindet. Denn am<br />

Anfang ist die Affektivität besonders gegenwärtig, mäßigt<br />

sich dann aber im Laufe der Zeit.<br />

In Florenz hatte eine Frau die Lösung eines Problems<br />

gefunden. Aber dieses Mal hatte ich sie wirklich nicht<br />

gehört. Und nachdem ich den Verdienst der Entdeckung<br />

jemand anderem zugesprochen hatte, protestierte Giancarlo:<br />

„Aber Rosalia hatte es doch schon herausgefunden.“<br />

„Ach, und ihr kennt euch?“ „Oh ja, wir arbeiten an derselben<br />

Schule.“ Ein anderes Mal hatte ich, um Zeit zu<br />

sparen, die Erfindung einer Lehrerin verkürzt an die Tafel<br />

geschrie ben. In Wahrheit bestand ihre Erfindung aus einem<br />

Dutzend Zeilen. Sofort wurde ich heftig von ihrer<br />

Nachbarin, die sichtlich älter als sie war, angeschnauzt:<br />

„Aber warum schreibst du nicht ihre gesamte Erfindung<br />

auf?“<br />

„Ach, du kennst sie?“<br />

„Ja.“<br />

76 77


Viele lachten über die heftige Art, eine Jüngere in<br />

Schutz zu nehmen. Ich erläuterte, dass ich es getan hatte,<br />

weil ich schneller vorankommen wollte, weil nicht genügend<br />

Platz da war und weil das Wesentliche in dem, was<br />

ich an die Tafel geschrieben hatte, auf jeden Fall zum Ausdruck<br />

gekommen war.<br />

Aber ich habe sofort die Gelegenheit genutzt, das<br />

Thema der emotionalen Betroffenheit aufzugreifen. Es<br />

ge lingt mir immer es anzusprechen, weil es garantiert<br />

auf tritt. In Aix hat uns Hortensia ein eindrucksvolles Beispiel<br />

gegeben. Ihr Sohn hatte große Probleme, lesen zu<br />

lernen. In jener Zeit hatte er sich den kleinen Finger gebrochen.<br />

Man hatte ihn mit einer Schiene und Gips fixiert.<br />

Als eines Morgens seine Lehrerin mit dem gleichen Gips<br />

um den gleichen kleinen Finger in ihrer Klasse erschien,<br />

fing er plötzlich an zu lesen.<br />

Seine eigentliche Schwierigkeit war das ‘ch’. Denn er<br />

hieß Michael. Und das ‚ch‘ in diesem Wort wird wie das<br />

deutsche ‚k‘ ausgesprochen. Wenn es sich um irgendwelche<br />

beliebigen Worte wie ‚choeur‘ (Chor) oder ‚Chrysantheme‘<br />

(Chrysantheme) gehandelt hätte, wäre es nicht weiter<br />

von Bedeutung gewesen. Denn solche Worte kom men<br />

(in der französischen Sprache, Anm. d. Übers.) selten vor.<br />

Wörter dagegen wie ‚chats‘ (Katzen), ‚chiens‘ (Hun de),<br />

‚chevaux‘ (Pferde) und ‚chants‘ (Lieder) treten in Hülle<br />

und Fülle auf. Deshalb können sich die Kinder das ‚ch‘<br />

(gesprochen wie das deutsche ‚seh‘, Anm. d. Übers.) leicht<br />

merken. Aber das ‚ch‘, ausgesprochen wie ‚k‘, war für Michael<br />

in jedem Augenblick vorhanden, und zwar in seinem<br />

Vornamen. Und diesen Laut aufzugeben, das hät te<br />

bedeutet, auch ein wenig sich selbst aufzugeben. (21)<br />

Wie man sieht, dürfen die Lehrer die emotionale Betroffenheit<br />

nicht außer acht lassen, weil sie eine große Bedeutung<br />

für den Erwerb von Wissen hat.<br />

Hier ein anderes Beispiel aus meiner eigenen Kindheit:<br />

Wir waren in unserer Klasse 55 Jungen im Alter von 11<br />

bis 12 Jahren. Es ist ganz klar, dass ich die Namen von fast<br />

allen meinen Mitschülern vergessen habe. Trotzdem gibt<br />

es einen, an den ich mich sehr genau erinnere. Eines Tages<br />

erhielt ich eine Strafe: Ich sollte nachsitzen. Aber ich hatte<br />

versucht mich unbemerkt davonzustehlen. In diesem Moment<br />

ging ein Junge zum Lehrer und sagte zu ihm:<br />

„Le Bohec muss doch nachsitzen.“ „Ach ja, richtig! Le<br />

Bohec, du bleibst da.“ Nun gut, dieser Junge hieß Piaud.<br />

Eine ähnliche Sache passierte mit Briend. Er hat mir einen<br />

Fehler in meinem Diktat angestrichen, obwohl da keiner<br />

war. Und auch Briend behalte ich immer im Gedächtnis.<br />

Und jeder von euch könnte für sich selbst überprüfen,<br />

durch welche Elemente, welche Ereignisse, welche Um<br />

stände diese oder jene Sache in seinem Gedächtnis hängen<br />

geblieben ist. Und das sind nicht notwendigerweise negative<br />

Dinge. Man fühlt genau, „dass Emotionalität und Ler nen<br />

unzertrennlich sind. Und es ist nicht immer die Vernunft, die<br />

im Streit mit den Gefühlen Recht hat und die uns immer den<br />

besten Weg zur Erkenntnis führt“ (Morin 1986, S. 128)<br />

(21) Aber was war der eigentliche Anlass für Michaels Verän derung? Hat<br />

Michael sich vielleicht herausgehoben gefühlt, weil durch die gleichartige<br />

Verletzung eine neue Beziehung zu seiner Lehrerin entstanden ist? Wir<br />

werden es nie wissen. Es gibt viele Dinge, die im Dunkeln verborgen<br />

bleiben.<br />

78 79


Die Komplexität<br />

Die Komplexität ist eine wesentliche Eigenschaft der<br />

natürlichen Methode. Eine Schulklasse stellt ein Gebilde<br />

aus vielen komplexen Individuen dar. Sie unterscheiden<br />

sich manchmal so stark, dass es unmöglich erscheint sie<br />

zusammen arbeiten zu lassen. Schauen wir uns zum Beispiel<br />

an, welche Persönlichkeiten in der Gruppe in Aix<br />

zum Vorschein kamen:<br />

Alexis definiert sich selbst als Spielverderber. Er fürchtet<br />

vor allem die Wiederholung, das Auf-der-Stelle-Treten.<br />

Er ist immer bereit eine neue Sichtweise einzubringen,<br />

ein Untersuchungsfeld zu eröffnen, eine Überraschung zu<br />

bereiten....<br />

Helene, voll Energie, sagt immer, was sie denkt, und<br />

bezieht sich oft auf ihre Erfahrung bei der Alphabetisierung<br />

der Maghrebiner. Sie sieht alles klar; sie ist sehr<br />

wachsam und sehr empfindlich gegenüber jeder Art von<br />

Einflussnahme.<br />

Christine liebt die ungeraden Zahlen. Sie entpuppt sich<br />

auch als Oppositionelle. (Gibt es da einen Zusammenhang?)<br />

Tean-Camille ist leidenschaftlich von der Mathematik<br />

ergriffen. Am Anfang stand er in einem Wissenswettstreit<br />

mit Daniele. Dann hat er in einer Gruppe mit ihr gearbeitet.<br />

Sie fanden an den gleichen Dingen Gefallen. Daniele<br />

ist besessen vom Verbessern. Sie achtet nicht nur auf die<br />

Rechtschreibung der Tafeltexte in Esperanto, wobei sie<br />

selbst den kleinsten Fehler entdeckt; ja sie geht sogar so<br />

weit, dass sie die Texte in den Papieren ihrer Nachbarinnen<br />

nachsieht. Sie ist spitzfindig, rechthabe risch, kleinlich,<br />

streitsüchtig, formalistisch und wunder lich. Aber sie ist,<br />

so wie sie nun einmal ist, für die Gruppe sehr segensreich,<br />

weil sie immer dafür sorgt, dass auf einer sicheren Grundlage<br />

gearbeitet wird.<br />

Jean-Pierre bezieht sich bei der Untersuchung von<br />

Erfin dungen fast immer auf den Bereich der Musik. Hortensia<br />

ist begeistert, begeisternd. Sie hat ein schweres<br />

Leben gehabt und möchte viel nachholen. Sie möchte Erfolg<br />

haben. Sie lehnt es ab, dass man ihr Wissen gibt. Sie<br />

möchte es sich selbst erobern. Ihre Erfindungen sind voll<br />

von Häusern.<br />

Rene ist sehr still. Er engagiert sich in seinen Texten,<br />

ist sehr sensibel, sehr rücksichtsvoll gegenüber anderen<br />

Personen.<br />

Tean-Marc ist sehr geschickt mit den Händen. War sehr<br />

locker beim ‚Esperanto-Erfinden‘, obwohl er kein Intellektueller<br />

ist.<br />

Adrienne engagiert sich in allem, was sie tut, nimmt<br />

voll er Leidenschaft an Diskussionen teil. Sie ist Linkshänderin,<br />

was ihre Sicht der Dinge beeinflusst. Anne ist ein<br />

wenig zurückgezogen, auf Abstand, ein wenig ausgefallen<br />

mit ihrer Frisur. Aber man spürt, dass sie interessiert ist.<br />

Wenn all dies sich bereits in drei Sitzungen von je drei<br />

Stunden zeigen konnte, dann ist garantiert, dass sich diese<br />

individuellen Persönlichkeitsstrukturen im Laufe eines<br />

ganzen Jahres noch deutlicher herauskristallisiert hätten.<br />

Sicher hätten sich Korrekturen ergeben. Eine umfassende<br />

Zusammenarbeit - eine <strong>Kooperative</strong> des Wissens - hätte<br />

sich entwickeln können. Das bedeutet, dass eine Gruppe,<br />

die so reich an Persönlichkeiten ist, die sich gegenseitig<br />

ergänzen und die sich (glücklicherweise) widersprechen,<br />

großartige Fortschritte machen kann. Deswegen muss sich<br />

der Lehrer die Komplexität der Situationen und der Menschen<br />

bewusst machen. Aber er muss auch in der Lage<br />

sein dies zu tun. Dazu muss er eine gewisse Gelassenheit<br />

an den Tag legen.<br />

In Florenz hatte sich Marcello geweigert, sich an der<br />

Suche nach Gesetzmäßigkeiten in Esperanto zu beteili-<br />

80 81


gen, weil ich ihm nicht garantieren konnte, dass meine<br />

Übersetzungen in diese Sprache 100%ig richtig waren. Ich<br />

konnte ihm erzählen, was ich wollte: Selbst wenn ich eine<br />

Geheimsprache anbieten würde, könnte man darin etli che<br />

Sprachregeln entdecken. Aber er wollte nicht mitspie len:<br />

Unterricht, das ist etwas Ernsthaftes. Er war ein ‚direttore‘<br />

(ein Rang, der dem Bezirksschulrat in Frank reich entspricht).<br />

Er hatte eine Art Zwangsvorstellung von Wissen<br />

und Wissensvermittlung.<br />

Aber auch wir wissen, was wir wollen: Unser vorrangiges<br />

Bemühen ist es, die Kinder mit einem Maximum<br />

an Wissen, an Techniken und an Fähigkeiten zur Lebensbewältigung<br />

auszustatten, weil dies unerlässlich ist, um<br />

in unserer heutigen so schwierigen Gesellschaft zu überleben<br />

und um es ganz einfach zu leben. Aber nicht jeder<br />

wird ein ‚direttore‘. Deshalb darf man nicht aus schließlich<br />

den Stoff, der vermittelt werden soll, im Auge haben. Man<br />

muss auch versuchen zu verstehen, wie das Speichergerät<br />

Gehirn überhaupt funktioniert.<br />

Ich habe Marcello die Liste von all den Dingen gezeigt,<br />

die 8- bis 9-jährige Kinder dank dieser Methode, die die<br />

Lernprozesse in den Mittelpunkt stellt, lernen konnten.<br />

Aber er wollte nichts davon wissen. Er hatte seinen Standpunkt<br />

und den konnte er nicht verlassen. Vielleicht, weil<br />

er sein Gesicht nicht verlieren wollte. Aber das machte<br />

nichts: Nicht für ihn habe ich gearbeitet, sondern für die<br />

anwesenden Praktiker, die Tag für Tag mit diesen Problemen<br />

umgehen und die sich nicht so grandios darü ber hinwegsetzen<br />

können.<br />

Hier zwei weitere Erfahrungen, die man mit ‘die Gruppe<br />

für‘ und ‚die Gruppe gegen‘ überschreiben könn te. Zuerst<br />

also, was uns jemand in Ostia vorgestellt hat:<br />

Tiziano versucht sofort, eine Struktur zu entdecken.<br />

„Nach der 7 gibt es immer sieben Zeichen.“ Allgemeiner<br />

Protest: „Nein, beim zweiten Mal sind es vier .“ Und die<br />

Leute denken: „Was für ein Quatsch, Tiziano spinnt!“ Es<br />

sind ganz offensichtlich nicht sieben Zeichen. Aber Tiziano<br />

lässt sich nicht aus dem Sattel heben. „Aber doch,<br />

nämlich so:“<br />

Die Gruppe protestiert:<br />

„Das ist unmöglich. Das können wir nicht akzeptieren.<br />

Es ist zu sehr an den Haaren herbeigezogen.“<br />

Tiziano hört nicht auf die Proteste. Er starrt auf die<br />

Tafel. Plötzlich sagt er ganz beglückt:<br />

„Aber ja doch, schaut mal die Dreiecke an, es sind sieben!“<br />

Na ja, wir müssen es notgedrungen anerkennen. Aber<br />

wir sind doch noch ein bisschen böse auf diesen Provokateur,<br />

der mit seinen sieben Dreiecken einfach zu viel<br />

Glück hatte. Als es schließlich ruhig wird und niemand<br />

mehr etwas anderes sieht, gebe ich der Autorin das Wort:<br />

„Ich war noch nicht fertig, als Paul mich bat, es an die<br />

Tafel zu schreiben.“ Tiziano stößt ein Triumphgeheul aus:<br />

„Seht ihr, wenn wir sie hätten machen lassen, hätte<br />

sie noch drei weitere Zeichen hingeschrieben, und dann<br />

wären es bei der zweiten Serie auch sieben gewesen“<br />

Das Gelächter angesichts dieser Hartnäckigkeit von<br />

82 83


Tiziano, allem und jedem gegenüber recht zu behalten,<br />

ist groß gewesen. Wenn man Tiziano bedrängt, findet er<br />

immer wieder einen Ausweg, er windet sich immer wie der<br />

aus der Falle, die über ihm zuschnappen will. Ihn fängt<br />

man nicht so leicht. Wie eine Beute, die von einem Raubtier<br />

belauert wird, entwickelt er listige Strategien. Und<br />

unter diesen Umständen ist die Gruppe ein wenig wie ein<br />

Raubtier, weil sie versucht ihn zu erwischen, ihn einzufangen,<br />

ihn in die Enge zu treiben, ihn zu überra schen.<br />

Mir ist es wichtig, dieses Ereignis zu erzählen, weil es<br />

ziemlich oft auch im ‚Unterricht mit der natürlichen Methode‘<br />

vorkommt. Aber etwas Derartiges ereignet sich<br />

nicht nur dann, wenn es darauf ankommt, den anderen<br />

zu widerstehen oder ihnen zu entkommen, sondern auch,<br />

wenn ein Kind oder eine Handvoll von Kindern versucht<br />

Strategien zu entwickeln, um bisher ungeahnte Möglichkeiten<br />

zu entdecken.<br />

Das entspricht übrigens dem tastenden Vorgehen in der<br />

Geschichte der Menschheit.<br />

So haben die Menschen z.B. ‘natürlich‘ zuerst damit angefangen,<br />

die natürlichen Zahlen (N) zu erfinden: 1,2,3,4<br />

... Und sie haben einen wichtigen Schritt gemacht, als sie<br />

die Null erfunden haben. Und dann haben sie ihre Freiheit<br />

ausgeweitet, indem sie die ganzen Zahlen (Z) geschaffen<br />

haben: 4 - 5 zu berechnen, war in N nicht mög lich, wurde<br />

es aber in Z: 4 - 5 = -1. Dann ist man zu den rationalen<br />

Zahlen (Q), sowie zu den reellen Zahlen (R) gekommen.<br />

Und um das System zu perfektionieren, ist man bis zu den<br />

imaginären Zahlen gegangen: i2 = -1.<br />

Das Gleiche passierte in der Geometrie. Man war lan ge<br />

Zeit durch das Parallelenaxiom von Euklid blockiert.<br />

„Durch einen Punkt, der außerhalb einer Geraden liegt,<br />

kann man eine und nur eine Parallele zeichnen“<br />

Aber Lobatschewskij hat, ausgehend von gekrümmten<br />

Räumen, eine andere (die hyperbolische) Geometrie<br />

begründet, indem er sagte:<br />

„Man kann eine unendliche Zahl von Parallelen ziehen.“<br />

Und Riemann hat auch seine eigene (die elliptische)<br />

Geometrie entwickelt und gesagt:<br />

„Man kann keine einzige Parallele zeichnen.“<br />

Mit Sicherheit finden wir bei den Kindern die Tendenz,<br />

den Freiraum zu erweitern. Es kann übrigens sein, dass<br />

man eines Tages bemerkt, dass es auch eine Entwicklung<br />

des freien mathematischen Textes gibt und dass die Lehrer<br />

gut über die Geschichte der Mathematik informiert sein<br />

müssen. Dann wird es vielleicht eine Art Wiederholung<br />

der Phylogenese in der Ontogenese der Mathematik geben.<br />

Aber das ist eine gewagte Hypothese. Kommen wir lieber<br />

auf ein Beispiel aus der Arbeit mit Erwachsenen zurück,<br />

weil es so gut das Wesentliche dessen zusammenfasst,<br />

was wir bisher aufzeigen konnten. Wir waren ungefähr<br />

fünfzig Personen in einer Schule in Mestre, dem Festlandteil<br />

von Venedig. Sandro schrieb fol gendes an die Tafel:<br />

N8NS8L1M1T5M1T9C1<br />

Was konnte das bedeuten? Diese Frage drängte sich uns<br />

mit aller Gewalt auf. Die Stille war aufs äußerste gespannt.<br />

Sie dehnte sich immer länger. An welchem Ende konnte<br />

man denn die Sache packen? Gab es nicht wenigstens eine<br />

winzige Struktur zu entdecken, damit wir wieder aufatmen<br />

konnten? Jemand äußerte ins Blaue hinein die Idee<br />

von Autokennzeichen. Aber die Gruppe lehnte diese Idee<br />

kategorisch als ‘völlig blödsinnig‘ ab. Ein anderer sprach<br />

von einer Versicherungsnummer. Einhellige Ablehnung:<br />

Das hätte damit überhaupt nichts zu tun. Aber man fand<br />

immer noch nichts. Nein, keiner hatte irgendeinen Anhaltspunkt:<br />

Es ging langsam an die Nerven. Sandra fing<br />

84 85


an mit den Fingern zu zählen. Aber sie gab wieder auf. Die<br />

Spannung stieg. Plötzlich rief Grazieila los:<br />

„Ich habe es gefunden: NON SO LA MATEMATICA.“<br />

(Ich kann keine Mathematik!)<br />

Welche Freude! Beifall brach aus, man schüttelte ihr<br />

die Hand. Ausrufe der Befriedigung waren zu hören, ein<br />

Freudentaumel brach aus. Endlich hatten wir nicht nur<br />

eine vielversprechende Hypothese, sondern die ganze Lösung<br />

gefunden. Welche Befriedigung, welch eine Erfüllung,<br />

welche Entspannung! Als die Gemüter sich ein wenig<br />

beruhigt hatten, habe ich selbstverständlich das Wort<br />

ergriffen, um dieses überraschende Ereignis zu kommentieren.<br />

Ich unterstrich zuerst die Intensität des anfänglichen<br />

Schweigens und wies darauf hin, dass es mit Angst,<br />

aber auch mit Wut angefüllt war. Es ist nämlich so: Das<br />

menschliche Wesen mag es überhaupt nicht, dem Chaos<br />

ohnmächtig ausgeliefert zu sein. Und durch ihren Beitrag<br />

hat Grazieila uns alle befreit.<br />

Dieses Mal konnte man einfach nicht auf ihren Erfolg<br />

eifersüchtig sein. Im Allgemeinen lehnen es die Menschen<br />

ab, dass man ihnen hilft. Sie wollen die Lösung allein finden.<br />

Aber hier hatten wir es nicht mehr mit einer leichten<br />

Beunruhigung zu tun, die stimuliert, sondern mit einer<br />

rich tigen Angst um die Lösung. Und es war der ganzen<br />

Gruppe wichtig, Grazieila ihre Anerkennung zu zollen.<br />

Hier handel te es sich nicht mehr um eine Simulation oder<br />

ein Spiel. Es war eine echte Handlung, ein Stück wirklichen<br />

Lebens mit all seinem Schwung und ohne jede<br />

Zurückhaltung.<br />

Nur Sandro, der Autor, nahm nicht an der gemeinsamen<br />

Freude teil.<br />

„Mm, nun, ich bin mit Grazieila überhaupt nicht<br />

zufrieden!“<br />

Alles lachte natürlich, weil es klar war, dass man ihm<br />

auf brutale Weise seine Macht entrissen hatte. Es gab nun<br />

zwei Personen, die sich einander gegenüber standen: die<br />

Gruppe und Sandro. Und er hatte verloren. Oder genau er:<br />

Er war wieder auf das Niveau der anderen herunter geholt<br />

worden.<br />

Aber für Sandra war das zuwenig: Sandro sollte auch<br />

noch für die Minuten der Spannung zahlen, die er allen<br />

zugemutet hatte. Also fing sie wieder an, mit den Fingern<br />

nachzuzählen.<br />

„Hej, das geht nicht, Sandro. Du hast eine 8 für den<br />

Buchstaben O eingesetzt, obwohl es die 13 ist.“<br />

Also musste Sandro detailliert erklären, dass er wegen<br />

eines Bleistifts, den er in der rechten Hand hatte, nur seine<br />

linke Hand zum Zählen benutzen konnte und dazu seine<br />

Finger nacheinander auf die linke Wange gelegt hatte. Und<br />

so hat er zunächst bis 5, dann wieder bis 5 und dann bis 3<br />

gezählt. Und dabei hat er die erste 5 vergessen.<br />

Wie soll man das allgemeine Lachen beschreiben, das<br />

sich augenblicklich ausbreitete? Das Lachen war entspannend,<br />

erholsam und stellte das Gleichgewicht wieder her.<br />

„Ah, nun ist alles aufgeklärt! Es ist ja nicht weiter verwunderlich,<br />

dass wir keine Lösung gefunden haben, weil<br />

die Ausgangsdaten falsch waren.“<br />

„Das beruhigt: Wir sind also doch nicht so dumm!“<br />

Und weil Sandro sein Ungeschick, seinen Mangel an<br />

Gemeinsinn so demütig zugegeben hat, grollt man ihm<br />

nicht mehr. Die Gruppe verzieh ihm freimütig, weil er sich<br />

schuldig bekannt und Humor bewiesen hatte.<br />

Lachen entdramatisiert, wenn sich jemand bedroht<br />

fühlt. Und diese Möglichkeit wird gerne von demjenigen<br />

genutzt, der sich bereits so sehr von den anderen abgehoben<br />

hat, dass er die zornigen Blicke der restlichen Versammlung<br />

auf sich ruhen fühlt.<br />

„Hoppla, das wird gefährlich. Ich muss von diesem<br />

gefährlichen Weg herunterkommen.“ Und er macht einen<br />

86 87


Witz auf seine eigene Kosten. Aber ich mache erneut<br />

dar auf aufmerksam, dass so etwas meist nur am Anfang<br />

pas siert. Bald entwickeln sich Kooperation, ein Gruppengefühl<br />

und die Freude des Entdeckens.<br />

Und noch etwas: Auf einem Seminar in Treviso hatte<br />

Jeannette (eine französische Teilnehmerin) nicht akzeptiert,<br />

dass der Buchstabe O durch die 13 repräsentiert<br />

wurde und nicht von der 15, wie sie es errechnet hatte.<br />

Sie hatte nicht bedacht, dass es die Buchstaben j und k im<br />

italienischen Alphabet nicht gibt.<br />

Ich bin auf ihren Widerstand eingegangen, um daran<br />

einen wichtigen Punkt aufzuzeigen: Wir arbeiten mit einer<br />

bestimmten Gruppe in einer bestimmten Wirklich keit. Die<br />

heutige Wirklichkeit wird bestimmt von allen anwesenden<br />

Personen, und eine von ihnen ist Französin. Von dieser<br />

Wirklichkeit hängt ab, welchen Weg die Gruppe geht. Natürlich<br />

ist zu diesem Zeitpunkt nicht alles möglich. Trotzdem<br />

kann man beruhigt sein: Wir haben noch tausende<br />

von Entdeckungen in der Mathe matik zu machen. Und<br />

jede Gruppe hat ein so reichhalti ges Potential, dass man<br />

nicht ungeduldig werden muss: Die Ernte wird reich sein,<br />

vorausgesetzt, wir haben noch genügend Zeit, so wie dies<br />

im schulischen Unterricht der Fall ist.<br />

Im nächsten Abschnitt wenden wir uns dem Einsatz<br />

der natürlichen Methode in der Schule im Mathematikunterricht<br />

zu. Oben haben wir diese Methode am Beispiel<br />

des Lernens von Erwachsenen beschrieben, damit deutlich<br />

wird, was dort eigentlich passiert. So haben wir ihre<br />

Grundlagen, Prinzipien und Vorgehensweisen wenigstens<br />

ansatzweise kennengelernt. In meinen Seminaren nehmen<br />

wir uns nach drei Sitzungen die Zeit alle Punkte zu rekapitulieren,<br />

die bei unserer gemeinsamen Erfahrung zum<br />

Vorschein gekommen sind. Wir praktizieren dann die<br />

natürliche Methode des ‚Theoretisierens der natürli chen<br />

Methode‘.<br />

Hier kurz zusammengefaßt die sechs Aspekte, die man<br />

dabei berücksichtigen muss:<br />

• eigene Praxis<br />

• Gruppenphänomen<br />

• Informationsquellen<br />

• Physische Besonderheiten<br />

• Psychische Eigenarten<br />

• Rahmenbedingungen.<br />

Diese Punkte, die in Kapitel 7 noch ausführlicher erläutert<br />

werden, können eine Orientierungshilfe sein, wenn<br />

man über die natürliche Methode nachdenkt. Und wer<br />

diese Methode praktiziert, wird sie zwangsläufig in Kooperation<br />

mit anderen Praktikern erforschen.<br />

Schauen wir uns nun an, wie es bei den Kindern aussieht.<br />

88 89


3. Die natürliche Methode im<br />

Mathematikunterricht<br />

Inzwischen kann man von einer verbreiteten<br />

unterrichtli chen Praxis der natürlichen Methode des<br />

Mathematik unterrichts sprechen. Die Kräfte, die sie tragen,<br />

sind wie der stärker geworden.<br />

Vor 20 Jahren, als die natürliche Methode gerade dabei<br />

war Wurzeln zu schlagen, trat die moderne Mathematik in<br />

Erscheinung. Für den damals noch zarten Keim war dies<br />

eine Art Katastrophe. Einige von uns hatten sich schon<br />

auf den Weg gemacht; es waren aber zu wenige, um sich<br />

bei denjenigen Lehrern Gehör verschaffen zu können, die<br />

wegen der Einführung der modernen Mathe matik von<br />

Panik ergriffen waren. Und so wurde diese Idee wieder<br />

auf Eis gelegt.<br />

Inzwischen ist nicht nur die Angst vor der modernen<br />

Mathematik verblasst, weil die heutigen Lehrer sie beherrschen<br />

und keine Berührungsängste mehr haben, sie selbst<br />

hat auch an Bedeutung verloren.<br />

Dafür ist die natürliche Methode wieder aufgetaucht<br />

und bereit für einen neuen Aufschwung: Widmen wir ihr<br />

endlich all die Aufmerksamkeit, die sie verdient.<br />

Wie ich bereits angedeutet habe, ist die Idee dazu auf<br />

‘natürliche‘ Weise entstanden: Meine Frau und ich hatten<br />

die natürliche Methode bereits in den Bereichen Französisch,<br />

Lesen/Schreibenlernen, mündlicher Ausdruck,<br />

Musik, Körperausdruck, Texte verfassen und Zeichnen/<br />

Malen in den Klassenstufen 1 bis 3 erprobt und sind zu<br />

der Über zeugung gekommen, dass sie sich für all diese<br />

Bereiche hervorragend eignet.<br />

Und da ich mich immer darum bemüht habe, den Dingen<br />

auf den Grund zu gehen, habe ich ohne Unterlass an<br />

der Entwicklung meiner kleinen Theorie gearbeitet.<br />

Und ich hatte das Glück, sie mit <strong>Freinet</strong> und seiner Frau<br />

Elise diskutieren zu können. Ich habe ihnen viel geschrieben,<br />

um meine Hypothesen vorzustellen und um kriti sche<br />

Anregungen zu bekommen. So viel, dass ich mich eines<br />

Tages auf der theoretischen Ebene sicher genug fühlte, um<br />

mir folgende Fragen stellen zu können: „Wenn man mit<br />

dieser Methode so viel lernen und soviel Wissen erwerben<br />

kann, warum sollte man sie nicht auch im Fach Mathematik<br />

anwenden? Oder besitzt die Mathematik Eigenschaften,<br />

die dies ausschließen? Was muss man tun, damit die<br />

natürliche Methode auch der Mathematik gerecht wird?“<br />

Nun, um dies herauszufinden, blieb mir als <strong>Freinet</strong>-Lehrer<br />

nur eines übrig, nämlich es zu versu chen. Und das wagte<br />

ich mit Beginn des Schuljahres 1965. (22)<br />

Das Erstaunlichste ist, dass die natürliche Methode nun<br />

gerade in der Mathematik, dem Fach, in dem lange keiner<br />

daran dachte sie anzuwenden, ihre besten Resultate<br />

erzielt.<br />

Doch nachträglich ist das leicht einzusehen. Denn<br />

jeder Erkenntnisprozess beginnt damit, Hypothesen aufzustellen,<br />

um so die Komplexität der Welt zu strukturieren.<br />

Und einige erweisen sich als so wirksam, dass sie den<br />

Rang von Gesetzen erhalten. So wie auf der Ebene des Kindes<br />

die Ansammlung von wenigen Worten wie ‚maman‘<br />

(Mutter), ‚maison‘ (Haus), ‚murier‘ (Maulbeer baum) und<br />

‚michel (Michael) das Herauslösen des Konsonanten ‚m‘<br />

erlaubt. Und wenn später das Kind bei dem letzten Wort<br />

eines Satzes wie ‚Hier, je suis allê â la mer‘ (gestern bin<br />

ich ans Meer gegangen) zögert, weiß es sehr genau, dass<br />

es sich nicht um den Strand, das Land oder ein Fest handeln<br />

kann, weil es mit einem Zeichen beginnt, dessen phonetischen<br />

Wert es kennt ‘hier, je suis alle ä la mer‘ (gestern<br />

bin ich zum Meer gegangen.) Dies ist also die Taktik des<br />

(22) Ihr seht, wie alt diese Idee ist. Und trotzdem ist sie noch ganz frisch,<br />

ganz neu, ganz erfrischend.<br />

90 91


menschli chen Geistes: Im Angesicht des Chaos, das ihn<br />

verunsi chert, versucht er Strukturen zu entdecken, die<br />

ihm hel fen es ein wenig besser zu beherrschen.<br />

Und genau gesagt, kümmert sich die Mathematik nur<br />

um Strukturen. Oder noch genauer, sie ist Strukturierung<br />

per se. Genau bei dem Bereich kann man am besten<br />

das ‚natürliche‘ Funktionieren des menschlichen Wesens<br />

durchdringen, das immer versucht, sich wirkungsvolle<br />

Instrumente zur Beherrschung der Komplexität zu schaffen.<br />

Wie sieht es nun in der Praxis aus? Wie oben bereits<br />

angedeutet, habe ich ‘Erfindungshefte’ ausgegeben, die<br />

ich jeden zweiten Tag wieder einsammelte. So konnte wenigstens<br />

die Hälfte meiner Schüler täglich eine ihrer Erfindungen<br />

an der Tafel wiederfinden. Bei größeren Abständen<br />

zwischen den Erörterungen der Erfindungen hätten<br />

die Kinder womöglich ihr Interesse verloren. „Wozu nützt<br />

das, wenn ich etwas erfinde, wenn es doch für nichts ist?“<br />

Wenn es aber den Zwang gegeben hätte, jeden Tag etwas<br />

abliefern zu müssen, dann wäre der Druck auf die jungen<br />

Schultern zu groß gewesen. Es wäre kein freier Text mehr<br />

gewesen. Aber so wurde der Fluss durch die Regelmäßigkeit<br />

aufrecht erhalten. Und wir hat ten sogar eine Überfülle<br />

von Erfindungen, ohne dass ich jemals um irgendetwas<br />

hätte bitten müssen.<br />

Und so schrieb ich innerhalb von 2 Tagen eine Erfindung<br />

von jedem Schüler an die Tafel. Man könnte mich<br />

natürlich fragen, nach welchen Kriterien ich die Auswahl<br />

getroffen habe. Am Anfang war ich vor allem bemüht, ein<br />

möglichst großes Spektrum an Möglichkeiten aufzuzeigen.<br />

Aber ziemlich schnell habe ich bemerkt: Wichtig ist<br />

es überhaupt anzufangen!<br />

Tatsächlich bin ich mir sehr schnell bewusst geworden,<br />

dass meine Sicht der Dinge meistens viel zu kümmerlich<br />

war. Denn bei dem Scharfsinn, den die Kinder<br />

jetzt entwickelten, konnte man unmöglich vorhersehen,<br />

was sich ereignen würde. So habe ich mir beim Anblick<br />

eines einfachen Rechteckes mit Mittelachse und Diagonale<br />

gesagt: „Das ist doch trivial. Damit werden wir uns<br />

höchstens zwei Minuten aufhalten.“<br />

Aber wir beschäftigten uns eine ganze Stunde damit.<br />

Doch auch das Gegenteil kam vor. Bei manchen Konstruktionen<br />

habe ich mir innerlich die Hände gerieben. Die<br />

Enttäuschung kam prompt, das Gespräch darüber verlief<br />

im Sande. Trotzdem musste irgendeine unendlich kleine<br />

Spur erhalten geblieben sein, denn irgendwann kam jemand<br />

unweigerlich darauf zurück. Aber niemals so, wie<br />

ich mir das vorgestellt hätte. Glücklicherweise war ich bei<br />

diesen ersten Versuchen hinreichend offen um alles aufzunehmen,<br />

was vorgestellt wurde. Ich hatte gelernt Vertrauen<br />

zu haben, und die Kinder zeigten mir den Weg!<br />

Und es ist absolut sicher, dass wir alle davon profitieren:<br />

Die Kinder auf der mathematischen, ich auf der pädagogischen<br />

und didaktischen Ebene.<br />

92 93


Beispiele mit 7-8 Jahre alten Schülern<br />

Erste Erfahrungen<br />

Kommen wir nunmehr zur genaueren Betrachtung der<br />

Kindererfindungen. (23) Ein Bereich, der von den Kindern<br />

besonders geschätzt wird, ist das Erfinden von Zeichen.<br />

Ich habe mich gleich darüber gefreut: „Diese Aktivität<br />

wird es uns ermöglichen, sehr schnell die Ziffern zu beherrschen.<br />

Die Zeit wird wie im Fluge vergehen.“<br />

Ich hatte zu jener Zeit noch eine alte und reaktionäre<br />

Konzeption: Das ‚notwendige Wissen‘ erschien mir als<br />

bittere Pille, die die Schüler schlucken sollten. Wäre es<br />

nicht das beste, sie mit genügend Zucker zu umhüllen,<br />

damit die Kinder sie ohne allzu viele Grimassen schnell<br />

herunterschlucken könnten?<br />

Es war wirklich so, als ob die Dinge unter die Lupe<br />

genommen würden. Aber als ich später erfahren habe,<br />

dass Piaget (sinngemäß) gesagt hat (fraget 1988, S.25):<br />

„<strong>Verstehen</strong> <strong>heißt</strong> <strong>Wiedererfinden</strong>!“, da ist mir bewusst geworden,<br />

dass meine Kinder genau das taten. Und in der<br />

darauf folgenden Zeit habe ich gemerkt, dass sich dahin ter<br />

etwas viel Fundamentaleres verbarg. Ich nehme den Satz<br />

von Anaxagoras auf:<br />

„Am Anfang stand das Chaos, dann kam der menschli che<br />

Verstand, der Ordnung in dem Chaos schuf.“<br />

Nun gut, jetzt weiß ich, dass Kinder, wenn sie sich in<br />

(23) Präzisierungen: Rigide Lehrpläne stellen uns nicht vor Probleme. Die<br />

Kinder, die am meisten motiviert sind, schlucken sie am schnellsten. Aber<br />

in dieser neuen (kopernikanischen) Konzeption des Unterrichts kann sich<br />

eine neue Dimension eröff nen: nämlich der Aufbau ihres Wissens durch<br />

die Kinder selbst und dem genau passenden Beitrag der Lehrer zu diesem<br />

sich ver mehrenden Wissen. Wenn dieses verallgemeinert würde, könnten<br />

angemessene, weniger rigide Lehrpläne in Kraft treten.<br />

einem Chaos von Fremdsprachen, von Zahlen, von Figuren<br />

oder sonstigen Phänomenen befinden, ein künstliches<br />

MODELL konstruieren. Bei den Sprachen z.B. baden<br />

mei ne Schüler im Bretonischen ihrer Großeltern, im Englisch<br />

der Matrosen-Väter, im Italienisch der Steinbruch-<br />

Groß eltern, im Deutsch des Gymnasiums, auf das die älteren<br />

Geschwister gingen. Und sie denken sich ihr ‚Japanisch‘<br />

aus. Das <strong>heißt</strong>: ein Sprachmodell, das sie sich selbst<br />

erar beitet haben.<br />

Als ich sah, dass sie sich auf dieselbe Weise auch mathematische<br />

Modelle geschaffen haben, begriff ich, dass dies ein<br />

natürlicher Prozess des Lernens ist. (Wenn ich nicht dreißig<br />

Jahre lang in den gleichen Altersstufen geblieben wäre, in den<br />

Klassen mit mehreren Abteilun gen [1./2. Klasse, dann 1./2./3.<br />

Klasse, schließlich 2./3. Klasse], hätte ich das niemals wahrnehmen<br />

können.) Für die Pädagogik und Didaktik scheint mir<br />

dies ein Punkt von größter Wichtigkeit, ein Hauptpunkt, ein<br />

nahezu kopernikanischer Wendepunkt zu sein.<br />

„Der Mensch lernt nicht, indem er Reize von der Umwelt empfängt.<br />

Im Gegenteil, er wirft seine Hypo thesen und seine Theorien<br />

wie ein Netz über die Welt.“<br />

(Didier Eribon)<br />

Der Bericht meiner Erfahrungen ist ein Auszug aus<br />

einer vergriffenen Broschüre: ‚Eine Erfahrung mit freier<br />

Mathematik im 2. Schuljahr‘ (Le Bohec 1967/68). Da<br />

fan ge ich mit dem Ausdenken von Zeichen an.<br />

94 95


Erfinden von Zeichen<br />

Wir haben nach einem Zeichen für Nichtgleichheit gesucht<br />

und - welch ein Zufall - drehten sich die Erfindun gen<br />

alle um das offizielle Zeichen:<br />

Ausgehend von dem Mund, der sich auf der Seite des<br />

größten Kuchens öffnet, haben die Kinder dieses Zeichen<br />

sehr gut behalten. Für die Multiplikation und die Divi sion<br />

haben wir die klassischen Zeichen erhalten.<br />

Erfinden von Ziffern<br />

Man muss auf alles gefasst sein; so habe ich eines<br />

Tages im Forschungsheft von Jacques den folgenden Einfall<br />

gefunden:<br />

Seine Ziffern beruhten auf den arabischen Ziffern.<br />

Die anderen Kinder haben dies bemerkt und sich für eine<br />

Weile ausschließlich damit beschäftigt.<br />

Hier einige ihrer Erfindungen (die ersten Zahlen):<br />

Patrice:<br />

96 97<br />

Remi:<br />

J.F.:<br />

Ich bedauere, dass ich hier nur einige Dokumente dieser<br />

Untersuchung, dieser intensiven Erfindung von Ziffern<br />

vorstellen kann.<br />

Wir sind hierbei zu einer Schlussfolgerung von einem<br />

beträchtlichen Niveau gekommen, dass nämlich gute Zeichen<br />

einfach, schön und vor allem unterschiedlich sein<br />

müssen.<br />

Also hat jeder der zehn Schüler der 2. Klasse seine Ziffern<br />

geliefert und wir haben die ‚Ziffern‘ der Klasse erhalten.<br />

Hier sind sie:<br />

Von hier aus haben sich verschiedene Wege angeboten.<br />

Wir haben die arabischen Ziffern untersucht und ihre<br />

Vortrefflichkeit anerkannt: Sie sind einfach, schön und unterschiedlich,<br />

vorausgesetzt man schreibt sie gut. Ja, die<br />

Menschheit hat gut daran getan sie anzunehmen.<br />

Patrice ist vom gemeinsamen Weg abgewichen. Er<br />

wollte eifrig sein: Er hat zwanzig verschiedene Ziffern<br />

für die ersten zwanzig Zahlen erfunden. Aber die anderen<br />

Kinder haben ihm klargemacht, dass er keine besonderen<br />

Zeichen für 11,12,13, usw: benötigte, da er ja bereits 1,2,3<br />

usw. erfunden hatte.<br />

Jean-Frangois hingegen hatte Zeichen für die ersten<br />

zehn Zahlen erfunden. Über die Kritik der Klasse begriff


er, dass er für die Zehn kein neues Zeichen zu erfinden<br />

brauchte, weil es schon die Eins gab.<br />

Es reichte aus, ein Zeichen für die Null zu erfinden. In<br />

seiner Zehn musste man seine Eins wiederfinden. Damit<br />

war bereits das Prinzip von Zahlensystemen angeschnitten.<br />

Mehrere Kinder haben sich daran gemacht, die ersten<br />

hundert Zahlen mit den Ziffern der Klasse aufzuschrei ben.<br />

Dadurch wurde die Rolle, die die Zehner spielen, bewusst;<br />

eine besondere Rolle, wie in dieser Reihe der Dreißiger<br />

deutlich erkennbar ist.<br />

Diese ‘Konstruktion des Nebeneinander’ ermöglichte<br />

es uns zu erfassen, auf welchem Gesetz unsere alltäglichen<br />

Zahlen beruhen. Das war eine Möglichkeit, so nebenbei<br />

zu bestätigen, was im Vorjahr nur ziemlich konfus<br />

wahr genommen worden ist. Mit einem Unterschied;<br />

Dieses Mal haben die Kinder über ihre eigenen Ziffern<br />

nachge dacht; das war offensichtlich viel anziehender und<br />

er laubte, die alten Dinge unter einem völlig neuen Blickwinkel<br />

zu sehen.<br />

Diese Aktivität des Symbolisierens, die so aufregend<br />

für den Verstand ist, scheint mir sehr interessant und sogar<br />

unabdingbar zu sein. Durch tastende Versuche kann das<br />

Kind diese Aktivität verstehen, denn durch das Symbolisieren<br />

wird es zum Symbolisierer. Wenn das Kind<br />

dies intensiv geübt hat, hat es keine Ängste mehr vor<br />

den Symbolen der anderen. Das scheint mir ein Hauptpunkt<br />

zu sein, denn ein Grund für eine Blockade in der<br />

Mathematik sind oftmals die Zeichen: Sie stehen sozusagen<br />

Schlange, und die letzten drängeln sich schon vor, ehe<br />

die ersten wirklich ‚angekommen‘ sind. So entsteht ein<br />

großes Durcheinander.<br />

Wir müssen also zu einer Entmystifizierung der Symbole<br />

kommen. Um dabei zu helfen, schreibe ich manchmal<br />

die Namensliste meiner Schüler auf folgende Weise<br />

an die Tafel:<br />

Wir haben an diesem Beispiel, dem Erfinden von Zeichen<br />

und Ziffern, gesehen, dass man alles von den Kindern<br />

akzeptieren kann und dass ihre Erfindungen fast<br />

immer zur Entdeckung interessanter Möglichkeiten und<br />

Berei che führen.<br />

Der Kalender<br />

Wir hatten einen Abreißkalender. Jeden Tag nahm das<br />

Kind, das in dem betreffenden Monat das ‚Kalenderamt‘<br />

inne hatte, ein Blatt ab und heftete es an ein Anschlagbrett.<br />

98 99


Januar<br />

1 2 3 4 5 6 7<br />

8 9 10 11 12 13 14<br />

15 16 17 18 19 20 21<br />

22 23 24 25 26 27 28<br />

29 30 31<br />

Am Anfang hatten wir die Monate Oktober, November<br />

und Dezember horizontal so wie beim Monat Januar angeheftet:<br />

1-2-3 usw.<br />

Aber um nicht immer dasselbe zu machen, haben wir<br />

ein anderes Anheftsystem auf der Sperrholztafel eingeführt.<br />

Das hier ist der Monat Februar.<br />

1 8 15 22<br />

2 9 16 23<br />

3 10 17 24<br />

4 11 18 25<br />

5 12 19 26<br />

6 13 20 27<br />

7 14 21 28<br />

Bisher dominierte das ‚Januar-System‘ (als horizontale<br />

Präsentation). Man braucht immer etwas Dominierendes,<br />

denn man benötigt einen zuverlässigen Bezugspunkt.<br />

Wenn nämlich ein Gleichgewicht zwischen horizontaler<br />

und vertikaler Präsentation bestünde, gäbe es keinen Bezugspunkt<br />

mehr, sondern nur noch Verwirrung. Und deshalb<br />

blieb der Monat Januar dauernd angeheftet. (Es hätte<br />

ebensogut der Oktober oder Dezember sein kön nen.)<br />

Aber die Einführung des ‚Februar-Systems‘ eröffnet<br />

die Möglichkeit einer anderen Ausstellungsweise. Man tut<br />

gut daran diese Saat auszusäen, weil es die Kinder daran<br />

hindert, endgültig auf ein System festgelegt zu sein. Es<br />

ist sinnvoll, eine zweite Möglichkeit einzuführen, weil im<br />

Alltag beide Darstellungsformen unterschiedslos präsentiert<br />

werden und sich beide Sichtweisen ergänzen.<br />

Aber es gab auch andere Systeme. Hier diejenige, die<br />

Patrice für den Monat März wollte:<br />

Erste Feststellung:<br />

Man hätte bis zum April warten sollen, dann wäre es<br />

vollkommen symmetrisch gewesen.<br />

Zweite Feststellung:<br />

Links kann man die steigende (und fallende) arithmeti sche<br />

Folge zweiter Ordnung sehen:<br />

mit den Differenzen:<br />

Und rechts ist es das gleiche:<br />

mit den Differenzen:<br />

Außerdem steht da noch:<br />

Das kennen wir doch! Wir können sicher sein, dass die<br />

Kinder diese Folge der Quadratzahlen entdeckt hätten,<br />

wenn man diese Präsentation immer an der Tafel gelassen<br />

hätte.<br />

100 101


Für den April wollte Robin das Fünfer-Quadrat haben.<br />

Dennoch konnte man aber weder das Quadrat der 4 noch<br />

das der 3 bilden. Sondern nur das der 2 und das der 1:<br />

5 2 + 2 2 + 1 2 = 30<br />

Für den Monat Mai hat Pierrick gesagt:<br />

„Wir werden zuerst das Quadrat der 1 anheften, dann<br />

das Quadrat der 2, dann das der 3 und so weiter bis zur<br />

10.“ Aber wir haben gesehen, dass man gar nicht so weit<br />

kommt. Es ergab:<br />

1 2 + 2 2 + 3 2 + 4 2 + 1 2 = 31<br />

Auch hier wäre es im April besser gegangen:<br />

1 2 + 2 2 + 3 2 + 4 2 = 30<br />

Das wäre klarer gewesen.<br />

Im Juni gab es folgendes:<br />

Beim Erforschen dieser Struktur haben wir entdeckt, dass<br />

eine Teilsummenfolge ist:<br />

usw. (24)<br />

Pierrick untersuchte gründlich folgenden Kalender:<br />

Dann sagte er:<br />

„Das ist es! Ich habe etwas entdeckt. 8 ist eine ganze<br />

Reihe und 1 dazu.”<br />

Patrice fuhr fort:<br />

„15, das sind 2 Reihen von der 7 plus 1<br />

22, das sind 3 Reihen von der 7 plus 1<br />

29, das sind 4 Reihen von der 7 plus 1“<br />

Und ich frage dann: „Und 1?“ Die Antwort lässt nicht auf<br />

sich warten:<br />

„Das sind 0 Reihen von der 7 plus 1“<br />

Wir nehmen jetzt die Cuisenaire-Stäbe und messen mit<br />

dem schwarzen Siebener-Stab 8, 15, 22, 29 ab. Und jedes<br />

Mal sehen wir, dass ein kleines weißes Stück übrig bleibt.<br />

(24) In der Zahlentheorie als Dreieckszahlen bekannt.<br />

102 103


Es ist also die Familie ‘Rest 1, wenn man in siebener<br />

Schritten abmisst. Oder auch, um einen ‚modernen‘<br />

Ausdruck zu gebrauchen, die Restklasse 1 (mod 7), gesprochen:<br />

‚Restklasse 1 modulo 7‘. Oder man kann auch<br />

sagen:<br />

Das ist die Klasse ‘Rest 1’ oder ‘Klasse r 1 ’.<br />

2-9-16-23 sind dann entsprechend aus der Restklasse 2<br />

(mod 7) oder aus r 2 (mod 7).<br />

Wie man sieht, sind das alles Dinge aus dem täglichen<br />

Leben. Es genügt die Augen zu öffnen, um sie zu sehen.<br />

Ein Kennzeichen der <strong>Freinet</strong>-Pädagogik ist, dass man<br />

alles, was man im Mathmatikunterricht braucht, draußen<br />

im Leben findet.<br />

Wenn Sie zum Beispiel zur Post gehen und daran vorbeigehen<br />

ohne sie zu beachten, weil Sie zerstreut sind,<br />

dann müssen Sie den Weg wieder zurückgehen, um Ihren<br />

Brief in den Briefkasten zu werfen. Sie befinden sich dann<br />

mitten in der Addition von Vektoren.<br />

Aber dadurch, dass die Woche als eine Einheit im Kalender<br />

stark herausgestellt wurde, kommen wir von ganz<br />

allein zur Basis 7. (25) Daraus ergeben sich:<br />

Die nicht- dezimalen Zahlensysteme<br />

Man kann sie über den Kalender angehen, weil er<br />

Teil unseres Lebens ist. Aber es gibt andere Dinge, die<br />

eben falls interessant sind, zum Beispiel das Fischen von<br />

Seeohren.<br />

Die nicht dezimalen Zahlensysteme sind leicht. Es ist<br />

(25) Wir wissen, dass das Wort ‘semaine’ (Woche; altfranzösisch:<br />

sepmaine, italienisch: settimana) aus dem Kirchenlatein kommt: septimana<br />

- weibliche Form von septimanus: zur Sieben gehörig.<br />

sogar kinderleicht, weil die Kinder sie sehr gut lernen.<br />

Besser als die Erwachsenen, die so sehr auf das Dezimalsystem<br />

konditioniert sind, dass sie den Kopf verlieren,<br />

wenn sie aus ihrem Käfig herauskommen sollen. Man<br />

kann ohne Gefahr mit diesen Systemen spielen, weil man<br />

einen verlässlichen Bezugspunkt durch das Leben besitzt:<br />

das Dezimalsystem. Es löst sich nicht plötzlich auf. Es<br />

ist gut, wenn die Kinder sich in allen Zahlensystemen zu<br />

Hause fühlen. Das ist leicht, wenn man vom Leben ausgeht.<br />

Müssen sich übrigens nicht auch die kleinen Engländerinnen,<br />

die Kanadier und die Amerikaner in ihrem<br />

Leben damit befassen? Aber in Frankreich ist es besonders<br />

leicht, wenn man vom Fischen nach Seeohren oder<br />

nach Austern zurückkommt.<br />

Man breitet das Gepflückte auf dem Tisch aus. Man hat<br />

zum Beispiel 36 Seeohren. Man macht lauter Dutzende<br />

daraus. Und das ergibt:<br />

Man hatte drei Zehner und 6 einzelne Seeohren und<br />

macht daraus 3 Dutzend und Null. Man kann an die Tafel<br />

schreiben:<br />

Folglich schreibt man 36 als 30 im Zahlsystem mit der<br />

Basis 12. (26)<br />

(26) Das ist eine Schreibweise, die ich erfunden habe. Ich glaube, man<br />

müsste eigentlich 3012 schreiben, womit 30 im 12er System gemeint ist.<br />

104 105


Wenn man 65 Minuten hat, dann gibt das:<br />

oder<br />

Also schreibt man 65:<br />

Kommen wir auf den Kalender zurück:<br />

Wenn der Monat 4 Wochen und 3 Tage hat, kann man<br />

schreiben:<br />

Im Dezimalsystem schreibt man vereinbarungsgemäß<br />

ohne Angabe der Basis, also 31 und nicht:<br />

Und der Kalender, der vertikal geordnet ist, ist noch bes ser<br />

lesbar für das Siebenersystem, weil die Wochen und die<br />

Einzeltage genau ihrem Platz haben.<br />

Das macht:<br />

Das sind:<br />

Diese Feststellung ist sehr interessant, weil die Kinder,<br />

die eine Hundertertafel in vertikaler Anordnung erfin den,<br />

besser verstehen, warum dann da steht:<br />

106 107


Und das erlaubt ihnen, die Hundertertafel in horizontaler<br />

Anordnung noch besser zu verstehen. Man muss das Zahlensystem<br />

der 10 entmystifizieren und darf nicht glauben,<br />

dass es vom Himmel gefallen oder gar ein Geheimnis sei.<br />

Übrigens kann man in den Zahlensystemen reichlich herumprobieren<br />

lassen; denn handelt es sich dabei nicht um<br />

die Division?<br />

„Nein, die Division für die Wochen, die geht so“: (27)<br />

„Ja, gewiss, aber wir haben gesehen, dass es auch so geht:<br />

Und auch dieses:<br />

ist die Division.“<br />

(27) Die französischen Abkürzungen haben folgende Bedeutung: D :<br />

Dividend, d : Divisor, q : Quotient, r : Rest (Anm. d. Übers.)<br />

Dann beruht also das Dezimalsystem auf der Division?<br />

Aber ja! Und es ist sogar, scheint mir, die Division einer<br />

Zahl durch die Potenzen von 10:<br />

Natürlich kommt man schnell zur Stellenwerttafel mit 3<br />

Spalten, mit 4 Spalten usw.<br />

Das ergibt: und<br />

Erklärung:<br />

Das Probieren ist sehr interessant. Man muss dabei<br />

viel dividieren, und der ‘Rest’ erhält dabei einen neuen<br />

Stellenwert.<br />

Ich will das hier nicht weiter vertiefen; nur noch zwei<br />

kurze Anmerkungen:<br />

1. Für uns ist es ganz klar, dass 1969 so aussieht:<br />

2. Die Kanadier benutzen in ihrem Alltag das duale<br />

System:<br />

108 109


Zahlenfelder<br />

Die Arbeit mit den Zahlenfeldern war eine Offenbarung<br />

für mich. Nie hätte ich so etwas gedacht! Sie beweist,<br />

dass Kinder ein beachtliches Defizit an Lernzuwachs<br />

haben, wenn der Lehrer sich darauf beschränkt das anzubieten,<br />

was er weiß, und der Gruppe nur erlaubt, sich<br />

aus schließlich auf den ausgetretenen Pfaden zu bewegen,<br />

die er kennt. Man zieht also großen Nutzen daraus, wenn<br />

man der kindlichen Kreativität vertraut, die glücklicherweise<br />

über die des Lehrers und dessen enge Grenzen hinausgeht.<br />

Eines Tages erhalten wir von Serge aus Buzet (9 Jahre) ein<br />

Erfinder-Heftchen über Rechtecke. Die Kinder haben sich<br />

diese Idee sofort zu Eigen gemacht und angefangen mit<br />

Rechenkaros zu experimentieren. Und als Jacques plötzlich<br />

Zahlen hineinschreibt, beginnt das vielschichtige und<br />

originelle Abenteuer mit den Zahlenfeldern.<br />

Wir haben diese Erfindung von Jacques untersucht und<br />

haben herausgefunden, dass es die Spalte der ungeraden<br />

und die Spalte der geraden Zahlen gab. (Das Auspro bieren<br />

mit geraden und ungeraden Zahlen gefällt den Kindern<br />

sehr.)<br />

Das hier hat Robin gemacht: Er hat die hundert ersten Zahlen<br />

aufgeschrieben, als ob er eine Hundertertafel anfertigen<br />

wollte, und er hat alle Felder mit geraden Zahlen rot angemalt.<br />

Und das ergibt lauter weiße und rote Streifen.<br />

Vollkommen zufrieden mit seinem Erfolg fängt Robin<br />

noch einmal an.<br />

Aber dieses Mal sind es 36 Felder.<br />

Man sieht, es ist einfach, die Anordnung nach geraden<br />

und ungeraden Zahlen ergibt ein Streifenmuster.<br />

Christian ist von der Schönheit der Erfindung von Robin<br />

angezogen und springt auf den Zug, der von Jacques ins<br />

Rollen gebracht worden ist. Und was entdeckt man plötzlich?<br />

Die Struktur des Schachbretts.<br />

110 111


Wie ist das möglich?<br />

Also, bei dem Quadrat ‘10 mal 10’ und dem Quadrat ‘6<br />

mal 6’ sind die geraden Zahlen in Streifen angeordnet.<br />

Hier ist das anders. Eine offene Frage steht im Raum, aber<br />

noch weiß keiner eine Antwort; wenigstens nicht sofort:<br />

„Warum ist das so?“ Der Lehrer schweigt.<br />

Dann hat Robin dieses erfunden:<br />

Beim Betrachten dieser Erfindung entdeckt man, dass es<br />

mit einem weißen Feld beginnt und mit einem roten aufhört,<br />

weil die Paare (weiß-rot) genau aufgehen. Und überhaupt:<br />

Die Paare, die kennt man schon, weil man ja schon<br />

mal die Cuisenaire-Stäbe in den Fingern hatte.<br />

oder 3 ( b + r ) = 3 ( r + b )<br />

[b: blanc (weiß), r: rouge (rot) ]<br />

Welch außergewöhnlicher Zufall! Hier haben wir weitere<br />

„weiß-rote“ Paare, die sich am 15. Februar mit den<br />

Paaren verknüpfen, die wir am 15. Oktober entdeckt<br />

hatten.<br />

Wir haben bemerkt, dass es für das ‚7 mal 7‘ Quadrat<br />

von Christian drei vollständige Paare gibt und dass eines<br />

übrig bleibt. Das vierte Paar ist in zwei Teile aufgeteilt,<br />

während für 6 und 10 die Paare ganz bleiben. Und nun?<br />

Also, wenn die obere Reihe eine gerade Anzahl von<br />

Kästchen enthält, dann erhält man Streifen, und wenn es<br />

eine ungerade Anzahl ist, hat man ein Schachbrett, weil<br />

derjenige, der allein übrig bleibt, die ganze nächste Reihe<br />

durcheinander bringt.<br />

Aber in Christians Konstruktion steckte noch mehr.<br />

Und so haben Robin und Michel sofort losgeschrien:<br />

„Aber Herr (28) ..., die Erfindung von Christian ist das<br />

gleiche wie beim Kalender. Das ist genauso.“<br />

„Wie das?“<br />

„Weil es in der ersten Reihe des Kalenders auch 7 Blätter<br />

gibt.“<br />

„Ach ja, das ist richtig.“<br />

Und die Kinder entdecken, dass auch hier, wie beim<br />

Kalender, die 8 unter der 1 steht, weil es eine Reihe ‘plus<br />

V ist.<br />

(28) In Frankreich reden die Schüler ihre Lehrer lediglich mit ‚Monsieur‘<br />

und ihre Lehrerinnen mit ‚Madame‘ bzw. ‚Mademoiselle‘ an. (Anm. d.<br />

Übers.)<br />

112 113


Wir finden die Äquivalenzklassen wieder: 8-15-22 sind<br />

aus der gleichen Restklasse 1 (mod 7) bzw. repräsen tieren<br />

die Klasse r 1 (d.h., bei Division durch 7 bleibt der Rest 1).<br />

Man kann dazu schreiben: 1 = 8 = 15 = 22 (mod 7)<br />

Das bedeutet:<br />

1 ist äquivalent zu 8 ist äquivalent zu 15 ist äquivalent<br />

zu 22 unter (mod 7).<br />

Wir finden hier genau das wieder, was wir schon beim<br />

Kalender herausgefunden hatten.<br />

Man sieht, dass man sich nicht angespannt darum bemühen<br />

muss, dass die Kinder sich etwas einprägen, denn<br />

es ergeben sich immer wieder Verknüpfungen mit den<br />

alten Erkenntnissen, wenn man einfach weitergeht.<br />

Und ich prophezeie, dass man sich bald damit begnügen<br />

wird einfach weiterzugehen, ohne jemals zu versuchen,<br />

die Dinge in die Köpfe hineinzupressen. Am Ende einer<br />

solchen vier Grundschuljahre andauernden Erfahrung<br />

wäre die Ausbeute, mit der man in die 5. Klasse übergehen<br />

könnte, riesig. (Und warum fährt man nicht später in<br />

Sekundarstufe I und Sekundarstufe II mit dieser kontinuierlichen<br />

Reorganisation des erworbenen Wissen fort?)<br />

Hier ein Beispiel eines Zahlenfeldes.<br />

Die Klasse r1, dazu gehören 1-5-9-13 (Restklasse 1<br />

(mod 4)).<br />

Die Klasse r2 , dazu gehören 2-6-10-14<br />

(Restklasse 2 (mod 4)), die hat sich Fanfan ausgedacht.<br />

Die Klasse r3, dazu gehören 3-7-11-15, hat sich Patrice<br />

ausgedacht.<br />

Die Klasse r0 (von Robin), das ist 0-4-8-12-16.<br />

Die Kinder brauchen nicht lange, um ein Gesetz dieses<br />

Zahlenfeldes zu entdecken: Die Klasse r0 ist immer am<br />

Ende.<br />

Zum Beispiel: Für r6 gehören: 0-6-12-18-24-30-36 zur<br />

Restklasse Null (mod 6), weil die obere Reihe voll ständig<br />

ist und danach nichts mehr folgt.<br />

Analog hat man oben in dem ‘4 mal 4’- Quadrat eine<br />

Reihe von 4, das macht 4. Zwei Reihen, das macht 8 usw.<br />

Ich sage den Kindern, dass die Klasse r0 einen besonderen<br />

Namen hat, es ist die ‚Klasse der Vielfachen‘. Hier<br />

sind die Vielfachen der 4: 0-4-8-16 und hier sind die Vielfachen<br />

der 6 : 0-6-12-18.<br />

Jacques sagt dann:<br />

„Ich habe es verstanden, man fängt immer mit der Null<br />

an.“<br />

Nun folgt das große Abenteuer mit den Vielfachen, das<br />

auch denjenigen Lehrern, die großen Wert auf die Multiplikationstafeln<br />

legen (was bei mir nicht der Fall ist),<br />

Freude gemacht hätte.<br />

Bestimmte Kinder stoßen bis zu den Vielfachen von<br />

12, von 16, von 19 usw. vor, nichts kann sie aufhalten.<br />

Aufschlussreich ist die Tatsache, dass all dies von ihnen<br />

114 115


selbst kommt und dass sie mit rasendem Eifer arbeiten.<br />

Man sieht, wie wir von der Halbierung der Rechtecke<br />

von Serge zu den Zahlenfeldern, zu den geraden und ungeraden<br />

Zahlen sowie zu den Vielfachen gekommen sind.<br />

Aber jetzt kommen wir noch einmal zu unseren letz ten<br />

Entdeckungen zurück:<br />

„Halt, das ist doch das, was Jacques gemacht hat.“<br />

„Halt, 2-4-6-8 sind doch Vielfache von 2.“<br />

„Und 1 - 3 - 5 - 7 ?“<br />

„Das ist r1, die Klasse von Jacques, die Restklasse 1<br />

(mod 2).“<br />

Während der ganzen Zeit geht die Entwicklung wei ter.<br />

Bleiben wir bei den Zahlenfeldern stehen? Keine Angst,<br />

bald werden wir in ganz andere Bereiche vor stoßen. Aber<br />

fürs Erste malen die Kinder ihre Streifen waagerecht an<br />

und schreiben keine Zahlen mehr hinein.<br />

Jemand fragt:<br />

„Wie viele Quadrate sind das ?”<br />

„Sucht doch selbst!“<br />

„Nun gut! 12 Quadrate in der obersten Reihe. 5 Streifen,<br />

das macht 60.“<br />

„Ja, weil man 5 mal 12 gleich 60 (5 • 12 = 60) sagen<br />

kann.“<br />

So haben sie selbst, ohne dass irgend jemand sie gefragt<br />

hätte, die Formel Für die Berechnung der Fläche des<br />

Rechtecks gefunden.<br />

Am Anfang meiner Lehrertätigkeit machte ich eine<br />

einmalige Einführung in ein Thema. Anhand einer einfachen<br />

Demonstration, die in meinen Augen wirklich einleuchtend<br />

war, mussten die Kinder es verstanden haben.<br />

(Wer an diesem Tag nicht da war, hatte halt Pech gehabt.)<br />

Jetzt dagegen meine ich, dass sie es erst nach unzähligen<br />

Versuchen vollständig geistig verarbeitet und gelernt<br />

haben.<br />

Aber nun zu Patrice. Er macht ein Zahlenfeld, das über<br />

beide Seiten seines Mathematikheftes geht. Und die ses<br />

Mal verwendet er keine Farbe.<br />

Robin folgt ihm auf dem Fuße: Er füllt ein Blatt mit<br />

einem Zahlenfeld aus. Er rechnet: 20 Streifen ä 33, das<br />

macht 660 Karos.<br />

Ich kann es nicht fassen: 660 Karos auf einer einzigen<br />

Seite!<br />

Aber man muss sich von den Tatsachen überzeugen<br />

lassen.<br />

Natürlich kann ich 20 • 33 = 660 ausrechnen. Aber ich<br />

wusste nicht, was das in der Realität bedeuten konnte, weil<br />

ich nur im Abstrakten gearbeitet habe. Aber die Kinder,<br />

die wissen, was 20 mal 33 Karos bedeutet!<br />

Da wir das Rechenblatt jetzt ohne farbige Kennzeichnungen<br />

betrachten, können wir die Kommutativität der<br />

Multiplikation entdecken, indem wir auch die senkrechten<br />

Reihen anschauen.<br />

116 117


So gibt es einen Fortschritt in Richtung Abstraktion,<br />

weil wir auf die Hilfe der Farbe verzichten.<br />

Eines Tages werden wir das reine Rechteck in seiner<br />

ganzen Einfachheit erreichen. Es kann sein, dass die Formel<br />

‘A = a • b‘ so bereits während der Grundschul laufbahn<br />

des Kindes eingeführt wird. Aber das geschieht ohne jeden<br />

Schaden, weil es vorher ein doppeltes tasten des Versuchen<br />

gegeben hat: Versuche mit Symbolen und Versuche mit<br />

Rechtecken. Und dann kann das Gesetz vollständig akzeptiert<br />

und verinnerlicht werden.<br />

Ich habe geschummelt. Robin hat mir nicht 20 Reihen<br />

mit 33 gezeigt, sondern 19 Reihen mit 33. Ich hatte gedacht,<br />

dass das über seine Kräfte ginge, und ich habe ihm<br />

gesagt, er solle die Linien verlängern um eine zwan zigste<br />

Reihe zu haben. Dann konnte er rechnen: 10 • 33 und dann<br />

20 • 33.<br />

Aber jetzt finde ich in seinem Heft:<br />

Ich rufe aus:<br />

„Was? Du kennst diese Operation mit zweistelligen<br />

Zahlen?“<br />

Eigentlich haben wir sie nur einmal auf die Schnelle gesehen,<br />

als Patrice mich gefragt hat, wie man das macht.<br />

„Ja, ich hatte das verstanden und jetzt mache ich damit<br />

weiter.“<br />

Und dann hat er gesucht:<br />

Natürlich haben einige Mitschüler es sofort selbst versucht,<br />

so dass wir aufgehört haben, uns mit den Zahlenfeldern<br />

zu beschäftigen.<br />

Nun ist der Moment gekommen, die Rolle des Lehrers<br />

näher zu betrachten. Anstatt die Herde mit allen Kräften<br />

auf der Weide der Zahlenfelder festzuhalten, die doch so<br />

reich ist, lässt er sie gehen. Braucht man dazu ein Übermaß<br />

an Unbekümmertheit? Aber nein! Er weiß jetzt, dass<br />

sie darauf zurückkommen werden, wie wir auf die geraden<br />

und ungeraden Zahlen (im Zusammenhang mit der<br />

Restklasse (mod 2)) zurückgekommen sind.<br />

Mit der Arbeit von Serge aus Buzet haben wir begonnen<br />

und dann sind wir (ohne das zu wiederholen, was<br />

er gemacht hat) nacheinander auf das Schachbrett, die<br />

geraden und ungeraden Zahlen, die Äquivalenzklassen,<br />

die Viel fachen, die Moduln, die Paare, die Streifen, die<br />

Zahlen felder, die Fläche des Rechtecks gekommen, und<br />

jetzt sind wir bei der Multiplikation. (29)<br />

(29) „Das Wichtige“, sagt Machery, „ist, dass die Ordnung, die die<br />

Wissenschaft aufstellt, immer vorläufig ist. Sie muss immer weiter bearbeitet<br />

werden, indem man sie mit anderen Arten von Ordnungen konfrontiert.<br />

Dieses Fortschreiten von einer Ordnung zur anderen, das durch<br />

aufeinander folgende Abbruche gekennzeichnet wird, ist das, was den<br />

Prozess des Wissens definiert.“<br />

118 119


Ich möchte noch kurz erwähnen, dass wir auch die<br />

Gelegenheit hatten uns die Potenzen anzusehen, weil einige<br />

Kinder die Flächen mehrerer Quadrate ausrechneten.<br />

Ich sagte ihnen nebenbei, dass es Potenzen wie diejenigen<br />

seien, die wir am Anfang des Jahres kennengelernt<br />

hatten.<br />

Aber niemand hat sich dafür interessiert, niemand hat<br />

hierbei innegehalten. Ich habe nicht weiter nachgehakt,<br />

weil ich jetzt Vertrauen habe: Ich weiß, dass es auch in<br />

Zukunft Rückblenden geben wird.<br />

Sachprobleme<br />

Angesichts mancher Problemformulierungen (bei Sachaufgaben)<br />

empfinden zu viele Kinder oft unüberwindbare<br />

Schwierigkeiten. Es kommt natürlich daher, dass man notwendige<br />

Lernschritte überspringen wollte.<br />

Die Kinder müssen immer unvermittelt in die Formulierung<br />

und in den Gedanken einer anderen Person einsteigen,<br />

die übrigens immer ein Erwachsener ist. Man<br />

nimmt immer noch nicht die erste Stufe der natürlichen<br />

Methode zur Kenntnis, die <strong>heißt</strong>: Die eigene Praxis ist<br />

unabdingbar!<br />

Ebenso, wie man durch Symbolisieren zum Symbolisierenden<br />

wird und sich so in der Welt der Symbole wohl<br />

fühlt, wird man durch Berichten zum Bericht erstatter und<br />

dringt in die Beschreibung der Probleme der anderen ein.<br />

Aus diesem Grunde unterscheiden wir (bei Sachaufgaben)<br />

vier Bereiche von tastenden Versuchen:<br />

• die Informationen,<br />

• die Fragen, die man sich stellen kann,<br />

• das Lösungsverfahren, das man einsetzt, und<br />

• die Antworten, die man erhält.<br />

Man kann es auch anders sagen. Ein Bericht ohne<br />

Zahlen ist eine Geschichte. Mit Zahlen wird es eine verschlüsselte<br />

Geschichte. Aber das ist an sich noch kein Problem.<br />

Damit es ein Problem gibt, braucht man eine oder<br />

mehrere Fragen. Dann bleibt nur noch, sich das Mittel<br />

auszudenken, um die Antworten zu finden. Wenn man<br />

sich die Aussagen der Kinder anschaut, kann man vier<br />

Fehlerbereiche finden: unzureichende Information, unpassende<br />

Fragen, falsche Lösungsverfahren, nicht adä quate<br />

Antworten.<br />

Manche dieser Beschreibungen decken sehr gut die<br />

Persönlichkeit des einzelnen Kindes auf. Zum Beispiel<br />

die Geschichten von Patrick (2. Klasse, 7 1/2 Jahre). Seine<br />

Problembeschreibungen sind tastende Versuche, und er<br />

lacht als erster über ihre Unvollkommenheit. Die ganze<br />

Klasse lacht mit, und eine gelöste Stimmung breitet sich<br />

aus. Aber das ist nicht der einzige Erfolg von Patricks<br />

Beschreibungen.<br />

Doch schenkt uns nicht jede Blume Honig? Diese Arbeit<br />

ist besonders dann ergiebig, wenn man von den eigenen<br />

Erfahrungen und Erlebnissen ausgeht. Wenn Patrick<br />

mathematische Probleme beschreibt, dann müs sen auch<br />

wir von ihnen ausgehen, damit er Fortschritte machen<br />

kann. Also müssen wir seine Erfindungen und seine Gedanken<br />

bearbeiten.<br />

„Ich habe ein Glas, ich zerbreche es, ich muss ein anderes<br />

kau fen.“<br />

Wir diskutieren und wir schreiben: 1 - 1 + 1 = ?<br />

Um die Antwort zu finden, reicht die Wahrnehmung<br />

120 121


aus, dass hier durch eine Bündelung (1-1) eine Null<br />

entsteht.<br />

Antwort: (1 - 1) + 1 = 1.<br />

„Ich habe eine Dose mit einem Loch. Ich fülle Wasser hinein.<br />

Das Wasser kommt durch das Loch heraus.“<br />

Unzulängliche Information: „Aber wie viel Wasser<br />

tust<br />

du hinein?”<br />

„1 Liter.“<br />

„Ja gut. Also das macht: 1-1=0 oder 0 + 1 - 1 = 0<br />

Dies träfe ebenso auf eine viel höhere Anzahl von<br />

Litern zu.”<br />

„Ich habe einen Hund. Ich verkaufe ihn. Es bleibt nichts<br />

übrig.“<br />

1-1 = 0<br />

„Ich habe eine Katze. Sie frisst Mäuse.“<br />

Unzureichende Informationen: Wir können auch nicht<br />

mehr herausbekommen, weil er darüber nicht mehr weiß.<br />

Dass sich die Problemsituationen von Patrick auf<br />

so kleine Zahlen beziehen, ist nicht weiter wichtig. Das<br />

Wichtige ist vielmehr, dass auf diese Weise der Begriff der<br />

gebenüber-liegenden (negativen) und der neutralen Zahl in<br />

der Addition und Subtraktion angesprochen und letztlich<br />

verstanden wird. Aber nein, das ist nicht das Wesentliche!<br />

Das Allerwichtigste ist, dass Patrick so viel Spaß daran<br />

hat, seine Beschreibungen vorzustellen. Sein größter Erfolg<br />

und die Quelle seiner Freude ist es, wenn er seine Mitschüler<br />

dazu bringt, Tränen zu lachen. So sorgt er für ihre<br />

geistige Gesundheit.<br />

Den Clown braucht er nicht zu spielen. Er ist ein Clown.<br />

Er hat wenig Sinn für Realität und versteht nicht viel von<br />

dem, was in den Mathematikstunden abläuft. Eigentlich ist<br />

er ein sehr gestörtes Kind. Er ist Links händer und schrieb<br />

zunächst sogar in Spiegelschrift (30) . Die Beziehung zu seiner<br />

Mutter ist sehr schwierig: Sie kann sich nicht bei ihm<br />

durchsetzen, da er andauernd nur höhnisch lachend davonläuft,<br />

wenn sie etwas von ihm will. Auch mir macht er<br />

Kummer, weil er nichts lernt. Und so setze ich ihn an die<br />

Rechenkartei, mit der er eini ge kleine Fortschritte machen<br />

kann. Aber er möchte gerne an den Besprechungen teilnehmen,<br />

die seinen Freunden so gut gefallen. Und damit er<br />

das darf, erledigt er seine Mindestzahl an Karteikarten.<br />

Wird er so aus seiner extremen Konfusion herauskommen?<br />

Ich bin sicher und habe auch schon erste Fort schritte<br />

beobachten können.<br />

Zunächst bildet sich ein solides Fundament, das zwar<br />

nur aus wenigen Elementen besteht, aber fest im Boden<br />

verankert ist. Sobald er diesen Boden unter seinen Füßen<br />

spürt, kann er auf Entdeckungsreisen gehen. Außerdem<br />

ist er ja nicht allein. Seine Mitschüler stehen auf ganz<br />

unterschiedlichem Leistungsniveau. Einige sind höchstens<br />

einen Schritt weiter als er. Sie werden vielleicht<br />

sei ne Aufgabe mit dem kaputten Glas aufgreifen und die<br />

(30) Nebenbei möchte ich darauf hinweisen, dass ich von Patrick in dem<br />

Buch ‚La Méthode Naturelle, III. Aprentissage de l’E’criture’ (<strong>Freinet</strong><br />

1968) gesprochen habe.<br />

Er, ein totaler Linkshänder, schaffte es, mit der rechten Hand zu schreiben,<br />

und das nur, weil das erste Auto seines Vaters den Schaltknüppel auf<br />

der rechten Seite hatte. Er träumte davon, eines Tages damit zu fahren,<br />

und wollte deshalb schon jetzt damit anfangen seine rechte Hand zu<br />

trainieren. Offensichtlich hatte er zusätzliche Energien und eine besondere<br />

Willensstärke. Wie konn te diese zu seinem Vorteil auf das Lernen<br />

umgelenkt werden?<br />

122 123


Fragestellung auf viele Gläser erweitern. Dann macht er<br />

sich vielleicht ihre Fragen zu eigen und kann seine ausgefahrenen<br />

Wege verlassen.<br />

Darüber sollte man nachdenken, da es vielen Kindern<br />

ähnlich geht. Wie viele Kinder (gerade in großen Klassen)<br />

haben keinen Boden mehr unter den Füßen und werden<br />

permanent mit Beschreibungen traktiert, mit denen sie<br />

nichts anfangen können, weil sie niemals einen eigenen<br />

Schritt auf dieses unbekannte Gebiet hatten wagen können?<br />

Wenn es um die Formulierung von Problemen bei<br />

Sachaufgaben geht, muss man immer wieder probieren.<br />

Hier zwei Beispiele für unvollständige Formulierungen:<br />

„Ich will von Tregastel und nach he Havre gehen. Und<br />

von Paris. Wie viel?“<br />

„Ich habe einen Garten von 60 m Länge.“<br />

Aber die meisten Überraschungen gibt es bei den<br />

Lösungsversuchen.<br />

Hier ein freier mathematischer Text von Patricia, den<br />

mir jemand gezeigt hat:<br />

„Wir müssten eigentlich 26 sein, weil Christelle weg ist.<br />

Aber mit den vier Neuen sind wir 21.<br />

26 + 25 + 21 = 72“<br />

Man könnte sagen, dass das kein Problem ist, weil<br />

dabei keine Frage auftaucht. Es handelt sich hier eher um<br />

eine Aufzählung. Aber was einen wirklich vor Probleme<br />

stellt, das ist die Rechenoperation.<br />

So etwas passiert oft mit Kindern, die die Maske des<br />

Schülers aufsetzen und versuchen, das (gekünstelte) Spiel<br />

‚Schule‘ zu spielen, indem sie mit Zahlen operieren. Sie<br />

tun genau das, was Schule von ihnen fordert. Wirklich?<br />

Nein, sie reproduzieren das, was sie bei den ersten mathematischen<br />

Problemstellungen erfahren haben. Der Mathematikunterricht<br />

ist so aufgebaut, dass man in Stufen voranschreiten<br />

und vom Einfachen zum Komplizierten gehen<br />

muss. Deshalb bekommen die Kinder zuerst Aufgaben,<br />

die nur eine einzige Addition erfordern. Und was macht<br />

es schon, wenn es ein fiktives Problem ist? Schließlich<br />

genügt es doch, die Zahlen, die in der Sachbeschreibung<br />

enthalten sind, einfach zu addie ren, um das richtige Ergebnis<br />

zu erhalten. Wie sollen die Kinder erkennen, dass<br />

das nicht immer so weiter funktio nieren kann?<br />

Glücklicherweise hat uns Célestin <strong>Freinet</strong> darauf aufmerksam<br />

gemacht, dass man in die Komplexität eintauchen<br />

muss, um die Komplexität zu beherrschen. Man kann<br />

nämlich nicht sofort schwimmen, wenn man gelernt hat,<br />

die Schwimmbewegung im Trockenen auf einem Hocker<br />

zu machen. Aber wie kann man den Kindern hel fen, aus<br />

diesem schematischen Funktionieren herauszu kommen?<br />

Anscheinend baut sich Patricia kein eigenes geistiges<br />

Abbild der beschriebenen Situation auf, die es ihr ermöglichen<br />

würde, diese zu begreifen. Sie beschränkt sich darauf,<br />

in ihrem Kopf die verschwundene Christelle, die vier<br />

Neuen sowie die Mitschüler, die bereits im vorhergehenden<br />

Schuljahr in der Klasse waren, zu sehen. Die von ihr<br />

nicht verarbeitete Realität benutzt sie, um eine erstaunliche<br />

Theorie auszuarbeiten:<br />

21 + 25 + 26 = 72<br />

Wie hätte ich persönlich in einer solchen Situation reagiert?<br />

Ich bin überzeugt, dass das von den Umständen und<br />

von meiner Eingebung abhinge. Ich wäre von der momentanen<br />

Situation ausgegangen, das <strong>heißt</strong> von dem, was sich<br />

124 125


aus den Reaktionen der Gruppe entwickelt hät te. Wenn<br />

ich zum Beispiel gemeint hätte, es wäre Zeit, die Realität<br />

genauer ins Auge zu fassen, dann hätte ich mich damit<br />

auf Bachelards Aussage gestützt, dass die Realität nur zur<br />

Überprüfung unserer Entwürfe diene.<br />

Ich hätte dann zweifellos, ohne mit der Wimper zu zucken,<br />

gesagt:<br />

„Gut, es gibt 72 Schüler in dieser Klasse.“<br />

Wahrscheinlich hätten die Schüler, die gewohnt waren,<br />

die Worte ihres provozierenden Lehrers nicht für bare<br />

Münze zu nehmen, so reagiert:<br />

„Aber nein, das stimmt nicht, wir sind nicht 72 Kinder<br />

in der Klasse.“<br />

„Trotzdem, 21 + 25 + 26, das macht 72.“<br />

„Ja.“<br />

„Was nun?“<br />

Und ich hätte sie in ihrem Saft schmoren lassen. Denn<br />

eine Erklärung wäre unnütz oder zumindest verfrüht gewesen.<br />

Sie selbst mussten entdecken, dass die Zahlen 21,<br />

25 und 26 zwar der Realität entsprachen, dass aber die<br />

Operation nicht zutreffend war.<br />

Auf jeden Fall hätte ich die Autorin gegenüber jedem<br />

herabsetzenden Urteil in Schutz genommen.<br />

„Es ist nicht nur ein freier Text, den Patricia gemacht<br />

hat, sondern es sind zwei. Im zweiten hat sie einfach spaßeshalber<br />

eine Operation mit den Zahlen 21, 25 und 26<br />

gemacht. Sie ist frei, das zu schreiben, was sie mag.“<br />

In einem anderen Fall hätte ich es vielleicht für notwendig<br />

erachtet, erneut an der Veranschaulichung zu<br />

arbeiten:<br />

„Halt, dein Text interessiert mich! Lies ihn mir noch<br />

einmal vor, Patricia, wenn du willst.“<br />

„Gut, ihr wart 26:<br />

Und dann ist Christelle weggegangen:<br />

In eurer Klasse gibt es vier Neue.”<br />

So mache ich es, wenn ich klarer sehen will. Aber<br />

manchmal gehe ich auch anders vor:<br />

126 127


Ihr wart<br />

Natürlich wäre dann mein Beitrag nur gering und sehr<br />

knapp gewesen. Aber vielleicht hätte sich ein Teil davon in<br />

irgendeiner Gehirnecke eingenistet. Und wenn nicht, dann<br />

ist es auch okay! Ich hätte eben daneben getroffen. Und<br />

das nicht das erste Mal.<br />

Aber ich hätte eine Rolle gespielt, die es den Kindern<br />

erlaubt, sich gegenseitig etwas beizubringen; denn Belehrungen<br />

aktivieren unseren Verstand nicht. Erst, wenn man<br />

etwas selbst erklären kann, dann hat man es verstan den.<br />

Rechnen mit Unbekannten<br />

Das hätte ich nicht erwartet: Jacques hat mit seinen Additionen<br />

das Rechnen mit Unbekannten eingeführt. Diese<br />

einfache Veränderung hat uns neue Perspektiven eröffnet.<br />

(31)<br />

(31) Das ist immer so: Es ist immer ein kleiner Blick über den Zaun, der es<br />

erlaubt aus der Welt herauszutreten, in der man lebte, und eine neue Welt<br />

zu betreten. Und in einer erfinderischen Klasse gibt es viele Gelegenheiten<br />

zu solchen Blicken, entweder bei einem Fehler oder bei einer Übertragung<br />

oder wenn jemand zwei Dinge zusammenfügt, die man noch nicht<br />

zusammen gesehen hat. So ist sichergestellt, dass man sich niemals im<br />

Kreise dreht: man kriegt immer irgendwie die Kurve.<br />

Hier ist es:<br />

In der vorderen Spalte steht: h + h = 9 . Da es keine<br />

Ziffer für 4 1/2 gibt, muss es vorher einen Übertrag geben.<br />

Dann müsste es heißen: 1 + 6 + x = 18 .<br />

In diesem Fall müsste x = 11 sein. Das geht aber nicht,<br />

denn x kann höchstens 9 sein.<br />

Damit die Gleichung lösbar wird, muss die 6 durch<br />

eine 8 ersetzt werden.<br />

Hier noch etwas anderes:<br />

Das geht nicht, weil man bei i + i einen Übertrag benötigt,<br />

damit es 9 werden können. Und da h + h = 2 ist, ist<br />

dieses nicht möglich.<br />

„Aber nein“, sagt Robin (der Autor), „h ist 6.“<br />

„Ja gut. Also ist i gleich 4. Aber h + h, also 6 + 6, das<br />

ergibt nicht 25.“<br />

Aber der Autor lässt sich durch diese Unzuläng lichkeit<br />

nicht aus der Ruhe bringen.<br />

„Aber nein, i ist gleich 9, und für h + h gibt es einen<br />

Übertrag.“<br />

Doch bei 1 + h + h = 25 muss Robin sich geschlagen<br />

geben. Aber Robin konnte der Kritik gleich zweimal etwas<br />

entgegenstellen (wie oben Tiziano, der auch zweimal der<br />

Kritik ausweichen konnte). Solche Diskussionen, die den<br />

Dingen auf den Grund gehen, schärfen die Intelligenz und<br />

ermöglichen es, die Operationen gut zu verstehen.<br />

128 129


Die Kinder lieben das Rechnen mit Unbekannten, weil<br />

es immer zu Überraschungen führt. Hier noch eine:<br />

Ausklammern eines gemeinsamen Faktors<br />

In jenem Jahr war ich sehr aufgeschlossen und bereit,<br />

jede Struktur, die vorgestellt wurde, besonders hervorzuheben.<br />

Aber trotz aller Offenheit hatte ich nicht damit gerechnet,<br />

das Bestimmen eines gemeinsamen Teilers zu<br />

behandeln. Doch eines Morgens schrieb Michel Robin:<br />

Das bedeutet: 10 orange (Cuisenaire-) Stäbe .+ 10 blaue<br />

Stäbe + 10 braune (marron) Stäbe. Das <strong>heißt</strong> also:<br />

zehn Zehner + zehn Neuner + zehn Achter.<br />

(Ein oranger Stab hat den Wert 10, ein blauer den Wert<br />

9 und ein brauner den Wert 8.)<br />

Vorausahnend, dass dieses interessant werden könnte,<br />

habe ich die 2. Klasse aufgefordert, sich um Michel aufzustellen,<br />

der die Cuisenaire-Stäbe nach den Farben sortiert<br />

getrennt gelegt hatte.<br />

Uns sind zwei Möglichkeiten deutlich geworden, wie<br />

man die Situation darstellen könnte.<br />

Pierrick gab den Anstoß:<br />

„Warum können wir sie nicht einander berühren lassen?“<br />

„Gut, macht es!“<br />

Nun konnte man (wie vorher) sagen: 10 o + 10 b + 10 m,<br />

aber auch 10 ‘Drillinge’ (32) (o + b + m).<br />

Voll Begeisterung habe ich gerufen:<br />

„Aber das ist doch das Ausklammern eines gemeinsamen<br />

Faktors (frz: ‚facteur commun‘).“<br />

Aber die Kinder haben nur gelacht:<br />

„‘Le facteur’ (dtsch: ‘Briefträger‘) ist doch Herr Prigent.“<br />

„Nein, Roger Le Goff ist ‚le facteur‘.“<br />

Da kam mir eine gute Idee:<br />

„Wer ist euer Briefträger?“<br />

Und wir haben herausgefunden, dass Roger der<br />

(32) zum Thema ‘Drillinge’ vgl. folgendes Kapitel<br />

130 131


gemeinsame Briefträger von Patrice, Pierrick, Michel, Patrick<br />

und Christian ist.<br />

Und Herr Prigent ist der gemeinsame Briefträger von<br />

Remi, Jacques, Pascal, Jean-François und Robin.<br />

Wir haben es so aufgeschrieben:<br />

Roger {Patrice + Pierrick + Michel + Patrick + Christian)<br />

und Herr Prigent (Remi + Jacques + Pascal + Jean-<br />

Frangois + Robin).<br />

Und wir haben es so gelesen: ‘facteur de’ (im Dt. entweder<br />

‘Briefträger von‘ oder ‚Faktor von‘).<br />

Und für 10 o + 10 b + 10 m ist der gemeinsame ‚facteur‘<br />

die Zahl 10. Und das schreibt man 10 (o + b + m).<br />

So haben wir, ausgehend von Robins Erfindung, einen<br />

ziemlich schwierigen mathematischen Begriff erarbeitet.<br />

Entscheidend war dabei, dass wir unsere Aufmerksamkeit<br />

sowohl auf die Cuisenaire-Stäbe als auch auf das Umfeld<br />

der Kinder gerichtet haben.<br />

In jenem Jahr habe ich gelernt, die Erfindungen der<br />

Kinder zu achten. Nichts ist wirklich umsonst und oft mals<br />

habe ich feststellen können, dass kleine Verrückt heiten in<br />

eine großartige Einsicht einmünden. Es gibt kei ne Dinge,<br />

die x-beliebig sind, sondern alles hat einen Sinn.<br />

(Ich betone das, weil diese Einstellung eher unüblich<br />

ist. Pardon, natürlich gilt das nicht für die ‚Ecole moder ne‘<br />

(33) was die Bereiche Französisch, Musik und Kunst anbelangt.<br />

Aber im Mathematikunterricht ist diese Ein stellung<br />

auch hier bisher nicht üblich.)<br />

Doch müsste man dann nicht befürchten, derjenige zu<br />

sein, der nicht sehen kann, dass es in allen Erfindungen<br />

der Kinder, auch den scheinbar verrücktesten, etwas Tieferes<br />

zu entdecken gibt?<br />

(33) ‘ficole moderne’ <strong>heißt</strong> die <strong>Freinet</strong>-Bewegung in Frankreich<br />

Was mich betrifft, so habe ich meine Wahl getroffen.<br />

Ob sie richtig war? Ich bin so vermessen es anzunehmen.<br />

Ich bilde mir sogar ein, dass man dem tastenden Versuchen<br />

auch auf der gedanklichen Ebene den Vorrang geben<br />

muss.<br />

Bachelard hat geschrieben: „Die Wirklichkeit ist dazu<br />

da, uns zum Denken zu bewegen.“ (Bachelard 1970) Demnach<br />

wäre die Wirklichkeit nicht das Wichtige; vielmehr<br />

geht es um das Denken. Man kann dabei genauso gut von<br />

einer Träumerei, von einer Erfindung eines Kindes, von<br />

einem Witz, von einer Zeichnung, von einem Irrtum, von<br />

einer realen oder künstlichen geometrischen Konstruktion<br />

ausgehen wie vom Leben. Das Wichtige ist, dass man<br />

denkt.<br />

An was hat Robin gedacht, als er 10 o + 10 b + 10 m geschrieben<br />

hat? Vielleicht assoziierte er mit seiner Men ge<br />

eine persönliche Erfahrung? Oder er erfasste zumin dest<br />

ein Glied der Kette. Es kommt nicht darauf an, was es<br />

wirklich war; denn die Klasse ermöglichte es ihm, sei nen<br />

Gedanken einen Schritt weiter zu entwickeln.<br />

Weil ich hier das Erarbeiten eines Begriffs untersuche,<br />

möchte ich betonen, dass ich, als Lehrer, keinen festen<br />

Plan hatte. Ich wusste überhaupt nicht, wo wir ankommen<br />

würden. In diesem Fall habe ich durch meinen spontanen<br />

Gedanken dazu beigetragen, dem Begriff näher zu<br />

kommen.<br />

Dies konnte ich tun, weil mir das Ausklammern geläufig<br />

war. Aber es gibt sicher vieles, was ich übersehe, weil<br />

ich nicht gut genug Bescheid weiß.<br />

Doch das ist kein Drama. Wenn man mit gleichgesinnten<br />

Kollegen zusammenarbeitet, lernt man schnell dazu.<br />

Vor allem dann, wenn man entdeckt, dass bei Kindern<br />

bestimmte Dinge regelmäßig in ähnlicher Form wieder<br />

132 133


auftauchen. Und man lernt sehr schnell die Haltung einzunehmen,<br />

die für alle bereichernd, die hier angemessen<br />

ist, nämlich: sich in die Gruppe zu integrieren, sich auf<br />

eine Ebene mit seinen Schülern zu stellen und der Freund<br />

zu sein, der ein wenig mehr weiß. Und nicht mehr der<br />

Lehrer, der mit seiner ganzen Weisheit hundert Meilen<br />

von seinen Schülern entfernt, völlig allein denkt. Dazu<br />

muss man aber immer und immer wieder nach passenden<br />

Informationen für die Gruppe suchen, damit sich ihr Forschungsgebiet<br />

ausweiten kann.<br />

Ich möchte ein letztes Wort über das Wortspiel ‚facteur<br />

de PTT (Briefträger‘) und ‚facteur de‘ (‚Faktor von‘) sagen.<br />

Wir haben darüber gelacht; das <strong>heißt</strong>, wir haben damit ein<br />

Gefühl verbunden, und dieser emotionale Bezug hilft uns<br />

dabei, uns besser an die Begriffe zu erin nern.<br />

Wenn ich auf die drei Jahre Erfahrung zurückblicke,<br />

wird mir bewusst, dass die Beziehung zwischen Emotionen<br />

und gelernten Begriffen um so fassbarer wurde, je<br />

mehr wir der Phantasie, dem Unerwarteten, dem Ungewöhnlichen<br />

den nötigen Raum gaben. Sie setzte sich in<br />

der Vergangenheit gleichsam wie auf einem Inselchen<br />

fest, zu dem man leicht wieder zurückkehren kann. Alles<br />

ist erlaubt, gültig, vernünftig, was ein affektives Begreifen<br />

ermöglicht. Solange Fröhlichkeit die Basis ist, findet man<br />

die Brücke mit viel mehr Freude wieder. So wird man von<br />

dieser glücklichen Erinnerung vorangetrieben. Jedenfalls<br />

muss man als Lehrer dafür sorgen, dass die unterschiedlichsten<br />

Assoziationen, affektive, räumliche, situative,<br />

poetische, künstlerische, musikalische usw., entstehen<br />

können.<br />

Meiner Meinung nach besteht die Aufgabe in der 2.<br />

Klasse nicht darin, die Schüler dazu zu bringen, sich endgültiges<br />

Wissen anzueignen, sondern ihnen zu helfen,<br />

verschiedenartige und solide Brückenköpfe für selbständige<br />

geistige Eroberungszüge zu errichten.<br />

Beispiele mit 8-9 Jahre alten Schülern<br />

Drillinge<br />

Hier jetzt einige Arbeiten aus der 3. Klasse (8 bis 9<br />

Jahre) (Le Bohec 1970):<br />

Fangen wir mit dieser Erfindung an:<br />

Eigentlich ist dies keine ‘echte’ Erfindung. Der linke<br />

Block ist eine einfache Kopie einer vorhergegangenen Arbeit.<br />

Aber einige Kinder brauchen das. Ich habe bereits<br />

von den visuellen Typen gesprochen, die die Dinge sehen<br />

müssen, damit sie wirklich begreifen können. Die auditiven<br />

Typen dagegen müssen sich die Worte immer wiederholen,<br />

um sie richtig zu erfassen. Aber das geht noch weiter.<br />

Das menschliche Wesen muss manchmal die Dinge<br />

noch einmal selbst tun, die es gesehen oder gehört hat.<br />

Gerade hatte ich mir gesagt: „Prima! Das ist einfach<br />

und klar! Das haben sie sicher verstanden.“ Ja, sie hatten<br />

es verstanden. Aber trotz alledem hatten sie das Bedürfnis,<br />

es selbst noch einmal nachzuvollziehen. Das machen<br />

auch Erwachsene so. Und ist dies nicht eine gute Methode,<br />

um sich die Dinge zu eigen zu machen?<br />

In der zweiten Spalte wird die Struktur mit anderen<br />

Zahlen wiederholt. Es kommt oft vor, dass man eine<br />

134 135


Struktur rekonstruieren muss, um sie für sich aufgreifen<br />

und weiter bearbeiten zu können. Dann löst man sich nach<br />

und nach von der störenden Wirklichkeit, um zu einer klärenden<br />

Abstraktion zu gelangen. Aber oftmals tritt auch<br />

das Gegenteil ein, wie wir gleich sehen werden:<br />

Am zweiten Schultag im neuen Schuljahr hatte ich<br />

Zahlen aus der Klasse an die Tafel geschrieben:<br />

18, 6, 24,13,11, 23,1, 6, 7,13.<br />

Das sind die verschiedenen Kardinalzahlen der Men gen<br />

von Jungen, Mädchen, Schülern insgesamt, kleinen, großen,<br />

alten, neuen, großen Mädchen und großen Jungen.<br />

Ich habe zu den Kindern gesagt: „Schaut mal zur Tafel,<br />

ob ihr nicht Zahlen seht, die zusammengehören.“ Nach und<br />

nach haben wir so Gruppen mit je drei Zahlen gebildet:<br />

18-6-24; 13-11-24; 23-1-24; 6-7-13.<br />

Die Kinder haben diese Zahlentripel ‘Dreier’ (34) genannt.<br />

(Man sagt auch ‘Trio’ oder ‘Drilling’ dazu.)<br />

Am nächsten Morgen haben wir mit 18 + 6 = 24 weitergearbeitet.<br />

Zuerst sollten die Jungen aufstehen (18),<br />

dann dazu die Mädchen (6). Jetzt standen alle Schüler<br />

(24). Wir konnten schreiben:<br />

(34) Die Kinder wählten das Wort ‚Dreier‘ (frz.: ‚tierce‘) wohl des halb,<br />

weil es in Frankreich gleichzeitig der Name einer beliebten Pferdewette ist.<br />

Im deutschen Sprachraum ist der Begriff ‚Drilling‘ geläufiger.<br />

wenn: 18 + 6 = 24<br />

dann: 24 - 18 = 6<br />

und: 24 - 6 = 18<br />

und damit das Aufstehen und das Hinsetzen der Kinder in<br />

mathematischen Zeichen nachvollziehen.<br />

Dann machten wir das gleiche mit unseren Cuisenaire-<br />

Stäben:<br />

wenn: 5 + 4 = 9<br />

dann: 9 - 5=4<br />

und: 9 - 4=5<br />

Bevor ich zur Verallgemeinerung überging, hatte ich<br />

die Kinder gebeten sich Wörter auszudenken. Eric hatte<br />

z.B. das Wort ‚cochon‘ (Schwein) gewählt und daraus den<br />

Schluss gezogen:<br />

wenn: co + chon = cochon<br />

dann: cochon - chon = co<br />

und: cochon - co = chon<br />

Wie man sich denken kann, war das ein großer Erfolg.<br />

Eric machte weiter:<br />

wenn: e + ric = eric<br />

dann: eric - e = ric<br />

und: eric - ric = e<br />

136 137


Jetzt haben alle mit ihren Vornamen gearbeitet. Aber<br />

Eric kritzelte mit Eifer hin<br />

Körper + Schwanz = Schwein.<br />

Das gab ein Lachen und Gejohle! Diese Arbeit hatte so<br />

viel Spaß gemacht und war so ansteckend, dass sich eine<br />

wahre Sintflut von Drillingen ergoss: Die Schüler wiederholten<br />

es immer wieder um es zu begreifen.<br />

Drei Tage später sind wir auf den Schulhof gegangen,<br />

weil Jean-Paul bemerkt hatte, dass die beiden Geländer<br />

der Freitreppe zum Klassenzimmer wegen des Gefälles<br />

auf dem Schulhof unterschiedlich hoch waren.<br />

Wir haben zwei Bindfäden genommen, die genauso<br />

lang waren wie die große Stütze. Dann haben wir einen auf<br />

die Länge der kleinen Stütze verkürzt. Der abge schnittene<br />

Faden war die Differenz:<br />

So konnten wir aufschreiben: 102 cm + 20 cm = 122 cm,<br />

folglich: 122 - 20 = 102 und: 122 - 102 = 20.<br />

Zufällig hatte Denis die drei Gleichungen untereinander<br />

geschrieben:<br />

102 + 20 = 122<br />

122 - 20 = 102<br />

122 - 102 = 20<br />

Große Verblüffung! Wir hatten die Drillinge wiedergefunden.<br />

Als Patrick sagte: „Wir hätten die Stützen mit Holzstöcken<br />

messen können“, habe ich die Gelegenheit genutzt<br />

und drei Holzlatten von 122 cm, 102 cm und 20 cm gesägt.<br />

Die kleine habe ich gelb, die mittlere rot und die große auf<br />

der einen Seite orange und auf der anderen Seite rot + gelb<br />

(102 + 20) angemalt. Diese Latten sind zu Orientierungspunkten<br />

für die ganze Klasse geworden.<br />

Wir konnten schreiben: Klein + Mittel = Groß<br />

138 139<br />

oder<br />

Die Kinder haben das so gut verstanden, dass wir in<br />

der 3. Klasse sogar schreiben konnten:<br />

So hatten wir schon am Anfang des 3. Schuljahres die<br />

Hälfte von dem durchgenommen, was man in Frankreich<br />

in der Grundschule verlangt. Die andere Hälfte ist:


Wenn wir irgendwelche Sachaufgaben zu lösen hatten,<br />

konnten wir schon das Lösungsverfahren einer Unbekannten<br />

anwenden. Zum Beispiel:<br />

„Ich wollte ein kleines Auto kaufen, das 27 Francs kosten<br />

sollte. Aber ich hatte nur 18 Francs. Wie viel fehlen<br />

mir?“<br />

Um die Antwort zu finden, genügt es die letzte Gleichung,<br />

in der die Unbekannte isoliert ist, zu nehmen: Es<br />

fehlen mir x = 9 Francs.<br />

Man erkennt hier, wie viele unterschiedliche Bereiche<br />

eröffnet und erforscht werden müssen, damit Begriffe sich<br />

in einem realistischen, erfinderischen, abstrakten, phantasievollen<br />

und planenden Kopf festsetzen können.<br />

Beim Berichten über meine Erfahrung fällt mir auf,<br />

dass ich in diesem zweiten Jahr der natürlichen Methode<br />

noch zu sehr eingegriffen habe. Mir wurde schnell bewusst,<br />

dass ich selbst manchmal das Hindernis für die<br />

harmonische Entwicklung der Gruppe war. Und so habe<br />

ich gelernt, mich so lange wie möglich zurückzuhalten.<br />

Mein Anteil ist also kleiner geworden. Er ist nach wie vor<br />

da, aber er hat sich - genau betrachtet - verändert. Ich habe<br />

meine unmittelbaren kognitiven Eingriffe aufgege ben und<br />

kümmere mich jetzt mehr um die Voraus setzungen für<br />

einen allgemeinen Wissenszuwachs. Mein Beitrag besteht<br />

vor allem darin, für die Schüler da zu sein, eine Information<br />

beizusteuern, zu einem Schritt über das Erreichte hinaus<br />

anzuregen, den Ängstlichen zu helfen, die Dominanten<br />

zu dämpfen, die gemurmelten Hypo thesen zu hören,<br />

die Beiträge im positiven Sinne heraus zustreichen usw.<br />

‘Fehler’ werden zu Qualitäten<br />

Ich bedaure, dass ich hier nur einige wenige Beispiele<br />

aus meiner Praxis anführen kann. So habe ich fast gar<br />

nicht vom Zählen gesprochen, aber in diesem Bereich<br />

scheinen die Lehrer auch weniger Probleme zu haben.<br />

Hier geht alles seinen normalen Gang und ich neige eher<br />

dazu, ungewöhnliche Beispiele herauszuheben, weil sie<br />

die wirklich neuen Elemente aufzeigen. Tatsächlich pflegen<br />

wir jahrhundertealte Formen im Rechenunterricht,<br />

der einmal aus den ‚Notwendigkeiten des Lebens‘ entwickelt<br />

wurde, wobei immer Erwachsene bestimmten, was<br />

‚not wendig‘ sei.<br />

Aber wenn man einmal die Position der Kinder einnimmt,<br />

die selbstverantwortlich über ihre Schritte und<br />

Aktivitäten entscheiden, dann wird man vielleicht feststellen,<br />

dass man auch die ‚Notwendigkeiten des Seins‘<br />

berücksichtigen muss. Und in diesem Bereich haben wir<br />

noch viel zu entdecken. Dabei können einem z.B. physische<br />

und psychische Besonderheiten bewusst werden, wie<br />

im folgenden Beispiel:<br />

140 141


Wahrscheinlich hat jeder sofort das Bedürfnis, das Bild<br />

um 90 Grad zu drehen, damit sich die Zahlen einander<br />

entsprechen.<br />

Und so ist es sicher kein Zufall, dass ich einige Zeit<br />

später dieses im Heft von Remi finde:<br />

Tatsächlich ist Remi derjenige, der die Ideen der anderen<br />

weiterentwickelt. Seine Erfindungen sind selten originell.<br />

Aber er greift die Ideen von anderen auf, entwickelt<br />

sie weiter und fügt immer etwas Neues hinzu. Hier sieht<br />

man, dass man eine 3/8 -Umdrehung nach rechts machen<br />

muss bzw. eine von 135 Grad.<br />

„Oder eine 3/8 - Umdrehung nach links oder eine von<br />

... oder eine von ... 360 - 135 = 225 Grad“ sagt Eric, der<br />

von Natur aus rechthaberisch ist und immer nach Möglichkeiten<br />

sucht, um selbst die eindeutigsten Aussagen zu<br />

erschüttern.<br />

So ist Remi anfangs ausschließlich als ‚Verstärker‘ für<br />

vorhandene Ideen aufgetreten - bis zu dem Tage, an dem<br />

er die Zahlenfelder entdeckte. Er arbeitete sehr lange in<br />

die sem Bereich und wurde aufgrund seiner Erfahrung der<br />

Spezialist und Bezugspunkt der Klasse für Flächenberechnung,<br />

für Probleme sich kreuzender Wege usw. Was<br />

mich überraschte, war die Besessenheit, mit der er einige<br />

Felder schwarz (35) anmalte:<br />

Also, Remi hat seinen Kreis mit 8 Achteln gezeichnet.<br />

Und Ghislaine hat seine Idee aufgenommen. Was sage<br />

ich? Nein, sie hat die Erfindung von Remi genau abgeschrieben.<br />

Schauen wir sie uns an:<br />

(35) Ob man das Schwarzmalen mit der schwierigen Beziehung zu seinem<br />

Vater in Verbindung bringen kann? Er war mit 8 Jahren das älteste von<br />

vier Kindern. Ich weiß es nicht. Aber er empfand offensichtlich eine große<br />

Freude, viele helle Felder ‚anzuschwär zen‘.<br />

142 143


Denn Ghislaine hat nicht viele Ideen. Die meiste Zeit<br />

begnügt sie sich damit abzuschreiben. Ohne Zweifel tut<br />

sie es auch, um sich die Ideen besser einzuprägen.<br />

Aber Ghislaine ist Linkshänderin. Innen im Kreis ist es<br />

ihr offenbar noch gelungen, gegen ihren Hang zur Linksdrehung<br />

die Zahlen richtig zu kopieren. Dort ist die Kopie<br />

richtig. Aber dann war sie zweifellos von der bis herigen<br />

Anstrengung ermüdet und ging wieder ihren eigenen, natürlichen<br />

Weg. Dementsprechend drehen sich die äußeren<br />

Zahlen in der anderen Richtung.<br />

Aber genau das stellte die Klasse vor ein schwieriges<br />

Problem: Wir können in beiden Richtungen drehen, so<br />

viel wir wollen, wir schaffen es nicht die Zahlen zusammenzubringen.<br />

Nun, inzwischen kenne ich die natürliche<br />

Methode gut genug um zu wissen, dass ich möglichst<br />

lange nicht eingreifen darf. Also warte ich jetzt: mit dem<br />

Effekt, dass es meist nicht mehr notwendig ist.<br />

Endlich entdeckt jemand eine Lösung: Man muss zuerst<br />

eine Drehung um 180° in den Raum hinein vollziehen.<br />

Danach kann man die entsprechenden Drehungen in<br />

der Ebene machen.<br />

Jetzt staunen die Mitschüler:<br />

„Oh, Ghislaine, Ghislaine! Was für schwierige Probleme<br />

hast du dir ausgedacht.“<br />

Eigentlich hat sie sich in Wirklichkeit nur geirrt, als sie<br />

etwas abgeschrieben hat. Aber Ghislaine ist sehr zufrieden,<br />

dass es so gut aufgenommen worden ist. Sie kann es<br />

durchaus brauchen, einmal im Mittelpunkt zu stehen, da<br />

sie die ältere Schwester eines sehr hübschen und gescheiten<br />

Mädchens ist, das sie mit ihren Schulleistungen bereits<br />

eingeholt hat. Weil die Jüngere von den Eltern mehr<br />

geliebt wurde, hatte diese keine psychischen Probleme<br />

und konnte folglich ihre intellektuellen Fähigkeiten voll<br />

ausschöpfen. Vor allem gab es ja jemanden, den sie überholen<br />

konnte. Das Erlebnis mit Ghislaines Erfindung hat<br />

mich nachdenklich gemacht. Ich habe daraus gelernt, dass<br />

jeder, so wie er ist, seinen Platz in der Gruppe hat. Und<br />

dass der ‚Erfinder‘, der ‚Weiterentwickler‘, der ‚Gestörte‘,<br />

der ‚mit dem Durchblick‘ und sogar derjenige, der falsch<br />

abschreibt, gleichermaßen nützlich ist. Deshalb kann man<br />

sagen: „In einer Forschungsgruppe werden die Fehler zu<br />

Qualitäten.“<br />

Man könnte es bedauern, dass das Ansehen, das das<br />

Mädchen gewann, nicht auf einer wirklichen Erfindung<br />

beruhte, sondern auf einem - nicht aufgedeckten - Irrtum.<br />

Doch das ist nicht wichtig.<br />

Nach und nach fand dieses Mädchen über kleinere Bestätigungen,<br />

über unfreiwillige Erfolge und über wachsende<br />

allgemeine Anerkennung in der Klasse, psychologisch<br />

gesprochen, immer mehr Zugang zur Mathematik.<br />

Der Beweis: Ausgerechnet sie, die sich so regelmäßig<br />

irrte, ist Buchhalterin geworden, nachdem sie alle dafür<br />

notwendigen Prüfungen mit Auszeichnung bestanden hat.<br />

Man könnte, ausgehend von diesem Beispiel, noch weiter<br />

forschen, aber das würde hier zu weit führen. Statt dessen<br />

möchte ich noch von anderen Erfahrungen aus meiner<br />

Klasse berichten.<br />

144 145


Vektoraddition<br />

Nach einer Reihe von tastenden Versuchen und Entdeckungen<br />

sind wir so nahe an die Vektoraddition herangekommen,<br />

dass ich mir gesagt habe: „Nun gut, warum<br />

eigentlich nicht?“<br />

Hier sind drei Punkte:<br />

Zum besseren Verständnis folgender Hinweis: Ich hat te<br />

in meiner Klasse eine kritische Äußerung meines Sohnes<br />

Herve wiedergegeben, nämlich: „Du willst mir doch nicht<br />

einreden, dass jemand, der von A nach B gehen will, Spaß<br />

daran findet, über C zu gehen.“<br />

Sofort rief Patrice:<br />

„Nein, Sie hatten recht und nicht Ihr Sohn! Da wollte<br />

meine Mutter vor einigen Tagen ein. Waffeleisen in der<br />

Eisenwarenhandlung kaufen. Aber weil sie etwas zer streut<br />

war, ging sie daran vorbei ohne es zu merken. Als sie an<br />

der Apotheke ankam, hat sie sich gefragt:<br />

‘Was mache ich überhaupt hier? Ich muss zurückgehen.‘<br />

“<br />

So gibt es zwei verschiedene Wege, wenn man von<br />

einem Punkt zu einem anderen gehen will: den direkten<br />

und den zerstreuten Weg. Sehen wir uns das einmal an:<br />

Wir denken uns 3 Punkte<br />

und 6 Tiere (bei jedem Punkt sollen 2 sein) und sehen<br />

uns an, welche Wege sie laufen können:<br />

Wir starten von B.<br />

Die Schildkröte geht nach C.<br />

Der Bär geht nach A.<br />

Wir starten von C.<br />

Der Fuchs geht nach B.<br />

Das Huhn geht nach A.<br />

Sofort sprudelten die Bemerkungen los:<br />

„Aber warum ist bei dem zerstreuten Weg in der Mitte<br />

derselbe Buchstabe?“<br />

Wir haben gesucht und herausgefunden, dass man direkt<br />

gehen kann, um von einem Punkt zu einem ande ren<br />

zu gelangen.<br />

Aber wenn man über einen dritten Punkt dorthin geht,<br />

wird die Spitze des ersten Vektors zur Basis des zweiten<br />

Vektors.<br />

146 147


Sofort bemerkt Philippe aus der 1. Klasse:<br />

„Also, mein Vater ist Busfahrer. Er fährt die Strecke<br />

Lannion - Tregastel über Perros. Aber manchmal fährt er<br />

auch direkt von Lannion nach Tregastel.“<br />

Wir schauen uns das an:<br />

→ → →<br />

Es stimmt: LT = LP + PT<br />

Wir müssen lachen, weil hier PT (im frz. ausgesprochen<br />

wie das Verb ‚peter‘ = pupsen, Anm. d. Übers.) und<br />

die ähnlich klingenden Endungen von Tregastel direct‘<br />

und ‚Perros-Guirec‘ vorkommen. Das Lachen tut gut, es<br />

lockert ein bisschen auf und das macht uns frei für neue<br />

ernsthafte Untersuchungen.<br />

Dieses Mal hat nicht Patrice das Abstrakte mit der<br />

Wirklichkeit verbunden, sondern Philippe. Zweifellos hat<br />

es beim Wort ‘direkt’, das zum täglichen Sprachgebrauch<br />

seines Vaters gehört, bei ihm gefunkt.<br />

Im Zusammenhang mit dieser Arbeit habe ich eine<br />

noch ganz andere Erfahrung gemacht und dabei etwas für<br />

mich Neues begriffen. Ich habe diese Geschichte näm lich<br />

einer Gruppe von Lehrern erzählt und zur Illustra tion drei<br />

Stühle in einer Reihe aufgestellt, als Marcelle plötzlich<br />

rief:<br />

„Halt, die Vektoraddition, die habe ich nie kapiert. Ich<br />

habe richtig Komplexe bekommen. Aber vielleicht kann<br />

ich es jetzt endlich verstehen, denn die Kinder haben es ja<br />

auch verstanden.”<br />

Und sie stand auf, um sich neben den Stuhl A zu stellen.<br />

Sie ging zuerst von A nach B:<br />

Dann kam sie zu A zurück, um dieses Mal zuerst zu<br />

C und dann zu B zu gehen. Bei dieser Tätigkeit trieb sie<br />

kei ne Mathematik, sondern Sport.<br />

Aber sie war damit nicht zufrieden. Sie kam zu A zurück,<br />

und das nächste Mal bewegte sie sich nur in der Vorstellung,<br />

ohne dass sie sich wirklich bewegte, und sagte:<br />

„Von A kann ich zu B gehen. Und von A gehe ich erst<br />

nach C und dann nach B.“<br />

Und jedes Mal zeigte sie mit dem Finger auf den<br />

Stuhl, zu dem sie ‘geht’. Dieses Mal stellte sie sich die<br />

Bewegun gen im Geist vor. Aber sie war noch nicht in der<br />

Mathematik.<br />

Als niemand es mehr erwartet hatte, ging sie zur Tafel<br />

und zeichnete folgendes:<br />

Sie gab sich also nicht mehr damit zufrieden, sich die<br />

Bewegungen selbst vorzustellen, sie stellte sie anderen<br />

vor.<br />

Und dieses Mal hatte es geklappt, sie war in der Mathematik,<br />

weil sie die Wirklichkeit symbolisch darstellte.<br />

148 149


Zunächst waren da die Stühle als Zeichensymbole der<br />

Wirklichkeit. Dann hatte sie mit Pfeilen operiert und<br />

das Chaos in ihrem Kopf ordnete sich durch diese Darstellungsform.<br />

Aber sie gab sich damit nicht zufrieden,<br />

sondern schrieb langsam unter ihre Pfeilskizze:<br />

dann, immer noch genauso langsam:<br />

Und plötzlich schrieb sie wie eine aufgezogene Feder,<br />

mit vollem Schwung:<br />

„Ich hab‘s, ich habe die Sache verstanden, man schreibt<br />

den Buchstaben, der fehlt, in die Mitte.“<br />

Jetzt war es ihr ganz klar geworden: Sie hatte die Wirklichkeit<br />

ganz vergessen und stieg vollständig in das Spiel<br />

der Mathematik ein. Dieses Erlebnis hat mich sehr beeindruckt.<br />

Tatsächlich ist die Vektoraddition über die Füße<br />

in den Kopf von Marcelle gelangt. Sie musste diese Sache<br />

auf konkrete Weise tun, bevor sie sie auf intellektu elle<br />

Weise tun konnte.<br />

Man kann noch lange darüber nachdenken, besonders,<br />

da sich unvorstellbar viele Menschen von der Mathematik<br />

ausgeschlossen fühlen, weil man es ihnen nicht erlaubt<br />

hat, ihren individuellen Weg zu verfolgen. Wir Lehrer<br />

sind immer in Eile und meinen, sofort auf der Stufe der<br />

Abstraktion arbeiten zu müssen.<br />

Außerdem - taugen denn nur diejenigen etwas, die in<br />

der Lage sind, diesen Schritt sofort zu tun? Wenn wir so<br />

weitermachen, produzieren wir in der Schule viele Scherben.<br />

Vielen Menschen wird Wissen vorenthalten, weil die<br />

für den Erwerb notwendigen Etappen bis ins Un erträgliche<br />

verkürzt werden. Dabei bietet die Forschungs gruppe, die<br />

Arbeitsgruppe in der natürlichen Methode, jedem so viele<br />

Möglichkeiten, seinen eigenen Weg zu ver folgen, und<br />

zwar unabhängig von der individuellen Aus prägung der<br />

Persönlichkeit. Dann ist es unerheblich, ob er emotional<br />

gestört ist und sein Gleichgewicht wieder finden muss,<br />

indem er seine eigene Mathematik konstru iert, ob er rein<br />

intuitiv entdeckt, ob er überwiegend mit Objekten arbeitet,<br />

ob er ein Empiriker, ein Theoretiker oder ein Realist<br />

usw. ist.<br />

Jeder kann, solange er will, auf der Ebene bleiben, die<br />

ihm angemessen und nützlich erscheint. Die Wahrscheinlichkeit<br />

ist groß, dass die anderen ihn in Gebiete hinüberziehen,<br />

zu denen er aus den unterschiedlichsten fami liären,<br />

schulischen und gewohnheitsmäßigen Gründen niemals<br />

Zugang gehabt hätte und die dennoch für ihn vollkommen<br />

angemessen sind. Die Gruppe hilft auch bei Fortschritten,<br />

Wiederholungen, Rückgriffen und vor allem bei Erinnerungen.<br />

Durch die Gruppe erhält der ein zelne vielfältige<br />

Bezugspunkte für sein Thema. Die Mit schüler erinnern<br />

ihn an bestimmte Hefte, an Notizen an der Pinnwand usw.<br />

Vor allem aber erinnern sie ihn an vielschichtige Erlebnisse<br />

voller Lachen, Freude, Überra schungen und intensiver<br />

Forschungen, und wie man weiß, prägen sich solche<br />

gefühlsstarken Augenblicke besonders ins Gedächtnis<br />

ein.<br />

150 151


Bei ihren Erfindungen schreiben die Kinder freie mathematische<br />

Texte. Damit klar wird, was dabei pas siert,<br />

lesen wir nach, was man in der Literatur-Theorie dazu<br />

sagt:<br />

„Um schreiben zu können, muss der Schriftsteller sich eingestehen,<br />

dass er nur sehr wenig weiß, denn er schreibt,<br />

indem er das zuvor Geschriebene transformiert. In diesem<br />

Sinne ist das Schreibblatt ein Theater der Metamorphose<br />

... Das Schreiben ist der Akt einer Person, die, indem sie<br />

das Geschriebene wieder ausra diert, es schafft, nach und<br />

nach das zu denken, was sie zuvor noch nicht gedacht<br />

hat. Kurzum, Schriftsteller schreiben nicht, indem sie abschreiben;<br />

Schriftsteller sind vor allem diejenigen, die den<br />

spezifischen Beitrag des Geschriebenen zur Herauskristallisierung<br />

ihrer Gedan ken akzeptieren.“<br />

(Ricardou: Revue Textes En Main 1984)<br />

Es ist ganz klar, dass ein Kind im Alter von 6 bis 9<br />

Jahren nicht so vor seiner Heftseite sitzt wie der Schriftsteller<br />

vor seinem Blatt. Außerdem radiert es seine Ergebnisse<br />

selten aus. Trotzdem ‚schreibt‘ es jeden Tag, obwohl<br />

es natürlich nicht jeden Tag eine neue Idee hat. Übrigens<br />

wird dies von ihm auch überhaupt nicht gefordert. Es ist<br />

vollkommen frei. Es steht ihm auch frei, sooft es will, eine<br />

Idee wieder aufzunehmen, mit deren Erforschung es angefangen<br />

hat. Eine Idee, die seine eigene bleibt, selbst wenn<br />

sie von der Klasse gedreht und gewendet wird. Lassen wir<br />

es doch regelmäßig für einige Zeit das noch einmal schreiben,<br />

was es schon einmal geschrieben hat. So schafft das<br />

Kind es, „langsam ... das zu denken, was es noch nicht<br />

gedacht hat“. Auf diese Weise hätten wir in unseren Klassen<br />

kleine ‚mathematische Schriftsteller‘, die ‚den spezifischen<br />

Beitrag des Geschriebenen‘ zur Bildung ihres Denkens<br />

akzeptiert haben.<br />

Dieses Phänomen des ‚Wiederschreibens‘ existiert<br />

wirklich. Es genügt, unsere Dokumente aus der Klasse<br />

daraufhin zu überprüfen. Zum Beispiel hat Remi in einem<br />

einzigen Trimester (in Frankreich ist das Schuljahr in Trimester<br />

aufgeteilt, Anm. d. Übers.) 44-mal die Struktur<br />

von Rechenkaros genutzt, um 20-mal Zahlen hineinzuschreiben,<br />

12-mal hat er sie für Flächenberechnungen<br />

benutzt, 7 mal hat er Mengen und Teilmengen behandelt<br />

und fünfmal hat er Untersuchungen über Wege ange stellt.<br />

Das ‚Wiederschreiben‘ entspricht auch diesem selt samen<br />

Bedürfnis des Menschen (wir haben es bereits erwähnt),<br />

eine Sache noch einmal zu machen um sich ihrer zu bemächtigen.<br />

Damit wird zusätzlich (eigentlich brauchte es<br />

nicht eigens erwähnt zu werden) das motorische Gedächtnis<br />

angesprochen.<br />

Wie wir gesehen haben, ist die Kopie manchmal fehlerhaft.<br />

Aber selbst, wenn es nur eine winzige Nuance<br />

wäre, so liegt darin schon eine Öffnung. Aber auch, wenn<br />

sie peinlich genau gleich ist, so entwickelt sich in Gedanken<br />

schon eine kleine Veränderung, d.h., man radiert<br />

inner lich schon das aus, was man gerade schreibt. Kurze<br />

Zeit später schreibt man es dann mit dieser Veränderung<br />

auf und vertieft es auf diese Weise.<br />

Abenteuer mit Vektoren<br />

Ich fühle genau, dass es unmöglich ist, all das im<br />

einzel nen auszuführen, was mir die natürliche Methode<br />

gebracht hat. Aber ein Erlebnis mit Vektoren und Koordinaten,<br />

das uns im 1., 2. und im 3. Schuljahr auf so vielfältige<br />

Weise beschäftigte, kann ich wirklich nicht unerwähnt<br />

152 153


lassen. Das erste Jahr der Erfahrung hatte mir die Augen<br />

geöffnet. Endlich hatte ich begriffen, dass die Mathematik<br />

überall ist, weil es überall unentdeckte Strukturen gibt.<br />

Außerdem hat bei dem folgenden Erlebnis sicher eine<br />

Rolle gespielt, dass die Komposition eines Bildes für mich<br />

persönlich eine Quelle ästhetischer Freude ist.<br />

So war ich stark beeindruckt, als mir ein Schüler eine<br />

Zeichnung zeigte, auf der Bogenschützen eine Burg angreifen.<br />

Besonders fiel mir ins Auge, wie der Flug der<br />

Pfeile angeordnet war, und so schlug ich ihm vor:<br />

„Das ist interessant! Du könntest auch nur die Pfeile<br />

zeichnen.“<br />

Und Remi, immer begierig nach neuen Strukturen,<br />

hat sich diese Idee sofort zu Eigen gemacht. Hier ist seine<br />

Arbeit:<br />

Ich sagte spontan: „Oh, man könnte sie fast für Vektoren<br />

halten.“<br />

Diese Aussage hat Anklang gefunden. Gemeinsam<br />

haben die Kinder festgestellt, dass die Vektoren horizon tal<br />

(bis auf einen), parallel und von unterschiedlicher Länge<br />

waren. Die Idee ist von der Klasse sofort aufgegrif fen<br />

worden.<br />

Hier ist eine Zeichnung von Patrice:<br />

Auch hier gibt es zwei Wege:<br />

Eine heftige Diskussion entbrennt:<br />

„Aber nein, das ist nicht gleich: AB + BC ist viel län ger<br />

als AC“<br />

Ich greife sofort ein, leider viel zu schnell. Ich hatte damals<br />

noch nicht begriffen, dass man für die Festigung des<br />

Wissens vorher eine gedankliche Bearbeitung braucht.<br />

So habe ich durch mein Eingreifen verhindert, dass sich<br />

Fragen entwickeln konnten und dass das Pro blem genau<br />

genug erkannt wurde. Mein Beitrag war nur eine schwache<br />

Antwort, mit der ich den Elan der Kinder durch eine<br />

wenig hilfreiche Information gebremst habe. Hätte ich<br />

etwas länger gewartet, so wäre sie vielleicht aufmerksamer<br />

aufgegriffen worden.<br />

Ich sage also: „Aber hier handelt es sich um<br />

Vektoren.“<br />

Damit fällt alles in sich zusammen. Was hat dieses<br />

Wort mit ihnen zu tun?<br />

Ich werde mir meines pädagogischen Irrtums bewusst<br />

und bitte den Temperamentvollsten an die Tafel.<br />

„Schreibe: AB + BC - - - gut - - - und jetzt AC,<br />

schreibe jetzt: AB + BC = AC.”<br />

Aber er sträubt sich und sieht mich von der Seite an.<br />

„Nein, das ist nicht gleich.“<br />

Ich antworte ihm: „Du hast recht.“<br />

Nun versteht niemand mehr etwas. Aber glücklicherweise<br />

bleibe ich still, obwohl es in mir brodelt. Stille breitet<br />

sich aus, aber es ist keine gewöhnliche Stille, keine Stille<br />

des Unbeteiligtseins. Diese hier ist geladen mit Nicht-<strong>Verstehen</strong>,<br />

mit Warten und sogar mit einer stummen Aggressivität<br />

gegen mich. Aber ich halte sie aus. Schließ lich sagt<br />

Michel zu seinem Mitschüler: „Vielleicht ist es, weil du<br />

154 155


keine Pfeile auf die Buchstaben gemacht hast.“<br />

Jetzt erkläre ich: „AB ist eine Länge. Aber ist ein<br />

Vektor. Es ist der Weg, den man zurücklegt. Man weiß,<br />

wo man losgeht und wo man ankommt. Der Weg +<br />

ist die gleiche Sache wie , weil man vom selben Ort<br />

losgeht und man beim selben Ort ankommt.“<br />

Jetzt ist es in Ordnung, jetzt wird es akzeptiert. Denn<br />

anstatt Vektor zu sagen, kann man auch Weg sagen und<br />

‘Weg’, das kennt man: das gehört zum täglichen Leben.<br />

Aber nun fragt Pierrick, der Rechthaber:<br />

„Und wenn man hingeht und wieder zurück?“<br />

„Dann gibt das Null. Es ist, als ob man sich nicht bewegt<br />

hätte.“<br />

Das versetzt alle in Erstaunen. Was? Man hat den doppelten<br />

Weg zurückgelegt und das macht Null? Aber plötzlich<br />

legt Michel (7 Jahre alt) los: „Und wenn man das so<br />

machen würde?“<br />

„Das ergibt eine Addition von Vektoren. Das macht „<br />

„Oh, das ist wie bei der Mutter von Patrice. Hier gibt es<br />

auch die zerstreuten Wege und den direkten Weg.“<br />

„Ja, aber in diesem Fall müsste die Mutter von Patrice<br />

wirklich sehr zerstreut sein.“<br />

Doch wer meint, damit wäre das Thema erschöpft, der<br />

irrt. Das war erst der Anfang von Michels ‚Vektoranfall‘.<br />

Er fragt:<br />

„Und wenn man es so macht?“<br />

„Schauen wir es uns an und schreiben die Buchstaben<br />

dazu.“<br />

Michel sagte: „<br />

„Ist das alles?“<br />

„Nein, es gibt noch<br />

Wir haben: „<br />

„Ja“, sagt Jacques, „weil es Gegensatzpaare gibt. Man<br />

kann Bündel mit Null machen:<br />

Herve, ein Mathematikstudent, der zufällig in meiner<br />

Klasse ist, sagt: „Das ergibt den Nullvektor.“<br />

Sofort ruft Patrice noch einmal aus:<br />

„Also Sonntag, da haben wir den Nullvektor gemacht.<br />

Wir standen in Morlaix vor einer Apotheke und suchten<br />

den Bahnhof. Wir gingen hierhin und dorthin um dorthin<br />

und hierhin. Und schließlich landeten wir wieder vor der<br />

156 157


Apotheke. Wir haben den Nullvektor gemacht.”<br />

„Also bei mir ist es auch so“, hängt sich Remi B. an,<br />

„wenn mein Vater morgens zum Fischen geht, bin ich<br />

noch in meinem Bett. Und abends, wenn er vom Fischen<br />

zurückkommt, bin ich wieder im Bett. Er sagt, ich hätte<br />

mich nicht bewegt. Aber ich habe mich doch bewegt, denn<br />

ich bin auf den Platz beim Krankenhaus gegangen, dann<br />

zur Kreuzung und zur Schule. Und am Abend gehe ich<br />

den Weg zurück. Ich habe den Nullvektor gemacht. Und<br />

so mache ich jeden Tag den Nullvektor, weil ich nach Haus<br />

zurückgehe.“<br />

„Nicht nur du. Wir machen auch den Nullvektor.“<br />

Das konsequente Verhalten von Patrice erstaunt mich.<br />

Fast immer ist er derjenige, der uns in die Wirklichkeit<br />

zurückführt.<br />

Währenddessen fliegt Michel auf seinen abstrakten<br />

Wolken weiter und lässt sich dabei nicht beirren:<br />

„Und wenn man zwei Runden macht?“<br />

„Nullvektor.“<br />

„Und drei Runden?“<br />

„Nullvektor.“<br />

Pierrick natürlich: „Und 1000 Runden?“<br />

Die ganze Klasse: „Nullvektor!“<br />

Aber Michel fährt stur fort, seine Furchen weiterzuziehen.<br />

„Und wenn ich eine Runde und außerdem eine Seite<br />

des Rechtecks mache?“<br />

„Das macht „<br />

„Und dann eine weitere vollständige Runde und eine<br />

andere Seite?”<br />

„ “<br />

„Also dreht sich das jedes Mal um eine Seite weiter?“<br />

„Ja!“<br />

„Und wenn ich das, was ich gesagt habe, zweimal<br />

mache?“<br />

„Oh, la la! Das wird kompliziert. Schaut mal!‘<br />

„Das ist gar nicht schwer. Man muss nur den direkten<br />

Weg von Anfang bis zum Schluss ansehen.<br />

Also:<br />

Pierrick: „Also ich wusste es auch ohne Zeichnung,<br />

wegen der NullBündel. =<br />

2 ‚<br />

„Nun gut“, sagt Michel. „Und das hier?“<br />

158 159


Pierrick: „Da gibt es Gegensatzpaare. Ich mache zwei<br />

Bündel mit Null, also gibt das:<br />

Man könnte es auch gut sehen, wenn man den direk ten<br />

Weg vom Anfangs- bis zum Endpunkt zurücklegt.<br />

Wir hätten damit Zeit gewonnen. Aber Michel ist unersättlich.<br />

„Und das?“<br />

„Gut, lasst es uns rechnen, aber vergesst nicht die Pfeile<br />

zu setzen!“<br />

„Das gibt:<br />

„Das gibt:<br />

Die Reaktion war: „All das für: - ! Das lohnt doch<br />

den Aufwand nicht.“<br />

Pierrick, der Verschmitzte: „Also ich musste nicht<br />

rechnen. Ich habe einfach den direkten Weg von A nach<br />

B betrachtet.“<br />

Da ich merke, dass jetzt viele abschalten, komme ich<br />

auf die Wirklichkeit zurück, oder genauer: Ich stelle nun<br />

die abstrakte Erfindung symbolisch dar. Und um den<br />

ernsthaften Charakter der Sache zu unterstreichen, lasse<br />

ich alle Tische der Klasse zusammenrücken.<br />

Daniel und ich gehen beide von Punkt A aus los. Ich<br />

bewege mich dem angezeichneten Schema entsprechend,<br />

während Daniel den direkten Weg geht. Schließlich treffen<br />

wir uns im selben Punkt B.<br />

Jacques bemerkt: „Ich bin der Boss, weil mein Tisch<br />

der Punkt A ist.“<br />

Ich formuliere genauer: „Ja, du bist derjenige am Startpunkt.“<br />

Und genau das war der Startschuss für unsere Erfahrung<br />

mit dem Koordinatensystem. Aber wenn damals<br />

nicht jeder seine eigenen Koordinaten in Bezug auf Jacques<br />

berechnet hätte, wäre dieses System wohl farblos<br />

geblieben.<br />

0 = Platz von Jaques<br />

160 161


Wieder tauchten die Begriffe ‘zerstreuter Weg’ und ‘direkter<br />

Weg’ auf.<br />

M (Michel) war z.B. (+ 2 / + 1) von Jacques<br />

entfernt:<br />

Nun habe ich x und y eingeführt: (M: x = +2, y = +1),<br />

weil es sich anzubieten schien. Aber wieder einmal bin ich<br />

zu schnell gewesen. Ich hätte ihnen die Zeit lassen müssen<br />

es wiederzuerfinden.<br />

Insgesamt war es jedoch der Start für ein erstaunliches<br />

Abenteuer mit den Geraden, den Steigungen von Gera den,<br />

den Symmetrien bezüglich Jacques, dann bezüglich eines<br />

anderen Kindes (36) ... , Relationen wurden herge stellt. Die<br />

Kinder haben sich auf die Tische gestellt, um die jeweiligen<br />

Punkte darzustellen, und das hat sicher zum Erfolg<br />

des Unternehmens beigetragen, weil es so auch eine körperliche<br />

Erfahrung war.<br />

(36) Bei dieser Arbeit stellt Patrice fest: „Ich (P) bin im Verhältnis zu<br />

Robin (R) symmetrisch zum ‚Unsichtbaren Menschen‘.“<br />

4. Wie entwickelt sich mathematisches<br />

Wissen?<br />

Denkmodelle<br />

Ich höre nun mit dem Bericht über diese Erfahrung<br />

auf, um das charakteristische Verhalten von Michel, Patrice<br />

und Pierrick ein wenig genauer zu untersuchen. Vor<br />

allem war ich überrascht zu sehen, mit welcher Verbissenheit<br />

der junge Michel aus der 2. Klasse seine Untersuchung<br />

der Vektoren betrieb. Er wollte immer mehr wissen<br />

und schlug, um das zu erreichen, Dinge vor, die er selbst<br />

für schwierig hielt. Er trieb uns (oder mich?) in die Enge.<br />

War es Provokation oder echte Neugier? Jedenfalls schien<br />

er sich in diesem neuen Bereich sehr wohl zu fühlen; er<br />

kümmerte sich in keinem Moment um die Wirklichkeit<br />

und interessierte sich nur für das abstrakte Spiel, das Spiel<br />

der Mathematik.<br />

Im Gegensatz dazu war Patrice von der Wirklichkeit<br />

besessen. Er war derjenige, der sofort das Beispiel von<br />

der zerstreuten Mutter geliefert hatte, die zurückgehen<br />

musste. Oder das Beispiel des Bahnhofs von Morlaix, den<br />

sie nicht gefunden hatten. Man könnte sagen, dass er jemand<br />

war, der unsere Grundlagenforschung systematisch<br />

auf die Wirklichkeit übertrug.<br />

Ich denke, dass man bei diesem Phänomen, das vielleicht<br />

von einer grundsätzlichen theoretischen Bedeutung<br />

ist, verweilen muss. Für mich war es allerdings eher eine<br />

Bestätigung als eine Entdeckung; denn ich habe das Gleiche<br />

bereits im mündlichen Ausdruck wahrgenom men.<br />

Ich erinnere mich daran, dass die Kinder, die täglich mit<br />

verschiedenen Fremdsprachen konfrontiert waren (bretonisch,<br />

italienisch, englisch, deutsch), sich einmal eine<br />

künstliche Sprache ausgedacht hatten: das ‚koupela kabach’<br />

und später einen Dialog in ‚japanisch‘. Bei dieser<br />

162 163


Gelegenheit haben sie bestimmte Prinzipien der Sprache<br />

erfasst. Später habe ich das Phänomen auch in einer anderen<br />

Klasse (3. Schuljahr) wiedergefunden, als die Kinder<br />

über das mutmaßliche Netz eines bekannten Körpers und<br />

das bekannte Netz eines unbekannten Körpers gearbeitet<br />

haben.<br />

Auch in Michels Fall ging es wieder um die Konstruktion<br />

von MODELLEN. Das ist mir bei der Lektüre von<br />

Bachelard (1966) richtig bewusst geworden. In der modernen<br />

Wissenschaft konstruiert man zunächst ein Modell,<br />

das man anschließend über die Wirklichkeit stülpt. Sie<br />

wird auf diese Weise besser erkennbar. In diesem Sinne<br />

stellt Bachelard die These auf:<br />

„Die Parallelen existieren erst seit dem Euklidischen<br />

Postulat - vorher noch nicht.“<br />

( Bachelard 1966, S. 139)<br />

Das <strong>heißt</strong>, vorher waren sie noch irgendwo im Chaos.<br />

Erst als Euklid aus einer Intuition heraus sein Postulat<br />

aufstellte, begannen sie zu existieren. Und zweitausend<br />

Jahre lang konnte man glauben, dass dieser geometrische<br />

Satz zu den Fundamenten des menschlichen Denkens gehörte.<br />

Bis Lobatschewskij eine sehr reiche nicht-euklidische<br />

Geometrie entwickelte, als er versuchte, das euklidische<br />

Postulat, ausgehend vom Gegenteil, zu beweisen und<br />

damit die allgemeine Gültigkeit der Geometrie von Euklid<br />

in Frage stellte.<br />

„Der heutige Physiker erkennt, dass er die Gepflogenheiten<br />

des Denkens, die aus der Präge nach der unmittelbaren<br />

Erkenntnis und nach der Nützlichkeit entstanden<br />

sind, hinter sich lassen muss, um die geistige Beweglichkeit<br />

für Entdeckungen wiederzufinden“ (ebd, S. 39).<br />

Diese Idee Bachelards wird es uns erlauben, zwischen<br />

zwei Methoden der <strong>Freinet</strong>-Pädagogik zu unterscheiden,<br />

nämlich zwischen dem ‚lebendigen Rechnen‘ (37) , das sich<br />

aus Alltagssituationen entwickelt, und der ‚natürli chen<br />

Methode der Mathematik‘, die auf dem Prinzip des schöpferischen<br />

Ausdrucks beruht.<br />

Die Idee, zunächst ein künstliches Modell aufzustel len,<br />

hat lange Zeit mein verkalktes Gehirn empört. Aber ich<br />

habe bemerkt, dass es auch im Alltag üblich ist. Wenn uns<br />

zum Beispiel jemand ein neues Kartenspiel beibrin gen<br />

will, dann lässt er uns zunächst ein Spiel spielen, in dem<br />

es um nichts geht. In diesem Moment sind wir noch nicht<br />

in der Wirklichkeit, wir simulieren sie zunächst. Erst danach<br />

können wir anfangen, wirklich zu spielen. Zweifellos<br />

könnte man viele Beispiele finden, in denen zunächst das<br />

Modell da sein muss, ehe es eine entspre chende Wirklichkeit<br />

geben kann.<br />

Aber ich möchte auf die Wege des Denkens zurückkommen,<br />

denn unser Thema ist die Frage, wie Wissen<br />

entsteht.<br />

Über die Theorien von Einstein hat G. Halton folgendes<br />

geschrieben:<br />

„Zu diesen elementaren Gesetzen der Natur führte kein<br />

anderer Weg als der Weg der Intuition, gepflastert mit Erfahrung.“<br />

(L‘Invention Scientifique P.H.F)<br />

Einstein selbst sagte dazu: „Das Merkwürdigste ist,<br />

dass das funktioniert.“<br />

Die Eingebung hilft uns, uns etwas vorzustellen, etwas<br />

zu konstruieren, etwas zu entwerfen. Und dann schauen<br />

wir nach, ob unsere Konstruktion der Realität entspricht:<br />

Wir verifizieren.<br />

(37) Das ‘lebendige Rechnen’ war für die <strong>Freinet</strong>-Lehrer lange Zeit<br />

das wichtigste methodische Konzept, das sie dem sinnentleerten<br />

Schulbuchrechnen entgegenstellen konnten. (Anm. d. Übers.)<br />

164 165


Erinnern wir uns: In unseren Beispielen war Michel<br />

derjenige, der am Modell arbeitete, während Patrice die<br />

Aufmerksamkeit auf die Realität gerichtet hatte. Es war<br />

also eine Gruppenarbeit, wo jeder entsprechend seinen eigenen<br />

Neigungen seinen Teil einbringen konnte.<br />

Diese Sichtweise über Bedeutung und Stellenwert der<br />

Wirklichkeit könnte <strong>Freinet</strong>-Lehrer ein zweites Mal in<br />

Aufregung versetzen. Das erste Mal wurden sie von <strong>Freinet</strong><br />

schockiert, als er das ‚lebendige Rechnen‘ ins Spiel<br />

gebracht hat. Wie hielten uns damals alle sehr zurück,<br />

denn wir haben es nicht für möglich gehalten, dass Alltagssituationen<br />

genug mathematisches ‚Material‘ beinhalten,<br />

mit dem die Schüler rechnen könnten.<br />

Aber wir hatten Unrecht. Nach und nach haben wir<br />

gemerkt, dass die Lösungswege, die durch tastendes Versuchen<br />

konstruiert wurden, besser in den Köpfen der<br />

Kinder verankert waren als diejenigen, die wir über ständige<br />

Wiederholungen und Übungen hineinzupressen versuchten.<br />

Wir sind also in das ‚lebendige Rechnen‘ eingetaucht,<br />

auch deshalb, weil wir uns ohnehin auf das wirkliche<br />

Leben eingelassen hatten, anstatt im fiktiven Leben<br />

der Schule zu verharren.<br />

Aber außer (oder genauer: neben) Célestin <strong>Freinet</strong> gab<br />

es seine Frau Elise, die zu ihm in einem dialogischen Verhältnis<br />

stand. Durch ihre Beiträge wurde ich sehr ange regt.<br />

Auch umgekehrt war es so. Sie hat sogar meine Position,<br />

die allen so ketzerisch schien, sehr intensiv ver teidigt. Damals<br />

schrieb sie mir:<br />

„Hier sind <strong>Freinet</strong>, Pierrot, Jean ... gegen dich. Und<br />

ich bin auch eher auf ihrer Seite. Aber mach weiter; denn<br />

du könntest gegenüber uns allen Recht behalten.“<br />

Wirklich, wenn ich wenigstens teilweise Recht behalten<br />

sollte, dann auch deswegen, weil Elise <strong>Freinet</strong> es nicht<br />

versäumte, manchmal ‚in die entgegengesetzte Richtung‘<br />

zu arbeiten. Doch auch <strong>Freinet</strong> selbst hat seinen Anteil<br />

daran, denn es war seine natürliche Methode, die ich in<br />

der Mathematik anwenden wollte. Auch hier ist es klar:<br />

Man kann nur mit der Gruppe Recht haben. Und die Pragmatiker<br />

(Célestin <strong>Freinet</strong>?) sind genauso notwendig wie<br />

die ‚Konzeptualisten‘ (Elise <strong>Freinet</strong>?).<br />

Aber die Dinge sind niemals einfach. Anstatt zwischen<br />

verschiedenen Individuen ausgetragen zu werden, bestehen<br />

Widersprüche oftmals innerhalb ein und desselben<br />

Individuums.<br />

So habe ich mich zum Beispiel wahnsinnig gefreut,<br />

als ich festgestellt habe, dass das Binärsystem auch in der<br />

Wirklichkeit, nämlich in den kanadischen Maßsystemen,<br />

existierte. Aber mein Freund Delbasty sagte:<br />

„Aber nein, im Binärsystem legt man willkürlich fest,<br />

dass man jede Zweiergruppe durch eine Einheit mit höherem<br />

Stellenwert ersetzt. Für die anderen Systeme gilt<br />

das analog.“<br />

Obwohl ich in meiner Klasse gerade den Gedanken<br />

zugelassen hatte, dass die Abstraktion möglicherweise<br />

Vorrang hat, fühlte ich, wie sich durch Delbasty‘s Aussage<br />

etwas in mir auflehnte. Vielleicht deshalb, weil ich<br />

gerade frisch bekehrt und noch ganz beeindruckt war von<br />

dieser neuen Art, mich der Welt zu stellen. Ist es möglich,<br />

dass meine Kindheit - wie die von <strong>Freinet</strong> (einem Bauernkind)<br />

- sehr stark vom Realismus geprägt war, während<br />

Delbasty - wie Elise <strong>Freinet</strong> - ein Lehrer kind war? Nein,<br />

natürlich nicht, damit machten wir es uns zu leicht.<br />

Ich möchte noch nicht locker lassen, weil wir hier einen<br />

zentralen Punkt berühren. Ich erinnere mich näm lich an<br />

ein weiteres Erlebnis, bei dem sich alles in mir sträubte. Es<br />

war in der sechsten Klasse. Der Lehrer hatte zwei Geraden,<br />

die von einer weiteren Geraden geschnit ten wurden,<br />

an die Tafel gezeichnet.<br />

166 167


Mein Freund Yves war damals bereit, die Parallelität<br />

der Geraden zu beweisen, obwohl sie in der Zeichnung<br />

skandalöserweise nicht parallel waren. Er war ein besse rer<br />

Mathematiker als ich, denn er akzeptierte die Gegen-Wirklichkeit,<br />

war bereit, sich von den optischen Gegeben heiten<br />

zu lösen. Immerhin war mein Denken strategisch genug,<br />

um mit Hilfe meines Freundes nach und nach auch in diese<br />

neue und bizarre Art des Spielens eindrin gen zu können.<br />

(War mein Denken eigentlich von Anfang an strategisch,<br />

oder ist es erst durch meinen Vater Und meinen älteren<br />

Bruder so geworden? Damit stellt sich die grundsätzliche<br />

Frage nach der Vermittelbarkeit von Fähigkeiten.)<br />

In der Arbeitsgruppe ‘natürliche Methode des Mathematikunterrichts‘<br />

(38) in der französischen <strong>Freinet</strong>bewegung<br />

war die Entwicklung des Wissens schnell ein zentrales<br />

Problem, denn wir haben angefangen uns gemeinsam<br />

fortzubilden. Wir haben gespürt, wie sehr un sere<br />

Freundschaft, unsere Sympathie, das Annehmen des Anderen<br />

dieses Unternehmen erleichtert hat.<br />

(38) Die hier angesprochene Arbeitsgruppe zur natürlichen Methode in<br />

der Mathematik gibt seit 1989 in unregelmäßigen Abständen unter dem<br />

Titel „naturellement math“ (natürliche Mathematik) Arbeitsberichte heraus<br />

(vgl. Bibliographie). Eine weitere davon unabhängig arbeitende <strong>Freinet</strong>-<br />

Arbeitsgruppe zur natürlichen Methode in der Mathematik hat sich im<br />

Department Pas de Calais gebildet (vgl. Seite 231)<br />

Vor allem hat es uns erlaubt, ohne allzu große Anstrengungen<br />

neue Standpunkte zu beziehen.<br />

Aus all diesen Erfahrungen habe ich gelernt, wie hilfreich<br />

die Reflexion der persönlichen Lernbedingungen<br />

für die Förderung eines fruchtbaren Klassenklimas sein<br />

kann.<br />

Jetzt, nach all diesen Erfahrungen und Überlegungen<br />

habe ich das Bedürfnis, es auf den Punkt zu bringen.<br />

Vier unterschiedliche Positionen<br />

Es scheint mir, dass man vier verschiedene Positionen bezüglich<br />

der Mathematik beziehen kann:<br />

• die intuitive oder konkrete Mathematik auf der Basis<br />

einer vorhandenen oder vergangenen Wirklichkeit<br />

• die mathematische Strukturierung realer<br />

Situationen<br />

• das reine mathematische Spiel<br />

• die angewandte Mathematik<br />

Intuitive oder konkrete Mathematik<br />

Um diese Position zu verdeutlichen, möchte ich drei<br />

Beispiele nennen:<br />

1. Jeannette hat vier gleich große Gemäldereproduk tionen<br />

und möchte sie so an der Wand befestigen, dass alle den<br />

gleichen Abstand haben. Sie probiert einfach ohne ein<br />

Messinstrument zu benutzen. Mit einem Mal stimmt<br />

es, sie hat es geschafft, sie genau richtig aufzuhängen.<br />

Man könnte denken: „Sie hat viel Erfahrung im Messen.<br />

Sie hat viel Übung.“<br />

168 169


„Überhaupt nicht!“<br />

„Also, dann hat sie einen Sinn für Harmonie!“<br />

2. Fabrice ist 6 ^ Jahre alt. Er kann weder gut lesen noch<br />

rechnen, aber sehr gut Fußball spielen. Wenn der Ball<br />

auf ihn zugesprungen kommt, stürzt er ihm nicht entgegen<br />

wie seine Kameraden, wenn sie einen steilen<br />

Pass erhalten, sondern er geht rückwärts und steht<br />

genau an dem Ort, an dem der Ball auf den Boden<br />

trifft. Man könnte sagen:<br />

„Aber das ist keine Mathematik, das ist<br />

Bewegungslehre.“<br />

Das ändert nichts daran, dass er die Geschwindigkeit<br />

des Balles, den Ort seines Aufpralls und sogar dessen<br />

Eigendrehung gewusst, wenn nicht gar errechnet,<br />

zumindest aber geraten hat. Und wenn er einem Mitspieler,<br />

der vorläuft, den Ball zuspielt, dann schickt er<br />

den Ball dorthin, wo sein Kumpel sein wird, und nicht<br />

dorthin, wo er: gerade ist; dabei schätzt er auch noch<br />

die Laufgeschwindigkeit seines Kumpels ab, um zu<br />

wissen, mit wie viel Kraft er den Ball schießen muss.<br />

3. Rosine ist Gymnasiastin. Der Lehrer schreibt eine<br />

Aufgabe an die Tafel. Sie gibt sofort die Antwort. Er<br />

wendet sich ihr zu:<br />

„Kannten Sie dieses Problem?“<br />

„Nein, ich habe es zum ersten Mal gesehen!“<br />

„Also, wie haben Sie es gemacht?“<br />

„Ich weiß nicht. Einfach so.“<br />

„Ach“, sagt er herablassend, „das ist Intuition.“ Und<br />

er kehrt zu seinem Schreibtisch zurück.<br />

Zu dieser Zeit sieht dieses Mädchen, wie ihr Vater<br />

sich abmüht, ein Permutationsgesetz herauszufinden.<br />

Sie fragt ihn:<br />

„Was suchst du?“<br />

„Ach, ich möchte gern wissen, was passiert, wenn ich<br />

hier weitermache/’<br />

„Das ist doch klar. Du musst dort ankommen.“<br />

„Vielen Dank. Du hast mir geholfen. Jetzt weiß ich, in<br />

welcher Richtung ich suchen muss.“<br />

Es scheint, dass wir tief in das Meer des Unbewussten<br />

eingetaucht sind. Was an der Oberfläche erscheint,<br />

ist höchstens ein Zehntel der Wirklichkeit. Man glaubt,<br />

dass man die Dinge beherrscht, aber so viele Vorgänge<br />

gesche hen außerhalb unseres Bewusstseins. Das ist vielleicht<br />

die Erklärung für das, was eine andere Lehrerin,<br />

Monique Quertier, die die natürliche Methode drei Jahre<br />

lang gründlich erprobt hat, am meisten erstaunt hat:<br />

„Die Gruppe, die stillbeschäftigt arbeitet, lernt genau so<br />

viel wie die Gruppe, die mit mir arbeitet, wenn nicht gar<br />

mehr.“<br />

(Quertier, 1990)<br />

,Wir müssen der Tatsache ins Auge sehen: Intuition<br />

gibt es immer, auch im Mathematikunterricht. Besonders<br />

in der Forschungsgruppe kann sie sich frei entfalten und<br />

ihre Möglichkeiten ausspielen. So ist es nicht verwunderlich,<br />

dass z.B. Kinder wie Rosine im traditionellen<br />

Mathe matikunterricht nur mittelmäßige Leistungen erzielen,<br />

weil man dort immer den gesamten Lösungsweg beschreiben<br />

muss. In einer Gruppe von zwei oder mehreren<br />

Forschern wäre sie jedoch sehr wertvoll gewesen.<br />

170 171


Die mathematische Strukturierung von Situationen<br />

Für das Problem, die Gemälde passend aufzuhängen<br />

(vgl. S. 169), hätte ich beispielsweise eine Formel benutzt.<br />

Wenn L die Gesamtlänge der Wand und die Breite<br />

eines Bildes ist, dann ist die Länge der Abstände folgendermaßen<br />

zu berechnen:<br />

Denn ich weiß: Wenn auf jeder Seite ein Abstand sein<br />

soll, dann gibt es einen Abstand mehr als Gegenstände<br />

( 4 + 1=5 ).<br />

Ich weiß es, weil man es mich gelehrt hat, weil man<br />

es mich hat wiederholen lassen, weil man mich viele Probleme<br />

dieser Art hat lösen lassen. (Ich habe in meinem<br />

Kopf ein ganzes Arsenal von Problemtypen, die in Wirklichkeit<br />

Lösungsverfahren sind: Wasserhähne, Züge, Intervalle,<br />

Alleen, vorläufige Annahmen, Gewinnanteile,...)<br />

Und ich weiß es vor allem auch, weil ich es mehrfach<br />

im praktischen Leben überprüft habe. So habe ich durch<br />

die Arbeit mit meinen Schülern die Bedeutung des Paarbegriffs<br />

entdeckt:<br />

‘Abstand - Bild’ bilden ein Paar. Es gibt vier Abstand-<br />

Bild-Paare und es bleibt ein Abstand übrig.<br />

Aber dies wurde niemals auswendig gelernt, das wur de<br />

wieder erfunden und damit endgültig gewusst. Es ist die<br />

gleiche Art von Mathematisierung, wie wir sie so oft im<br />

‚lebendigen Rechnen‘ finden:<br />

Kosten einer Reise zur Partner-Klasse, Zahl der Kinder,<br />

Zahl der Begleitpersonen, Gruppenermäßigung,<br />

Alter, Entfernung, Tarifkilometer, Fahrpreisermäßigung<br />

an bestimmten Wochentagen, Finanzierung usw.<br />

Das tägliche Leben ist eine ständige Quelle solcher<br />

Probleme. Es sind echte Probleme, die sich tatsächlich<br />

stellen, also ‚notwendige‘ Probleme, und es ist ratsam, mit<br />

den Kindern die Lösung solcher notwendigen Proble me<br />

zu trainieren, wenn man aus ihnen gute Rechner machen<br />

will.<br />

Aber dies reicht nicht aus. (39) Selbst diejenigen Schü ler,<br />

die auf diesem Niveau gut zurecht kommen, müssen auch<br />

noch auf einer dritten Stufe ankommen können.<br />

Mathematisches Spiel<br />

Das Wesentliche beim mathematischen Spiel ist die<br />

offen sichtliche Zweckfreiheit, wodurch es für viele Leute<br />

frag würdig wird. Denn wozu soll es gut sein?<br />

Nun, vielleicht liegt es einfach in der Natur des Menschen<br />

zu spielen. Dazu muss ich auch gleich Bourbaki<br />

zitieren:<br />

„... Die Mathematik erscheint wie ein Reservoir abstrakter<br />

Formen - die mathematischen Strukturen - und offensichtlich<br />

haben sich bestimmte Aspekte der experimentellen<br />

Wirklichkeit mit bestimmten Formen vermengt.“ (40)<br />

(39) Nach Changeux und Connes (1989, S. 122 ff) gibt es drei Ebenen:<br />

• die des Rechnens (= dumme Mathematik),<br />

• die der Interaktion zwischen der ausgeführten Rechnung und den<br />

persönlichen Problemen,<br />

• die der Kreation (Changeux) bzw. der Entdeckung (Connes).<br />

Diese beiden Autoren gießen Wasser auf unsere Mühlen.<br />

(40) Mir scheint diese Aussage bemerkenswert, obwohl es sich bei<br />

der Bourbaki-Gruppe um Anhänger des Formalismus handelt.<br />

172 173


Welche Überraschung! Nicht die abstrakten Formen<br />

haben sich in die Realität eingemischt, sondern es ist die<br />

Realität, die sich manchmal in die Formen einmischt. Bestimmte<br />

Denker, wie z.B. der von Vektoren besessene Michel,<br />

fühlen sich in dem Bereich reiner Strukturen vollkommen<br />

wohl. Und auch Pierrick findet die Lösungen im<br />

Abstrakten, ohne sich auf die Realität zu beziehen: „Durch<br />

die Gegensatzpaare habe ich es vorher gewusst.“<br />

Leider wird nur dieser Denkertyp von der Schule als<br />

wertvoll anerkannt. Dass sie anerkannt werden, ist rich tig,<br />

denn sie sind auch etwas wert. Aber spielen die ande ren<br />

nicht eine genauso vollwertige Rolle? Sie könnten sogar<br />

auf ihre Weise in die Kategorie ‚Spieler mit dem Abstrakten‘<br />

gelangen, wenn man ihnen die Zeit und die Wege zugestehen<br />

würde, die sie dafür benötigen. Aber die Schule<br />

kümmert sich überhaupt nicht um diese Kinder. Sie lässt<br />

sich von Piaget auf seine Stufen der Intelligenz festlegen.<br />

Und sie tut nichts dafür, dass sie schneller erreicht<br />

werden.<br />

Nun, ist das mathematische Spiel wirklich nur reines,<br />

zweckfreies Spiel? Ist nicht jede Aktion die Frucht eines<br />

vorausgegangenen gedanklichen Spiels? Dieses unbewusste<br />

‘Entwerfen’ ist eine weit verbreitete Sache. Man<br />

könnte es zweifellos durch fortlaufende Schreibtransformationen<br />

(vgl. auch S. 153) sichtbar machen, d.h. ins<br />

Bewusstsein heben.<br />

Um diese Hypothese zu verdeutlichen, möchte ich das<br />

Bild des Skiläufers Jean-Claude Killy in Erinnerung bringen.<br />

Er stand oben am Start und beschrieb zuerst mit der<br />

Hand die ideale Strecke auf der Piste, die zum Sieg führen<br />

müsste. Genauso zeichnete eine Weltmeisterin im Kunstflug<br />

vor dem Start ihre Flugfiguren mit der Hand in die<br />

Luft.<br />

Und, wo ich schon dabei bin, noch ein Text, der in einer<br />

meiner Schreibwerkstätten entstanden ist.<br />

„Ehe er seine Bewegung ausführte, hat der Turner sie in<br />

aller Genauigkeit in seinem Geist vorbedacht. Jetzt geht<br />

es darum, dass sein Körper es schafft, sich genau dieser<br />

Abstraktion anzupassen ohne sich - soweit das möglich ist<br />

- an irgendeinem Teil dieser so überaus genauen und so<br />

vollkommenen gedanklichen Konstruktion zu verlet zen.<br />

Es sei denn, man riskiert eine Verletzung des Den kens,<br />

wenn nicht gar der Seele.“<br />

Angewandte Mathematik<br />

Patrice ist das lebendige Beispiel für diejenigen, die<br />

sich um die Anwendung der abstrakten Mathematik auf<br />

die Wirklichkeit bemüht haben. Es ist unnötig, das an<br />

dieser Stelle zu vertiefen: Wir wissen seit langem, dass<br />

die Grundlagenforschung und die angewandte Forschung<br />

eng miteinander verbunden sind. Praktiker und Theoretiker<br />

brauchen einander. Aber wenn es manchmal zu einer<br />

Blockade in gewissen Wissenschaften, wie z.B. in der<br />

Neuro-Biologie, kommt, dann kann das daran liegen, dass<br />

es noch keine geeigneten Modelle gibt. Wir brauchen also<br />

Erfinder, Dichter, Künstler, kurzum phantasievolle Menschen,<br />

die natürlich trotz allem aufpassen müssen, dass sie<br />

nicht den Boden unter den Füßen verlieren!<br />

174 175


Zusammenfassung<br />

Jetzt möchte ich für diejenigen, die eine optische Veranschaulichung<br />

benötigen, folgendes Schema vorstellen:<br />

Es handelt sich um vier unterscheidbare Bereiche, in<br />

denen man Anerkennung im Umgang mit der Mathematik<br />

finden kann. Aber es ist nicht zwingend, dass man<br />

in einem verbleibt. Wenn doch, dann liegt es vielleicht in<br />

seiner ureigenen Natur. Aber es kann auch am Einfluss<br />

der familiären Umgebung liegen. Manche sind bis zur<br />

Übertreibung Pragmatiker oder Idealisten. Aber ein Kind<br />

kann, dank der Arbeit in der Gruppe, Bereiche und Verhaltensweisen<br />

entdecken, die es noch nicht kannte und die<br />

ihm dennoch entsprechen.<br />

Jedenfalls, selbst wenn das Kind in seinem dominan ten<br />

Bereich bleiben sollte, so hat es die Chance, in den anderen<br />

Bereichen tastende Versuche zu machen und so seine<br />

Fähigkeiten zu erweitern.<br />

5. Rückblickende Überlegungen<br />

Was ist aus den Schülern geworden?<br />

Auch ich kann aus meinem Himmel des freien Schreibens<br />

herabsteigen und zur Wirklichkeit zurückkehren;<br />

denn ich habe Neuigkeiten über meine ehemaligen Schüler<br />

erfahren, als ich mich ein wenig länger in meiner früheren<br />

Heimat (41) aufgehalten habe.<br />

Dieses Buch hat mich veranlasst, persönlichen Kontakt<br />

mit den beiden markantesten Persönlichkeiten des Abenteuers<br />

‚natürliche Methode in der Mathematik‘ aufzunehmen.<br />

Und so hörte ich eines Abends anstelle der dünnen<br />

Stimme, die ich in meinem Gedächtnis gespeichert hatte,<br />

eine tiefe und volltönende Stimme am Telefon. Und als ich<br />

am nächsten Tag auf einer Baustelle einen Kerl von dreißig<br />

Jahren, genau so groß wie ich, auf mich zukom men<br />

sah, konnte ich es gar nicht fassen. Ich war so über rascht,<br />

dass ich nicht wusste, wie ich mich gegenüber einem so<br />

ernsthaften und so verantwortungsvollen Mann verhalten<br />

sollte; denn es ist zu schön, um wahr zu sein, und trotzdem<br />

ist es wahr: Patrice ist jetzt Baustellenleiter.<br />

Und als ich ihn daran erinnert habe, dass er immer sofort<br />

die Strukturen, die andere erfunden hatten, auf die<br />

(41) Bis dahin hatte ich immer gezögert mich meiner Heimat zu nähern,<br />

um nicht zu sehr unter Heimweh zu leiden. Ich hatte mich vorher nur von<br />

Zeit zu Zeit darum bemüht, Neuigkeiten über den einen oder anderen<br />

meiner vierhundert Schüler zu erfahren. Ich hatte sie besonders genau<br />

gekannt, nicht nur, weil sie zwei oder drei Jahre in meiner Klasse waren,<br />

sondern weil sie so viele Möglichkeiten zu ihrer Verfügung hatten, sich<br />

durch den freien mündlichen, schriftlichen, mathematischen, körperlichen,<br />

gesun genen und grafischen Ausdruck als Personen darzustellen, so<br />

dass ich sie nicht nur als Schüler in Erinnerung habe, sondern als junge<br />

Persönlichkeiten mitten in ihrer Entwicklung.<br />

176 177


Wirklichkeit anwandte, hat er mir geantwortet:<br />

„Es stimmt, ich mag gerne Ideen umsetzen!“<br />

Er war es ja damals auch, der ein ganzes, sehr langes<br />

Abenteuer mit regelmäßigen Körpern dadurch initiiert<br />

hatte, dass er mit viel Energie aus 5 mm starkem Karton<br />

eine Schachtel baute, die tatsächlich wie eine Schachtel<br />

aussah. Und er hat gesagt:<br />

„Die Konstruktion ist einfach, das ist nur Geometrie.“<br />

Und als ich ihn nach seiner Beziehung zur Mathematik<br />

fragte, sagte er mir, dass er im Laufe der Jahre und<br />

der Lehrpläne Höhen und Tiefen erlebt habe. Aber er hat<br />

ein hervorragendes technisches Abitur (42) abgelegt. Dieses<br />

Kind, das schon sehr früh eine gewisse Neigung zum<br />

Pragmatismus erkennen ließ, hat also diesen Weg weiterverfolgt.<br />

Man könnte mir vorwerfen, dass ich übertreibe, dass ich<br />

die Fakten zu sehr verdrehe. Aber ich habe auch mit Michel<br />

telefoniert. Bei ihm hatte ich erwartet, dass er sei ne Schulzeit<br />

nicht mit Erfolg beenden würde. Michel hatte als der<br />

verwöhnte Jüngste einer Familie mit drei Kindern, davon<br />

eine Schwester mit hervorragenden Leistungen, keinerlei<br />

elterlichen Druck bezüglich seiner Schullauf bahn erfahren.<br />

Und so hat er nach der mittleren Reife auf gegeben.<br />

Nach einer Zeit der Entspannung hat er beschlossen sich<br />

weiterzubilden und hat zunächst den Abschluss (C.A.P.)<br />

(43) als Mechaniker für Dieselmotoren abgelegt. Aber vor<br />

allem hat er, auf dem eingeschlagenen Weg weitergehend,<br />

ein Kapitänspatent erworben. In bezug auf Mathematik<br />

hatte er keine Probleme: es ging vor allem um Nautik, um<br />

(42) In Frankreich kann das Abitur in verschiedenen Zweigen der<br />

gymnasialen Oberstufe abgelegt werden, darunter auch in Technik. (Anm.<br />

d. Übers.)<br />

(43) Der Berufsabschluss des C.A.P. (Certificat d‘Aptitude Professionelle)<br />

wird an einer Vollzeit-Berufsschule erworben. (Anm. d. Übers.)<br />

die richtige Route, um Punkte und Verlängerungen. Die<br />

Aufgaben der Fahrtroutenbe stimmung und das Studium<br />

von nautischen Karten faszi nierten ihn. Er war es ja auch,<br />

der sich schon mit 7 Jahren (bei den Vektoren) für die Probleme<br />

der Fahrstrecken interessierte!<br />

Ich weiß, man wird sagen, dass es bei den beiden reiner<br />

Zufall war, dass sie ihren Beruf auf ihren Neigungen<br />

aufbauen konnten. Das kann durchaus sein. Unbestreit bar<br />

bleibt aber, dass Kinder sehr früh bestimmte Nei gungen<br />

haben, selbst, wenn man sie nicht bemerkt.<br />

Es ist ein ungeheures Glück, sein Leben auf seinen tiefsten<br />

Neigungen aufbauen zu können. Trotzdem sagt die<br />

Familie von Patrice, dass er immer noch so verträumt ist.<br />

Patrice, ein Träumer? Wo er doch sein eigenes Haus selbst<br />

gebaut hat? Aber ja doch, er ist auch ein Träumer, denn<br />

eine Persönlichkeit ist komplex, sie ist vielfältig. Es kann<br />

bei derselben Person sowohl Verpflichtungen in der Wirklichkeit<br />

geben als auch Zeit und Raum für Träume.<br />

Und Michel, als Kapitän von Ausflugsschiffen zu den<br />

Inseln? Hat ihm seine Fähigkeit zum mathematischen<br />

Spiel dabei geholfen? Wer weiß! Ein Steuermann muss<br />

zweifelsohne einen mathematischen Verstand haben. Die<br />

tatsächliche Fahrstrecke eines Schiffes, das Besteck (zum<br />

Bestimmen des Standortes), die Gezeiten, die Strömun gen<br />

... Dabei kommt mir sofort eine dumme Frage in den Sinn.<br />

Ich würde gern wissen, ob er auf eine seiner Erfindungen<br />

zurückgegriffen hat, um das Phänomen der Gezeiten, die<br />

sich jeden Tag um 50 Minuten verschieben, zu verstehen,<br />

nämlich: „Und wenn ich einmal ums Rechteck herumgehe<br />

und dann noch auf einer Seite?“ (vgl. S. 158). Denn genau<br />

darum geht es bei der Phasen verschiebung.<br />

Sicher werde ich es nie wissen. Trotzdem wird man bestätigen,<br />

dass es wichtig und sogar unabdingbar ist, den<br />

Kindern möglichst viele Versuche in alle denkbaren Richtungen<br />

zu ermöglichen.<br />

178 179


Und Pierrick, dieser Provokateur, der alles so genial<br />

mathematisieren konnte, sortiert heute Verkehrsschilder.<br />

Man darf sich keine Illusionen machen. Die Zeit, in der<br />

man sein Überleben seinen fundamentalen Fähigkeiten<br />

verdankt, ist noch nicht gekommen. Aber manchmal kann<br />

es vorkommen. Dann ist es keine abstrakte (ent fremdete)<br />

Arbeit mehr, bei der das Individuum nur noch ein austauschbares<br />

Rädchen eines unüberschaubaren Getriebes<br />

ist, sondern, wie Marx es sagte, eine konkrete Arbeit, die<br />

sich auf der Kraftlinie des Individuums abspielt. Außerdem<br />

wissen wir jetzt, dass man sich zum Überleben andauernd<br />

bewegen, umsiedeln, verändern, anpassen, wiederanpassen<br />

.... muss. Und die natürliche Methode im Mathematik-Unterricht<br />

entwickelt solche Fähigkeiten. Wenn<br />

man viele Gebiete erforscht hat, kann man sich auch in<br />

neu auftauchenden Gebieten wohl fühlen. Außerdem gibt<br />

es über den Beruf und über das Überleben hinaus noch<br />

das Leben selbst sowie die Freude am Leben. Und die darf<br />

sich ruhig schon in der Schule entfalten.<br />

Lösungsverfahren und Strategie<br />

Ich möchte noch bei meinen früheren Schülern bleiben;<br />

denn über sie können wir etwas Wichtiges verstehen: nämlich<br />

den Unterschied zwischen algorithmischen Lösungsverfahren<br />

und strategischem Denken. Im Lösungsverfahren<br />

ist an alles gedacht, alles ist von vorn herein festgelegt.<br />

Man muss es nur noch Schritt für Schritt ausführen. Die<br />

Strategie weiß im Großen, was sie will, aber sie ist offen<br />

und auf Entwicklung angelegt. Sie tritt dem Unvorhergesehenen,<br />

dem Neuen kühn entgegen. Das Lösungsverfahren<br />

und die Strategie sind also einan der entgegengesetzt<br />

und ergänzen einander.<br />

Patrice hatte also sein Haus gebaut. Er war gut dafür<br />

ausgerüstet, weil er wusste, was zu tun war. Das Lösungsverfahren<br />

war von vornherein in seinen Hand lungen festgelegt.<br />

In diesem Sinne lief es automatisch‘ ab. Patrice<br />

konnte die Menge des Holzes, des Zements, der benötigten<br />

Steine, der zu bewegenden Erdmassen aus rechnen.<br />

Er konnte einen Plan lesen, Mörtel anrühren, eine Mauer<br />

aufrichten ..., kurzum, er konnte ein Haus bauen.<br />

Aber er (44) war auch derjenige, der den Plan für das<br />

Haus entworfen hatte. Er hat zunächst lange von seinem<br />

Haus geträumt. Dann hat er sich an die Arbeit an einem<br />

Zeichenbrett gemacht. Dort gab es keine Vorgaben, denn<br />

Strategie wird von Zielen geleitet und nicht von Operationen.<br />

Nach und nach hat er es geschafft, ziemlich genau<br />

zu bestimmen, was seine Frau und er wollten. Aber wie<br />

konnte diese Vorstellung realisiert werden?<br />

Es war nicht einfach, weil es harte Sachzwänge gab.<br />

Sie hatten sich ein bestimmtes Viertel ausgesucht und sie<br />

wollten Sonne im Wohnzimmer, aber im Süden lag ein<br />

Hochhaus. Sie hätten gerne ein zweites Stockwerk gehabt,<br />

aber der Bauleitplan hat es nicht zugelassen. Sie hätten<br />

einen Keller ausheben können, aber die Kosten standen<br />

dem entgegen: zu viel Granit im Erdreich. Die Lösung:<br />

Das Haus sollte nur halb unterkellert und nach Nordwesten<br />

ausgerichtet sein. Beim Schieferdach, der Zahl und der<br />

Lage der Zimmer, der Heizung, dem Zugang zur Garage<br />

usw. lagen die Dinge nicht anders. Sie wussten genau, was<br />

sie gern gehabt hätten. So aber mussten sie mit Zufällen<br />

und Hindernissen jonglieren. Trotzdem sind sie mit ihrem<br />

Haus wesentlich zufriedener, als sie es erwartet hatten,<br />

(44) In diesem Fall gab es, anders als bei dem theoretischen Physiker und<br />

dem experimentellen Physiker, die zwei unter schiedliche Personen sind,<br />

nur einen einzigen Kopf unter der weißen Mütze des Maurers<br />

180 181


weil sie auch positive Aspekte, die nicht vorherzusehen<br />

waren, entdeckt haben. Man muss wohl erst in einem<br />

Haus leben, um alle angenehmen Seiten zu entdecken.<br />

Offen sein, entwicklungsfähig sein, dem Unvorhergesehenen<br />

und dem Neuen die Stirn bieten: Das ist eine ausgezeichnete<br />

Strategie für das Leben. Ist das nicht bes ser, als<br />

mit aller Macht festgelegte Lebensabläufe durch zuziehen?<br />

Doch können wir uns ändern? Es kann moti vieren, wenn<br />

man sich an der Wirklichkeit stößt; es kann aber auch entmutigen.<br />

Vielleicht kann man das Glück als die Fähigkeit<br />

definieren, bei unüberwindbaren Hinder nissen den Traum<br />

zu verändern oder loszulassen.<br />

Aber Michel, der Seemann, hatte keine Wahl. Kann<br />

man das Meer ändern? Nein, es ist unvorhersehbar. Man<br />

muss den Wind, Dutzende von Gezeiten, die Kraft der<br />

Ebbe, die geographische Stelle berücksichtigen, um das<br />

Schiff zu bewegen, man muss die Untiefen kennen und<br />

die Sicherheitsgrenzen, die man nicht überschreiten darf.<br />

Derjenige, der für ein Boot verantwortlich ist, muss andauernd<br />

in Hab-Acht-Stellung und immer bereit sein, die<br />

Informationen, die ankommen bzw. den Zeichen der Natur<br />

entnommen werden müssen, zu verarbeiten. Und dabei<br />

werden Hypothesen, die oft bestätigt wurden, zu Quasi-<br />

Gesetzen. Sie bilden festgelegte Abläufe, auf die man sich<br />

stützen kann, um Entscheidungen zu treffen. Aber Misstrauen<br />

ist angebracht, denn bei der See gibt es nichts, was<br />

sicher oder endgültig ist. Welche Verant wortung, Steuermann<br />

eines Ausflugdampfers zu sein!<br />

Man muss also fähig sein, gleichzeitig Strategien zu<br />

entwickeln und Algorithmen auszuführen. Wie der Mathematiker,<br />

der eine Gleichung entwirft und diese dann<br />

‚automatisch‘ auflöst.<br />

Nun gut, ich glaube, dass die natürliche Methode im<br />

Mathematikunterricht besser als in irgend einem anderen<br />

Bereich einen Beitrag zur Entwicklung von Strategien und<br />

Lösungsverfahren leistet. Denn es gibt Risiken, wechselndes<br />

Glück, Unvorhergesehenes, Vorstöße auf neue Gebiete,<br />

Störungen, Phasenverschiebungen, Verän derungen<br />

im Blickwinkel, das Eintauchen in Worte, Anagramme,<br />

Rhythmen, Reime, Antireime, Eruptionen in der dritten<br />

Dimension oder gar in der vierten, das Unendliche, das<br />

nicht Abzählbare ... Und das bei Mit spielern, die die unterschiedlichsten<br />

Charaktere haben: dem Erweiterer, dem<br />

Erfinder, dem Nachmacher, dem Aufnehmenden, dem<br />

Herumstreifenden, dem Störer, dem Phasenverschieber,<br />

dem Entwickler, dem Phantasten, dem Ausdenker, dem<br />

visuellen oder dem auditiven Typ, dem Oppositionellen,<br />

dem Herrscher usw.<br />

Und jedes Mal muss man sich bewusst machen, was<br />

passiert, was sich ereignet, was auftaucht: eine neue Regel<br />

beispielsweise oder zwei Regeln, die gleichzeitig zu beachten<br />

sind... Man muss Lösungen, Auswege, Flucht wege<br />

finden, wie es Tiziano und der kleine Robin ver sucht<br />

haben. Oder wie es eine Beute in dem Moment tut, in<br />

dem sie gefangen wird. Und all das nur, um Intelligenz<br />

zu entwickeln. Aber auch Spiel, Neugier und freies Experimentieren<br />

können sich in der Geborgenheit der Gruppe<br />

entfalten.<br />

Beim Begriff Intelligenz fällt mir ein Ausdruck ein,<br />

den ich erst jetzt verstehe. Bei den Wettbewerben um<br />

nationa le Stipendien gab es früher ‚verwickelte‘ Probleme,<br />

das waren ‘Probleme für die Intelligenz‘ (45) . Und als Kandidat<br />

fand man überraschende Aufgaben vor. Anstelle<br />

des klassischen: „Ein Zug fährt um 8.45 Uhr los...“ oder<br />

eines „Ein Kaufmann kauft ein Fass, das 228 Liter fasst,<br />

(45) ‘problemes ficelles’ ist gleichbedeutend mit ‘problemes d’intelligence’<br />

(Anm. d. Übers.)<br />

182 183


...“ hatte man jetzt Anrecht auf eine sehr lange Aussage:<br />

„Jacques hat erzählt, dass ...“<br />

Schon allein der Anfang bringt einen vom Wege ab.<br />

Keine Möglichkeit mehr, die Problemlösungsformel, die<br />

man so gut kennt, automatisch anzuwenden. Man muss<br />

nachdenken, sich der Gegebenheiten vergewissern, den<br />

richtigen Lösungsweg finden usw.<br />

Nun gut, es ist klar: Um die Schüler auszuwählen, die<br />

zu längeren Studien fähig sind, versucht man, ihre Fähigkeit<br />

zu strategischem Denken zu testen. Dagegen hat man<br />

für das ‚Certificat d‘Etudes Primaires‘ (46) überprüft, ob<br />

die Kandidaten die Lösungswege, die zu bestimmten Problemtypen<br />

gehören, sicher gelernt haben.<br />

So trichterte man uns früher Lösungswege, nichts als<br />

Lösungswege ein. Jetzt muss man sie selbst konstruieren<br />

und seine Fähigkeiten zur Strategie, die in unserer Zeit so<br />

notwendig geworden sind, weiter entwickeln. (47) Noch nie<br />

lebten wir in einer Welt, die sich so schnell verändert. Wir<br />

sind dauernd gezwungen, neuen Situationen die Stirn zu<br />

bieten. Auf diese Welt müssen wir die Kinder vorbereiten.<br />

Wir können mit Morin sagen,<br />

„dass jede Entwicklung des strategischen Denkens als<br />

eine emanzipatorische Entwicklung zu mehr Autonomie<br />

des Menschen gegenüber seiner Umwelt angesehen wer<br />

den kann.“<br />

(Morin 1986, S. 63)<br />

(46) Das ‚Certificat d‘Etudes Primaires‘ war ein Examen in Frankreich,<br />

das etwa dem Hauptschulabschluss entspricht. (Anm. d. Übers.)<br />

(47) Dieser Umschwung ist in Frankreich viel einschneidender als<br />

in Deutschland, weil das gesamte Schulsystem auf die Vermittlung<br />

eines enzyklopädischen (und damit auch abfragbaren) Wissens<br />

ausgerichtet war (und größtenteils noch ist). Das gilt auch für die<br />

weiterführenden Schulen. (Anm. d. Übers.)<br />

Die Autonomie der Menschen, das ist etwas, was uns<br />

<strong>Freinet</strong>-Lehrer kraftvoll mobilisieren kann. Und das ver<br />

suchen wir mit Hilfe neu gewonnener Erfahrungen vor<br />

anzutreiben.<br />

„Aber missachtet ihr dabei nicht zu sehr die Wirklichkeit?<br />

Seid ihr überhaupt noch <strong>Freinet</strong>-Pädagogen?“<br />

Achtung, an dieser Stelle möchte ich einen wichtigen<br />

Punkt hervorheben, nämlich den Aspekt der Neuerung,<br />

welche die natürliche Méthode im Mathematik-Unterricht<br />

darstellt. Denn so, wie die nicht-euklidische Mathematik<br />

die euklidische nicht überflüssig, sondern sie zu einem<br />

Spezialfall macht, so bleibt fast alles, was bis heute verwirklicht<br />

worden ist, gültig. Sonst wäre es eine zu große<br />

Umwälzung.<br />

Trotzdem muss man folgendes sehen: So, wie das<br />

Einstein’sche System nicht die Folgerung aus dem<br />

Newton’schen System ist, sondern etwas gänzlich ande res<br />

darstellt, ist die natürliche Méthode keine Ver besserung<br />

des ‚lebendigen Rechnens‘, sondern beinahe das Gegenteil.<br />

Natürlich nehmen auch wir jede passende Gelegenheit<br />

wahr, um Ereignissen aus dem Leben einen Platz im<br />

Mathematikunterricht einzuräumen. Denn gera de diese<br />

Ereignisse mit ihren vielschichtigen Konnota tionen gewährleisten<br />

ein Maximum an Lernen und Behalten. Übrigens<br />

baut unser Unterricht genau darauf auf: Jede Stunde<br />

ist, für sich selbst genommen, ein Ereignis. Dennoch ist<br />

es in gewisser Weise ein internes Ereignis innerhalb eines<br />

geschlossenen Systems.<br />

Aber manchmal dringt eben die Umgebung, die Umwelt<br />

in die Welt des Klassenzimmers ein. Und manchmal<br />

tut man gut daran, dem die ganze Aufmerksamkeit<br />

zu widmen und darauf einzugehen. Zum Beispiel der<br />

Empfang oder das Abschicken eines Paketes, die Anlieferung<br />

von Weintrauben durch einen kleinen Winzer, die<br />

Sonne, die nach dem Unterrichtsbeginn aufgeht, usw. Ich<br />

184 185


selbst habe das lebendige Rechnen ausgiebig praktiziert.<br />

Überall habe ich Anlässe dafür wahrgenommen: in der<br />

Anordnung der Tische im Klassenraum, das Aufteilen der<br />

Schokolade, die wir aus der Schweiz erhalten haben, die<br />

Anzahl der Blätter für die Schulzeitung ...<br />

Aber es war immer ich, der Lehrer, der die mathematischen<br />

Strukturen gesehen und aufgegriffen hat. Und<br />

genau das ist der Unterschied. Einige der Kinder waren<br />

sehr empfänglich für meine Begeisterung. Sie teilten sie<br />

ganz offensichtlich. Aber ich glaube, dass mir in Wirklichkeit<br />

vier oder fünf Schüler genügten, damit ich den<br />

Eindruck hatte, es funktioniert. Und so machte ich mir<br />

etwas über die tatsächlichen Fortschritte vor.<br />

Das alles hat sich geändert, als ich die kopernikanische<br />

Wende vollzogen habe: vom Kinde auszugehen. Und<br />

wenn ich dann die Schülerarbeiten anschaue, stelle ich mit<br />

Erstaunen fest, dass wir sehr oft von einer ‚Erfindung‘<br />

ausgehend in den praktischen Bereich eingetaucht sind.<br />

Hier zum Beispiel bei Jean-Paul.<br />

Bei dieser Gelegenheit haben wir uns Eimer, Fässer<br />

und Tonnen für den Cidre auf seinem Bauernhof angesehen.<br />

Danach hatte das Atelier ‚Messen von Volumen‘ noch<br />

größeren Zulauf als davor.<br />

Ähnlich war es bei Yvon, dem Sohn eines Tischlerunternehmers<br />

im Bauhandwerk.<br />

Er hat gezeichnet und geschrieben:<br />

Natürlich habe ich die Gelegenheit ergriffen und die<br />

Schüler zum Lachen gebracht, indem ich gebückt herumgegangen<br />

bin: Ich war ein Mini-Lehrer. Aber dann sind<br />

wir auf Millimeter zurückgekommen. Trotzdem habe ich<br />

die Situation nicht sofort benutzt, um den Kindern Begriffe<br />

und Ergebnisse zu vermitteln, d.h. sie in den Verantwortungsbereich<br />

und Denkhorizont des Lehrers zu<br />

ziehen.<br />

Nein, Anlass für Maße und Messen war eine ganz andere<br />

Situation: als nämlich jemand Kartonschilder aus<br />

einer Apotheke mitbrachte und alle sich darauf stürzten,<br />

um mit Hilfe einer Säge einen riesigen Würfel daraus zu<br />

bauen. Außerdem lernten sie viel über Maße und Messen<br />

durch den Gebrauch von Millimeterpapier für Flächenberechnungen<br />

(mit immer kleiner werdenden Kästchen). Im<br />

Anschluss daran hat Yvon übrigens einen Plan von sei nem<br />

Haus mitgebracht. Das hat uns wieder zur Wirklichkeit<br />

zurückgeführt oder genauer zur Darstellung einer konstruierten<br />

bzw. zu konstruierenden Wirklichkeit.<br />

Wenn ich in meinen Dokumenten nachschlage, erstaunt<br />

mich, wie sehr ich meine Anwesenheit schon zurückgenommen<br />

habe. Man hält mir oft vor:<br />

„Du erklärst ziemlich schlecht. Und du bist Lehrer?“<br />

186 187


Aber die Kinder haben es sich längst selbst erklärt. Für<br />

mich bestand keine Notwendigkeit mehr, ihnen irgendeine<br />

Information, wie perfekt auch immer, zu geben, weil sie<br />

nämlich eine Information geblieben wäre.<br />

Ich habe übrigens eine Bestätigung für dieses Phänomen<br />

erhalten, als mir Monique Quertier begeistert Arbeiten<br />

(Erfindungen) aus dem Bereich der Geometrie von ihrer 3.<br />

Klasse gezeigt hat. „Die Kinder haben alles wie derentdeckt:<br />

Sie haben ausgehend von den freien mathemati schen Texten<br />

alle Definitionen wiederentdeckt.“<br />

Hier einige dieser Texte:<br />

Florian: Die Streifen:<br />

Kamal:<br />

(Ist das eine Raute?)<br />

Confik: Confik:<br />

(Rate: Quadrat oder Raute?)<br />

Chrystel:<br />

Céline:<br />

(A geht zu...<br />

B geht zu ...)<br />

188 189


Cedric:<br />

Die Frage nach dem didaktischen Material<br />

Ich habe Patrice später auf einer anderen Baustelle<br />

getrof fen. Er hat mir erzählt, dass er Architekt hätte werden<br />

können, aber er mag die Konstruktionen lieber selbst<br />

aus führen. Trotzdem wird er wohl Unternehmer werden.<br />

Dort kann er seine vielen Kompetenzen anwenden, die<br />

auf seiner Kreativität und seiner herausragenden Fähigkeit<br />

beruhen, alle notwendigen Arbeitsschritte zu berücksichtigen.<br />

Denn er ist kreativ: Er kann, wenn es nötig ist, eine<br />

Betonplatte rutschen lassen und anschließend Stützen errichten,<br />

die sie halten sollen. Oder er fängt mit der Renovierung<br />

einer Fassade von oben an. Aber das geschieht<br />

nicht aus einem Spiel oder aus reiner Lust her aus, sondern<br />

weil es in dieser Situation besonders zweckmäßig ist. Er<br />

tut es, damit die Zimmerleute und die Dachdecker gleichzeitig<br />

anfangen können. Er liebt es, Strategien auszuarbeiten:<br />

„Es ist interessant, weil jede Baustelle unterschiedlich<br />

ist.“<br />

Aber ich war sehr erstaunt, als er mir gesagt hat,<br />

dass eine seiner grundlegenden Fähigkeiten auf meinen<br />

Unterricht zurückzuführen sei. Er meinte die Fähigkeit,<br />

sich die zweidimensionalen Formen auf den Blaupausen<br />

der Architekten sofort dreidimensional vorstellen zu können.<br />

Diese erstaunliche Fähigkeit erlaubt es ihm, seinem<br />

Trupp ohne Verzug die Arbeiten zu erklären, die getan<br />

werden müssen.<br />

Ich hatte vermutet, dass er sich dabei auf unser Abenteuer<br />

mit der Konstruktion von festen Körpern bezieht. Er<br />

brachte aber eher meinen ‚Bänderkäfig‘ mit seiner Fähigkeit<br />

in Verbindung.<br />

Um den Kindern zu ermöglichen, auch im Raum zu<br />

experimentieren, hatte ich eine Struktur erfunden, die<br />

die Symbolisierung von Körpern erlaubt. Stellen Sie sich<br />

einen Würfel vor: die Decke und der Boden, eine 25 cm<br />

x 25 cm große gelochte Platte. Beides sind vorgefertigte<br />

Teile; die vier Pfosten: Winkeleisen aus dem Stabilbaukasten.<br />

Zwischen der Decke und dem Boden konnte man<br />

völlig frei weiße Gummibänder spannen, indem man sie<br />

in den Löchern befestigte. Man konnte ohne eine vorgefasste<br />

Idee nach dem Zufallsprinzip arbeiten und manchmal<br />

entdecken, dass es z.B. einem Zirkuszelt ähnelte, einer<br />

Manege oder einer Rakete. Und manchmal reichte es aus,<br />

die Position von zwei oder drei Bändern zu verän dern, um<br />

einen Körper von großer Klarheit zu erhalten: einen senkrechten<br />

Zylinder, eine vertikale Pyramide, einen schiefen<br />

Kegel...<br />

Jeder Schüler der 3. Klasse musste sich mindestens einmal<br />

damit beschäftigen, sollte probieren und sehen, ob er<br />

nicht zufällig ein faszinierendes Forschungsfeld ent deckte.<br />

Und es waren Pierrick, der Kreative, und eben Patrice, die<br />

sich als die Eifrigsten entpuppten.<br />

Mit dieser Enthüllung stellt sich die Frage nach der (materiellen)<br />

Ausgestaltung einer günstigen Lernum gebung.<br />

Allerdings sollte man nicht zu große Hoffnungen in die<br />

Unterstützung durch das Material setzen.<br />

190 191


„Man wird feststellen, dass die Unterstützung niemals vollständig<br />

trägt. Das sieht man, wenn ein Kind sich mit Hilfe<br />

von strukturiertem Material ein eng begrenztes Thema<br />

erarbeitet. Zunächst glaubt man, dass dank des Materials<br />

dieser Begriff gründlich erworben und bestimmte Fortschritte<br />

erzielt worden sind. Tatsächlich stimmt das aber<br />

oft überhaupt nicht, und die gleichen Schwierigkeiten wie<br />

vorher tauchen wieder auf, sobald die Handlungen mit<br />

dem Material aufgegeben werden.“<br />

(Jean-Claude Pomes)<br />

Das haben Lehrer sehr oft feststellen müssen.<br />

Man muss also Werkzeuge bereitstellen, die die Handlung<br />

nicht auf ein bestimmtes Thema eingrenzen: Lineal,<br />

Dreieck, Zirkel, Winkelmesser, Karten, Bänderkäfig,<br />

Cuisenaire-Stäbe, Computer mit der Programmiersprache<br />

LOGO,...<br />

Das ist ein Thema, über das wir noch weiter nachdenken<br />

müssen.<br />

Ich persönlich meine, dass die Kinder verpflichtet werden<br />

sollten, solche Werkzeuge zumindest einmal zu benutzen,<br />

damit sie von ihrer Existenz wissen und damit<br />

umgehen können, wenn sie sie brauchen. Aber man sollte<br />

ihnen nicht vorschreiben, wie und wie lange sie damit<br />

arbeiten.<br />

So kann Patrice, der Realist, mit dem Bänderkäfig versuchen,<br />

reine Körper zu konstruieren. Pierrick, der Erfinder,<br />

wird auf die Decke und auf den Boden verschiedene<br />

Formen zeichnen, um zu sehen, was dabei rauskommt,<br />

wenn er die Fäden spannt. Jacques, der Mathematiker,<br />

wird sich Kurven für oben und unten ausdenken. Und er<br />

wird es Christian, dem Handwerker, überlassen, sein Programm<br />

zu verwirklichen. Aber Gael, der allergisch gegenüber<br />

der Arbeit mit Materialien ist, wird in das LOGO des<br />

Computers eintauchen. Er wird diesen Apparat zunächst<br />

in einer eingeengten Weise benutzen, aber die anderen<br />

werden ihn durch ihr Beispiel wahr scheinlich ermutigen,<br />

sein Arbeitsfeld zu erweitern ....<br />

In der Erziehung werden wir der Komplexität der<br />

Dinge nicht gerecht, wenn wir nicht versuchen, möglichst<br />

viele Elemente der umgebenden Situation einzubeziehen.<br />

Und unsere Möglichkeiten in diesem Gebiet sind, wie das<br />

Beispiel des didaktischen Materials zeigt, sehr viel größer,<br />

als man es vermuten könnte.<br />

Die Kraft, die uns antreibt<br />

„Das menschliche Wesen weiß nicht, was es wünschen<br />

soll. Es sind die anderen, die es für ihn festlegen, indem<br />

sie es selbst wünschen.“<br />

(Girard, 1978)<br />

Doch diese Aussage von dem blinden Eifer zur Anpassung<br />

stimmt plötzlich nicht mehr, wenn man sich auf seine<br />

eigenen Wurzeln und Bedürfnisse zurückbe sinnt, wie<br />

es durch den freien mathematischen Text möglich wird.<br />

Deshalb habe ich mich hier wie in den anderen Gebieten<br />

dafür eingesetzt, dass die Kinder ihre individu ellen Wege<br />

suchen und gehen konnten, indem ich jeden einzelnen,<br />

soweit es möglich war, z.B. vor jedweder Bewertung geschützt<br />

habe. Und vor allem vor meiner eigenen. Entsprechend<br />

dem Prinzip der Gleichbehand lung habe ich mich<br />

bemüht, jeden zweiten Tag von jedem Kind eine Erfindung<br />

vorzustellen. Und ich habe versucht, mich parallel<br />

dazu durch Lektüre und Gespräche zu bereichern und<br />

mich in die Lage zu versetzen, so viel wie möglich von<br />

den Kindern wahrzunehmen.<br />

Natürlich quälte mich beim ersten Mal der Wunsch<br />

nach sichtbaren Ergebnissen und nach mehr Festigung<br />

192 193


des Wissens, aber ich habe meiner Angst widerstanden,<br />

indem ich mir Grenzen gesetzt habe. „Ich verbiete dir, vor<br />

Weihnachten Angst zu haben.“<br />

Und zu Weihnachten: „Nun, du bist kein Mann, wenn<br />

du nicht bis Ostern durchhältst.“<br />

Nun, es hat sich als richtig erwiesen, dass ich in diesem<br />

ersten Jahr ausgehalten habe, denn zu Ostern hatten<br />

wir nicht nur den Lehrplan erfüllt, sondern waren weit<br />

darüber hinausgegangen. Und vor allem hatten die Kinder<br />

großen Hunger auf Mathematik. Um das deutlich zu<br />

machen, stelle ich jetzt ein Dokument vor, das Jean Astier,<br />

ein Lehrer aus dem Departement Var, geliefert hat (siehe<br />

Abbildung auf der folgenden Seite). Er schreibt als Erläuterung<br />

dazu:<br />

„Dieses Dokument wurde von einem vierjährigen Mädchen<br />

namens Céline allein, d.h. ohne Einmischung<br />

durch irgendeinen Erwachsenen angefertigt. Ich habe<br />

es erst lange Zeit, nachdem es angefertigt worden ist,<br />

gefunden...<br />

So paradox das auch scheinen mag, die Mathematik ist<br />

ein Ort des persönlichen Ausdrucks. Sie ermöglicht,<br />

dass grundlegende Ausdrücke, die an die Lebens<br />

geschichte der Person gebunden sind, auftauchen. Der<br />

Beweis dafür ist, dass sich Céline für Paare entschieden<br />

hat. Warum hat sie Paare gemalt? Hat das mit der<br />

momentanen Beziehung zu tun, die zwischen ihren<br />

Eltern herrscht? Oder mit der zwischen ihr und ihrer<br />

Mutter? Ich kann es nicht genau sagen, aber ich bin mir<br />

sicher, dass sie in ihrer Aussage nicht nur durch die<br />

zufällige Begegnung mit einem perforierten Blatt<br />

Endlospapier geleitet war.“<br />

(Jean Astier)<br />

Als ich dieses Dokument gesehen habe, wurde ich vor<br />

Verblüffung ganz aufgeregt. „Was? Schon in diesem Alter?<br />

Und was man alles darin erkennen kann: das Binärsystem,<br />

Entscheidungsbäume, Ahnenforschung, andere<br />

Zahlensysteme usw.“ In meiner Klasse hätte ich natürlich<br />

selig geschwiegen und mich zurückgehalten. Ich wäre<br />

194 195


sicher nicht nach vorne gestürzt, sondern hätte einfach zugehört<br />

und mich damit zufrieden gegeben, die Aus sagen<br />

der Kinder zu wiederholen und zu unterstreichen. Das folgende<br />

Beispiel erhielt ich von Philippe Bertrand, Lehrer<br />

im Departement Finistére.<br />

(Man könnte versuchen, das dem LOGO - Igel beizubringen)<br />

Katelle (3. Klasse) hat das kleine Zeichendreieck mehr<br />

als 100 Mal drehen lassen (welche Ausdauer!) und dann<br />

vorgeschlagen, dass sie dies alles dem Igel auf dem Computer<br />

(in der Programmiersprache LOGO) beibrin gen<br />

will.<br />

Ein drittes Dokument aus der Klasse von Joseph Portier,<br />

Lehrer im Departement Manche:<br />

Die Arbeit dieses 5 Jahre alten Kindes ist erstaunlich.<br />

Sein Lehrer, Joseph Portier, hat sofort erkannt, dass in der<br />

Konstruktion der Begriff der Ähnlichkeitstransformation<br />

sowie die Funktionen y = ax und auch y = ax2 angelegt<br />

196 197


sind. Und das in diesem Alter! Sebastien hat nur unter<br />

Schwierigkeiten lesen gelernt. (Anscheinend wie Einstein,<br />

den man als ein wenig zurückgeblieben eingeschätzt hatte.<br />

Aber im Bereich der mathematischen Produktion war er<br />

erstaunlich kreativ)<br />

Natürlich könnte man einwenden, dass dieses Kind sich<br />

dies alles nicht allein ausgedacht haben kann. Das stimmt;<br />

denn es ging in eine gemischte Klasse einer Zwergschule,<br />

und die anderen Schüler, die alle viel größer waren, stellten<br />

ebenfalls viele freie mathematische Texte her. Aber<br />

was macht das?<br />

(Übrigens schauen wir uns selbst an, wir haben auch<br />

nicht alles allein erfunden. Es gibt zweifellos auch eine<br />

mathematische ‚Zwischentextlichkeit‘) (48)<br />

Das was zählt, ist, dass das Kind aktiv bereit ist, die<br />

Idee aufzugreifen.<br />

Und wenn diese Idee Anerkennung findet - einfach dadurch,<br />

dass die Gruppe sich damit beschäftigt -, ist damit<br />

in dem üppigen Garten des Unterbewussten ein Keim gelegt,<br />

der viele Entwicklungsmöglichkeiten in sich trägt.<br />

Dieses Phänomen wird z. B. in dem großen Jubel von Sebastien<br />

sichtbar, der auf dem Bild über all den Raketen<br />

schwebt, die zum Abflug bereit sind.<br />

Sehr aufschlussreich könnte es sein, sich nach dem<br />

Grund für die zweite Fünf zu fragen. Denn es ist immer<br />

die ungewöhnliche Einzelheit, die den meisten Sinn stiftet,<br />

wie die Psychoanalytiker meinen. Die Antworten, die<br />

man von den Kindern erhält, sind oft überraschend und<br />

immer sehr lehrreich.<br />

(48) ‘Zwischentextlichkeit’ ist eine Theorie, die davon ausgeht, dass man<br />

niemals etwas völlig Neues schreibt, dass sich alles, was man schreibt, in<br />

den Texten wiederfindet, die bereits geschrieben wurden. Kurzum, die<br />

Texte zitieren einander, stehen miteinander in Verbindung.<br />

Wie hier in einem Beispiel aus einem 1. Schuljahr, das<br />

von Anne-Yvonne Charpentier, einer Lehrerin in Rennes,<br />

gezeigt wurde:<br />

Oh, dieses ungewöhnliche ‚SS‘. Das Kind wohnt in<br />

einem Hochhaus mit 18 Stockwerken. Das ‚SS‘ (Abkürzung<br />

von ‚sous-sol‘ - Keller) könnte ein anderes Kind aus<br />

einem anderen Hochhaus anregen, statt dessen 0, -1, -2<br />

zusagen.<br />

Hier eine Linie:<br />

Die Lehrerin hatte gesagt:<br />

„Ihr wisst, ihr könnt auch etwas anderes als gerade<br />

Linien (49) zeichnen. Ah! Und was hast du gemacht,<br />

Rozenn?“<br />

„Eine linke Linie“ (gezeichnet mit der linken Hand).<br />

(49) ‘lignes droites’ <strong>heißt</strong> auf deutsch: gerade Linie; droite <strong>heißt</strong> außerdem<br />

auch rechts (Anm. d. Übers.)<br />

198 199


Perig (5 1 / 2 Jahre):<br />

„Was ich oben hingezeichnet habe, ist die Aufgabe. Das<br />

bedeutet, dass man alle Dreiecke und alle Quadrate durchstreichen<br />

soll.“<br />

Nun gut, ich sehe darin ganz einfach eine Programmierung,<br />

eine Reihenfolge von Handlungen, die auszuführen<br />

sind.<br />

„Wo hast du gelernt, so etwas zu tun, Perig?“<br />

„Nirgends, so etwas denke ich mir oft aus.“<br />

Selbst, wenn es nicht ganz stimmt, öffnet sich trotz dem<br />

die Welt der Programmierung für ihn. Er hat das Prinzip<br />

verstanden und schafft sich selbst Programme, die verwirklicht<br />

werden können.<br />

Perig: „Wenn man klein ist, kritzelt man rum. Später<br />

kritzelt man weniger. Und dann, wenn man viel größer ist,<br />

zeichnet man richtige Sachen.“<br />

Die Pfeile zeigen den Fortschritt.<br />

Bei der Arbeit mit der natürlichen Methode gibt man<br />

sich sehr oft damit zufrieden, bestimmte Themen nur anzureißen.<br />

Da man aber intensiv und viel arbeitet (jeden<br />

Tag für die Dauer von zwei oder drei Jahren), kommt es<br />

durch die steten Wiederholungen immer wieder zu einer<br />

Festigung und Vertiefung des Gelernten. Die verschiedenen<br />

Bereiche werden unter ständig neuen Aspekten regelmäßig<br />

wiederholt. Die Kinder halten aber nur dann inne,<br />

um einer Frage intensiver nachzugehen, wenn sie dazu<br />

innerlich bereit sind. Wenn sie dafür reif sind. Zu ihrer<br />

Stunde. Und wenn man manchmal dieselben Vorlieben<br />

wiederfindet, dieselbe Begeisterung, dieselben Investitionen,<br />

dann ist das nicht mehr der Einfluss des Lehrers.<br />

Und so wie „die Wissenschaft nicht nur das gegenseitige<br />

200 201


Durchdringen der Dinge in den Blick nimmt, sondern<br />

auch und vor allem das gegenseitige Durchdringen des<br />

Verstandes“ (Bachelard, 1970), so verwirklicht unsere<br />

pädagogische und didaktische Konzeption des Mathematikunterrichts<br />

dieses Versprechen, den Geist im Zustand<br />

einer dauerhaf ten Gärung zu halten.<br />

6. Die Weiterentwicklung der Idee<br />

Wenn es jemanden gibt, der kaum in Gefahr gerät, in<br />

einen dogmatischen Schlaf zu versinken, dann ist es der<br />

Lehrer, besonders, wenn er nach der natürlichen Methode<br />

arbeitet. Denn das wird nicht ohne Schwierigkeiten abgehen.<br />

Er muss an diesen Weg wirklich glauben. Er muss<br />

die Notwendigkeit wirklich fühlen. Hätte ich persönlich<br />

nicht eine lange Erfahrung mit dem freien geschriebenen<br />

Text gehabt, dann hätte ich nicht so stark an die Kraft des<br />

‚freien mathematischen Textes‘ glauben können (der übrigens<br />

viel freier als der geschriebene ist, weil das familiäre<br />

Umfeld weniger davon versteht und deshalb auch nicht<br />

eingreifen kann).<br />

Die Erfolge (50) werden den Lehrer jedoch recht bald in<br />

seiner Entscheidung bestärken, den Versuch fortzuset zen.<br />

Aber kommen wir zurück zu unserer Frage: Wie sieht<br />

die Zukunft der natürlichen Methode in der Mathematik<br />

aus? Man kann davon ausgehen, dass sie in Frankreich<br />

Fuß gefasst hat, so wie es einige Erfahrungsberichte im<br />

(50) Ich möchte nebenbei bemerken, dass ich Gelegenheit hatte, diese<br />

Methode in weiteren Bereichen anzuwenden. Bei einem internationalen<br />

Seminar in Deutschland hatte ich sogar die Gelegenheit, bis zum freien<br />

‚musikalischen Text‘ vorzustoßen. Weil es zwölf elektronische Klaviere<br />

gab, mit denen man auch leise für sich spielen konnte, eröffneten<br />

sich ungeheure Möglichkeiten im Fach Musik, das auf diese Weise<br />

demokratisiert werden konnte. Jeder kreierte zunächst für sich allein<br />

einen freien ‚musikalischen Text‘, den wir dann den anderen laut<br />

vorspielten. Einen davon wählten wir aus und jeder spielte ihn nach, um<br />

ihn aufzunehmen und so weiter ... Auch in diesem Bereich kann sich jeder<br />

ein umfangreiches Wissen erarbeiten, indem er von den Erfindungen der<br />

Gruppe ausgeht und aus ihrem Reichtum schöpft. Die deut schen Kollegen,<br />

gleichzeitig Musiker und Pädagogen, setzten sich, ebenso wie die Finnen,<br />

voll und ganz dafür ein.<br />

202 203


Buch bezeugen. Aber kann man sich mit diesem ‚Standbein‘<br />

zufrieden geben? Der große französische Mathematiker<br />

Rene Thom hat gesagt, dass man die Mathematik<br />

eigentlich nur bis zum Alter von vierzehn Jahren zu<br />

unterrichten brauche. Alles, was danach kom me, werde<br />

nur von 5 % der Franzosen verstanden. Aber wenn wir<br />

es schaffen, dass wenigstens 75% der Kinder unter vierzehn<br />

Jahren nicht unter der Mathematik leiden müssten<br />

und sogar Freude daran fänden, dann ist dies doch den<br />

Einsatz wert.<br />

Bis jetzt erstreckt sich unsere Erfahrung in Frankreich<br />

vor allem auf die unteren Klassenstufen, von der Vorschule<br />

(‘maternelle’) bis zum 3. Schuljahr (also vom 3. bis zum<br />

9. Lebensjahr). Es gab auch einige Versuche im 4. und 5.<br />

Grundschuljahr und in der Sexta. Aber die natürli che Methode<br />

ist auch für wesentlich höhere Stufen geeig net.<br />

Schon jetzt wird deutlich, dass diese Methode vom Lehrer<br />

fordert, selbst seine Kenntnisse weiterzuent wickeln.<br />

„Schüler zu bleiben, muss der geheime Wunsch eines<br />

Lehrers sein. Tatsächlich wechseln sogar Wissenschaftler<br />

von einer Schule in die andere. Die Dialektik von Lehrer<br />

und Schüler kehrt sich oft ins Gegenteil um. Es gibt dort<br />

Elemente einer dialogischen Pädagogik, und man ahnt<br />

weder deren Kraft noch deren Neuheit, wenn man nicht<br />

aktiv in einer wissenschaftlichen Schule mitarbeitet.“<br />

(Bachelard 1970, S. 23)<br />

Natürlich werden zunächst vor allem diejenigen Lehrer<br />

und Lehrerinnen anfangen, die Freude an der Mathematik<br />

selbst haben und außerdem über genügend Selbstbewusstsein<br />

verfügen. Aber die natürliche Methode funktioniert<br />

nur, wenn sich die Lehrer auch für eine ande re<br />

Freude öffnen, nämlich der Freude des diplomatischen<br />

Geschicks. Denn jetzt steht nicht mehr die Freude an der<br />

Macht durch Wissen im Vordergrund, sondern die Freude<br />

über die Fortschritte der Kinder, die sich gerade aus unserer<br />

Zurückhaltung ergibt. Das Wissen ergießt sich nicht<br />

mehr von oben nach unten; es wird sozusagen horizontal<br />

erworben. Der Lehrer dient nur noch als Katalysator. Es<br />

ist ein Sieg über sich selbst, den man erringen muss.<br />

Ich persönlich bin in meinen Handlungen nicht immer<br />

eindeutig gewesen. Aber ich war immer darum bemüht, es<br />

zu sein. Zusammen werden wir uns bessern.<br />

Wir müssen uns also selbst weiterbilden und uns zusammen<br />

weiterbilden, damit wir die Erfindungen der Kinder<br />

optimal aufnehmen können. Und wenn es nötig sein<br />

sollte, würden wir dafür sogar lernen, dass<br />

„das Dromedar, das auf der Hypotenuse konstruiert<br />

wurde, gleich der Summe der Dromedare ist, die auf den<br />

beiden anderen Seiten konstruiert wurden.“<br />

(Bachelard 1970, S. 93)<br />

Die gegenseitige Fortbildung der Lehrer<br />

Doch warum warten? Sprechen wir doch jetzt gleich<br />

von unserer gegenseitigen Fortbildung, von unserer<br />

Verwand lung in Personen, die fähig sind alle Reichtümer<br />

zu wit tern, die sich hinter der kleinsten Erfindung verbergen.<br />

Aber auch über unsere Verwandlung in Personen, die<br />

in der Lage sind, den aufkeimenden Wunsch nach einer<br />

gründlichen Untersuchung zu zügeln und sich auf aufmerksames<br />

Zuhören zu beschränken. Zuhören kann allerdings<br />

auch heißen, einmal eine interessante Bemerkung,<br />

die in der Gruppe gemacht wurde, wiederholen zu las sen.<br />

204 205


Sehen wir uns einige Beispiele an:<br />

Regelmäßig arbeiten Kinder mit solchen Tabellen:<br />

Natürlich denkt der Lehrer sofort an Flächenberechnung,<br />

an die Kommutativität der Multiplikation usw. Aber<br />

er sagt nichts. Und hier trägt Jacques (2. Klasse) Zahlen<br />

ein.<br />

Warum eigentlich nicht, nach allem? Der Lehrer hätte<br />

vielleicht eine Vorstellung, was man daraus machen<br />

könnte, aber er begnügt sich damit, die Überlegung eines<br />

Kindes aufzunehmen:<br />

„Ja, das ist wahr, er hat eine Tabelle mit Zahlen<br />

gemacht.“<br />

(Der Lehrer hat das Wort ‘Tabelle’ geliefert. Er ist nicht<br />

der Stumme aus dem Serail. Er kann zumindest das Vokabular<br />

liefern.)<br />

Natürlich lässt sich das verallgemeinern:<br />

Also, der Lehrer freut sich: Er sieht Äquivalenz klassen.<br />

Alle Zahlen der ersten Spalte gehören zur selben Klasse,<br />

denn, wenn man sie durch 4 teilt, bleibt immer der Rest<br />

1. Es ist eine Restklasse (mod 4), die entsteht, wenn man<br />

durch 4 teilt. Aber der Lehrer sagt nichts. Dann hört er<br />

Gilbert sagen: „4 + 4 = 8 und 8 + 4 = 12“ Er lässt ihn<br />

wiederholen. Und fügt hinzu: „Ja richtig, diese Spalte ist<br />

interessant. Aber es gibt auch andere Spalten.“<br />

Dieses Verhalten könnte man kritisieren. Hat er das<br />

Recht, den zweiten Satz hinzuzufügen? Aber wir brauchen<br />

dabei keine Skrupel zu haben. Wir werden uns nicht<br />

durch den Absolutheitsanspruch einer Verhaltensnorm<br />

handlungsunfähig machen lassen. Wenn man Lust hat es<br />

zu sagen, dann sagt man es. Ich selbst denke, dass es unsere<br />

Aufgabe ist, von Zeit zu Zeit einen weiteren Schritt<br />

anzuregen. Aber man kann es in aller Gelassenheit tun;<br />

denn wenn die Gruppe noch nicht reif ist, dann wird sie<br />

diesen Impuls nicht aufnehmen. Es kann jedoch zufäl lig<br />

passieren, dass er sich unbewusst in irgendeinem Gehirn<br />

festsetzt. Dann wird er Früchte tragen. Wenn der Lehrer<br />

auf jeden Fall schweigen müsste, dann wäre er vielleicht<br />

doch überfordert. Er muss (und darf) sich schließlich so<br />

verhalten, wie es seiner Persönlichkeit und seiner momentanen<br />

Sicht der Dinge entspricht. Und wenn er auf<br />

Gleichgesinnte trifft, dann beschließt er viel leicht, ebenso<br />

wie sie, so lange wie möglich nichts zu sagen. Und vielleicht<br />

findet er auch Gefallen daran. Aber ob es so läuft,<br />

hängt immer von der Situation ab. (Manchmal, vor allem<br />

am Anfang, darf man nicht zögern einzugreifen, damit es<br />

überhaupt losgeht.)<br />

In der folgenden Zeit bricht die ‘Tabellenkrankheit’<br />

aus. Es tauchen alle möglichen Arten von Tabellen auf.<br />

Der Lehrer weiß, dass die Zweier-Tabelle für gerade und<br />

ungerade steht, dass die Siebener-Tabelle dem Kalender<br />

entspricht und dass die Zehner-Tabelle das Dezimal system<br />

206 207


zeigt. Und mit der Neuner-Tabelle kann man auch den Beweis<br />

für ‚geteilt durch neun‘ verstehen, da er auf den Restklassen<br />

(mod 9) basiert.<br />

Und dann bringt Philippe einen Kalender mit. Aber<br />

warum denn? Gibt es nicht schon einen in der Klasse?<br />

Und hat der Lehrer nicht bereits gesagt, dass er wie die<br />

Siebener-Tabelle ist? Offensichtlich haben sie nichts von<br />

dem aufgenommen, was er gesagt hat.<br />

Aber als Philippe seinen Kalender mitgebracht hat,<br />

haben wir plötzlich alles verstanden. Wir sind nämlich<br />

auf die Idee gekommen, ihn mit der Siebener-Tabelle von<br />

Christian zu vergleichen. Welch ein Ereignis!<br />

Aber dann sagt ein Realist:<br />

„Monsieur ..., das Tastentelefon ist eine Dreier-<br />

Tabelle.“<br />

Also schauen wir uns den Apparat an. Und wir stellen<br />

fest, dass die Null eine eigene Reihe hat. Der Lehrer sagt:<br />

„Ah, dort ist die Null!“<br />

Als ob sie woanders sein könnte! Aber Philipp La vis<br />

bringt uns eine Erfindung aus seiner Vorschulzeit mit:<br />

In dieser Sitzung wollten die Kinder die Ziffern zählen.<br />

Die spontane Antwort:<br />

„Das sind 9.“ Dann, einige Zeit später: „Nein, das sind<br />

10.“ Des Rätsels Lösung: Die einen zeigten zuerst auf die<br />

1 und zählten eins, zwei usw. Die anderen dagegen zeigten<br />

zuerst auf die 0, zählten aber ebenfalls eins, zwei, usw. (51)<br />

Damit der Unterschied zwischen Nummern und Zahlen<br />

deutlich wird, haben wir die Zahlen in Operationen<br />

eingebunden:<br />

Das Ergebnis sind hier die Restklassen (mod 5) (wenn<br />

man durch 5 teilt) (52) .<br />

Wir haben also die Restklassen: r0 , r1 , r2 , r3 , r4.<br />

Und dieses Mal steht die Restklasse r0 am Anfang und<br />

nicht am Ende.<br />

„Aber Monsieur ..., dann ist die Null auf dem Telefon<br />

nicht auf ihrem Platz.“<br />

(51) Die Kollegen aus dem Departement Pas-de-Calais haben uns erklärt,<br />

dass es sich in dieser Situation nicht um Zahlen, sondern um Nummern<br />

handelt. (Wie bei der Waschmaschine oder wie im Fahrstuhl ...) „Es sind<br />

erst dann Zahlen, wenn sie in Operationen eingebunden werden.“<br />

(52) Ich habe diese Klammer hinzugefügt, weil einige Freunde mir gesagt<br />

haben, dass sie noch nichts von dem ‚modulo‘ verstanden haben. Und wie<br />

viele mathematische Blockaden sind wegen einer einfachen Frage nach<br />

dem verwendeten Vokabular dauerhaft auf gebaut worden! Also, man<br />

muss zumindest für einige Zeit einen Ausdruck und seine Bedeutung<br />

gleichzeitig verwenden, damit der Begriff hinreichend gefüllt wird und<br />

nicht verloren geht. Übrigens haben die Kinder spontan Begriffe wie<br />

‚tierce‘ (Dreier, Drilling) und ‚der zerstreute Weg‘ ausgedacht. Warum<br />

eigentlich nicht? Denn man versteht sie und man versteht sich gegenseitig.<br />

Zumal, wenn es sich um ein Wort von Jacques mit seinem trocke nen<br />

Humor oder von Jean-Marc, diesem krausköpfigen Spaßvogel, handelt. Wir<br />

haben noch genügend Zeit, die mathematischen Ausdrücke zu übernehmen<br />

(die der Lehrer unterdessen regelmäßig einbringt).<br />

208 209


„Ja. Fragt sich jemand warum?“<br />

Mit dieser Arbeit über Äquivalenzklassen ist der Lehrer<br />

zufrieden; sie verschafft ihm Sicherheit. „Super! Wir verlieren<br />

keine Zeit; wir arbeiten bereits an der Division!“<br />

Und hier etwas, das sich die stille, kreative Joelle ausgedacht<br />

hat:<br />

In der Fachsprache: Oben ist eine Menge und darunter<br />

sind zwei komplementäre Teilmengen.<br />

Man kann sie wie folgt bezeichnen:<br />

Also jetzt kommt der große Wendepunkt.<br />

Wir haben bei Remi:<br />

oder bei Denis:<br />

oder noch bei Eric:<br />

Also jetzt schaudert es dem Lehrer; denn Loïc Demeuré,<br />

der im Nationalen Studienzentrum für Tele kommunikation<br />

arbeitet, hat ihm ein Buch über die Bool‘sche Algebra und<br />

die Karnaught-Tafeln gegeben, und die letzte Zeichnung,<br />

das ist doch der Anfang vom zweiten (Karnaught‘schen)<br />

Diagramm!<br />

Und weiter geht es mit den Schnittmengen:<br />

Wir landen schließlich bei Entscheidungsbäumen,<br />

Baumdiagrammen, ... Schaut Euch den Entscheidungsbaum<br />

der vierjährigen Céline an (Seite 195)! Sie hat ihn<br />

beim Warten auf einen Arbeitsauftrag geschaffen. Man<br />

muss ihn nur noch im Alltag anwenden (angewandter Rationalismus).<br />

Und das haben wir auch getan.<br />

Man tut es z.B., wenn man die Schüler spontan nach<br />

bestimmten Merkmalen sortiert: Man leidet unter dem<br />

Chaos der Klasse, man muss Ordnung stiften, also trifft<br />

man Unterscheidungen: Jungen und Mädchen; die Kinder<br />

aus dem 2. Schuljahr und die aus dem 3. Schul jahr; diejenigen,<br />

deren Namen mit einem ‚Le‘ beginnen (bei uns in<br />

210 211


der Bretagne: Le Gal, Le Merrer, Le Pennec), diejenigen,<br />

die blaue Augen, ein Fahrrad oder eine Katze haben.<br />

Man kann Célines Hilfsmittel auch bei Permutationen<br />

oder in der Ahnenforschung ... nutzen. Ich höre hier auf,<br />

weil die Leser sicher schon lange verstanden haben, dass<br />

es hier unendlich viele Möglichkeiten gibt. Erwähnen<br />

möchte ich noch, dass Jean Astier und Philipp Lavis dadurch,<br />

dass sie uns Erfindungen ihrer Kinder vorge stellt<br />

haben, viel gelernt bzw. wieder gelernt haben. Sie waren<br />

deshalb so empfänglich für unsere Kommentare, weil es<br />

sich um Dokumente aus ihren Klassen, also aus ihrem<br />

Leben handelte. Deshalb können wir zuversichtlich sein.<br />

Selbst wenn man kein großer Mathematiker ist (für den<br />

Grundschulunterricht reicht es meist aus), werden die Kollegen<br />

uns helfen, weiterzukommen. „Wir sind nicht mehr<br />

allein.“ Es ist jedenfalls sehr wichtig, dass sich die Lehrer<br />

sicher fühlen!<br />

Aber vielleicht wäre für den Leser eine Erklärung der<br />

Karnaught-Tafeln nützlich. Auf eine erste Karte (es sind<br />

insgesamt 4) schreibt man oben die Menge der 16 ersten<br />

Zahlen von 0 bis 15 hin.<br />

Man dreht die Karte um 180° und schreibt von neuem<br />

die 16 Zahlen oben hin.<br />

Und unten für W*, also für die komplementäre Teilmenge:<br />

Bei der Schnittmenge der acht Teilmengen sieht man<br />

das Licht nur durch ein einziges Loch; wir finden nur eine<br />

einzige Zahl bei jeder möglichen Kombination:<br />

Ich weiß nicht, ob dies bei dem Leser den Wunsch auslösen<br />

wird, diese Karten herzustellen. Aber bei mir hat es<br />

zunächst einiges Nachdenken ausgelöst:<br />

Ausgangspunkt war, dass ich etwas von meinem Wissen<br />

mitteilen wollte. Aber dazu musste ich es erst wieder<br />

in die Erinnerung holen. Über etwas zu sprechen zwingt<br />

zwar dazu, Ordnung in seine Gedanken zu brin gen, doch<br />

habe ich es diesmal nicht geschafft, das Ganze in Gedanken<br />

zu rekonstruieren.<br />

Also habe ich ein Modell gebaut mit je 8 Löchern oben<br />

und unten. Aber dieses Modell erwies sich als Sackgasse;<br />

ich musste ein zweites Modell konstruieren mit je 16 Löchern.<br />

Diesmal hat es geklappt.<br />

Nun fällt mir auf, dass meine Erfindung eine in sich<br />

geschlossene Erfindung war: Ich hatte ein Ziel, ich wollte<br />

mein Wissen rekonstruieren. Aber die Erfindungen der<br />

Kinder sind offen. Kinder wollen keine Werkzeuge oder<br />

Modelle schaffen. Dennoch lassen sich - wenn man ihre<br />

212 213


Erfindungen auf die Realität anwendet - Elemente dieser<br />

Realität darin wiederfinden, auch wenn das nicht beabsichtigt<br />

war. Die Vielzahl von Wegen, die sich durch die<br />

Erfindungen öffnen, führen natürlich weit über den Bereich<br />

der reinen Mathematik hinaus. Dies wird uns anhand<br />

des folgenden Auszugs aus unserer Zeitschrift ‚naturellement<br />

math‘ (vgl. Bibliographie) klar:<br />

„Ich habe kürzlich in einer 3. Klasse zwei Stunden mit<br />

natürlicher Methode in Mathematik angeleitet. Und es<br />

dämmerte mir, dass die natürliche Methode ein erstaunliches<br />

Werkzeug für die Erforschung und Annäherung an<br />

die Welt ist. Innerhalb einer Stunde haben wir Themen<br />

wie ‚Stabiles‘ von Calder (53) Unterstände an Haltestellen,<br />

Architektur, Logos und Bildhauerei ange schnitten. Unser<br />

Gespräch beschränkte sich nicht auf Zahlen und Reihen,<br />

sondern erstreckte sich auch auf die Sprachforschung, die<br />

Anagramme, die Beziehungen zwi schen den Wörtern usw.<br />

Und all das in einer Schul stunde. Stellt euch daneben mal<br />

ein ganzes Schuljahr vor, eine ganze Schulzeit!.“<br />

Um der Rolle eines Lehrers gerecht zu werden, der den<br />

Schülern Impulse zu freierem Denken gibt, zeichnete ich<br />

am Anfang dieses Schuljahres mit geschlossenen Augen<br />

nach dem Zufallsprinzip vier Linien auf ein Blatt Papier<br />

und nannte das ‚die ebene Abwicklung einer unbekannten<br />

Sache‘. Dann faltete ich das Blatt an den Linien und<br />

formte mit ein bischen Tesafilm daraus einen Körper. Weil<br />

er ziemlich unförmig war, sagte ich: „Das ist eine Statue”<br />

und stellte sie auf den Schrank. So sind wir auf die „ ‚Sta-<br />

(53) Calder, Alexander, geb. 1898, amerikanischer Bildhauer. Seine<br />

„Stabiles“ (abstrakte Metallplastiken) und großräumigen „Mobiles“ sind in<br />

Frankreich Allgemeingut (Anm. des Heraus gebers).<br />

biles‘ von Calder (54) “ gekommen; also auf die Kunst, die<br />

ganz und gar Freiheit ist.<br />

Aber Nathan, der eher Realist ist, dachte an den Unterstand<br />

einer Bushaltestelle. Er wollte das Netz eines bekannten<br />

Körpers finden und hat dies gezeichnet:<br />

Er war sehr erstaunt, dass das keinen Unterstand ergab.<br />

Aber die Klasse griff seine Idee auf, und vierzehn Tage<br />

lang hat sie sich in der Produktion von regel mäßigen Körpern<br />

regelrecht gesuhlt.<br />

Daniel und ich, wir hätten uns darüber aufregen können.<br />

Aber ich habe ihm von der Dialektik erzählt: „Wenn<br />

man sich auf eine Sättigung zu bewegt, baut man gleichzeitig<br />

eine Frustration auf. Es ist deine Aufgabe, die erste<br />

Abweichung zu erspähen, die nach einer Reihe von Erfindungen<br />

stattfinden wird. Es wird ausreichen, wenn du das<br />

Auftauchen dieser neuen Sache unterstreichst. Und wenn<br />

die Gruppe zur Sättigung tendiert, wird sie umkippen.<br />

Vielleicht wird es nur die halbe Gruppe tun oder nur ein<br />

einziges Kind, das bei den anderen nur mit gemacht hat,<br />

weil alle es getan haben, das aber jetzt plötz lich feststellt,<br />

dass dieser neue Bereich ihm voll und ganz entspricht.<br />

Ich wollte den Freiraum vergrößern, aber ich hatte<br />

nicht bemerkt, dass Sabrina schon ganz allein einen<br />

neu en Schritt gewagt hatte, indem sie ‚Eine Abwicklung<br />

des Würfels‘ mit rechten Winkeln (!) gezeichnet hat. Wir<br />

schauen oft nicht genau genug hin. Und wir hören auch oft<br />

nicht gut genug zu. Bei dem Unterstand von Nathan z.B.<br />

habe ich nicht innegehalten, als ein Junge überlegte: „Man<br />

(54) vergl. Fußnote Seite 214<br />

214 215


aucht doch nur zwei davon herzustellen.“<br />

Seine Idee ist nicht verfolgt worden, weil ich sie nicht<br />

hervorgehoben habe. ‘Natürlich‘ verpatzt man viele Dinge.<br />

Aber das ist nicht weiter schlimm, wenn man Vertrauen<br />

in die kognitive Kraft der Gruppe hat, die viel reicher an<br />

Ideen, viel weitsichtiger und viel intelligenter ist als der<br />

arme Lehrer, der durch seine Denkschemata und seine<br />

Ängste blockiert ist. Und außerdem können Irrtümer des<br />

Lehrers oft sogar aufgefangen werden.<br />

Das hat Monique Quertier in unserer Mathematik-Zeitschrift<br />

„naturellement math“ so beschrieben:<br />

„Ich war über diese Erfindung so bestürzt, dass ich nicht<br />

wagte, etwas zu sagen; ich habe es nicht gewagt den<br />

Kindern zu sagen, dass ich sie im letzten Monat den<br />

Lehrsatz von Pythagoras habe zeichnen lassen und dass<br />

wir ihn genau auf diese Weise gezeichnet haben. Sie<br />

hat ten damals alles mitgemacht. Sie hatten mir höflich<br />

zugehört. Aber es ist über ihre Köpfe hinweggegangen.<br />

Jetzt wissen sie es, weil sie es selbst wiederentdeckt<br />

haben.“<br />

(naturellement math 1989)<br />

Ich glaube, dass man folgendes oft feststellen kann:<br />

Erst wenn etwas ihre eigene Sache ist - und nicht die des<br />

Lehrers - dann bleibt es haften.<br />

Die Rolle des Lehrers<br />

Beschäftigen wir uns nun mit der Rolle des Lehrers,<br />

die sich auf dem Hintergrund unserer Erfahrungen abzuzeichnen<br />

beginnt. Zu diesem Zweck arbeiten wir an einem<br />

Modell. Nehmen wir an, dass wir es uns eines Tages ausnahmsweise<br />

erlauben, zu den Erfindungen an der Tafel<br />

diejenige eines befreundeten Lehrers hinzuzufü gen.<br />

Was kann man dazu sagen? Eigentlich nichts. „Es sind<br />

drei Ziffern. Sie sind alle gleich. Sie bilden ein gleichseitiges<br />

Dreieck.“<br />

Und das ist dann alles. Da hört es auf. Wenn aber jemand<br />

zufällig von einer 2 spricht, dann spitzt der Lehrer<br />

die Ohren:<br />

„Was sagst du, Marc?“<br />

„Ich sagte: 1 + 1=2.“<br />

„Oh! Sehr interessant. Und wo schreibst du deine 2<br />

hin?“<br />

Offensichtlich kann sie überall sein. Aber wenn sie am<br />

unteren Ende der Raute ist, wäre das prima.<br />

Wenn dadurch nichts in Gang kommt, kann man vorschlagen,<br />

das Absteigen der Einsen fortzusetzen.<br />

216 217


Wenn man Erfahrung hat, wenn man gelernt hat, Vertrauen<br />

in die Zukunft zu haben, dann wird man an dieser<br />

Stelle aufhören. Tatsächlich hat diese Erfindung alles, um<br />

zu gefallen. Und die Chance ist groß, dass sie wieder aufgegriffen<br />

wird.<br />

Man könnte auch noch weitergehen und kühn die drei<br />

rechten Einsen verdecken. Damit schießt man aber möglicherweise<br />

über das Ziel hinaus. Kommt man damit nicht<br />

in Versuchung, eine Grenze zu überschreiten? Aber gibt<br />

es überhaupt Grenzen außer denen, die man sich selbst<br />

setzt?<br />

Jedenfalls, entweder es reagiert jemand, oder es reagiert<br />

keiner. Wenn niemand darauf eingeht, dann des halb,<br />

weil heute in diesem Moment mit den Kindern dieser<br />

Gruppe die Zeit noch nicht reif ist.<br />

Also, nach meiner momentanen Meinung besteht die<br />

Rolle des Lehrers darin, so lange wie möglich zu schweigen.<br />

Aber auch darin, ganz vorsichtig einen Blick über den<br />

Zaun vorzuschlagen, wenn sich eine Richtung anbietet.<br />

Und in dem obigen Beispiel bietet sich etwas an, denn<br />

es handelt sich um den Anfang des Pascalschen Dreiecks,<br />

das die Kinder schon vom 2. Schuljahr an konstruieren<br />

können, selbst wenn sie nicht wissen, dass es die Tafel der<br />

Binominalkoeffizienten der Reihe (a+b) 0 , (a+b) 1 , (a+b) 2 ...<br />

(a+b) n ist.<br />

(55) Anmerkung des Herausgebers: Das linke Schema ist in der<br />

Mathematik als Pascalsches Dreieck bekannt. Auf die übliche<br />

Darstellungsweise muss hier aus Platzgründen verzichtet werden.<br />

(55)<br />

Es wird deutlich, dass man viele Möglichkeiten in seinem<br />

Kopf haben muss, um von Zeit zu Zeit einen Blick<br />

über den Zaun vorschlagen zu können. Und am Anfang<br />

wer den diejenigen, die sich auf die natürliche Methode in<br />

der Mathematik stürzen wollen, genau dadurch ein bisschen<br />

abgeschreckt. Sie haben das Gefühl, dass sie selbst<br />

nicht erkennen könnten, wohin eine Erfindung führen<br />

könnte. Aber meistens fassen sie schnell wieder Mut,<br />

wenn sie mit Freunden über den Erfindungen der Kinder<br />

arbeiten können. Sie eignen sich dann schnell das notwendige<br />

Wissen an.<br />

Aber schauen wir uns an, was Joelle noch erfunden<br />

hat:<br />

„Halt, das ist etwas ganz Neues! Jetzt handelt es sich<br />

nicht mehr um komplementäre Teilmengen, denn da ist<br />

kein Querstrich. Nein, das hier ist etwas Anderes. Aber,<br />

ach ja! Es ist eine neue Richtung, weil es sich um die Beschreibung<br />

einer Kurve handelt.“ Und da die Kinder seit<br />

langem die Erfahrung mit dem Koordinatensystem haben,<br />

kann man vorschlagen: „Und wenn man x und y an die<br />

Stelle von b und n schriebe?“ Also dieses Mal ist meine<br />

Anregung ein Volltreffer. Und alle stürzen sich dar auf und<br />

konstruieren die entsprechende Kurve.<br />

218 219


„Das ist sonderbar, es sieht beinahe wie ein Drachen aus.“<br />

Und jetzt bricht eine wahre Sturzflut von Plänen und<br />

Kurven herein. Am Anfang sind sie offensichtlich noch<br />

rein willkürlich. Dann staunen wir über das, was Denis<br />

gemacht hat:<br />

„Das ist komisch. Das ist ganz gerade. Aber wenn man<br />

das machte? Oder jenes?“<br />

Schließlich landet man auf ganz natürliche Weise bei<br />

y = x, bei y = ax und bei y = ax + b. Und das im 3. Schuljahr<br />

mit acht- und neunjährigen Schülern!<br />

Aber jeder Schritt vorwärts, den der Lehrer vorschlägt,<br />

muss ein sehr vorsichtiger Schritt sein, weil er genau weiß,<br />

dass er - wenn er zu forsch vorangeht - die Kinder in seine<br />

‚Welt‘ hinüberzieht und sie gefangen nimmt. Er lenkt sie<br />

von ihren eigenen Wegen ab. Dann geht es nicht mehr um<br />

die Angelegenheiten der Kinder, sondern um seine. Er enteignet<br />

sie sozusagen und betrachtet sie als sein Eigentum.<br />

Also, anstatt die Kinder auf seine Gebiete zu drängen, ist<br />

es besser, sie ihre eigenen erforschen zu lassen, da sie ihrer<br />

Realität mehr entsprechen.<br />

Dennoch darf man nichts übertreiben.<br />

Das ist natürlich nie einfach; es handelt sich niemals<br />

um die Alternative ‚alles oder nichts‘. Deswegen ist die<br />

Pädagogik so schwer. Jeder Lehrer soll in aller Ruhe seine<br />

eigene persönliche Struktur entwickeln, die seiner Realität<br />

entspricht. Er soll von dem ausgehen, was da ist, und<br />

abwarten, was sich in Interaktion mit anderen, die ihn<br />

unterstützen, entwickelt. Der Weg des Lehrers muss ein<br />

freier Weg sein. Es geht nicht darum, sich in die Pflicht zu<br />

nehmen, sich anzustrengen und sich zu bezwingen, sondern<br />

nur darum, sich treiben zu lassen.<br />

Augenscheinlich ‘funktioniert’ jeder entsprechend seinem<br />

eigenen Charakter. So wird Philip, der Wortspiele<br />

liebt, in der Klasse sofort jede sprachliche Fährte verfolgen.<br />

Joseph ist empfänglich für die physikalische Dimension<br />

der Erfindungen. Germaine ebenso, offenbar weil sie<br />

Physiklehrerin ist. Mich berührt vor allem die Tatsache,<br />

dass die Mathematik nur vorläufigen Charakter hat. Deshalb<br />

interessiert mich alles, was Bachelard über die wissenschaftliche<br />

Tätigkeit geschrieben hat.<br />

Ich habe festgestellt, dass das, was im freien mathematischen<br />

Text an Neuem erscheint, nicht einfach aus einer<br />

Rückbesinnung auf die Realität entsteht. Etwa so, als ob<br />

das ‚innere Studienbüro‘ es nach der Feststellung einer<br />

kleinen Unstimmigkeit notwendig hätte, eine alte Idee<br />

wieder aufzunehmen, um sie zu vervollkommnen. Nein,<br />

es ist viel komplexer. Die Impulse für eine Erfindung,<br />

die von irgendeinem Ereignis (zum Beispiel der letzten<br />

Mathematikstunde) ausgehen, lösen in den Tiefen des<br />

menschlichen Wesens gleichzeitig eine geheimnisvolle unbewusste<br />

Arbeit aus. Und die theoretische Konstruktion,<br />

220 221


die in der Erfindung zum Ausdruck kommt, ist oft nur ein<br />

schwacher Abglanz dieser Arbeit. Aber man muss wie ein<br />

Schriftsteller ‘immer und immer noch einmal schreiben,<br />

damit das, was man zunächst nicht denken konnte, ins<br />

volle Bewusstsein rückt.‘<br />

Aber kommen wir zu der Frage zurück, wie unsere Idee<br />

verbreitet werden kann. Es scheint mir, dass das wesentliche<br />

Problem tief in der Natur der heutigen Lehrerschaft<br />

verwurzelt ist. Um den Lehrerberuf ergrei fen zu dürfen,<br />

muss man alle kreativen Impulse in Schach halten können.<br />

(Dabei wird unterstellt, dass man welche gehabt hat bzw.<br />

dass sie nicht seit der Vorschulzeit im Keim erstickt worden<br />

sind.) Musste man nicht, um das zu akzeptieren, eine<br />

bestimmte Charaktereigenschaft und vielleicht sogar eine<br />

bestimmte Veranlagung haben? Und schließlich, wer hat<br />

sich jemals darum gekümmert, in uns die Fähigkeit zum<br />

strategischen Denken zu entwickeln? Und mit welchem<br />

Recht können wir ihr Fehlen bei den Schülern beklagen,<br />

wenn wir persönlich auch keine Erfahrung damit haben?<br />

Dennoch brauchen wir nicht zu pessimistisch zu sein.<br />

Man muss übrigens anerkennen, dass sich zumindest in der<br />

Vorschule viel bewegt hat und dass die 68-er Bewe gung<br />

sich durchaus um die Kreativität gekümmert hat. Davon<br />

ist sogar noch etwas übrig geblieben. Außerdem müssen<br />

die Lehrer ja, um ihr Studium abschließen zu können, ihre<br />

Merkfähigkeit und ihre Intelligenz unter Beweis stellen.<br />

Das bedeutet: auswählen, Sackgassen gehen, auf Risiko<br />

spielen .... Also ist die Intelligenz eine strategische Kunst.<br />

Wahrscheinlich trägt jeder wenigstens einen Keim dieser<br />

Fähigkeit in sich, er müsste nur ent wickelt werden. Außerdem<br />

gab es ja noch die gesamte Kindheit und Jugendzeit, in<br />

der man bestimmte Taktiken entwickeln musste, um seine<br />

eigenen Wünsche zu verfol gen. Also können wir Vertrauen<br />

haben. Vor allem auch, weil Kreativität und Flexibilität<br />

heutzutage von der Gesellschaft gefordert werden.<br />

Was uns also betrifft, so sollten wir fortfahren, an uns<br />

selbst zu arbeiten und uns zu entfalten, so wie wir es auch<br />

die Kinder tun lassen: in einer sympathischen Gruppe und<br />

mit einem Lehrer, der es schafft, lange genug zu schweigen.<br />

Wenn wir dabei von den Dokumenten aus unseren<br />

Klassen ausgehen, kommen wir sowohl in der Mathematik<br />

und ihrer Didaktik als auch in der Pädagogik weiter.<br />

Natürliche Lehrpläne<br />

Wir haben uns kürzlich damit beschäftigt, über ‚natürliche<br />

Lehrpläne‘ zu arbeiten. Ich habe den Ausdruck aufgenommen,<br />

um Fragen zu provozieren.<br />

„Aber das sind doch einander widersprechende<br />

Begriffe!“<br />

Wir haben angefangen zu ermitteln, was regelmäßig<br />

in den freien Texten in Mathematik wiederkehrt. (56) Wir<br />

haben unsere Erfahrungen mit Kindern im Alter von 3<br />

bis 11 Jahren gemacht. Sie sind jetzt so umfangreich, dass<br />

man bereits Konstanten aufzeigen kann. Aber ich möchte<br />

hier nur zwei Elemente beschreiben. Denn noch ist nichts<br />

bisher wirklich bestätigt worden. Wir müssen uns vor<br />

allem vor der gegenwärtigen Schulverwaltung hüten. Es<br />

wäre ihr zuzutrauen, dass sie sich auf unsere ‚Lehrpläne‘<br />

stürzt, sich ihrer bemächtigt und sie zur Norm macht, die<br />

(56) Die Anregung zu dieser Untersuchung haben wir durch ein Buch von<br />

Clanche. Er hat sechstausend freie Texte aus verschiede nen Klassen der<br />

Grundschule (6 bis 11 Jahre) untersucht. Er hat festgestellt, dass bestimmte<br />

Arten von Texten regelmäßig in einem bestimmten Alter wiederkehren.<br />

Wenn dies bestätigt wäre, könnte man die Lehrer besonders sensibel dafür<br />

machen. (Clanche 1988)<br />

222 223


von jedem einzuhalten ist. Doch die notwendige kopernikanische<br />

Revolution, die es zu erfüllen gilt, besteht darin,<br />

von den Produktionen der Kinder und den Erfahrungen<br />

der Lehrer auszugehen. Wir werden darauf warten, bis<br />

die Schulverwaltung von der Freude am diplomatischen<br />

Geschick gekostet hat, d.h. von der Freude, ausschließlich<br />

Katalysator zu sein.<br />

Zwei Bereiche von Erfindungen<br />

1. Entwurf von Buchstaben und Figuren<br />

2. Tabellen<br />

a) mit Einschwärzen<br />

b) mit Farbe<br />

c) mit Zahlen<br />

d) mit Vorschriften für Wege<br />

e) mit Koordinaten<br />

f) mit Additionen in allen Richtungen<br />

Diese Erfindungen tauchen unter einem Dutzend anderer<br />

Erfindungen regelmäßig immer wieder auf. Die Vorliebe<br />

für die Karos lässt sich sehr gut erklären, denn die Hefte<br />

und Notizbücher sind voll davon.<br />

zu 1.: Entwurf von Buchstaben und Figuren<br />

Auf unseren Treffen im Rahmen der <strong>Freinet</strong>-Bewegung<br />

haben wir viel Zeit darauf verwendet, gemeinsam herauszufinden,<br />

was sich aus derartigen Tabellen entwickeln<br />

224 225


kann. So können wir sehen und hören, in welche Richtungen<br />

die Kinder ihre Schritte gerade lenken. Damit<br />

sind wir vielleicht auch in der Lage, einen Schritt vorzuschlagen,<br />

der darüber hinausgeht, aber dennoch den<br />

Umständen angemessen ist. Dabei ist zum Beispiel das<br />

herausgekommen:<br />

Offensichtlich ist dies eine Anweisung, um den Buchstaben<br />

M (Anfangsbuchstabe des Autors Michelle) zu erhalten.<br />

Man findet dieses Spiel oft in den Kinder zeitschriften.<br />

Aber die Kinder erfinden sie auch von sich aus. Diese Erfindung<br />

kann uns sehr weit voranbringen. Zum Beispiel<br />

zur Programmierung von Zufallsfiguren. Ich habe neun<br />

nummerierte Punkte ohne eine Ordnung hingezeichnet.<br />

Welche Figur kommt dabei heraus?<br />

Ich ziehe Verbindungslinien. Es ist komisch und interessant,<br />

und ich habe Lust, weitere Linien zu zeichnen.<br />

Aber sehr schnell landet man bei der Programmierung<br />

von regelmäßigeren Figuren wie z.B. Briefumschlag, fünfstrahliger<br />

und sechsstrahliger Stern usw.<br />

Und von da aus kann man, wie wir es bereits gesehen<br />

haben, zu einem anderen Zufallsstadium übergehen<br />

und dann zur Kurve y = ax usw....<br />

und zu anderen Dingen, an die wir noch nicht gedacht<br />

haben.<br />

zu 2.: Tabellen<br />

a) Mit Einschwärzen (vgl. S. 224)<br />

Wenn man am Rand entlangfährt, kann man die schwarz en<br />

und weißen Flächen zählen.<br />

- Man kann auch an Kreuzworträtsel denken<br />

- oder an die eckigen Bilder im Fernsehen<br />

- oder an Mosaiken usw.<br />

b) Mit Farbe<br />

Man findet Rhythmen, man wendet sich der Kunst zu,<br />

dem Straßenpflaster, den Mosaiken usw.<br />

c) Mit Zahlen (vgl. S. 224)<br />

Mit Zahlen kommt man zur Flächenberechnung, zu Tabellen<br />

mit Zeilen- und Spaltenbenennungen, zu Äquivalenzklassen<br />

usw.<br />

d) Mit Vorschriften für Wege (vgl. S. 225)<br />

Man kann zur Berechnung des Weges eines elektronischen<br />

226 227


Igels (Programmiersprache LOGO) kommen. Was passiert,<br />

wenn darüber noch eine Reihe wäre und unten eine<br />

weniger? Vorbereitung auf die Arbeit mit LOGO, auf viele<br />

Möglichkeiten mit dem elektronischen Bildschirm. Aber<br />

es ist wichtig, dass die Kinder vorher an dieser Art von<br />

Modellen, an ihrem Modell arbeiten, wie Katelle dies mit<br />

ihrem Dreieck getan hat (vgl. Seite 196).<br />

e) Mit Koordinaten (vgl. S. 225)<br />

Man kann sich leicht mögliche Entwicklungen in Bezug<br />

auf Punkte, Pläne, Kurven usw. vorstellen.<br />

f) Mit Additionen in allen Richtungen (vgl. S. 225)<br />

Man kommt zur Erforschung des ‘magischen Quadrates’,<br />

der waagerechten und senkrechten Überprüfung im<br />

Rechnungswesen usw.<br />

Zur Einschätzung dessen, was gerade vorgestellt worden<br />

ist, möchte ich die Worte von Jean-Claude Pomes<br />

zitieren:<br />

„Tatsächlich scheint mir, dass sich die ‚persönliche Mathematik‘<br />

bzw. die ‚innere Mathematik‘ genauso wie die<br />

‚natürliche Mathematik‘ in der <strong>Freinet</strong>-Pädagogik im<br />

Schnittpunkt zweier Prozesse, die beide dialektisch verschränkt<br />

sind, befindet:<br />

zum einen eine tastende Tätigkeit, die von den Kindern<br />

ausgeht, wobei eine theoretische Linie entsteht, die danach<br />

strebt, sich auszudifferenzieren;<br />

zum anderen der entgegengesetzte Weg eines Er ziehers,<br />

der - ausgestattet mit Elementen einer Theorie (hier der<br />

mathematischen Theorie) - versucht, diese der Praxis nahezubringen,<br />

um ihnen Sinn und Leben einzuflößen.“<br />

(Pomnies o. Jg.)<br />

Doch ehe sie sich trauten anzufangen, hatten einige<br />

Lehrer noch Fragen, wie z.B.:<br />

„Werden die Erfindungen ausreichen? Werden wir mit<br />

dem ganzen Lehrplan durchkommen?“<br />

Ich habe ihnen geraten, in Etappen vorzugehen. Sie<br />

sollten sich zunächst in dem Rahmen bewegen, in dem sie<br />

sich im Hinblick auf die Vorgaben der Lehrpläne sicher<br />

fühlen können, und dabei versuchen, eine kleine Erfahrung<br />

zu wagen. So haben sie nach und nach festge stellt,<br />

dass man auf jeden Fall über den Lehrplan hinaus kommt.<br />

Das hat sie überzeugt. Man könnte diese Erfahrung auch<br />

so beschreiben:<br />

„Der schnellste Weg von einem Punkt zu einem anderen<br />

ist die gekrümmte Linie.“<br />

Denn wenn wir ihr im Laufen folgen, kommen wir viel<br />

schneller ans Ziel, als wenn wir uns auf dem Rücken liegend<br />

auf der direkten Verbindung treiben lassen. Wenn<br />

Kinder, die ‚mathematisch unterernährt‘ sind, sich in diesem<br />

Bereich gründlich engagieren, lernen sie natürlich<br />

viel mehr und viel schneller.<br />

Die Freude, die sie entdecken, wird die psychologischen<br />

und intellektuellen Barrieren abbauen.<br />

Dennoch hat man das Recht, sich eine andere Frage zu<br />

stellen: „Und wenn die Schülergruppe bestimmte Bereiche,<br />

die eigentlich wichtig wären, ausklammert?“<br />

In der Vorschule gibt es damit keine Probleme: Es gibt<br />

so viel in allen Bereichen zu erforschen, dass man nicht an<br />

genügend Tagen Unterricht hat, um auch nur ein Inventarverzeichnis<br />

der Gebiete zu erstellen. Aber die Grundschule<br />

hat eine doppelte Verantwortung, Einerseits muss<br />

sie die Kontinuität der Erfahrungen gewährleisten. Andererseits<br />

muss sie sich darum kümmern, in neue Bereiche<br />

einzuführen.<br />

Bis zum Alter von neun Jahren geht das ohne Anstrengungen.<br />

Es genügt, wenn man die Intuition sich entfalten<br />

228 229


lässt und die Vielfältigkeit unterstützt, damit sie sich mehr<br />

festigt. Und dass man die Kinder vor einer Bewertung<br />

schützt. Das Wichtige in dieser Altersstufe ist es, den<br />

Schwung entstehen zu lassen bzw. ihn wieder zu erwecken<br />

und ihn sich ausdehnen zu lassen und ihn zu erhalten.<br />

Aber ab 9 Jahren gehört das Eingreifen vielleicht zu<br />

unserer Verantwortung. Denn wenn man diese Kinder<br />

frei lässt, so lässt man sie nicht wirklich frei, sondern man<br />

überlässt sie ihrer Konditionierung. Und wenn man sie<br />

zunächst aus ihrer schulischen Betäubung hat herausholen<br />

können, muss man danach den Freiraum vergrößern,<br />

indem man sie, wenn nötig auch ein wenig gekünstelt, in<br />

Bereiche einführt, die man ihnen nicht vorenthalten darf,<br />

wenn man nicht verantwortungslos sein will. Man kann<br />

nur frei sein, wenn man wählen kann. Aber um wählen<br />

zu können, muss man es kennen, muss man es auspro biert<br />

haben, muss man zumindest eine erste wirkliche Erfahrung<br />

gemacht haben. Deshalb muss man sich im 5. Schuljahr<br />

darum kümmern, viele neue Situationen erle ben zu<br />

lassen, damit der schöpferische Ausdruck weiter hin ausreichend<br />

Nahrung erhält.<br />

So sehen wir es zumindest gegenwärtig. Aber wir<br />

haben in dieser Altersstufe noch nicht genügend Ver suche<br />

gemacht, um ganz sicher zu sein, dass es wirklich notwendig<br />

ist, der ‚Freiheit auf die Sprünge zu helfen‘.<br />

Verschiedene Richtungen<br />

Es stimmt, dass wir noch mitten im Versuch sind. Was<br />

die Konzeption der natürlichen Methode in der Mathematik<br />

betrifft, so gibt es in Frankreich zwei unterschiedliche<br />

Richtungen. Es gibt diejenige, die hier vorgestellt worden<br />

ist und deren Betonung auf dem ‘ansteigenden’ Weg der<br />

Kinder liegt. Und es gibt die <strong>Freinet</strong>-Gruppe aus dem<br />

Departement Pas-de-Calais. Ihre Richtung basiert ebenfalls<br />

auf der natürlichen Methode, aber dort wird wesentlich<br />

mehr Wert darauf gelegt, dass der Lehrer sich zuvor<br />

mathematisch weiterbildet. Damit wird die absteigende<br />

Funktion des Wissens des Lehrers (vgl. dazu Pomes S.<br />

204 oben) betont.<br />

Da wir uns noch nicht begegnet sind, ist es schwierig<br />

genau zu wissen, welches die Positionen der einen und der<br />

anderen sind. (57) Damit der Leser mehr darüber er fahren<br />

kann, stelle ich hier einen Auszug aus dem ‚CH‘TI QUI<br />

(vgl. Bibliographie), dem Bulletin du Nord et du Pas-de-<br />

Calais vor:<br />

„DIE ROLLE DES LEHRERS“<br />

Was würdet ihr damit machen?<br />

Eine Seminarteilnehmerin berichtet: „Fortbildungskurse<br />

sind gut... Man hat Zeit miteinander zu diskutieren,<br />

sich auszutau schen, und so zeige ich Michel<br />

eine Arbeit, die im Dezember von einigen Großen<br />

aus der Vorschule erstellt wurde: der Gebrauch<br />

einer Verschlüsselung ‚um sich zu zählen‘.<br />

(57) Ein Treffen hat nach der Fertigstellung dieses Manuskriptes<br />

stattgefunden. Dabei haben beide Seiten eine weitgehende Übereinstimmung<br />

festgestellt. Insofern geben die Ausführungen in diesem<br />

Kapitel einen früheren Erkenntnisstand des Autors wieder. Hier<br />

bestätigt sich einmal mehr eine Grundthese von Paul Le Bohec, dass die<br />

Erkenntnisse niemals endgültig, sondern immer nur vorläufig sind und nur<br />

so lange gelten, bis sie durch bessere ersetzt worden sind.<br />

Die Diskussion hat dem Autor auch zu einer Präzisierung einiger<br />

Vorstellungen zur natürlichen Methode verholfen. Sie werden voraussichtlich<br />

in der Zeitschrift der deutschen <strong>Freinet</strong>-Bewegung „Fragen<br />

und Versuche“ veröffentlicht. (Anm. d. Hrsg.)<br />

230 231


„Also Michel, was kann ich damit anfangen?‘<br />

Michel: „Analysieren wir die Ausgangssituation. Suchen<br />

wir die möglichen Wege.“<br />

Ausgehend von drei Arbeiten, die sich auf folgendes gründen,<br />

zeigt Michel alle Wege auf, die man verfolgen könnte.<br />

„Es sind Karten der Art“:<br />

„Sie sind ökonomisch.“<br />

„Bildung von Äquivalenzklassen.“<br />

„Den Klassen einen Namen geben usw., usw.: Gesetzesdimension,<br />

funktionale Dimension, usw.“<br />

Mich beunruhigt nicht der Inhalt, sondern die Position des<br />

Lehrers.<br />

Ich hebe hervor:<br />

• Man muss jeder Klasse einen Namen geben.<br />

• Man muss einen einfachen Repräsentanten für die<br />

Klasse finden.<br />

• Wir werden anschließend die Karten des Typs O I I<br />

bearbeiten.<br />

• Die große Reichweite von O I I zeigen (indem man<br />

z.B. darum bittet, das zu zeichnen, was dieses Schild<br />

repräsentiert).<br />

• In diesem Fall kann (nicht könnte!) man es schaffen,<br />

auf die Unterschiede in den einzelnen Klassen hinzuweisen.<br />

Unbestreitbar, das bereichert das mathematische Wissen<br />

des Lehrers. Und es ist schon schön, dass man dabei<br />

von einer Erfindung eines Kindes ausgehen konnte.<br />

Obwohl:<br />

Wer hat die Anfangskarte geliefert bzw. erfunden?<br />

Die Hauptfrage, die ich mir stelle, ist jedenfalls:<br />

„Worum geht es? Darum, was der Lehrer damit<br />

machen kann, oder darum, was die Kinder damit machen<br />

könnten?“ Die Antwort wurde mit der Eingangsfrage bereits<br />

gegeben:<br />

„Michel, was kann ich damit anfangen?“<br />

Wenn es darum geht zu sehen, welchen zusätzlichen<br />

Schritt man vorschlagen könnte, dann kann man dieses<br />

Vorgehen als sehr legitim bewerten. Dies scheint mir aber<br />

hier nicht der Fall zu sein. Und man erschaudert bei dem<br />

Gedanken, dass Vorschulkinder möglicherweise zu einer<br />

232 233


solchen Strukturierung gezwungen werden. Hoffen wir<br />

für sie, dass sie als Gegengewicht das Recht zu vielen Aktivitäten<br />

informeller Art haben. Und hoffen wir ebenso<br />

für Michel, dass er in seiner Gruppe Kollegen begegnet,<br />

die ihn in die andere Art des Denkens, in den Charme<br />

des Unbeholfenen, in die Freude über das Allgemeine, das<br />

Nichtdefinierbare, über das Unstrukturierte, das Diffuse,<br />

über das Unentschiedene, über das Unklare, über das Verschleierte,<br />

über das Unfühlbare ... einführt.<br />

7. Grundsätzliches<br />

In dem vorliegenden Buch haben wir die Konzeption<br />

der natürlichen Methode auf das Erlernen der Mathematik<br />

angewandt. Aber sie hat - wie oben mehrfach angedeutet<br />

- auch andere Anwendungsbereiche. Versuchen wir nun<br />

zum Abschluss, ihre wesentlichen Dimensionen herauszuarbeiten<br />

(vgl. auch Kapitel 2).<br />

Dimensionen der natürlichen Methode<br />

1. Eigene Praxis (des Lehrers) ist unabdingbar.<br />

Wer seinen Schülern diese Methode nahebringen will,<br />

muss Erfahrungen damit gemacht haben und sie selbst<br />

praktizieren.<br />

2. Gruppenphänomene (58)<br />

Die Gruppe spielt eine bedeutende Rolle. Sie soll zu allererst<br />

ein Ort des Gespräches, ein Ort des Zuhörens und der<br />

Ort sein, an dem man frei Hypothesen äußern kann, ohne<br />

herabsetzende Bewertungen befürchten zu müssen. Damit<br />

soll nicht verhindert werden, dass Kritik geübt wird, eine<br />

objektive Kritik, die sehr schnell die Fakten und nicht die<br />

Menschen ins Visier nimmt. Das darf auch nicht eine spontane<br />

Kritik verhindern, die die Bewusstseinsentwicklung<br />

beschleunigt. Die Gruppe fungiert auch als Resonanzkörper.<br />

Sie verstärkt die unbedeutenden Ideen, sie stärkt die<br />

Schüchternen. Sie ermöglicht ein drucksvolle Ereignisse,<br />

die das Wissen tief in das Ge dächtnis einprägen.<br />

(58) Wir haben so viel Zeit benötigt, um ihre Existenz zu ent decken, dass<br />

wir in diesem Bereich noch am meisten zu erforschen haben.<br />

234 235


Der Strom der Erfindungen wird aufrechterhalten und<br />

vervielfacht durch das Zuhören, den Respekt, die Akzeptanz,<br />

die Überraschung, das Warten und die Freu de über<br />

die Ideen der anderen. Jedes Gruppenmitglied findet unerwartete<br />

Gesichtspunkte in Hülle und Fülle. Jeder, der<br />

es möchte, wird sie ansehen, um spielerisch die Welt mit<br />

den Augen des anderen zu sehen. Aber man kann ebenso<br />

in seiner Vorstellung versunken bleiben, aus der man erst<br />

zurückkehrt, wenn man seine Untersuchung beendet hat.<br />

Aber man wird immer durch das Verhalten der anderen<br />

aufgefordert, aus seiner Versenkung wieder aufzutauchen.<br />

Es sind keine besonderen Anstrengungen nötig, um<br />

jemanden aus seinen eingefahrenen Strukturen herauszuholen.<br />

Jeder geht einfach in seinem Lernprozess weiter,<br />

ohne sich Gedanken um mögliche Konsequenzen zu machen.<br />

Denn jede ausgewählte Erfindung wird durch die<br />

‚Analyse‘ der Gruppe bearbeitet, zerlegt und abgeklopft.<br />

Sie wird von der Gruppe aufgenommen, geteilt und erobert<br />

und somit positiv genutzt. Das hat zur Folge, dass<br />

jeder aus seinen Gewohnheiten, seinen Struk turen, seiner<br />

Besessenheit und seinen Grenzen heraustre ten kann, aber<br />

erst, wenn er dafür reif ist.<br />

Auf der anderen Seite passiert es auch, dass jemand,<br />

der eher oberflächlich, ein wenig flatterhaft oder instabil<br />

ist, einmal etwas länger bei der einen oder anderen seiner<br />

Ideen verweilt; denn die positive Reaktion der Gruppe<br />

lässt ihn ahnen, welche intensive Freude damit verbun den<br />

ist.<br />

Kurzum, man erkennt den Respekt vor den Persönlichkeiten<br />

und eine gegenseitige Bereicherung. Der Lehrer<br />

hat dabei eine wichtige Rolle, damit die Arbeit in der<br />

Gruppe positiv wird und bleibt. Er muss die Freiheit der<br />

Individuen beschützen, die Dominierenden in Schach halten,<br />

die Schwachen hören. Er muss lernen, nicht selbst nach<br />

vorn zu stürzen, die Freude am ‚diplomatischen Geschick’<br />

zu erwerben. Kurzum, er muss gebildet sein und fähig,<br />

sich selbst weiterzubilden, sich mit anderen weiterzubilden,<br />

damit er die Gruppenphänomene wahr nehmen, sie<br />

besser überschauen und nutzen kann.<br />

3. Informationsquellen<br />

Niemand ist in der Lage, das Wissen der gesamten Menschheit<br />

wiederzuerfinden. Aber überall findet sich Wissen angesammelt<br />

- man muss nur darauf zurückgreifen.<br />

Die erste Wissensquelle, also diejenige, aus der man<br />

unmittelbar schöpfen kann, ist man selbst. Man möchte<br />

am liebsten sein Wissen nur sich selbst verdanken; denn<br />

so ist man so wenig wie möglich von der Macht abhän gig,<br />

die das Wissen den anderen gibt. Deshalb bezieht man<br />

sich immer zu allererst auf die eigenen Erinne rungen, die<br />

eigenen Entdeckungen, die eigenen Aufzeich nungen. Und<br />

erst, wenn eine Frage sehr drängend ist und man selbst<br />

keine Lösung findet, akzeptiert man die Hilfe von Seinesgleichen.<br />

Diese Hilfe ist nicht so gefährlich.<br />

Die Hilfe des Lehrers anzunehmen beinhaltet dagegen<br />

manchmal das Risiko, dass Probleme reaktiviert werden,<br />

die mit der familiären Autorität zusammenhängen. Bücher,<br />

Karteien, Lernprogramme und andere Arbeits mittel<br />

sind bei weitem nicht so brisant.<br />

Obwohl, im letzten Fall wird man vom Autor des Arbeitsmittels<br />

auch fest an die Hand genommen. Welche<br />

Absicht verfolgt er? Welche Vorstellung hat er vom Lernprozess?<br />

Auch bei den Arbeitsmitteln muss es Wahlmöglichkeiten<br />

geben. (59)<br />

Was also die Informationsquellen anbelangt, muss der<br />

Lehrer gewährleisten, dass der Zugang jederzeit möglich<br />

(59) Dennoch kann ein gut gewähltes Arbeitsmittel einen weiteren<br />

interessanten Schritt vorschlagen.<br />

236 237


ist und freiwillig bleibt. Außerdem muss er berücksichtigen,<br />

dass die Information nur ein erster Schritt zum Wissen<br />

ist.<br />

4. Physische Besonderheiten<br />

Jeder von uns ist anders. Unsere Besonderheiten kommen<br />

zum großen Teil aus unserer genetischen Veranlagung.<br />

Ob jemand eine Rechts- oder Linksdominanz bei Augen,<br />

Händen oder Füßen hat, ob er ein visueller oder auditiver<br />

Typ ist, ob Serialist oder Globalist, ob jemand ein begrenztes<br />

oder weites Bewusstsein, ob jemand langsame<br />

oder schnelle Reaktionen hat usw.: Wir haben es uns nicht<br />

ausgesucht, so zu sein, wie wir sind. Es ist vielmehr eine<br />

grundlegende Gegebenheit unseres Wesens, aus der man<br />

das Beste machen muss. Und die - in Gruppen eingebracht<br />

- zur all gemeinen Bereicherung beiträgt.<br />

5. Psychische Eigenarten<br />

In diesem Bereich sind die Unterschiede noch viel einschneidender.<br />

Man kann ein sentimentaler, zärtlicher,<br />

misstrauischer oder aufrechter Träumer, ein versöhnlicher,<br />

ruheloser, heftiger oder strenger Wilder, ein undiszipliniertes<br />

Nervenbündel, ein Unbekümmerter, ein Gehemmter,<br />

ein Phlegmatiker, ein Hyperaktiver, ein Jupiterianer,<br />

ein Uranier ... sein. Aber man kann, so wie man ist, für<br />

die Gruppe nützlich sein. Es gibt nämlich zwei Arten von<br />

Wert, den man haben kann: einen persönlichen, individuellen<br />

Wert und einen Wert im Kollektiv. Aber dieser Wert<br />

als soziales Wesen wird selten gewürdigt.<br />

Doch muss betont werden, dass man immer aufgrund<br />

einer bestimmten Entwicklung so geworden ist. Denn<br />

wenn man z.B. realistisch, rechthaberisch, empfindlich,<br />

systematisch ... ist, dann kann dies auf dunkle emotionale<br />

Erlebnisse oder die Gewohnheiten zurückzuführen sein,<br />

die man aufgrund seiner Lebensumwelt angenommen hat.<br />

In solchen Fällen kann das Beispiel der anderen für uns<br />

auch Anlass zu Änderungen sein.<br />

Durch eine Partnerarbeit, eine Rede, eine gemeinsame<br />

Forschung, ein anderes Gruppenklima, ... kann man zu<br />

neuen Verhaltensweisen kommen. Man kann sich wieder<br />

in die Balance bringen.<br />

6. Rahmenbedingungen<br />

Man kann die natürliche Methode nicht unter allen Umständen<br />

einsetzen. Man benötigt ein Minimum an günstigen<br />

Rahmenbedingungen: Anzahl der Kinder, Platz, Zeit<br />

usw. Aber man kann diese Bedingungen oft herstellen: in<br />

Halbgruppen arbeiten, den Klassenraum und den Stundenplan<br />

umgestalten, Strukturen schaffen, die ermutigen,<br />

das Wort zu ergreifen und den Gebrauch von den Anknüpfungspunkten<br />

erleichtern ... und die eigene Veränderung.<br />

Blick über den Zaun<br />

Zur natürlichen Methode gehört der Blick über den<br />

Zaun. Was habe ich gesehen, als ich über meinen Zaun<br />

geblickt habe? Welche Ideen von außen haben mir geholfen,<br />

mei nen Weg bei der Entwicklung der natürlichen Methode<br />

weiterzugehen? Wenn Kinder mit Hilfe der natürlichen<br />

Methode lernen, dann versuchen sie, sich mit dem<br />

Weni gen, das sie in dem Moment wissen, neues Wissen<br />

zu erobern. Sie tun es mit der Gruppe, in der sie über ihre<br />

Erkenntnisse berichten. Die Gruppe kritisiert die Sache<br />

selbst, aber nicht den Autor. Es ist eine konstruktive Kritik,<br />

die anregt. Dabei darf jeder das Ziel suchen und die Wege<br />

gehen, die seinen persönlichen Bedingungen (Vorwissen,<br />

238 239


Interessen usw.) entsprechen. Kurzum, die Kinder lernen<br />

Mathematik, indem sie sie erforschen.<br />

Aber halt! Forschen! Gibt es nicht eine Gruppe von<br />

Menschen, die diese Tätigkeit als Beruf ausübt? Forscher<br />

und Wissenschaftler arbeiten doch auf die gleiche Weise<br />

wie die Kinder in meiner Klasse. Auch sie wollen Wissen<br />

erobern, das noch nicht vorhanden ist. Auch sie arbeiten<br />

in Gruppen auf ihren individuellen Wegen. Auch ihre Arbeitsergebnisse<br />

sind einer zwar unerbittlichen, aber doch<br />

konstruktiven Kritik unterworfen.<br />

Und gibt es unter ihnen nicht Spezialisten, die Wissenschaftsphilosophen,<br />

die Erkenntnistheoretiker, die sich<br />

ausschließlich damit befassen, wie man zu Erkenntnissen<br />

kommt, die man vorher noch nicht gehabt hat? Bei<br />

ihrer Arbeit versuchen sie, Antworten auf die Fragen zu<br />

finden:<br />

• Was ist Wissen?<br />

• Wie kommt Wissen zustande?<br />

• Welchen Stellenwert hat das Wissen im Erkenntnisprozess?<br />

Warum nicht bei diesen Spezialisten für das Erkennen<br />

nachlesen, ob sich dort nicht neue Impulse für die natürliche<br />

Methode ergeben? Für mich war besonders die Lektüre<br />

von zwei Wissenschaftsphilosophen ergiebig, nämlich<br />

Bachelard (1966, 1970, 1972) und Popper (Lorenz-Popper<br />

1990 und Bougueresse 1986). Auch wenn ihre wissenschaftliche<br />

Position nicht unumstritten ist, las sen wir uns<br />

nicht daran hindern, sie genau zu lesen und sorgfältig zu<br />

prüfen, ob sich dort Ideen finden, die für uns brauchbar<br />

sind. (60) Und nun zu meinen Anknüpfungspunkten in der<br />

(60) Das hat übrigens auch <strong>Freinet</strong> getan. Auch er hat sich mit den<br />

großen Denkern seiner Zeit auseinandergesetzt, hat geprüft, ob sich<br />

etwas Brauchbares darunter findet, und dies dann in der Bewegung zur<br />

Diskussion gestellt.<br />

Wissenschaftsphilosophie.<br />

Für Popper ist das Gehirn ein natürliches Organ zur<br />

Produktion von Hypothesen und Theorien. Es kommt<br />

darauf an, dem Gehirn zu erlauben entsprechend seiner<br />

Natur zu funktionieren und viele Theorien zu produzieren.<br />

Diese Theorien sollen helfen die Welt zu erfassen, sie<br />

zu erklären und sie zu beherrschen.<br />

Bei der Theorieproduktion geht es aber nicht darum,<br />

das zu bestätigen, was wir ohnehin schon wissen. Vielmehr<br />

soll mit Hilfe neuer Vermutungen, neuer Hypothesen,<br />

neuer Theorien der Aufbruch zu neuen Ufern gewagt<br />

werden. Dabei sind es die unwahrscheinlichsten, die<br />

gewagtesten Vermutungen, die uns am meisten vor wärts<br />

bringen. Voraussetzung für die Produktion solcher Vermutungen<br />

ist die Kreativität des Forschers.<br />

Auch wenn unsere Vermutungen schnell widerlegt sein<br />

sollten, erlauben sie, in neue Probleme einzumün den, oft<br />

sogar auf recht hohem Niveau.<br />

Aber man ist sich dennoch verpflichtet, seine Theorien<br />

zu verteidigen. Man sollte nicht zu schnell ihre Widerlegung<br />

akzeptieren, denn gerade durch ihre Verteidigung<br />

eröffnen sich manchmal neue Bereiche.<br />

Die Kritik der Gruppe erlaubt es, die intersubjektive<br />

Gültigkeit von Hypothesen und Theorien aufzudecken,<br />

also diejenigen zu erfassen, die bis zu ihrer Widerlegung<br />

das ‚objektive‘ Wissen bilden.<br />

Theorien und Hypothesen gehen den Beobachtungen<br />

immer voraus. Das gilt selbst für die alltägliche Wahrnehmung.<br />

Ein Phänomen fällt uns erst dann ins Auge,<br />

wenn es anders ist, als wir es aufgrund der Ideen und<br />

Theorien, die in unserem Kopf sind, vermutet hätten. Das<br />

gilt selbstverständlich auch für die wissenschaftliche Beobachtung:<br />

Man konzipiert zunächst eine Idee (unter Einbeziehung<br />

dessen, was bisher beobachtet wurde, also der<br />

regelhaften und der regelwidrigen Phänomene), die das<br />

240 241


gesamte Phänomen erklären soll. Diese neue Hypo these<br />

wird durch systematische Beobachtung geprüft.<br />

Soweit einiges von dem, was ich von Popper und Bachelard<br />

gelernt habe. Und vieles findet man auch in der<br />

natürlichen Methode wieder.<br />

Zuallererst ist es dieses permanente Voranschreiten der<br />

Theorie, für deren Entdeckung ich so viel Zeit benötigt<br />

habe. Glücklicherweise habe ich lange Zeit in einer jahrgangsübergreifenden<br />

Klasse mit Kindern gear beitet, die<br />

eine pluralistische natürliche Methode frei ge lebt haben.<br />

Sie waren es, die mich unterrichtet haben und mir diese<br />

Idee trotz meines Widerstands eingetrichtert haben.<br />

Wir haben zum Beispiel eine Überfülle an Theorien<br />

herausgearbeitet, von denen bestimmte sehr unwahrscheinlich<br />

sind. Eine bestimmte soziale Organisation des<br />

Unterrichts erlaubt selbst in solchen Fällen eine positive<br />

Aufnahme der Produktionen, was letztlich die Kreativität<br />

fördert. Eine solche Klasse ist auch der Ort, wo über<br />

die Ideen ohne Zensur gesprochen werden kann und wo<br />

der Lehrer diese Ideen nicht gleich für seine eigenen Ziele<br />

verwertet.<br />

Der Lehrer unterstützt das demokratische Funktionieren<br />

der Gruppe. Jeder kann sich durch das Gespräch<br />

mit anderen seiner eigenen impliziten Postulate bewusst<br />

wer den und diese kritisieren. Die Punkte, von denen die<br />

ver schiedenen Individuen ausgehen, können sehr weit<br />

aus einander liegen, aber jeder lernt durch die Handlungsweisen<br />

der anderen dazu. Die Diskussion ist deshalb<br />

so bereichernd, weil es nicht darum geht, um jeden<br />

Preis eine Einigung zu erzielen oder einen Sieg davonzutragen,<br />

sondern darum, seine eigene Sicht der Dinge zu<br />

verbessern.<br />

Die Menschen sind unterschiedlich: ernsthaft, fleißig,<br />

erfinderisch, phantasievoll. Aber unabhängig davon werden<br />

ihre Aussagen in der Forschergruppe offen kritisiert.<br />

Wenn diese Kritik von selbstbewussten, von anderen anerkannten<br />

Menschen positiv aufgenommen wird, gerät<br />

die Grundhaltung des Betroffenen in Bewegung, die Aussagen<br />

werden objektiver, verändern sich in Qualität und<br />

Thematik. Eine vorwärts gerichtete Bewegung entsteht.<br />

Dennoch fügen wir mit der natürlichen Methode einen<br />

weiteren Aspekt hinzu. Denn wenn Popper von der Existenz<br />

unterschiedlicher Individuen spricht, so akzep tiert er<br />

sie so, wie sie jetzt sind. Wir aber haben es mit Persönlichkeiten<br />

zu tun, die sich entwickeln. Und diese Dimension<br />

dürfen wir nicht vergessen.<br />

Glücklicherweise trägt die Ausbreitung der natürlichen<br />

Methode auf alle Bereiche dazu bei, die kleinen mathematischen<br />

Forscher in die beste Ausgangsposition zu<br />

versetzen.<br />

Die Bedeutung ungewöhnlicher Erfindungen<br />

Wir haben gesehen, dass außergewöhnliche Erfindungen<br />

eine besondere Rolle spielen. Wie sieht das in der Praxis<br />

aus? Erinnern wir uns zum Beispiel an die ‚Theorie<br />

der Sieben‘, die Tiziano mit so viel Energie verfochten hat<br />

(vgl. S. 83f).<br />

Es war irgendwie verrückt und wurde von der Gruppe<br />

nicht akzeptiert: Man konnte so einfach nicht zählen. Aber<br />

kurz danach hat mir Jany Gibert ein Problem er zählt:<br />

242 243


„Wenn man an seinen Fingern auf folgende Weise zählt:<br />

Auf welchem Finger kommt man mit der Zahl 147<br />

an?”<br />

Ich habe natürlich sofort an die ‚Theorie‘ von Tiziano<br />

gedacht. Bei diesem Problem erinnert man sich wieder an<br />

die Äquivalenzklassen, die wir schon gut kennen. Aber<br />

man entdeckt auch eine Wechselfolge von Klassen (Paaren),<br />

deren Existenz man nicht einmal vermutet.<br />

Man findet Bekanntes wieder und man entdeckt<br />

Neues.<br />

Man findet insbesondere die beiden Momente des Lernens<br />

wieder, die es bei <strong>Freinet</strong> (und bei Popper) gibt: auf<br />

der einen Seite die Aneignung eines neuen Elements und<br />

auf der anderen Seite das Bemühen, das Gelernte ins Unbewusste<br />

abzudrängen.<br />

Die Wiederholung ermöglicht das Lernen. Aber sie<br />

kann sehr trocken, abstrakt, mechanisch und ohne jegliche<br />

Harmonie sein. Wenn sie aber mit Schwung und mit<br />

Bezug auf die reichhaltigen Lebenszusammenhänge erfolgt,<br />

dann ist der Erfolg viel schneller und viel sicherer.<br />

Die <strong>Freinet</strong>-Bewegung hat sich von Anbeginn bemüht,<br />

vielfältige Werkzeuge zum Lernen (Karteien, Lesehefte<br />

...) zu erstellen. Aber das war nur ein Anfang. Unsere Beispiele<br />

zeigen neue Wege auf:<br />

Man könnte die Phantasie von Tiziano mit derjenigen<br />

von Sandro zusammenbringen, der an seiner Wange mit<br />

den Fingern nur einer Hand zählte. Eine andere vielleicht<br />

viel ertragreichere Verknüpfung wäre die mit den oszillierenden<br />

Bewegungen (Schaukeln, Pendeln) oder mit den<br />

verschlungenen Wegen oder dem Hin und Her oder den<br />

Slalomfahrten oder den Kehrtwendungen oder besonders<br />

extensiv mit den Sinuskurven und den zyklischen Bewegungen<br />

... oder allem, was man sich noch denken könnte<br />

und was vielleicht zu weit hergeholt scheint.<br />

Von den Erfindungen der Addition mit Unbekannten<br />

von Jacques ausgehend kann man bei der Suche nach Elementen<br />

ankommen, die als Glieder einer Kette fehlen (der<br />

Planet Neptun, der Quastenflosser ...) und auf<br />

(Es ist ein Zahlenrätsel! 0 = O; 1 = M; 2 = ..., mehr sei<br />

hier nicht verraten, Anm. d. Übers.)<br />

An dieser Stelle ist es auch interessant, sich einmal<br />

anzusehen, wohin es führt, wenn einzelne Teilnehmer<br />

gegen den Lehrer für die Erfindungen der anderen Partei<br />

ergreifen und sich begeistern. Gael (8 Jahre) hat mir<br />

hier die Augen geöffnet. Ernsthaft wie er ist, hat er gründlich<br />

nachgedacht und treffende Fragen gestellt. Und er<br />

fühlte eine Art Berufung, denjenigen zu helfen, die in<br />

244 245


Schwierigkeiten waren. Besonders empfindlich reagierte<br />

Gael, wenn es um die Freiheit seiner Mitschüler ging. Einmal<br />

hatte ich seinen Bruder und seinen Vetter etwas in die<br />

Ecke getrieben, als sie mir vormachen wollten, dass sie<br />

sich mit einer ausgedachten Sprache verständigen könnten.<br />

Aber da hat Gael den beiden mit großem Einfallsreichtum<br />

einen Ausweg gebahnt.<br />

Ähnliche Situationen erlebte ich mit ihm häufiger: Als<br />

ich eines Abends die mathematischen Erfindungen der<br />

Kinder an die Tafel schrieb, lächelte ich vor mich hin, als<br />

ich die von Michel (7 H Jahre) sah:<br />

Ich sagte mir: „Darüber wird er sich bestimmt beschweren!“<br />

Als Michel am nächsten Morgen in die Klasse kam,<br />

sah er sich wie alle anderen nach seiner Erfindung an der<br />

Tafel um, und tatsächlich reagierte er sofort:<br />

„Aber Sie haben sich geirrt. Das habe ich nicht geschrieben!“<br />

Aber er musste seinen Irrtum zugeben, als ich ihm sein<br />

Heft zeigte.<br />

„Ach, ja, ich habe mich geirrt.“<br />

(Warum, lässt sich leicht erklären. Als er seine Zahlen<br />

schrieb, war er mitten in seiner Erfindung. Er hatte kei nen<br />

Abstand mehr. Erst am nächsten Tag hatte er die Rückmeldung<br />

von der Tafel.) (61)<br />

(61) Es ähnelte ein wenig dem, was Carl Rogers tat, als er die Aussagen<br />

seiner Patienten neu formulierte, um sie ihnen bewusst werden zu lassen.<br />

Wenn nun niemand den Fehler bemerkt hätte (62) , hätte<br />

ich vielleicht diesen mathematischen Text zweimal vorgelesen<br />

und dabei vor der 23 eine kleine Pause gemacht.<br />

Das hätte bestimmt ausgereicht, um den Blick zu schärfen.<br />

In diesem Fall war Michel überzeugt, dass er sich geirrt<br />

hatte. Die Klasse und der Lehrer waren es auch.<br />

In diesem Moment hat Gael eingegriffen:<br />

„Aber es ist seine Erfindung. Er ist frei, das zu schreiben,<br />

was er will!“<br />

Ich musste anerkennen, dass dies richtig war, dass es<br />

sich um einen freien mathematischen Text handelte, dass<br />

man schreiben konnte, was man wollte. Und wir mussten<br />

den Text so akzeptieren, wie er vorlag. Wir hätten uns also<br />

damit zufrieden geben müssen, hier zu erkennen, dass erst<br />

um 7, dann um 7 und schließlich um 8 erhöht wurde. Jemand<br />

hätte sagen können:<br />

„Er hätte nur die Sieben verwenden können.“<br />

„Das ist richtig, er hätte können.“<br />

Diese Kritik von Gael (die eine Kritik am Lehrer war)<br />

hat uns neue Wege eröffnet. Die ganze Welt der Folgen (63)<br />

hat sich uns aufgetan.<br />

Der Einwurf von Gael stellt erneut die Frage nach der<br />

(62) Da er sich nicht selbst kritisieren konnte, hätten seine Mitschüler<br />

ihre Kritik anbringen können. Er hätte sie ohne Probleme akzeptiert,<br />

weil sie mit ihm auf einer Ebene standen. Die Kritik durch den Lehrer<br />

hingegen wäre viel gefährlicher gewesen, denn er hätte sie als Kritik durch<br />

eine Vaterfigur und nicht durch seinesgleichen empfinden können. Man<br />

kann sich sehr gut die Störungen des Denkens vorstellen, die so etwas<br />

hervorrufen könn te.<br />

(63) Oft schlage ich auf Fortbildungsseminaren vor, drei Ziffern<br />

aufzuschreiben, die auf 1. 8.15. 23. folgen. Wir haben zum Beispiel<br />

erhalten:<br />

30, 37, 45 - 31, 38,45 - 31,40, 49 - 32, 51, 81 - 38, 61, 99 - ... Man ist frei!<br />

Und das erlaubt, eine Arbeit über die Gesetze zur Bildung gewis ser Folgen<br />

(bzw. über ihr Fehlen) anzufangen. Man kommt übri gens sehr schnell<br />

zu den Dreieckszahlen, auf das Pascalsche Drei eck, auf die Folge der<br />

Quadrate usw.<br />

246 247


Rolle des Lehrers. Wie muss er sich verhalten, damit er die<br />

freie Entfaltung der Gruppe nicht hemmt?<br />

Das ist ein wichtiger Punkt, wenn nicht gar ein Hauptpunkt.<br />

Ist der Weg jetzt nicht vollständig aufge zeigt? Es<br />

ist der Weg einer Pädagogik, die den Menschen selbst, das<br />

Gespräch zwischen ihnen und ihre Entwick lung respektiert.<br />

Vielleicht können wir, wenn wir diesen Weg gegangen<br />

sind, ihn als Beitrag zu einer umfassenden ökologischen<br />

Betrachtungsweise werten.<br />

8. Erfahrungsberichte aus Frankreich und<br />

Deutschland<br />

Bilanz von Daniel Boulanger<br />

Während meiner ganzen Schulzeit hasste ich die Mathematik,<br />

weil ich nichts verstanden habe. Ich musste erst<br />

Lehrer werden und mich in der Position des Lehren den<br />

wiederfinden, um endlich den Begriff der Basis bei Zahlensystemen<br />

(Basis fünf, sechs, ...) zu verstehen, mit dem<br />

man mir mehrere Jahre lang ohne Erfolg die Ohren vollgestopft<br />

hatte.<br />

Ich musste wieder beim Punkt Null anfangen. Wie die<br />

Kinder musste ich mir Bündel machen und dann die Beziehung<br />

zur Basis zehn herstellen, um zu entdecken, dass<br />

man mich so lange mit einer einfachen Sache gelang weilt<br />

hatte, die so kinderleicht ist, dass sie von jedem Kind gelernt<br />

werden kann.<br />

Unglücklicherweise bleiben mir noch viele einfache<br />

mathematische Konzepte fremd, weil ich noch nicht alle<br />

Schäden habe beheben können. Ich bin immer noch kein<br />

‚Mathematiker‘. Dennoch habe ich die Mathematik gern<br />

oder genauer gesagt, die natürliche Methode der Mathematik.<br />

Jeder kann hier seinen eigenen Platz finden, welches<br />

auch seine Anknüpfungspunkte sein mögen.<br />

Paradoxerweise hat mir meine Behinderung bei der Erkenntnis<br />

geholfen, was Leiden in und durch Mathe matik<br />

bedeutet. Aufgrund günstiger Umstände bin ich ein Spezialist<br />

des Mathematikunterrichts in der Elemen tarstufe<br />

geworden.<br />

Heute spüre ich das Bedürfnis, die Lücken auszufüllen<br />

und die Sprache der Erwachsenen zu benutzen, um die<br />

Konzepte zu beschreiben, die die Kinder manchmal mit<br />

Leichtigkeit handhaben.<br />

248 249


Bilanz von Marie Therese Bousquant<br />

Als Bilanz der beiden Jahre meiner Arbeit mit der natürlichen<br />

Mathematik im 2. Schuljahr stelle ich fest:<br />

• Sie entwickelt den Sinn für Beobachtung und den Sinn<br />

für Kritik.<br />

• Sie bedeutet eine Öffnung für das Denken.<br />

• Durch die Würdigung der Arbeiten und den Rücklauf<br />

in die Gruppe werden die Produktionen bereichert und<br />

die Kreativität nimmt zu.<br />

• Man kann Vertrauen in die Kreativität und die Beobachtungsgabe<br />

der Kinder haben, die sich durch die tägliche<br />

Praxis, durch das Gespräch miteinander, durch die<br />

Würdigung der Fähigkeiten und durch ihre Wertschätzung<br />

innerhalb der Gruppe weiterenwickeln.<br />

• Rechenkarteien, die sich auch um die Entwicklung der<br />

Beobachtungsgabe und der Reflexion bemühen, kön nen<br />

am Anfang eine wertvolle Hilfe sein. Sie sind eine gute<br />

Ergänzung zum Bemühen der Kinder, weil sie sich oftmals<br />

darauf beziehen.<br />

• Es gab immer genügend Erfindungen der Kinder, um<br />

die Arbeit mit ‚Rohstoff zu versorgen.<br />

• Das Kind kann dank des Lehrers und dank der Gruppe<br />

bzw. Klasse sein eigenes Lernen in die Hand nehmen<br />

und seine eigene Mathematik konstruieren.<br />

• Der Lehrer ist jetzt mehr jemand, der hilft, begleitet,<br />

anregt, als jemand, der Wissen vermittelt. Das Gleichgewicht<br />

ist dabei schwer zu finden und andauernd in<br />

Frage gestellt.<br />

• Die mathematische ‚Kultur‘ des Lehrers spielt eine<br />

Rolle<br />

• Wesentlich ist der Austausch zwischen den Lehrern,<br />

um die entsprechenden Erfahrungen zusammenzutragen,<br />

um alle mathematischen Begriffe zu sehen, die in<br />

den Erfindungen der Kinder angesprochen werden bzw.<br />

hätten angesprochen werden können, damit sie besser<br />

gehört und eingeschätzt werden.<br />

• Die Kinder sind nicht alle gleich kreativ, aber jedes kann<br />

gewürdigt, bewertet und ermutigt werden. Und die Reaktion<br />

der Kinder auf die Vorstellung einer Erfindung<br />

birgt oft Überraschungen in sich, ist aber stark an ihre<br />

momentane Bereitschaft gebunden.<br />

• Ich habe große Lust, das Abenteuer am Schuljahrsbeginn<br />

fortzusetzen, solange ich nicht allein damit bin<br />

(in einem 3./4. Schuljahr).<br />

Einige Eindrücke von Monique Quertier<br />

Seitdem ich die natürliche Methode in Mathematik in<br />

meiner Klasse eingeführt habe, machen die Kinder gerne<br />

Mathematik: Sie wollen nur noch das, fordern die Besprechung<br />

der Erfindungen und sind sehr unzufrieden an den<br />

Tagen, an denen es keine gibt. Die Kinder wollen handeln<br />

und entdecken, deshalb lieben sie die Bespre chungen der<br />

mathematischen Erfindungen, denn dort können sie Autor,<br />

Handelnder und Produzent sein.<br />

Im Laufe der Besprechungen entwickelt sich ihr kritisches,<br />

analytisches und beobachtendes Denken: Sie haben<br />

immer etwas zu sagen. Wenn ich ihnen eine sehr klassische<br />

Hausaufgabe in Mathematik aufgebe (für die Benotung),<br />

stört sie das überhaupt nicht, weil sie daran ge wöhnt<br />

sind, ständig neue Situationen zu erörtern, nämlich diejenigen,<br />

die in den Erfindungen ihrer Freunde vorkommen.<br />

Aber das folgende gilt auch für alles andere: Die natürliche<br />

Methode der Mathematik verwandelt ihre Lebensweise<br />

und ihre Sichtweise der Dinge: Sie lernen, all das,<br />

was sie umgibt, wahrzunehmen und zu fühlen.<br />

250 251


Die natürliche Methode der Mathematik hilft bei der<br />

Freisetzung des Ausdrucks in all seinen Formen. Die Kinder<br />

lernen, ihre Ideen vorzustellen, sich nicht mit einer<br />

simplen Bestätigung zufrieden zu geben, denn die anderen<br />

fordern Beweise, stellen dem Freund Fallen, indem sie<br />

weiter gehen als er, oder finden eine Schwachstelle in seiner<br />

Vorführung. Und all dies geschieht so oft wie möglich<br />

unter Einsatz der gesprochenen Sprache, was für Kinder,<br />

die sich wohl fühlen, leicht ist. Aber auch der Ängstliche,<br />

der es nicht wagt, mit Worten die Oberhand zu gewinnen,<br />

schafft es letztlich einen Weg zu finden, sich auszudrücken.<br />

Das war bei Cedric so, der vier Monate lang stumm<br />

geblieben ist. Er schrieb während der Besprechungen in<br />

sein Heft, kam jedoch nie an die Tafel, um irgend etwas<br />

zu sagen. Eines Tages, als wir uns mit dem Vergleich von<br />

Strecken herumschlugen, stand er still auf und ging zur<br />

Tafel, um Streckenabschnitte mit Hilfe der Zirkelöffnung<br />

zu messen.<br />

Ich habe die Gelegenheit genutzt, ihn nach seiner Vorgehensweise<br />

zu fragen - und er hat es erklärt. Das ist der<br />

erste Schritt gewesen. Danach ist er viel bereitwilliger gekommen,<br />

um den anderen seine Wissenschaft zu zei gen.<br />

Ich habe es noch nie erlebt, dass ein Kind ein ganzes Jahr<br />

lang stumm geblieben ist.<br />

Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass die Kinder<br />

ihrer Freude Ausdruck geben, wenn sie etwas gelernt<br />

haben, sie gehen aus sich heraus und drücken ihre tiefen<br />

Empfindungen aus.<br />

Ich habe eine Verbesserung ihrer Beobachtungsfähigkeit<br />

bei Abschreibübungen festgestellt. Sie schreiben<br />

ohne Fehler ab. Ich glaube, dass sie durch die Besprechungen<br />

der Erfindungen gelernt haben genau hinzusehen,<br />

denn sie strengen sich an, dies zu tun.<br />

Jeder folgt seinem Weg auf seine individuelle Weise,<br />

baut individuell sein Wissen auf, aber all dies dank der<br />

kollektiven Unterstützung. Er kann sich die Information<br />

auswählen, die er für nützlich hält, um eine Schwierigkeit<br />

zu überwinden.<br />

Offensichtlich ist alles, was ich über die Kinder gesagt<br />

habe, auch für den Lehrer gültig: Weil ich gezwungen war,<br />

meine alten Bücher loszulassen, habe ich in den drei Jahren<br />

gelernt, Impulse und Personen, von denen ich lernen<br />

kann, zu suchen - nicht nur um die Arbeiten der Kinder zu<br />

überprüfen, sondern auch, um meine persönliche Neugier<br />

zu befriedigen. (Seid neugierig und ihr werdet gelehrt.)<br />

Man muss nicht ‚begabt‘ in Mathematik sein, um sich<br />

daran zu wagen: Man braucht keine Angst davor zu haben,<br />

die Kinder einfach machen und sprechen zu las sen; man<br />

muss lediglich lernen, während der Bespre chungen zu<br />

schweigen und nur dann einzugreifen, wenn ein unbedingt<br />

notwendiges Element zur Reihe der Opera tionen fehlt.<br />

Apropos Schweigen, ich habe festgestellt, dass die<br />

Gruppe, die nicht mit mir arbeitet, die also still sein<br />

muss, besonders aktiv im Zuhören ist: Sehr oft stellt diese<br />

Gruppe mathematische Erfindungen vor, die ein konsequenter<br />

Fortgang der Erfindungen sind, die von der anderen<br />

Gruppe besprochen wurden.<br />

Ein letzter Rat an diejenigen, die sich an die natürliche<br />

Methode der Mathematik wagen wollen: Macht es nicht<br />

ganz allein, sucht euch Freunde, die sie auch praktizieren,<br />

und organisiert mit ihnen Besprechungen über die mathematischen<br />

Erfindungen der Kinder. Mit Erwachsenen finden<br />

wir uns unvermeidlich in den gleichen schwierigen,<br />

angenehmen oder komischen Situationen wieder, denen<br />

wir in unseren Klassen begegnen.<br />

252 253


Bilanz von Angela Glänzel nach 2 Jahren Erfahrung<br />

Die Idee von Paul Le Bohec, den freien Ausdruck auch<br />

in der Mathematik zuzulassen, hat mich sofort fasziniert,<br />

einfach, weil die freien Texte in Deutsch und der freie<br />

Ausdruck überhaupt für mich und die Kinder in meinen<br />

Klassen immer wichtiger geworden war.<br />

Seit zwei Jahren habe ich keine eigene Klasse mehr,<br />

sondern gebe Fachunterricht in Mathematik in der 3. und<br />

4. Klasse. Paul Le Bohecs Berichte hatten mir so viel Mut<br />

gemacht, dass ich auch in dieser Situation als Fach lehrerin<br />

dem freien Ausdruck genügend Platz einräumen wollte.<br />

Da meine neuen Schüler und Schülerinnen den Begriff<br />

‚freien Ausdruck‘ nicht kannten, nannten wir es ‚Mathematik<br />

erfinden‘.<br />

Inzwischen sieht mein Mathematikunterricht sehr anders<br />

aus. Auch anders als der von Paul Le Bohec in diesem<br />

Buch beschriebene. Im Laufe der Zeit haben sich die<br />

Strukturen teilweise verändert; Leitmotiv ist jedoch geblieben,<br />

die Mathematik der einzelnen Kinder zu verstehen,<br />

sie diese entfalten zu lassen und im gemeinsamen<br />

Gespräch Anregungen zu immer differenzierteren Vorstellungen<br />

zu entwickeln.<br />

Am Anfang war das Erfinden nicht immer leicht: Einige<br />

Kinder werteten die Erfindungen der anderen ab, wenige<br />

waren bereit, sich auf die Erfindungen der anderen<br />

wirklich einzulassen, die Konzentration im Er finderkreis<br />

ließ schnell nach.<br />

Ich selbst war auf der Suche nach Strukturen, die zu<br />

unseren Gegebenheiten, zu diesen Kindern, die keinen<br />

offenen Unterricht kannten, passen. Ich probierte, veränderte.<br />

Einige Kinder meckerten jedes mal, wenn ich zum<br />

Erfinderkreis vor der Tafel aufforderte.<br />

Aber bei einer kleinen Umfrage nach einigen Monaten<br />

stellte sich heraus, dass knapp die Hälfte der Kinder ‚Erfinden‘<br />

am liebsten mochten, und da Mathematik bei fast<br />

allen Kindern zum Lieblingsfach geworden war, ließ ich<br />

mich nicht mehr irritieren.<br />

Nach zwei Jahren zählte bei 19 von 24 Kindern das<br />

Erfinden zu den liebsten Aktivitäten im Mathematikunterricht.<br />

Inzwischen haben wir längst Strukturen gefunden, die<br />

zu uns passen:<br />

Es gibt regelmäßige Erfinderkreise, die freiwillig sind<br />

und meist aus etwa 5 bis 7 Teilnehmern und Teilnehmerinnen<br />

bestehen. Einige Kinder kommen sehr oft,<br />

eini ge wenige nur das eine Mal, das als Minimum innerhalb<br />

von 6 Wochen gilt.<br />

‘Mathematik erfinden’ ist inzwischen eine der vier<br />

Säulen meines Mathematikunterrichtes, in dem es auch<br />

noch freies Forschen (in einem Atelier mit viel Material zu<br />

einem Thema), Sammeln (von Material und Vorstel lungen<br />

aus dem Umfeld zu einem Thema) und ‚Üben‘ (individuelles<br />

Erarbeiten und Erproben von Rechen verfahren) gibt.<br />

Für viele Kinder hat das Erfinden jedoch zentrale<br />

Bedeutung:<br />

• für manche Kinder, weil sie dort all ihre vielfältigen<br />

Vorstellungen und Ideen von Mathematik offenbaren<br />

können,<br />

• für andere, weil sie dort am meisten ernst genommen<br />

werden. Es ist ihre Erfindung, also müssen wir anderen<br />

den Versuch machen, sie zu verstehen,<br />

• manche versuchen das was sie irgendwo aufge schnappt<br />

haben, auszuprobieren und durch die Grup pe bestätigen<br />

zu lassen,<br />

254 255


• einige Kinder nutzen die Chance, unter dem ‚Schutz<br />

des Erfinders‘ alles ausprobieren zu können.<br />

Valesca hat sich im 4. Schuljahr, als bereits die schriftliche<br />

Multiplikation im Raum stand, eine fehlende Voraussetzung<br />

mit folgender Erfindung erarbeitet:<br />

Bei der Besprechung interessierten sich die anderen<br />

Kinder zunächst für die Funktionsweise dieser Maschine<br />

mit dem klang vollen Namen ‚Tiefunda‘: ... Bei jedem<br />

Knopfdruck kommen 90 dazu ... Wenn man 8-mal den<br />

Knopf drückt, sind es 720...<br />

Nur ein Junge bemerkte, dass oben wohl eine Null fehle,<br />

was Valesca und die anderen aber kaum beirrte. Vielleicht<br />

verstan den sie besser als ich in diesem Moment, was Valesca<br />

mit die sem Fehler kurz und knapp ausgesagt hat: „Ich<br />

brauch‘ nicht 8mal die 90 dazuaddieren, ich kann auch 8•9<br />

oder sogar 9•8 (die Achterreihe ist meine Lieblingsreihe)<br />

rechnen und eine Null anhängen“.<br />

Valesca hat mit dieser Erfindung das Rechenschema ‘Null<br />

anhängen‘ verstanden, weil sie es selber erfunden hat.<br />

Ich gebe zu, dass es jedes Mal eine Weile gedauert hat,<br />

bis ich Valescas oder andere ‚Fehler‘ verstehen und akzeptieren<br />

konnte. Geholfen hat mir in Alltagssituationen<br />

mein fester Vorsatz, das Wort ‚falsch‘ zunächst ganz aus<br />

meinem Wortschatz zu strei chen und stattdessen genau<br />

hinzusehen und hinzuhören.<br />

Für mich ist das Erfinden immer wichtiger geworden,<br />

• weil ich sehen kann, wo die einzelnen Kinder wirklich<br />

stehen in Mathematik, bzw., was sie zu ihrer Mathematik<br />

gemacht haben,<br />

• weil ich jedes einzelne Kind über diese Ausdrucksmöglichkeit<br />

auch im begrenzten Fachunterricht als<br />

ganze Person wahrnehmen kann,<br />

• weil ich erlebe, dass in den Erfinderkreisen die schwachen<br />

Kinder eine wichtige Rolle spielen: Denn oft sind<br />

es gerade die Erfindungen der schwachen Kinder, vor<br />

denen ich häufig etwas ratlos stehe, die aber im Erfinderkreis<br />

ein sehr lebhaftes Gespräch auslösen.<br />

Diese Erfahrung ermöglicht mir auch eine andere Haltung<br />

den schwachen Kindern gegenüber, weil sich über<br />

die Erfinderkreise in der Gruppe eine Haltung gegenseitigen<br />

<strong>Verstehen</strong>s und Akzeptierens installiert, die nicht nur<br />

für freies und kreatives Lernen Bedingung ist. Man darf<br />

als ganzer Mensch anwesend sein, auch als Mensch mit<br />

dieser oder jener Besonderheit oder Schwierigkeit.<br />

Ein hoher Anspruch, der in offensichtlichem Widerspruch<br />

zu unserem Schulalltag steht, und dennoch ein<br />

Weg, den zu gehen sich lohnt.<br />

256 257


Erste Versuche in einem 2. Schuljahr von Peter<br />

Schütz<br />

Die Ideen von Paul Le Bohec haben mich so beeindruckt,<br />

dass ich noch während der Übersetzung damit begann,<br />

sie in meinem eigenen Unterricht auszuprobieren.<br />

Viele An regungen konnte ich problemlos übernehmen. In<br />

einigen Bereichen musste ich aber eigene Wege suchen,<br />

weil Pauls Vorschläge mich in eine Sackgasse geführt<br />

hätten; denn meine Arbeitsbedingungen (Schüler, Lehrer,<br />

Raum, Mate rial, Stundenplan, usw.) unterscheiden sich erheblich<br />

von seinen. Ich möchte hier beschreiben, wie ich<br />

methodisch eingestiegen bin, und einige Beobachtungen<br />

darstellen, die ich bei meinen ersten Gehversuchen mit der<br />

natürli chen Methode im Mathematikunterricht gemacht<br />

habe.<br />

1. Ausgangsideen<br />

Als ich damit anfangen wollte, hatte ich ein zweites<br />

Schuljahr mit 26 Schülern. Gerade angesichts der hohen<br />

Schülerzahl hat mir der Tipp eingeleuchtet, Jahrgangsklassen<br />

bei dieser Arbeit zu teilen. Ich wollte also die eine<br />

Hälfte der Klasse mit Karteien, Mathebuch u.a. still beschäftigen,<br />

während ich mit der anderen Hälfte deren Erfindungen<br />

besprach.<br />

Da ich im Fach Deutsch gute Erfahrungen mit Geschichten-Heften<br />

als Einstieg ins freie Schreiben ge macht hatte,<br />

kam mir die Idee, für jedes Kind entspre chende Hefte für<br />

die freien mathematischen Texte einzu führen. Bis auf das<br />

erste Mal sollte es den Kindern freigestellt sein, ob sie in<br />

diesem Mathe-Forschungsheft arbeiten wollten oder nicht.<br />

Genauso frei sollten die Kin der in dem sein, was sie hineinschreiben<br />

wollten.<br />

Für den organisatorischen Verlauf der Besprechung<br />

musste ich mir auch etwas Neues einfallen lassen, denn<br />

anders als Paul kann ich nicht nachmittags Schülererfindungen<br />

an die Tafel schreiben, um sie am nächsten<br />

Tag zu besprechen. Ich wollte sie vielmehr auf eine Folie<br />

übertragen und dann mit Hilfe des Overhead-Projektors<br />

präsentieren. Inhaltliche Vorgaben habe ich den Kindern<br />

nicht ge macht, weil ich beobachten wollte, was die Kinder<br />

von sich aus machen. Deshalb sollte die individuelle Arbeit<br />

im Forschungsheft ein ständiges Angebot im Rahmen<br />

der freien Arbeit sein.<br />

2. Anfang<br />

Bald nach Beginn des 2. Schuljahres habe ich für jedes<br />

Kind ein DIN-A4-Heft mit Rechenkaros (Lineatur Nr. 22)<br />

gekauft. Nach dem Austeilen habe ich erklärt, dass dies<br />

das Heft sei, in das alles aufgeschrieben werden kann, was<br />

jemand in Mathe erforscht. (Der Ausdruck ‚Forschung‘<br />

war den Kindern aus dem Sachunterricht be kannt.) Die<br />

Kinder haben es entsprechend beschriftet und dann angefangen,<br />

das hineinzuschreiben, von dem sie meinten, dass<br />

es etwas mit Mathe zu tun hätte.<br />

Bei diesem ersten Versuch sind viele Schüler in dem<br />

Bereich geblieben, in dem sie bisher gerechnet haben.<br />

Zum Teil waren es sehr einfache Aufgaben, wie z.B. 10 +<br />

9 = 19 . Andere haben sich in den Hunderter- und Tausender-Raum<br />

vorgewagt: z.B. 100 + 500 = 600. Eine kleine<br />

Gruppe hat Punkte, Kreuze oder Kreise in eine Reihe gezeichnet<br />

und die Anzahl dazu aufgeschrieben:<br />

Die Erfindungen haben wir dann in der jeweiligen Teilgruppe<br />

gemeinsam besprochen.<br />

258 259


3. Durchführung<br />

Für die Besprechung habe ich für jedes Kind eine<br />

persön liche Folie für den Overhead-Projektor angelegt.<br />

Zuhause habe ich die Hefte der Kinder durchgesehen. Je<br />

nach Um fang der Arbeit habe ich entweder die gesamte<br />

Arbeit oder einen Ausschnitt daraus auf die Folie übertragen.<br />

(Wenn man sie auf das Heft legt und mit einem feinen<br />

Folienstift nachschreibt, geht das sehr schnell. Außerdem<br />

sind die Texte in der gleichen Form an der Projektionsfläche<br />

wie im Heft zu sehen, was in vielen Fällen für das<br />

Verständnis unerlässlich ist.)<br />

Ausgewählt habe ich danach, was mir besonders interessant<br />

erschien, z.B. eine ‚absteigende‘ Aufgabenserie:<br />

Oder es kam ein neuer Aufgabentyp vor, z.B.:<br />

Um den Überblick zu behalten, habe ich die Schüler gebeten,<br />

ihre Eintragungen mit Datum zu versehen. (Nicht<br />

immer mit dem nötigen Erfolg. Das nächste Mal will<br />

ich konsequenter sein. Vielleicht mit Hilfe eines Datumstempels.)<br />

Außerdem habe ich die Erfindungen, die wir<br />

gemeinsam besprochen haben, im Heft eingerahmt.<br />

Die Teilgruppe, die gerade mit der Besprechung an der<br />

Reihe war, hat sich mit ihren Stühlen nach vorn vor die<br />

Projektionsfläche gesetzt. Der erste Teil des Rituals war,<br />

dass ein Schüler den ‚Text‘ vorgelesen hat.<br />

Danach haben sich die Schüler meist spontan ge äußert.<br />

(Besonders dann, wenn ein ‚Fehler7 darin war.) Wenn<br />

Korrekturen notwendig wurden, haben die Schüler sie<br />

mit einem andersfarbigen Folienstift eingetragen. Manchmal<br />

entspannen sich lebhafte Diskussionen, beson ders bei<br />

Rätseln.<br />

In manchen Fällen habe ich zusätzliche Impulse gegeben,<br />

um auf der Grundlage der betreffenden Erfindung<br />

weiterzuarbeiten. So habe ich z.B. bei der ‚aufsteigenden‘<br />

Aufgabenserie<br />

danach gefragt, wie die Reihe wohl weitergehen könnte.<br />

Die Ergebnisse haben wir auf die Folie an die passende<br />

Stelle geschrieben. Oder wir haben danach gesucht, welche<br />

Aufgabe wohl vor der ersten Aufgabe des Autors<br />

kommen könnte. Auch die Ergebnisse dieser Suche haben<br />

wir mit einem andersfarbigen Stift auf die Folie geschrieben.<br />

Bei Aufgaben vom Typ 400 + 500 = 900 haben wir<br />

nach der Aufgabe aus dem ersten Schuljahr gesucht, die<br />

dazugehört (4 + 5 = 9). Das hat uns geholfen zu verste hen,<br />

warum das Ergebnis der Addition: 400 + 600 nicht 100,<br />

sondern 1000 ist.<br />

260 261


Zum Schluss hatte jeder Erfinder noch einmal die Möglichkeit,<br />

zu seiner Erfindung Stellung zu nehmen. Dieses<br />

Angebot wurde in den meisten Fällen aber nicht genutzt.<br />

4. Verzahnung mit dem ‘normalen Matheunterricht’<br />

Während dieser Versuche mit der natürlichen Methode<br />

wollte ich auf keinen Fall auf die sonst üblichen Arbeitsweisen<br />

in Mathe verzichten. Die Rechenfertigkeiten habe<br />

ich mit Hilfe von Rechenkarteien üben lassen. Diese sind<br />

während der Besprechungen von der jeweils still beschäftigten<br />

Gruppe bearbeitet worden.<br />

Anfangs habe ich versucht, mit jeder Teilgruppe zweimal<br />

in der Woche eine Besprechung durchzuführen. Da<br />

aber eine Besprechung fast immer eine Stunde dauerte,<br />

waren damit bereits vier Wochenstunden festgelegt. Das<br />

habe ich nicht durchhalten können. Man braucht schließlich<br />

auch noch Zeit, um gemeinsam neue Gebiete zu erarbeiten.<br />

Manchmal haben auch ganz profane Umstände (z.B.<br />

habe ich vergessen, die Hefte mitzunehmen) verhin dert,<br />

dass dieser Rhythmus durchgehalten werden konn te.<br />

5. Beobachtungen<br />

5.1. Aufnehmen anderer Ideen<br />

Die Kinder haben immer wieder Ideen, die von einem<br />

Mitschüler neu eingebracht worden sind, aufgenommen<br />

und selbst daran gearbeitet. Ich brauchte also keine Impulse<br />

zu geben. (Indirekt habe ich sie natürlich doch gegeben,<br />

indem ich nur einen Teil der im Heft vorgefun denen<br />

Ideen für die Besprechungen ausgewählt habe.)<br />

Bemerkenswert war, dass die Kinder vor allem auch solche<br />

Aufgaben von sich aus gerechnet haben, die gera de im<br />

‘normalen’ Unterricht bearbeitet wurden. Beson ders auffällig<br />

war dies nach der Einführung der Multi plikation.<br />

5.2. Gruppenarbeit<br />

Überraschend war für mich die Beobachtung, wie eine<br />

Tätigkeit, die ich bisher immer als Einzelarbeit eingestuft<br />

habe, nämlich das ‚Päckchen-Rechnen‘, zur Gruppenarbeit<br />

wird. Oft haben sich zwei Schüler verabredet, um<br />

in der freien Arbeit gemeinsam im Mathe-Forschungsheft<br />

zu arbeiten.<br />

Teils haben sie dieselben Aufgaben gerechnet. Teils<br />

waren es ähnliche Aufgaben. Wenn dann jemand eine<br />

neue Variation entdeckt hatte, wurde sie den anderen<br />

gleich mitgeteilt und von diesen ggf. aufgenommen und<br />

ausprobiert.<br />

5.3. Lange Reihen<br />

Bei vielen Schülern waren Aufgabenserien sehr beliebt.<br />

Es fing z.B. an mit: 1 + 1 = 2, 2 + 2 = 4, 3 + 3 = 6 und hör te<br />

je nach verfügbarer Zeit und der momentanen Aus dauer<br />

mit 10 + 10 = 20 oder gar mit 50 + 50 = 100 auf.<br />

Auch Nachfolgeaufgaben wurden viel gerechnet: der<br />

nächste Einer: + 1, der nächste Zehner: + 10, der nächste<br />

Hunderter: + 100 oder gar der nächste Tausender: + 1000.<br />

Bei der Auswahl der Typen sind die Kinder nicht systematisch<br />

aufbauend vorgegangen. Nach Aufgaben wie<br />

9000 + 999 = 9999 wurde durchaus gerechnet: 0 + 0 = 0,<br />

0 + 1 = 1,1 + 1=2usw.bis 19 + 1 = 20.<br />

Einige Kinder legten dabei eine erstaunliche Ausdauer<br />

262 263


an den Tag. Reni schrieb z.B. drei Spalten mit je 56 Aufgaben<br />

(= 168 Aufgaben!!!) mit + 100 auf eine Seite.<br />

Philipp, ein guter Rechner und Mathematiker, hat sich<br />

selbst Aufgaben gestellt, die ich ihm wegen Unterfor derung<br />

niemals zugemutet hätte. Sechsmal schrieb er auf: 10 + 10<br />

= 20, danach sechsmal 20 + 20 = 40, dann sieben mal 30<br />

+ 30 = 60 und ebenso siebenmal 40 + 40 = 80. Mir ist unerklärlich,<br />

warum er dies tat. Auf entsprechende (vorsichtige)<br />

Anfragen konnte er auch keine Antwort geben. Aber<br />

es musste für ihn irgendeine Bedeutung, irgendeinen Sinn<br />

haben, denn sonst hätte er, der immer jede ‚überflüssige‘<br />

Arbeit strikt abgelehnt hatte, sich nicht der Mühe unterzogen,<br />

dies hinzuschreiben.<br />

5.4. Problemkinder<br />

Anna ist ein verträumtes Mädchen, das in ihrer Pferdewelt<br />

lebt. Tiere im allgemeinen und Pferde im besonderen<br />

haben es ihr angetan. Alles, was in irgendeiner Weise<br />

mit Zahlen zu tun hat, war nicht ihre Sache. Auch zu Beginn<br />

des zweiten Schuljahres rechnete sie im Bereich bis<br />

6 noch mit Fingern (Addition und Subtraktion). Mengen<br />

bis 6 zählte sie immer noch ab. Da dies ihr Leistungsstand<br />

trotz zweijähriger intensiver Förderung im Schulkindergarten<br />

und in der ersten Klasse war, verfolgte ich<br />

ihre Erfin dungen mit besonderem Interesse. Ziemlich am<br />

Anfang schrieb sie Aufgaben mit Tierzeichnungen in ihr<br />

Forscherheft:<br />

Dieser freie mathematische Text veranlasste mich,<br />

meine Einschätzung ihrer Fähigkeiten zu revidieren. Er<br />

beweist, dass bei ihr nämlich eine sehr genaue Vorstellung<br />

von dem vorhanden war, was eine Addition, was eine<br />

Subtraktion und was eine Gleichung ist. Besonders beeindruckend<br />

belegt dies die Aufgabe vom Schwan.<br />

Der freie mathematische Text von Anna hat mir geholfen,<br />

ihre Schwierigkeiten genauer bestimmen zu können:<br />

Die Operationen an sich (einschließlich der dazugehörigen<br />

formalen Darstellung = Gleichungen) beherrschte sie.<br />

Aber sie hatte Probleme, mit formalen Repräsentanten,<br />

wie Zahlen mit arabischen Ziffern, zu operieren. Später<br />

hat sie einen Teil ihrer Erfindungen der Bearbeitung dieses<br />

Problems gewidmet. Vor allem hat sie an der Mäch-<br />

264 265


tigkeit von Mengen gearbeitet. In diesem Zusammenhang<br />

hat sie auch die Ungleichheit in folgender Weise herausgearbeitet:<br />

5.5. Besprechungen<br />

Die Besprechungen der Erfindungen sind nach meinen<br />

Beobachtungen ein möglicher Motor für die freiwillige<br />

Produktion von freien mathematischen Texten. Die Kinder<br />

und ich haben sie zu Anfang mit viel Begeisterung<br />

und Engagement durchgeführt (Ende Oktober). Doch<br />

dann kam mit der Adventszeit, in der andere Dinge wichtiger<br />

waren, der große Einbruch. Ich schaffte es nur noch<br />

sporadisch, gemeinsam mit der jeweiligen Teilgruppe, die<br />

Erfindungen zu besprechen. Als ich aber nach den Osterferien<br />

die regelmäßigen Besprechungen (jede Teilgruppe<br />

einmal pro Woche) wieder aufgenommen hatte, wurde das<br />

Forschungsheft nicht nur von einigen wenigen Schülern,<br />

sondern von den meisten wieder regelmäßig genutzt.<br />

Allerdings musste ich auch beobachten, dass vier<br />

Schüler kaum in diesem Heft arbeiteten. Es waren Kinder,<br />

die bei der freien Arbeit lieber die Angebote im kreativen<br />

oder kommunikativen Bereich genutzt haben.<br />

6. Ausblick<br />

Soweit dieser kurze Bericht über meine ersten Gehversuche<br />

mit der natürlichen Methode im Mathematikunterricht.<br />

Sie waren für mich so ermutigend, dass<br />

ich sie auf jeden Fall auch in diesem Schuljahr mit meiner<br />

neuen ersten Klasse fortsetzen möchte. Besonders spannend<br />

wird sein, wie die Kinder (und ich als Lehrer) damit<br />

zurecht kommen, wenn sie nur geringe mathematische<br />

Vorkenntnisse mitbringen.<br />

266 267


9. Schlussbemerkung<br />

Man kann die natürliche Methode des Lernens auch als<br />

‚schöpferischen Ausdruck und Gespräch in einer positiv<br />

gestimmten Gruppe‘ bezeichnen.<br />

Doch in jeder Gruppe sieht sie anders aus - je nach der<br />

Persönlichkeit des Lehrers, der Lehrerin.<br />

Wesentlich ist jedoch, dass man versucht, das ‘ansteigende’<br />

Wissen der Kinder mit dem ‘absteigenden’ Wissen<br />

der Erwachsenen zu verbinden.<br />

Das gelingt nur, wenn die Erwachsenen diese Wege<br />

des Wissenserwerbs selbst kennengelernt haben.<br />

Was die Mathematik betrifft, so können wir durch die<br />

natürliche Methode mit ihr leben, sie so neben uns sein<br />

lassen, dass sie weder bedrückt noch unterdrückt, son dern<br />

uns eher freundschaftlich begleitet: diskret, wenn es sein<br />

muss, stets zur Stelle, wenn man sie braucht, und hilfreich,<br />

wenn es um das Überleben, um die Ausgestaltung<br />

eines freudvollen Lebens oder um die Erfüllung von Bedürfnissen<br />

geht.<br />

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(Dt. Ausg.: Der neue wissenschaftliche<br />

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et Niestlé, Neuchâtal. Schweiz 1968 Band<br />

I: L’Apprentissage de la Langue. Edition<br />

Delachaux et Niestlé. (Übersetzung (leicht<br />

gekürzt) in: Boehncke/ Humburg: Schreiben<br />

kann jeder. Rowohlt. Hamburg 1980)<br />

Band IL L’Apprentissage du Dessin<br />

Band III.L’Apprentissage de l’Ecriture<br />

Band 2 und 3 (z.T. in veränderter Fassung<br />

wieder abgedruckt in: <strong>Freinet</strong>, Célestin:<br />

Oeuvres Pédagogiques, Band 2, Editions<br />

du Seuil, Paris 1994, Seite 205-720<br />

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Payot. n. ed. 1989<br />

(Dt. Ausg.: Zur Psychopathologie des<br />

Alltags lebens. Frankfurt 1989)<br />

gi r a r d, re n é: Des choses cachées depuis la fondation du<br />

monde. Grasset. 1978.<br />

le Bo h e c, Pau l: Une expérience de mathématique libre<br />

au CE 1. Dossier pédagogique Nr. 46-<br />

47-48, CEL, Cannes 1967/68<br />

Pierrick et la mathématique. Un trimestre<br />

de mathématique libre au CE 2. CEL.<br />

Cannes 1970<br />

Beide Texte in gekürzter und überarbeiteter<br />

Fassung wieder abgedruckt in: Documents<br />

de L΄Éducateur Nr. 195: La méthode<br />

naturelle de mathématiques. CEL.<br />

Cannes<br />

„Un trimestre de mathématique libre au<br />

cours élémentaire 2eme année.“ Dossier<br />

pedagogique Nr. 56,57,58. In gekürzter<br />

und überarbeiteter Fassung wie der abgedruckt<br />

in: Documents de L΄Éducateur Nr.<br />

195: La méthode naturelle de mathematiqes.<br />

le Bo h e c, Pau l / gu i l l o u le, mic h è l e: Les Dessins<br />

de Patrick -Effets thérapeutiques de<br />

l‘expression libre. Castermann. Tournai<br />

Belgien 1980 (Dt. Ausg.: Patricks Zeichnungen<br />

- Erfah rungen mit der therapeutischen<br />

Wirkung des freien Ausdruckes,<br />

Pädagogik-<strong>Kooperative</strong> Bremen 1993 [nur<br />

dort erhältlich])<br />

lem ery, ed m o n d: Pour une mathématique populaire.<br />

Castermann.<br />

lo r e n z-Po P P e r: L‘Avenir est ouvert. Flammarion. 1990.<br />

(Dt. Ausg.: Die Zukunft ist offen. München/Zürich<br />

1985)<br />

mo r i n, ed g a r: La Méthode. 3. La Connaissance de la<br />

connais sance. Seuil. 1986.<br />

nat u r ellem e n t m at h: unregelmäßig seit 1989 erscheinende<br />

Arbeitsberichte einer Arbeitsgruppe<br />

französi scher <strong>Freinet</strong>-Pädagogen<br />

zur natürlichen Méthode in der Mathematik.<br />

Bis jetzt erschienen 11 Nummern. Für<br />

1996 ist ein zusammenfassendes Dossier<br />

über alle 11 Nummern geplant.<br />

Kontakt über Monique Quertier, 89 Boulevard<br />

Foch, 95210 Saint Gratien<br />

ni m i e r, Jac q u e S: Mathématique et affectivité. Stock.<br />

1976.<br />

Pi ag e t, Je a n: Où va l‘éducation, Denoel/Gonthier 1988<br />

Auch unter: „A structural Fondation for<br />

Tomorrow‘s“ veröffentlicht in Jean Piaget:<br />

„To understand is to invent“, Grossman<br />

Publishers, New York 1973<br />

Po m è S, Je a n-cl au d e: Bibliothèque de travail et de recherche.<br />

23 - 24. C.E.L.<br />

Pro u S t, ma rc e l: Le temps retrouvé. folio Gallimard.<br />

1988 (Dt. Ausg.: Die wiedergefundene<br />

Zeit. Frankfurt 1988) Combray. folio Gallimard.<br />

1988. (Dt. Ausg.: Combray. Berlin<br />

1988)<br />

P.e.m.F.: Mouans-Sartoux. Livrets programmés.<br />

chtiqui: Bulletin I.C.E.M. Nord-Pas-de-Calais.<br />

270 271


Lieber Paul Le Bohec<br />

... Was mich in Ihrer Arbeit besonders begeistert, ist die Haltung des Lehrers, der sich auf<br />

leichte und natürliche Weise ständig in einem wechselseitigen und einfühlsamen Austausch<br />

mit den Kindern befindet und uns damit einen wunderbaren Weg zeigt.<br />

Wir erleben hier wirkliches ‚tastendes Versuchen‘ (ein grundlegendes Prinzip der <strong>Freinet</strong>-<br />

Pädagogik, d. Hg.), das völlig unbelastet von abgehobenen Erklärungen ist. Das ‚tastende<br />

Versuchen‘ erscheint hier in seiner Dynamik von gegenseitigem Austausch, Kommunikation<br />

und Beziehung, Schöpfung und Erfindung und miteinander Teilen.<br />

Mit dieser Arbeit betonen Sie eine Dimension, die <strong>Freinet</strong> zwar immer angesprochen hat,<br />

die er aber nie durch geeignete Mittel und Strukturen genügend festigen konnte.<br />

Ein schöpferischer Unterricht, der ansteckt und überzeugt!<br />

(Aus einem Brief von Elise <strong>Freinet</strong> an Paul Le Bohec)<br />

ISBN 3-9805100-1-8

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